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Hinter vielen Türen spielen sich Dinge ab, von denen viele nichts wissen und vielleicht auch nichts wissen wollen. Die Gesellschaft schaut dort weg, wo eigentlich Hilfe benötigt wird. Andere Menschen widerrum nutzen ihre Position aus, um sich zu profilieren. Besonders junge Menschen, brauchen Vorbilder. Manche möchten Polizist werden, andere zur Feuerwehr... Doch wie viel vertrauen setzt man in die Menschheit, wenn genau die Menschen einem die Freiheit und Schutz nehmen wollen, die dafür sorgen sollten, dass sie besteht. Wir leben in einer Gesellschaft, in der Menschlichkeit, oft ein Fremdwort ist.
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Seitenzahl: 551
Veröffentlichungsjahr: 2021
„Und morgen ist ein neuer Tag...“
erschienen 11-2020 - 2. Auflage
Alle Rechte vorbehalten
Text, Umschlag, Layout: Line Porschen
Schrift: Jessica Schlangen
„Alle im Buch vorkommenden Namen und einzelne Einrichtungen oder
Ortsnamen wurden von der Autorin geändert.
Dokumente die eingebunden sind stehen unter Paragraph der dem
öffentlichen Interesse gleicht und nicht mit der Privatsphäre
gleichzusetzen ist, es sei denn, Personen würden persönlich mit
schlechter Nachrede oder Beleidigungen erwähnt werden.“
Line Porschen (Pseudonym) wurde am 26.11.1988 in Köln geboren. Eines Tages entschloss sie sich, ihr Leben aufzuschreiben, doch der Grund weshalb sie anfing zu schreiben, war einst ein (Tage)- Buch als Nachlass zu hinterlassen...
Sie war nie eine große Schreiberin, aber man erkennt ihren starken Willen und das ist ihr wortwörtlich als Überlebensgabe anzusehen. Heute lebt sie mit ihrem Sohn (*13.03.2010) wieder in ihrem Heimatort.
Gewidmet allen Sozial-benachteiligten in unserer Gesellschaft,
jetzigen und ehemaligen Heimkindern bzw.
(ehemaligen) Patienten der Psychiatrie.
Prolog
Kerpen (Texas) - Ein Viertel, in dem man stark sein muss
Ein neuer Lebensabschnitt - Die Freiheit nehme ich mir
Ein Satz verändert mein Leben - Was mache ich jetzt bloß?
Heimkind - Freier als ich jetzt bin, gibt es nicht
Endlich 14 - Erwachsenwerden ist kein Zuckerschlecken
Familie & Freunde – Die erste „ernste“ Beziehung
Mein Absturz - Wer holt mich endlich hier raus
Meine erste Wohnung – Ein Labyrinth des Schicksals
Ein „kleines“ Wunder – Mein „größtes“ Glück
Epilog
Persönliche Widmungen an die Autorin
Liebe/r Leser/in,
mein Name ist Line‘ (*1988 in Köln) ich bin heute 32 Jahre alt und lebe in einer schön eingerichteten Wohnung.
Eigentlich, wenn man mich so ansieht, fehlt es mir an nichts.
Normal für Normale oder manch einmal für einige Menschen und auch für mich ein großer Aufstieg.
Ich habe in meinen jungen Jahren schon einiges erlebt, sehr viel Aufregendes, aber auch Leid war dabei.
Und was sich manch anderer in normalen Verhältnissen nicht leistet oder nicht erreichen konnte, habe ich in schwierigen Situationen mit sehr viel Ehrgeiz, Dickköpfigkeit aber auch mit viel Kraft erreichen können.
Während meiner Schulzeit hab ich es zwar nicht einmal zu einem Schulabschluss geschafft, warum, das könnt ihr in diesem Buch nachlesen.
Dies sind Dinge die muss man in Kauf nehmen, immer mal wieder, aber mein Weg war ein anderer, den ich zu gehen hatte.
Ich Danke meiner Familie, ich habe euch vieles zu verdanken, wenn ich euch nicht gehabt hätte wüsste ich nicht, wo ich ohne eure Hilfe heute wäre.
Das Leben ist zudem auch unberechenbar, und das Faszinierende an dem Ganzen ist, finde ich, was ein menschlicher Körper alles leisten und verkraften kann!
Man war, als ich 19 Jahre jung war, der Meinung, ich könne mich nicht um mich selbst sorgen und sollte mit 19 Jahren, sechs Wochen auf einer geschlossenen Station untergebracht werden.
Ich weiß was ich will, ich weiß was ich mit meinen Augen gesehen habe und ich weiß wo ich einmal in meinem Leben ankommen möchte und dazu brauche ich nicht noch mehr Menschen, die mir Steine in den Weg legen wollen.
Es ist nicht alles einfach im Leben, gerade für einen heranwachsenden Jugendlichen ist es wichtig, Zuspruch, Anerkennung und den richtigen Rückhalt in der Gesellschaft zu bekommen.
Doch nicht jedem Kind ist dies gewährleistet und – Ich bin eins dieser Kinder gewesen.
Ich habe in mehr als fünf Heimen gelebt und darunter ca. acht Weiterführende-Schulen besucht.
Meine Träume die ich erreichen wollte, ließen mich aussteigen aus diesem Leben, geprägt von Chaos und Missgunst, und haben mich zu diesem Menschen gemacht, der ich heute bin… auch wenn die Erinnerungen mich jeden Tag noch weiter begleiten… lebe ich.
Und bitte nehmt mir meine Schreibweise noch die
Grammatik/Rechtschreibfehler nicht übel. Ich war nie eine große Schreiberin, eher im Gegenteil.
Ich werde versuchen zu jedem Zeitpunkt aus der „1. Person“ zu erzählen, wie eine 12 jährige dachte/sprach und auch eine 15 bis 19 jährige.
Alles was hier geschildert wird, beruht auf wahre Begebenheiten, kleine Einzelheiten mögen sich verschieben, weichen aber nicht vom Zeitablauf ab. Meine Recherche ist Bestand aus Erinnerungen und einiges an Berichten und Gutachten, die als ein einziges Ganzes zusammengestellt werden konnten.
Was genau ich erlebt habe, das erzähle ich auf den nächsten Seiten, aber dann fangen wir ganz von vorne an und hoffe, dass sich mein Charakter dahinter „offen“ zeigen und erkennen lässt, vom läppischen Leichtsinn, bis hin zu liebevollen Sehnsüchten.
0-10 Jahre (1988 – 1998)
Es ist ätzend hier, schon wieder stinkt es im Hausflur und eine dicke Türkin mit Kopftuch kommt auf mich zu und steigt mit in den Aufzug ein.
Es ist so eng hier drin, dass ich gegen ihre Brüste gedrückt werde.
Durch die Hitze bekomme ich kaum Luft und sie riecht auch noch so komisch.
Endlich, der Aufzug kommt zum Stehen.
Ich quetsche mich an ihr vorbei und laufe raus.
Es tritt gerade die Dämmerung ein und auf dem Hof sind lauter türkische Kinder.
Wir wohnen mit nur vier deutschen Familien hier in dieser Gegend. Es sind alles Türken bis auf ein paar andere Ausländer. Das macht es uns Deutschen nicht gerade leicht.
Hier gibt es fünf Hochhäuser, die bis zum siebten Stockwerk reichen und leider von einer Kakerlaken-Plage besiedelt ist.
Es wäre ja nicht so schlimm, wenn man es nicht noch jeden Tag mit der Angst zu tun hätte.
Ich bin zehn Jahre alt, manche dieser türkischen Kinder sind fünf Jahre älter als ich.
Kaum stehe ich mitten im Hof, fahren schon wieder diese älteren Kinder mit den Fahrrädern um mich herum.
Seit ich auf dieser Welt bin ist das mein Alltag.
Es interessiert mich meist zuerst nicht und ich denke mir nur, dass sie sich verziehen sollen und verdränge meine Angst. Dann kriege ich den ersten Tritt ab oder werde angespuckt oder auch beides.
Ich fühle mich dadurch sehr erniedrigt und hilflos, wenn sie so etwas tun. Sie tun es aber immer wieder, wenn man an ihnen vorbei geht.
Aber Warum?
Diese Frage stelle ich mir leider immer wieder.
Ich gehe weiter, tue so als wenn mich das gar nicht stört.
Ich wische mir währenddessen, so unauffällig wie möglich, ihre Spucke von meinem Arm und Gesicht, damit sie nicht meinen, mich getroffen zu haben.
>Ich fühle mich so stärker, wenn sie denken, dass sie zu dumm wären mich zu treffen.<
Ich gehe zügig weiter und fange hinter der Schranke an zu laufen. Ich wollte nur kurz zum Lotto-Toto, um mir für 10 Pfennig neue Power Ranger Sticker zu kaufen.
Den ganzen restlichen Weg über werde ich zum Glück in Ruhe gelassen. Nur die älteren Jugendlichen schauen mich an, aber ich kann in der Nähe von denen, problemlos meine Sticker kaufen und wieder nach Hause gehen.
Als ich zurück über den Hof gehe, ist er wie leergefegt.
Ich beeile mich, steige in den Aufzug und drücke auf das Stockwerk 7. Oben angekommen, klopfe ich an unsere Türe.
Ich hörte schon vom Flur aus, dass es Streit zu Hause gibt.
Sofort stecke ich meine Sticker in die Hosentasche, damit nichts dran kommt.
Kaum stehe ich im Flur, schreit Mama mich an, wo ich denn herkomme.
Ich starre sie an und weiß nicht was ich sagen soll.
Ich will in mein Zimmer gehen, wobei sie mich aufhält und mich anschreit, ich solle meine Schuhe sofort ausziehen und meine Zähne putzen und dann direkt ins Bett.
Ich habe Angst, ziehe mich um und gehe ins Bad.
Ich will gerade meine Zahnbürste nehmen, da meckert sie schon wieder, doch jetzt nicht mit mir, sondern mit meinen zwei jüngeren Schwestern.
Ich sehe den Beiden an, dass sie es nicht verstehen und sich fragen, warum Mama aus heiterem Himmel plötzlich so böse ist.
Ich stehe gerade im Türrahmen vom Bad, als Mama mich ansieht, ruckartig ihre Hand hebt und in mein Gesicht schlägt.
Sofort fängt meine Nase an zu bluten.
Sie starrt mich an und sagt:
„Wisch dir mal das Zeug aus dem Gesicht.“
Ich sage nichts.
Ich hoffe nur, dass es ihr im selben Moment leid tut und sie mich in den Arm nimmt.
Doch das tut sie nicht.
Ich wasche mein Gesicht, putze mir die Zähne und bin froh, als ich endlich in meinem Bett liege.
Manchmal ist Mama so böse und schreit herum, obwohl wir nichts falsch gemacht haben. Ich kuschele mich unter meine Decke und schlafe ein.
Am nächsten Morgen ist, als wäre gestern nichts gewesen.
Das erleichtert, weil ich jetzt keine Angst haben muss. Eigentlich ist Mama überhaupt nicht so, nur manchmal eben. Doch ob es ihr leid tut, was sie gestern getan hat, das frage ich mich die ganze Zeit immer wieder.
Heute ist Sonntag und meine drei Schwestern spielen in ihren Zimmern. Sophie, die Älteste von uns vieren, fragt uns, ob wir Lust haben Verstecken zu spielen. Und wir stimmen natürlich gleich alle zu.
Sophie fängt laut zu zählen an und wir verstecken uns.
Michelle und Emily hocken sich beide zusammen hinter die Gardinen im Wohnzimmer und ich mich hinter die Couch.
Die zwei Kleinen sind Zwillinge und verhalten sich oft gleich, obwohl sie zweieiige sind. Sie sehen auch verschieden aus, eine ist blond und die andere ist dunkelbraun. Es würde zwar mehr Spaß machen, wenn sie sich jede einzeln verstecken würde, aber das wollen sie meistens nicht.
Schnell wird aus den Versteckspielen ein Fangenspiel.
Wir laufen durch die Wohnung, sind sehr aufgedreht, toben herum und lachen.
Es ist jetzt Mittag und Mama hat auch das Essen fertig.
Wir müssen noch während wir essen weiter herum gackern.
Bis Mama uns den Vorschlag macht, dass wir uns mal zusammenreißen, in Ruhe zu Ende essen und dann lieber ein Gesellschaftsspiel zusammen spielen.
Und da wir das gemeinsame Spielen am Tisch alle mögen, ist auch schnell Ruhe am Tisch.
Nach dem Essen bringt Mama die Teller in die Küche und holt das Spiel auf den Tisch. Während wir alles bereit legen, bringt Mama uns noch was zu Trinken.
Mama dimmt das Licht und wir setzen uns gemeinsam an die Essecke.
Den ganzen Abend haben wir einen Riesenspaß, wir spielen ein Brettspiel mit Ariel der Meerjungfrau.
Manchmal, wenn wir spielen, gibt es auch mal Streit, erst recht wenn man ein schlechter Verlierer ist. Zum Beispiel wie ich.
Ich habe schon öfters die Spielfiguren vom Spielbrett geworfen und gesagt: „ Ich spiele nicht mehr mit!“ und habe mich trotzig mit verschränkten Armen von ihnen abgewendet.
Aber an diesem Abend war es schön.
Ich wollte gar nicht mehr aufhören zu spielen.
Wir spielen so lange, bis Mama auf die Uhr schaut und selbst überrascht scheint, wie spät es schon ist.
Also fangen wir an, alles zusammen zu räumen und uns bettfertig zu machen, da wir morgen wieder früh aufstehen müssen.
Als ich im Bett liege und an gestern denke, kann ich Mama gar nicht mehr böse sein. Ich weiß, dass sie uns lieb hat, sie hat das gestern nicht gewollt.
Dann kuschele ich mich in meine Decke ein und mache die Augen zu.
Morgens machen wir uns alle fertig; als ich in der Schule ankomme, merkt man, dass die Tage so langsam ziemlich angespannt sind.
In zwei Wochen beginnen die Sommerferien. Ich frage mich wie es weiterhin gehen wird.
Man merkt, dass Manche sich freuen, Manchen ist es egal und Andere wiederum wollen nicht, dass die Zeit jetzt vorbei ist: Unsere vier Jahre sind hier zu Ende, ich soll die Realschule besuchen wie meine Schwester Sophie.
Die ganzen Erinnerungen an diese Zeit sind mir eigentlich ziemlich egal. Ich weiß manchmal gar nicht, wofür ich überhaupt zu Schule gehe. Ich mache den Unterricht zwar mit, ich versuche mich auch anzustrengen, aber einen richtigen Anschluss fand ich irgendwie nie.
Stefania (11 Jahre) ist meine einzige gute Freundin hier. Mit ihr verbringe ich viel Zeit nach der Schule.
In der Kaufhalle arbeitet ihre Mutter und wir haben einmal VIP Karten bekommen, um mit der Band Liquido reden zu können.
Es war echt aufregend, da es die erste Band war, die ich je gesehen habe.
Seit ich Stefania kenne, lerne ich auch was aus mir zu machen, Mode und erwachsen werden.
Sie kam leider erst im letzten Schuljahr zu uns in die Klasse. Sie ist ziemlich reif für ihr Alter, aber ihre Eltern mögen es nicht, dass sie sich so benimmt.
Schminken, Schlaghosen und Dekolleté, sie zeigt eben in ihren jungen Jahren schon was sie hat. In der Klasse ist sie bei den Jungs ziemlich beliebt.
Bei ihr zuhause gab es deswegen schon öfters Streit.
Wir sollen demnächst eigentlich zusammen auf die Realschule, aber heute nach der Schule muss ich leider etwas anderes erfahren…
Als wir nach Unterrichtsschluss zusammen nach Hause gehen, tippt sie mich an und will mir was sagen.
Sie schaut mich irgendwie traurig und gleichzeitig ziemlich sauer an und erzählt mir, dass sie wegziehen wird und wir auch nicht mehr zusammen zur Schule gehen werden.
Dann regt sie sich auf, flucht über die Situation und ihre Eltern.
Ich weiß, dass sie schon oft umgezogen sind und Steffi das nicht mehr will. Sie kann dadurch irgendwie nie richtig Fuß fassen.
Ich verstehe sie, aber ich wünschte, ich hätte solche Eltern wie sie. Sie sind ziemlich offen für alles und scheinen alles im Griff zu haben und leicht chaotisch sind sie auch, aber dafür cool.
Ich sage ihr daraufhin, dass ich sie besuchen werde und wir trotzdem Freunde bleiben.
Während der letzten Tage der Schulzeit verfliegt die Zeit wie im Flug. Es ist ziemlich warm draußen und das Wetter ist wunderschön.
Frau Coch unsere Klassenlehrerin hat vor mit uns, einen Tanz aufzuführen. Nach ihrem Idol Cher - und wir sollen auf dem Lied Believe tanzen.
Wir haben kaum Unterricht, verbringen die meiste Zeit in der Turnhalle und üben die Schritte.
Es ist ziemlich anstrengend und in der Turnhalle gibt es keine Klimaanlage und wir gehen fast alle 30 Minuten raus und machen eine kleine Pause.
Wir alle genießen es in dieser Zeit keinen Unterricht zu haben. Wir haben Spaß und turteln oft herum.
Gerade Steffi, sie macht gerne auf sich aufmerksam und wegen der Hitze in der Turnhalle sind wir nur leicht bekleidet. Was das Ganze natürlich noch aufregend macht, bis Frau Coch uns ermahnen muss, weil wir zu oft raus gehen.
Die Schritte sitzen langsam, trotz glühender Hitze und unserer gegenseitigen Ablenkung.
Unsere Lehrerin ist ziemlich stolz auf uns, dass wir den Tanz so schnell und gut hin bekommen.
In der Schule wird es immer lockerer und gemischte Gefühle tauchen langsam auf, ganz das Gegenteil zu dem, was sich bei mir zu Hause in unserer Gegend abspielt.
Ständig diese Drohungen und Provokationen der Türken. Geschreie von Kindern, Gebrülle aus der Nachbarwohnung, das ist nicht wirklich schön. Es ist ständig das Gleiche.
Als ein kleiner Junge vor Jahren von einem Balkon zwei Eisenstangen runter warf und sie zwischen die Gehfrei‘s meiner kleinen Schwestern fielen, war das ein Moment, den meine Mama nie vergessen wird. Sie sagt bis heute, wenn sie dieses Kind in die Finger bekommen hätte, sie wüsste nicht, was sie gemacht hätte, es sei schon gut gewesen, dass er nicht vor ihr stand.
Oder als ich von einem türkischen Obsthändler mit der Eisenstange geschlagen wurde, die normalerweise zum Ausfahren seiner Dächer gedacht war.
Nur weil alle Kinder aus unserem Viertel auf seinen Paletten herum getollt sind und ich mitten drin hing.
Mama hat nachher auf die Anzeige verzichtet, weil der Typ ihr irgendwie leid tat, weshalb auch immer.
Doch der Polizist hatte kein Mitleid und brachte es dann selbst zur Anzeige. Seine Bude stand nach wenigen Wochen auch nicht mehr da.
Und dann ist da noch der Missbrauch mit Bibi und diesem Türken gewesen.
Ich weiß noch, dass wir auf dem Spielplatz waren und sich so ein türkischer Junge uns näherte. Er wank uns zu sich, obwohl er um einiges älter war als wir.
Bibi sagte daraufhin zu mir, sie würde ihn schon länger kennen.
Als wir dann vor ihm standen, meinte er in gebrochenem Deutsch: „ Wo wir hin gehen? Da hinten?“, und zeigt mit dem Finger hinter das Nachbarhochhaus in Richtung Feld.
Er grinste mich an, als erwarte er irgendwas von mir.
Er war schlank, aber nicht wirklich groß, im Gegensatz zu seinem Oberkörper gab er ein ziemlich mickriges Gesamtbild ab.
Er hatte ein ausgewaschenes Hemd an, das sicherlich auch noch stank. Viele Türken, die so aussehen wie der, die stinken oft.
Er hat einen Stoppelbart, als hätte er seine gekräuselten Beinhaare im Gesicht.
Ich ging mit, war aber auch verunsichert. Ich fragte mich die ganze Zeit, was der wohl von ihr will.
Als wir am Spielplatz vorbei waren, hinter den Hochhäusern am Fluss, bekam ich etwas Angst. Bibi ging zu ihm hin.
Er nahm sie und stellt sie vor die Wand.
Sie hatte an diesem Tag ihren weißen Rock mit babyblauen Pünktchen angehabt.
Ich sah nur noch, dass er ihr den Rock hochschob, ihre Unterhose auszog und selbst seine Hose bis auf Kniehöhe fallen ließ. Dann hob er sie hoch und drückte sie gegen die Wand.
Ich wäre am liebsten weggelaufen, aber ich wollte Bibi mit dem Typen nicht alleine lassen.
Es war beängstigend dies mit anzusehen, aber das Schlimmste war, dass Bibi es gar nicht so schlimm fand. Sie erzählte mir später sie macht es sogar öfter.
Er ist aber doch 16 Jahre alt und sie erst 9...
Immer mal wieder denke ich daran, dass er sie hochhob und gegen die Wand drückte. Dass selbst Bibi mich fragte es auch zu tun, war schlimm und unverständlich für mich.
Ich war entsetzt und verstand auch gar nicht, wie sie auf solch eine Idee kommen kann.
Mich hat er Gott sei Dank nicht angefasst, aber das Gesicht werde ich nicht vergessen, diesen Türken will ich nicht wieder sehen!
Da ich meinen Mund nicht halten konnte, weil ich das nicht verstand und Angst hatte, habe ich es Mama erzählt.
Am gleichen Abend noch kam die Kriminalpolizei und ich musste ihnen alles genau erzählen, wie und wo es passierte.
Ich bin mit ihnen raus auf den Spielplatz hinter die Hochhäuser und zeigte den Ort. Ich habe ihnen auch erzählt, dass dieser Türke auch mich gefragt hat, ob ich mal will.
Ich verneinte natürlich seine Frage und konnte mich nur noch dran erinnern, dass ich froh war, als Bibi und dieser Türke fertig wurden und ich endlich da weg konnte.
So was ist leider keine Ausnahme. Michelle wurde auch schon einmal angefasst und sie war noch viel jünger als Bibi. Sie erzählte uns nur, dass ein türkischer Junge sie unten herum auszog und sie immer wieder auf seinen Schoß gestoßen habe.
Ob sie richtigen Verkehr gehabt haben, wissen wir bis heute nicht. Sie ist auch zu schüchtern und sehr still.
Wir konnten daraufhin leider niemanden anzeigen und Michelle hat auch erst ziemlich spät erzählt was passierte.
Sophie wurde auch schon von irgendwelchen Männern angemacht, wenn sie für Mama mal zum Edeka ging.
Ich habe der Kriminalpolizei an dem Abend alles erzählt was ich wusste, und jetzt wird dieser Junge eine Anzeige bekommen, weil er zu alt gewesen ist, um mit einer Neun-jährigen sexuell aktiv zu sein.
Es ist strafbar, hat mir die Polizei gesagt.
Doch Bibis Mutter ist es sowieso egal, was sie macht und wo sie sich herumtreibt.
Bibi geht auch auf eine Förderschule, weil sie gar nicht flüssig sprechen kann wie andere Kinder in ihrem Alter oder wie wir.
Warum es der Mutter egal ist, was mit ihr geschieht, versteht meine Mama auch nicht.
Als ich Mama das mit diesem Türken erzählt habe, hat sie sofort die Polizei angerufen, da zögert sie gar nicht lang, und Bibi wurde auch sofort ärztlich untersucht.
Was dann mit dem Türken geschehen ist, wissen wir nicht.
Der Tag der Abschlussfeier in der Schule rückt auch immer näher.
Mama hat immer öfter wieder gute Laune und auch keinen schlechten Tag mehr gehabt wie den, an dem sie so sauer war. Ich kann mich also auf meinen letzten Schultag freuen und bin schon etwas aufgeregt.
Das alles wird nun zu Ende sein, und irgendwie fühle ich mich auch ein Stück weit erwachsener.
Ich versuche mich mit dem was ich habe zumindest etwas schick anzuziehen. Mama ist leider nicht so modebewusst wie die Eltern von Steffi.
Ich habe sogar einen Pullover mit den Hero Turtles drauf und eine Jeans mit Dinosauriern. Heute ziehe ich meine blauen Jeans an, ohne jeglichen Schnick-Schnack drauf, und ein weißes T’shirt mit Kragen.
Am letzten Tag also fährt Mama mit mir zusammen zur Schule, meine jüngeren Schwestern sind auch dabei, da die ganze Schule heute an der Abschlussfeier teilnimmt und die Zeugnisse ausgeteilt werden. Sophie ist auf der Realschule und kommt etwas später nach.
Um 9 Uhr sind wir da. Ich glaube, Mama scheint aufgeregter zu sein als ich. Ich verstehe noch gar nicht wirklich was daran so Besonderes sein soll, sicherlich werde ich das irgendwo vermissen, aber ich bin auch ganz froh, dass Neues auf mich zukommen wird. Ich werde mit älteren Schülern auf der Realschule zusammen sein, das wird sicher aufregender werden als das hier.
Auf dem Schulhof ist schon ziemlich viel los, viele Eltern unterhalten sich und die Kinder spielen auf dem Klettergerüst, Musik läuft und es stehen viele verschiedene Stände auf dem Hof verteilt.
An einem gibt es Kaffee und Kuchen und an den anderen Nudelsalat und Würstchen und andere Kleinigkeiten. Um halb elf werden wir uns alle in der Turnhalle treffen.
Steffi ist sehr aufgedreht und albert herum. Das tut mir irgendwie gut, weil ein bisschen aufgeregt bin ich ja schon, und frage mich auch ob uns der Tanz gut gelingen wird.
Ich laufe ein wenig herum, gehe auch nochmal hoch in die Klasse und beobachte die anderen.
Während ich sie mir so ansehe, frage ich mich, was sie wohl alle denken.
Ich würde gerne wissen, ob es sie traurig oder glücklich macht. Weil es bei mir eher gemischt bis gefühllos ausschaut.
Ich kann mir einfach nichts dabei vorstellen, dass das alles hier zu Ende ist. Für mich hört es hier einfach auf und geht woanders weiter.
Doch je länger ich sie mir ansehe, desto mehr wird mir irgendwie klar, was es heißt, sie nicht mehr wieder zu sehen.
Bevor ich mir richtig ausmalen kann, wie es wohl jedem ergeht, ist es kurz nach zehn.
Die Eltern sind gespannt auf den Tanz, schon ruft uns auch Frau Coch zusammen. Steffi klinkt sich in meinen Arm ein und daraufhin Luana. Wir gehen gemeinsam zur Turnhalle und ich bin etwas nervös. Steffi hat ein stolzes Lächeln im Gesicht.
Sie liebt es Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, ganz im Gegensatz zu mir. Ich fühlte mich eher wie das hässliche Entlein was mitläuft.
Ich glaube, wenn die Beiden nicht an meiner Seite wären, würde jeder sehen, dass ich gehe wie eine Ente.
Ich gehe gedanklich die ganzen Schritte durch und stelle mir vor, dass nichts schiefgeht.
Unsere Zuschauer sind unendlich begeistert von uns und Frau Coch steht auch ziemlich selbstsicher da.
Ich kann meinen Gefühlen gar keine Bedeutung geben.
Ich fühle einerseits Leere, auf der anderen Seite bin ich zuversichtlich und einerseits ziemlich traurig darüber gehen zu müssen.
Na gut, wenn ich Steffis breites Grinsen sehe, wie toll sie es findet im Mittelpunkt zu stehen, muss ich innerlich schon freudig lachen. Ich hoffe, dass ich jetzt keinen Fehler machen werde und es nicht in schlechter Erinnerung bleibt.
Als wir in der Turnhalle ankommen, ist sie ziemlich überfüllt, das alles macht es mir nicht leicht. Im Gegenteil, ich denke
jetzt wird mir erst recht ein Fehler unterlaufen.
Um kurz vor halb stellt sich Frau Coch mit stolzer Haltung mitten in die Halle und begrüßt uns mit einem lauten:
„ Herzlich willkommen liebe Eltern, Geschwister und
Großeltern!“
Sie spricht ihren Begrüßungstext herunter und dann stellt sie sich vor uns und sagt:
„ So, jetzt geht es los ihr Lieben, das wird schon super werden“, und zwinkert uns zu.
Die Situation ist dennoch angespannt, wir sind bereit - und dann ertönt auch schon das Lied.
Es ist ein unbeschreibliches aber auch komisches Gefühl, jeder schaut uns zu und beobachtet unsere Schritte.
Als Stefania und ich uns anschauen und tief in die Augen sehen, wird uns schnell klar, dass dies unser letzter Tanz sein wird. Und plötzlich laufen auch schon die ersten Tränen.
Die Schritte werden immer nachlässiger und einige Eltern fühlen mit uns. Frau Coch scheint richtig stolz auf uns zu sein, so wie sie uns anschaut und ihre Augen dazu glänzen. Das werde ich bestimmt nicht vergessen.
Man sieht es ihr an, dass es nicht einfach nur an ihr vorbeizieht.
Eigentlich würde ich ja denken, die Lehrer haben alle vier Jahre neue Schüler und es würde ihnen gar nichts ausmachen, wieder neue Kinder durch die Grundschuljahre zu bringen, bis auch sie die Schule verlassen, aber jetzt denke ich anders darüber. Frau Coch ist genauso getroffen von den Emotionen wie jeder von uns.
Wir haben diesen Tanz mit Leidenschaft und unter Tränen getanzt und Gott sei Dank fast fehlerfrei.
Und als das Lied zu Ende geht und kein Ton mehr zu hören ist, fangen die ganzen Familienangehörigen lautstark an zu klatschen. Wir müssen lachen und nehmen uns erleichtert in die Arme.
Frau Coch lobt uns durch das Mikrofon und bittet uns, anschließend gemeinsam zurück in unsere Klasse zu gehen, denn dort hat sie noch eine kleine Überraschung für uns.
In der Klasse angekommen holt sie eine Kiste hervor, daraus verteilt sie an jeden von uns ein Solero Eis.
Das sind ganz viele kleine Eiskügelchen in einer Dose, total lecker.
Wir unterhalten uns eine ganze Weile, bis die Ersten sich irgendwann verabschieden.
Ich sitze ganz zuletzt mit Stefania in der Klasse, bis sie sich dann auch verabschieden will.
Als sie nach Hause möchte, habe ich mich angeschlossen.
Es waren viele gemischte Gefühle, einerseits ist es mir total egal, dass es hier vorbei ist, aber auf der anderen Seite ist es ein beklemmendes Gefühl, alles hinter mir zu lassen.
Frau Coch nimmt uns in den Arm und wünscht uns noch alles Gute für die Zukunft.
Dann gehen wir zusammen raus mit einem Flattern im Bauch, ohne zu ahnen, was das für uns bedeuten wird…
Jetzt fangen endlich unsere Sommerferien an!
Während Mama mit den zwei Kleinen zu Marlies geht, bleibe ich alleine zu Hause. Sophie ist eben von Oma und Opa abgeholt worden und ich habe Ruhe und mal etwas Zeit für mich. Ich denke über vieles nach und auch über das Gespräch, das ich letzte Woche von Mama und Marlies zwischen Tür und Angel mitbekommen habe, wo es um irgendeine Wohnung ging. Wenn Mama endlich plant hier auszuziehen, das wäre echt super.
Ich will in den Hochhäusern nicht mehr wohnen, ich habe es satt, nur unter Ausländern zu wohnen und ausgeschlossen zu werden, nur weil man deutsch ist.
Im Fernseher läuft gerade auch nichts interessantes, weshalb ich die Sender vor Langweile, immer wieder herauf und herunter schalte, bis ich ihn anschließend ausschalte.
Ich mache den Radiokanal an und gehe mir in der Küche etwas zu trinken holen.
Ich bleibe einen Moment lang stehen, als ich Mamas Zigaretten oben auf dem Küchenschrank liegen sehe. Kurz darauf schnappe ich sie mir und gehe zurück ins Wohnzimmer.
Ich habe früher einmal mit Bibi auf dem Spielplatz heimlich geraucht, die sie immer von ihrer Mama genommen hatte.
Also nehme ich mir eine heraus, zünde sie an und setze mich auf die Couch.
Wirklich schmecken tut sie nicht. Ich habe noch nicht einmal die Hälfte geraucht, da mache ich sie wieder aus. Jetzt noch schnell die Packung wieder zurück bevor Mama kommt…
Zu spät … ich höre, wie meine zwei Schwestern durch den Hausflur kommen, ich laufe daraufhin viel zu schnell in die Küche, so dass ich mir vor lauter Aufregung die Schulter am Türrahmen stoße. Dann höre ich den Schlüssel.
Ich lege die Zigaretten ab und renne zurück ins Wohnzimmer.
Tue so als wäre nichts passiert.
„ Hallo Line...“, sagt sie, dann schaut sie mich an, hebt ihren Kopf und riecht...!
Ich denke mir nur, das war´s, das riecht sie doch. Schon will sie von mir wissen, warum es hier nach Rauch riecht, jede Mühe ist zwecklos. Egal was ich sage, sie weiß, dass ich geraucht habe.
Sie schickt die beiden Kleinen ins Bett. Anstatt den erwarteten Ärger zu bekommen, holt sie die Packung und sagt:
„Hol dir eine raus.“
Doch ich wollte nicht, daraufhin wird der Ton strenger und lauter. Ich nehme eine und halte sie in meiner Hand.
Ich schäme mich derart, wie ich dasitze vor Mama.
Dann soll ich sie anzünden. Ich weigere mich zuerst diese Zigarette zu rauchen. Ich fange an weinerlich zu werden.
Aber Mama will, dass ich sie rauche.
Als ich sie dann endlich anzünde und unter ständigem Husten irgendwann fertig geraucht habe, sagt sie nur:
„Ich hoffe, dass dir das jetzt eine Lehre war.“
Ich gehe auf mein Zimmer und heule. Und weiß nicht was ich davon halten soll und mit umzugehen habe.
Sophie kommt ins Zimmer, sagt aber kein Wort und legt sich schließlich schlafen.
Am nächsten Morgen sitzen wir gemeinsam am Frühstückstisch und wie geahnt erzählt uns Mama, dass wir uns am kommenden Donnerstag eine Wohnung anschauen werden.
Sie soll größer sein als unsere und ist sogar im Erdgeschoss.
Eine absolute Traumwohnung, erzählt Mama. Ich bin sehr gespannt, wie sie wohl aussieht.
Heute gehen wir schwimmen. Wir packen unsere Sachen und verbringen den Tag im Schwimmbad und den morgigen Tag auch. Die Zeit so zu verbringen lenkt wenigstens von der Frage ab, wie diese Wohnung wohl aussehen wird.
Am Donnerstag ist es dann endlich soweit.
Der Besichtigungstermin für unsere neue Wohnung steht an.
Wir ziehen uns alle schick an und ich merke dass es Mama sehr wichtig ist das wir diese Wohnung bekommen.
In der neuen Gegend sieht es um ein Vielfaches freundlicher aus als in unserem Viertel.
Als Mama parkt und wir aussteigen, kommt uns auch schon eine Frau entgegen. Diese hat mit Mama schon fast alle Formalitäten geklärt, sagt sie uns.
Wir müssen uns die Wohnung also nur noch anschauen und den Mietvertrag unterschreiben.
Als sie die Türe aufschließt und wir direkt im Erdgeschoss auf unsere neue Wohnungstüre zugehen, ist es für mich wie ein Traum. Die Wohnung sieht so richtig riesig aus.
Wir sind alle mehr als nur begeistert.
„ Schaut euch ruhig schon um, das wird eure neue Wohnung sein. Ich unterhalte mich so lange mit eurer Mutter“,
sagt die Frau freundlich.
Wir tapsen somit durch alle Zimmer.
Die Küche ist mindestens drei Mal so groß wie unsere alte und das Wohnzimmer ist das Doppelte. Vom Wohnzimmer geht man direkt auf die Terrasse mit Garten, jedes Zimmer ist hell und es gibt sogar eine Gästetoilette und ein Badezimmer das auch noch ein Fenster hat.
Das Lustige an dieser Wohnung ist, man kann hier rundlaufen. Die Zimmer sind so aneinander gebaut, dass man einmal ganz herum laufen kann und wieder vorne am Eingang steht.
Das ist echt lustig und lässt die Wohnung noch größer wirken, dabei hat sie schon 90m2.
Wenn ich mir vorstelle hier zu wohnen und endlich raus aus dem Hochhausviertel zu sein, geht für mich ein kleiner Traum in Erfüllung.
Dann hören wir Mama und diese Frau reden:
„Ja, Sie können das Wohnzimmer ja in einen Essbereich und
Wohnbereich unterteilen.“
Als wir uns dann fast alle Szenen des Alltags vor Augen gehalten hatten, ruft Mama uns zu sich:
„So ihr Lieben, wir werden jetzt wieder nach Hause fahren – und wenn alles klappt, können wir in den nächsten Wochen schon anfangen zu packen.“
Wir freuen uns riesig und fahren gemeinsam zurück. Ich hoffe, dass es schnell gehen wird…
In den nächsten Tagen sind wir alle ziemlich aufgeregt.
Den Mietvertrag hat Mama unterschrieben und jetzt warten wir nur noch auf die Schlüsselübergabe.
Das ganze Zimmer von Emily und Michelle steht schon voll von gestapelten Kartons.
Schon am Montagmittag kommt der lang ersehnte Anruf. An diesem Freitag ist die Schlüsselübergabe um zehn Uhr in unserer neuen Wohnung.
Die zweite Woche der Sommerferien beginnt und etwas musste ja dann noch passieren. Sophie kommt ins Krankenhaus, mitten im Sommer.
Es hat sie eine starke Lungenentzündung erwischt. Mama ist fix und fertig, dass so etwas ausgerechnet mitten in einem Umzug passieren muss.
Die Sommerferien haben gerade erst begonnen und Sophie ist im Krankenhaus. Wir können sie kaum besuchen gehen, weil so viel zu tun ist.
In der Wohnung geht es langsam voran, vieles macht Mama mit der Sackkarre alleine. Leider hat sie keinerlei Hilfe.
Der einzige tatkräftige Mann der Mama unter die Arme greift, ist der Ehemann von Marlies. Marlies wohnt jetzt nur noch drei Häuser weiter in unserer neuen Wohnsiedlung.
Sie hatte das Hochhausviertel genauso satt und ist aus Zufall auf dieses Neubaugebiet in unserer Stadt aufmerksam geworden, und hat Mama natürlich sofort davon erzählt.
Als ich mich es erste Mal draußen aufhalte, habe ich gesehen, wie viele deutsche Nachbarn wir jetzt haben.
Es sind zwar auch einige ausländische Familien zu sehen, aber sie schauen sehr nett aus und ich werde sogar von ihnen gegrüßt.
Was für mich eine ganz neue Erfahrung ist.
Ich laufe draußen etwas herum, um mich umzuschauen.
Ein blonder Junge fährt mit seinem Fahrrad an mir vorbei.
Als ich ihn vor mir sehe, bin ich hin und weg von ihm…
Der ist ja so was von süß! Er tritt auf die Bremse und hält genau neben mir: „Zieht ihr hier ein?“
Ich sagte darauf „Ja“ und gehe weg.
Mein Herz schlägt einfach zu doll.
Ich gehe zügig Richtung Garten, kurzerhand schaue ich noch einmal zurück und sehe nur, wie er ein Grinsen im Gesicht hat und wegfährt.
Er hat es auf jeden Fall bemerkt!
>Na prima. Ein toller Anfang, wie peinlich ist das denn!<
Während Emily und Michelle im Wohnzimmer einen Platz auf der Couch gefunden haben, sitze ich gelangweilt auf meinem Bett herum und hoffe, dass der Junge wieder die Straße entlangfährt. Doch nur lauter andere Kinder sind zu sehen.
Nach einiger Zeit sieht unsere Wohnung immer bewohnter aus.
Die Möbel sind schon fast alle aufgebaut, nur noch die ganzen Kartons müssen ausgepackt werden.
Mama scheint auch ziemlich erleichtert zu sein, dass es sich dem Ende neigt.
Der Umzugswagen wird heute zum letzten Mal gebraucht.
Dann sehe ich die Jugendlichen wieder draußen herum stehen. Ich ziehe mich an und gehe raus, ich will wissen, wie die so drauf sind.
Als ich am Ende des Gartens stehe, sehe ich sie reihum an der Hauswand des Nachbarhauses stehen.
Sie rauchen und lachen, reden und sind alle einige Jahre älter als ich. Ich gehe weiter, um zu schaukeln.
Da kommt ein Junge zu mir herüber. Er ist jünger als ich.
Setzt sich auf die Schaukel neben mir und fängt an mich zu provozieren.
„ Was willst du hier, woher kommst du? Du wohnst doch überhaupt nicht hier!“
Ich antworte darauf:
„Doch, ich wohne da hinten. Wir sind neu hierher gezogen.“
Daraufhin diskutiert er mit mir, welche Wohnung es denn sei und ob ich mir das überhaupt leisten könnte, so wie ich aussähe.
Er begann sich mit mir zu zanken und ich stoppte mit den Füßen, schaue ihn wütend an.
Er spuckte und ich tat es dann auch.
Doch ehe ich mich versehe trifft er mich.
Plötzlich schubst er seine Schaukel nach mir und diese schlägt mir dann auch noch genau an die Stirn oberhalb meines Auges.
Es fängt sofort an zu bluten.
Ich will mich noch irgendwie wehren, aber ich merke, dass ich wohl nicht nur einen kleinen Kratzer abbekommen habe.
Der Junge scheint geschockt von dem Anblick, dass er auf der Stelle wegläuft.
Ich halte mir die Hand an die Stirn und versuche zurück in den Garten zu gehen.
Auf halben Weg sieht mich dann der Typ auf dem Fahrrad, wie ich schwankend an den parkenden Autos vorbeigehe.
Er fragt mich bekümmert:
„Was ist los, was ist passiert?“
Ich bin so froh, dass er mich anspricht. Aber ich kann nicht stehenbleiben, ich muss zu Mama…
>Warum muss er mich ausgerechnet auch jetzt so sehen. Ich wünschte, er würde mich in den Arm nehmen und mich zu Mama bringen.<
Dann sehe ich den Garten vor mir, wie in einem Tunnelblick, versuche noch den Zaun zu erreichen und als ich vor unserem Garten stehe kippe ich um.
Der süße Typ auf dem Fahrrad ruft nach Mama, sie ist im ersten Augenblick schockiert, läuft in die Wohnung und ruft den Notarzt an. Der Junge bleibt bei mir.
Irgendwann höre ich auch schon die Feuerwehr mit Sirene in die Straße einfahren.
Zwei Sanitäter versuchen mich wach und ansprechbar zu halten.
„Das ist eine Platzwunde, wie ist das denn passiert?“, fragt mich einer von ihnen.
„Weißt du eigentlich wie viel du wiegst? Kriegen wir dich zu zweit überhaupt getragen?“, schmunzelt er.
Ich kann aber nichts sagen, mir ist immer noch leicht schwarz vor Augen und etwas komisch.
Dann nehmen sie mich mit ins Krankenhaus.
Dort klebt man mir die Platzwunde zu, genäht wird es nicht und ich muss ein paar Tage dort bleiben.
Ich verstehe mich hier richtig gut mit Petra, einer Krankenschwester. Sie ist immer fröhlich und gut drauf.
Sie bringt mir sogar ihre Schminke, damit ich mich ein wenig frisch machen kann, sagt sie.
Der Junge, der mir die Schaukel gegen den Kopf gerammt hat, lässt sich hier gar nicht blicken.
Seine Mutter hat lediglich ein paar Süßigkeiten mitgegeben und denkt wohl, damit wäre das Thema erledigt.
Sophie kommt einen Tag eher aus dem Krankenhaus nach Hause als ich.
Die Sommerferien sind leider nicht so perfekt verlaufen, wie wir es uns gewünscht hätten.
Als ich dann endlich am fünften Tag entlassen werde, freue ich mich endlich daheim zu sein.
Sophie hat fast die ganzen Ferien im Krankenhaus verbracht und kennt hier in unserer Straße jetzt noch niemanden.
Ich erzähle ihr von dem blonden Typ auf dem Fahrrad und auch, dass die anderen Nachbarn sehr nett zu sein scheinen.
Jetzt am Montag besuchen Sophie und ich gemeinsam die Realschule.
Ich bin echt sehr glücklich mit Allem.
Ein neuer Lebensabschnitt beginnt.
Eine neue große Wohnung, eine neue Schule und ein toller Typ hier in meiner Straße.
Was braucht man mehr für einen neuen Start?
10-12 Jahre (1998-2000)
Der erste Tag auf der Realschule beginnt. Um sechs Uhr klingelt der Wecker.
Wir machen uns alle fertig, ich bin noch immer ziemlich müde und schlurfe durch den Flur, um mir meine Klamotten zusammen zu suchen.
Heute will Mama uns zur Schule fahren. Um zwanzig nach sieben fahren wir los.
Diese Schule ist um einiges weiter entfernt von zu Hause als die Grundschule, die ich besuchte.
Endlich angekommen, macht es mich irgendwie sehr nervös. Ich habe die einzige Schlaghose, die ich habe, und eine blaue Bluse, die ich von Stefania noch habe, angezogen.
Ich bin die Einzige, die aus meiner Familie mittlerweile etwas modebewusst herum läuft.
Mir ist es manchmal sogar sehr peinlich, wenn man mich mit meinen Geschwistern irgendwo zusammen sieht.
Dabei versuche ich sie immer von anderen Hosen zu überzeugen, aber Mama fehlt auch manchmal das Geld dazu, unseren Wünschen irgendwie gerecht zu werden.
Stefania werde ich jetzt wohl selten sehen, schade dass die Grundschulzeit vorbei ist.
Eigentlich wären wir zusammen auf diese Schule hier gegangen, wenn sie nicht in eine andere Stadt gezogen wäre.
Ich hoffe, meine neue Klasse akzeptiert und mag mich.
Viele Schüler stehen auf dem Schulhof herum und viele sind viel älter als ich, das irritiert mich schon etwas.
Ich finde es aber irgendwie cool! Ich fühle mich dadurch etwas erwachsener, endlich auf einer weiterführenden Schule zu sein.
Da Sophie schon ein Jahr hier zur Schule geht, zeigt sie uns, wo die Mensa ist und wo wir uns einfinden müssen.
Meine Schüchternheit versuche ich zu unterdrücken, daher fühle ich mich zuerst sehr unwohl und habe das Gefühl, jeder würde mich anstarren!
In der Mensa stehen sie dann alle. Jeder, der die fünfte Klasse besuchen wird. Einige von ihnen verhalten sich distanziert und sehen ungeduldig und angespannt aus.
Nach einigen Minuten Wartezeit erscheinen auch endlich die Klassenlehrer.
Die Warterei ist schon anstrengend und auf das lange Herumstehen habe ich auch nicht wirklich Lust.
Ich wäre erleichtert, wenn ich diesen Teil für heute schon hinter mir hätte.
Ich schaue die Lehrer an und warte darauf, dass sie uns sagen, wer welcher Klasse zugewiesen wird.
Sie stehen vorne auf der Bühne und rufen unsere Namen auf, anschließend sollen wir uns zu dem Lehrer stellen, der uns aufgerufen hat.
Irgendwann höre ich meinen Namen und gehe was verkrampft und unsicher auf die Bühne.
Meine Beine fühlen sich so wackelig an, dass ich Angst habe zu stolpern.
Ich steige die Treppe konzentriert hinauf und schaue mir dabei alle einmal unauffällig an.
Wirklich nett und aufgeschlossen sieht keiner von ihnen aus, eher arrogant, eingebildet ein paar auch zurückhaltend. Ich bin erleichtert, als wir das endlich hinter uns haben und uns auf den Weg in die Klasse begeben.
Einige kennen sich aus der Grundschule, die sie zuvor gemeinsam besucht haben.
Und somit bilden sich auch schon die ersten Gruppen.
Oben am Klassenzimmer stehen noch einmal unsere Namen auf einer Liste, dort lese ich Stefanias Namen.
Sie wäre in meiner Klasse gewesen.
Schade, dass sie weggezogen ist; wenn sie jetzt wenigstens hier wäre, würde es mir das alles viel leichter machen.
Ich setze mich vorne an den ersten Tisch, hocke etwas teilnahmslos die nächste Zeit da und traue mich kein einziges Wort zu sagen. Bis wir uns alle vorstellen müssen.
Nach dieser Vorstellungsrunde besprechen wir unseren Stundenplan und welche Lehrer uns in diesem Schuljahr begleiten werden.
Ich habe wieder eine Klassenlehrerin. Sie macht auch einen ziemlich netten Eindruck. Nur ein bisschen komisch schaut sie aus, mit ihrem Kraushaar auf ihrem Kopf.
Um elf Uhr haben wir den ersten Tag auch schon geschafft.
Ich bin ziemlich erleichtert, dass alles so reibungslos verlief.
Nur etwas enttäuscht darüber, dass ich mich nicht ganz wohl fühle, aber das ändert sich vielleicht in den nächsten Tagen.
Ich muss mich heute unbedingt mit Stefania treffen und sie fragen, wie ihr erster Schultag gelaufen ist.
Sie fehlt mir.
Gegen Mittag rufe ich sie an und möchte mich für heute mit ihr verabreden. Mama würde mich später zu ihr fahren.
Sie freut sich, lehnt es aber ab dass ich zu ihr komme, weil ihre Eltern stressen, sie möchte lieber zu mir.
Da Mama nichts dagegen hat und ihre Eltern es ihr auch erlauben, kommt sie eben zu mir.
Ich erzähle ihr wie mein Tag gewesen ist, dass sie in der Klasse irgendwie eingebildet sind und ich mich da nicht so wohl fühle. Es wäre viel lustiger, wenn wir zusammen die Realschule besuchen könnten, sagt sie. Ich würde es mir ja auch nicht anders wünschen. Doch leider geht es nicht.
Sie wohnen ja in einer anderen Stadt, knappe zehn Kilometer von uns entfernt, woraufhin eine andere Schule für den Bezirk zuständig geworden ist.
Ich zeige Stefania unsere neue Wohnung und sie findet sie sehr cool. Ich erzähle ihr auch von den Jugendlichen, aber behalte das mit dem blonden Jungen für mich. Ich trau mich einfach nicht, es ihr zu sagen. Sonst versucht sie mich noch mit ihm zu verkuppeln - und wenn er mich überhaupt nicht leiden kann, dann stehe ich nachher ziemlich blöd dar.
Sie ist direkt sooo begeistert, dass sie mit mir raus gehen möchte.
Das war echt wieder typisch für sie. Ich lächele und sage:
„Klar, können wir machen.“
Als wir auch noch das Glück haben sie draußen anzutreffen, werden wir zuerst schief angeschaut.
Stefania interessiert es nicht, sie schaut mich an und holt ihre Packung Zigaretten heraus. Ich bin etwas verklemmt und will erst nicht rauchen.
Als sie sich ihre anzündet und sie mir hinhält, ziehe ich doch ein paar Mal daran. Ich will mich ja nicht blamieren.
Die Jugendlichen blicken teilweise interesselos zu uns herüber, außer Dominik, der Sohn von Marlies kommt unerwartet auf uns zu:
"Habt ihr ne Kippe für mich?", fragt er. Stefania nickt und gibt ihm eine.
"Line, sag mal weiß deine Mutter überhaupt, dass ihr raucht?"
Ich verneine es und rate ihm, es auch weiterhin für sich zu behalten! Er dreht sich weg und läuft den anderen hinterher, die auf dem Weg in Richtung Landstraße sind.
Stefania und ich schleichen uns unauffällig hinterher.
Sie gehen hinter einen Hügel, der vor lauter Hecken kaum zu erkennen ist. Wir schauen zu und sehen, dass sie ein Mädchen, das dabeisteht, ständig betatschen … dass es ihr gefällt ist gar nicht zu überhören. Sie lachen und rauchen dabei.
Irgendwas machen sie mit einer Dose und pusten danach Qualm aus. Ziemlich skeptisch schaue ich ihnen weiterhin zu. Was genau die da tun, kann ich nicht erkennen, und Stefania ist auch überfragt. Ich habe das vorher noch nie irgendwo gesehen.
Als wir bemerken, dass sie aus dem Versteck wieder heraus kommen, laufen wir los zurück ins Haus.
Hoffentlich sehen die uns nicht wegrennen!
Völlig aus der Puste und trotzdem total amüsiert schauen wir uns an. Wir finden es total aufregend, die Älteren dabei zu beobachten, was sie so treiben. Und dass sie uns nicht sehen können, während wir ihnen nachspionieren, macht die Sache natürlich noch interessanter.
Uns reizt es und hätten gerne länger zugeschaut über was sie so reden.
Mama bemerkt, dass wir über etwas schmunzeln und will wissen, was denn so witzig sei. Wir lachen nur noch mehr und sagen:
„Nichts!“, und gehen in mein Zimmer.
Stefania ist total fasziniert von Dominik. Sie schwärmt den ganzen Abend von ihm.
Es geht mir schon fast auf die Nerven. Sie will, dass wir unbedingt noch einmal rausgehen, um nach ihm zu schauen.
Da sie so ungeduldig ist und kaum ruhig bleiben kann, lasse ich mich darauf ein und wir gehen wieder vor die Tür.
Draußen ist der Blonde mit Dominik und noch einem kräftigeren gebauten Jungen zu sehen. Wir gehen hin und fragen freundlich nach einer Zigarette, um ins Gespräch zu kommen.
Dominik hat keine, aber der dickere, sein Name ist Martin, gibt uns eine. Wir unterhalten uns, doch ein netter und interessierter Dialog sieht anders für mich aus. Die haben wohl wenig Interesse daran, sich mit uns zu unterhalten.
Doch Stefania lässt sich nicht abwimmeln und versucht sich an Dominik ranzumachen.
Er kriegt es zwar mit, versucht ihren Annäherungsversuchen aber jedes Mal auszuweichen. Aber ganz abgeneigt scheint er nicht zu sein, glaube ich.
Als es stockdunkel ist und Mama uns rein ruft, verabschieden wir uns. Wir wollen auf jeden Fall das Wochenende zusammen verbringen. Obwohl ich Dominik schon lange kenne, hatten die zwei sich vorher noch nie gesehen.
Ja und jetzt habe ich den Salat.
Ich höre aus ihrem Mund nur noch „Dominik“.
Vom Erdgeschoss bekommt man auch ziemlich viel mit, was man woanders so nicht kann. Wenn die Fenster auf Kippe stehen und die Rollladen unten sind, versteht man jedes einzelne Wort. Ihre Anmachsprüche, ihren Blödsinn und die ersten obszönen Worte der Jugend bereichern meinen Wortschatz von Tag zu Tag mehr.
An einem Abend haben sogar welche Sex vor Mamas Schlafzimmerfenster. Ihr Gestöhne war nicht zu überhören.
In der Schule läuft es dafür leider nicht so gut. Die Lehrer sind zwar prima, aber viele Schüler achten nur aufs Geld um sich zu präsentieren.
Da kann ich nicht mithalten.
Ich besitze nur eine Schlaghose, auf die ich eigentlich auch sehr stolz bin.
All diese Markennamen höre ich hier zum ersten Mal.
Ich bin noch nie bei einem Friseur gewesen. Mama hat sie uns bisher immer geschnitten.
Ich werde so wie ich gekleidet bin total ausgegrenzt. Es redet kaum jemand mit mir und im Unterricht traue ich mich kaum ein Wort zu sagen, was natürlich einen großen Einfluss auf meine Gesamtnoten hat.
In den Pausen stehe ich immer alleine herum oder ab und an bei Sophie.
Da ich hier mit niemanden etwas zu tun habe, laufe ich die meiste Zeit orientierungslos auf dem Schulhof rum und vertreibe mir die Pausen mit Rauchen.
Umso mehr freue ich mich auf den Freitagnachmittag
Als Steffi endlich da ist, wird sich erst einmal gestylt. Zuhause darf sie es nicht, aber da Mama es nicht weiß, nutzen wir diese Unwissenheit natürlich aus.
Von drinnen sehen wir Dominik (15 Jahre) und Martin (15 Jahre) draußen herumstehen. Steffi traut sich plötzlich nicht zu ihnen hin und möchte, dass ich sie anspreche.
Als ich losmarschiere, trottet sie mir doch noch schnell hinterher. Martin schaut mich an und lächelt.
Dominik verkneift sich zögerlich sein Grinsen.
Nach ein paar Minuten kommen wir richtig ins Gespräch. Dadurch erfahren wir auch, dass dieses Mädchen, das sonst bei ihnen abhängt, über das Wochenende nicht da ist. Leider aber auch der Blonde nicht. Wer weiß, vielleicht reden sie ja auch nur deshalb erst jetzt mit uns, weil sie sich vor den anderen schämen, sich mit uns zu unterhalten.
Wir verbringen den ganzen Abend mit den Beiden. Wir lachen und haben jede Menge Spaß.
Als es dunkel wird, fragt uns Martin, ob wir nicht Lust haben, mit zu ihm in den Garten zu kommen. Klar willigen wir in dieses Angebot sofort ein!
Wir gehen also zusammen zu ihm und setzen uns gemütlich auf die Gartenstühle. Sie trinken Bier und ich gönne mir ab und zu auch einmal einen Schluck, den ich widerwillig runter schlucke.
Ich trinke das erste Mal dieses Zeug, es schmeckt zwar nicht sonderlich gut, aber mich interessiert auf einer Seite schon, wie es ist einmal besoffen zu sein. Irgendwie muss ich mich ja auch mit diesem Getränk anfreunden um einen Eindruck zu hinterlassen.
Gegen zehn Uhr ruft uns Mama rein, obwohl wir noch gar keine Lust haben zu gehen. Ich verspreche deshalb, dass wir gleich wiederkommen werden. Steffi fragt mich, wie ich es mir denn vorstelle wieder raus zu kommen.
Ich nehme sie an die Hand, ziehe sie hinter mir her und dränge sie in mein Zimmer.
Wir wünschen meiner Mama eine gute Nacht, machen das Licht aus und sind einen Augenblick still!
Sophie schläft Gott sei Dank schon tief und fest.
Wir warten eine Zeit, mache das Fenster auf,
sie starrt mich an, ich helfe ihr hoch, sie springt hinaus und ich direkt hinterher. Lehne das Fenster an und wir laufen wieder rüber.
Wir albern so laut herum, lachen und schubsen uns, bis wir plötzlich bemerken, dass uns ein Nachbar auf dem Balkon über uns beobachtet. Er raucht eine Zigarette und schaut uns nach. Ich aber lache und stupse Steffi gegen die Schulter:
„Psssst, kannst du mal nicht leise sein?“ Sie guckt mich an:
„Was ist, wenn uns jemand verpetzt?“
„Wir sind neu hier in der Gegend, hier kennt uns doch sowieso noch niemand.“, sagte ich und zog sie am Ärmel hinter mir her.
Als wir am Garten der Beiden angekommen sind, ist niemand mehr da. Ziemlich frustriert drehen wir uns um und machen uns auf den Weg zurück!
Bis die Beiden plötzlich von hinten angelaufen kommen und uns erschrecken.
Bis um Mitternacht reden wir über Gott und die Welt. Irgendwie ist Martin auch ganz schön süß.
Er schaut mich immer so an, als wolle er mir irgendwas sagen, oder ich bilde mir das nur ein.
Gegen 1:00 Uhr will Martin ins Bett, was ich echt schade finde. Dominik will kurz zu sich rein, möchte aber danach noch etwas rauskommen.
Steffi ist so verknallt und fragt mich tatsächlich, ob der Martin denn nichts für mich wäre. Das fände sie irgendwie toll, wenn wir beide mit den Zweien zusammen wären.
Ich wackele verlegen mit dem Kopf:
„Nee, ich weiß nicht.“
Plötzlich kommt ein Auto angefahren. Ziemlich rasant bremst es genau vor unseren Füßen ab.
Wir erschrecken uns und glauben erst gar nicht was wir sehen. Dominik sitzt am Steuer.
Er hat sich einfach das Auto von seinen Eltern genommen.
Es ist ein schwarzer Fünfsitzer und sieht nicht gerade billig aus. Der ist total bescheuert, der Doof.
>Der hat doch noch überhaupt keinen Führerschein.<
Jetzt verstehe ich, was Marlies damit meint: er sei schwierig. Wir steigen ohne weiter darüber nachzudenken ein und fahren los. Mit seinen 15 Jahren fährt er sogar beachtlich gut. Wir fahren auf einem Parkplatz herum und legen eine kurze Tour über die Autobahn zurück. Wir schauen aus dem Fenster und unterhalten uns.
Auf einmal fährt uns die Polizei an einer Kreuzung entgegen. Sie schauen uns an, aber bemerken nichts.
Dominik bleibt dabei ziemlich cool und fährt bei Grün angemessen weiter, als gäbe es nichts zu beanstanden.
Danach hält er auf einem nahegelegenen Parkplatz an.
Ich gehe dort mal für kleine Mädchen. Als ich wieder komme, scheinen sich die Beiden bestens zu verstehen.
Dominik hält Steffi im Arm und sie knutschen wild herum.
Da ist man mal einen Moment lang nicht da, schon bricht das Chaos aus.
Ich mache die Autotür auf und setze mich rein. Ich rauche eine Zigarette und lege mich auf die Rückbank ohne mich anzuschnallen. Während die Zwei rumknutschen, versuche ich mit dem Qualm kleine Kringel in die Luft zu pusten. Und dann wird es mir auch langweilig:
„ Können wir jetzt wieder weiterfahren? Das hört sich ja an, als hätte man zwei schlabbernde Kamele im Auto.“
Kurze Zeit darauf zündet er den Motor.
In den Kurven falle ich fast von der Rückbank herunter, worauf sich Steffi jedes Mal begeiert.
Ich lache zwar mit, aber ich wäre jetzt viel lieber in meinem warmen Bettchen.
Etwas enttäuscht bin ich auch, dass Martin nicht dabei sein konnte. Wenn ich Stefania mit Dominik sehe, beneide ich sie schon etwas.
Um kurz nach drei sind wir wieder zu Hause. Bei Martin scheint noch das Licht im Zimmer. Ich will aber nur noch ins Bett und endlich schlafen.
Stefania sieht das alles anders. Sie würde sogar draußen schlafen, nur um bei Dominik zu bleiben.
Wir klettern durch das Fenster ins Zimmer zurück und legen uns beide schlafen. Stefania wirkt total aufgewühlt, sie fragt mich noch ein paar Mal, ob wir nicht doch noch zu Dominik gehen können, aber ich lehne es konsequent ab, ich habe einfach keine Lust mehr.
Ich versuche ihr verständlich zu machen, dass wir mit dem Abhauen auch vorsichtig umgehen müssen, sonst können wir uns das nächtliche Herumtollen sehr bald abschminken und sie sich ihren Dominik gleich mit! Erst dann fragt sie nicht weiter danach.
Am nächsten Morgen stehen wir erst gegen Mittag auf. Wir essen in Ruhe und gehen zusammen duschen.
Während wir in der Dusche stehen, klopft es von draußen ans Badezimmerfenster.
Da wir die Rollladen nicht runter gemacht haben, kann man unsere Schatten durchs Milchglasfenster erkennen.
Ich kippe das Fenster und frage wer da ist.
Dominiks Stimme erklingt und ein anderes Lachen ertönt im Hintergrund.
Der blonde Typ auf dem Fahrrad steht überraschenderweise mit dabei. Steffi ruft ungeduldig zwischen den Fensterspalt hindurch:
"Wir kommen gleich!"
Ich mache das Fenster zu, wir spülen uns den Schaum aus den Haaren und duschen zu Ende.
Machen uns eifrig fertig und gehen hinaus.
Steffi fällt Dominik direkt in die Arme und der Blonde
(17 Jahre) stellt sich mir endlich mit seinem Namen Andre vor. Jetzt, da ich ihn vom Nahen mustern kann, finde ich ihn gar nicht mehr so süß wie zu Anfangs.
Er hat irgendwie ein komisches Lachen.
Das sieht aus, als würde dich der Clown "ES" anlachen, so groß und schmal verzieht sich sein Gesicht beim Grinsen.
Irgendwie sieht es auch aus, als hätte er in seinem jungen Alter schon Falten.
Die dieses Grinsen nur noch deutlicher zum Ausdruck bringen.
Hübsch sieht das absolut nicht aus, davon bekommt man doch eher Alpträume!
Martin gefällt mir da schon viel eher.
Er hat ein verlegenes Lächeln und wie er mich dabei ansieht, das ist mit nichts Schönerem zu vergleichen. Dass er ein paar Kilo mehr hat, das interessiert mich überhaupt nicht.
Dominik gibt uns eine Zigarette, die ich ziemlich eingeschüchtert runter halte, damit es niemand sehen kann.
Sofort mache ich drauf aufmerksam, dass wir hier nicht weiter so herum stehen können. Wenn das jemand sieht, wird es richtigen Ärger geben!
Wir machen uns somit alle Vier auf den Weg und gehen unter den Tunnel.
Das ist ein Treffpunkt uns Jugendlichen hier aus der Straße.
Ein paar Minuten später sehe ich, dass Martin aus seinem Vorgarten tritt und in unsere Richtung kommt.
Mein Bauch fängt an zu kribbeln, mir wird warm und wieder kalt und ich werde ziemlich nervös.
Ich würde am liebsten Steffi schnappen und nach Hause gehen. Ich stehe total starr vor Aufregung da und wende meinen Blick immer wieder ab.
Als er vor uns steht, beachtet er mich erst überhaupt nicht. Begrüßt Dominik und Andre und ein "Hallo" widmet er auch Steffi. Er plaudert ein wenig mit ihnen, dann fällt noch kurz der Name Sabine (16 Jahre).
Danach dreht er sich um und bietet mir ungehemmt vor Andre eine Zigarette an. Obwohl ich eben erst eine geraucht habe, nehme ich sie. Ich rauche sie zusammen mit ihm, während Dominik über den gestrigen Abend herum prahlen muss.
Ich merke, dass Martin genervt davon ist und er es völlig idiotisch von ihm findet. Andre wirkt von Minute zu Minute immer unruhiger und bemerkt wohl das Interesse zwischen Dominik, Martin, Steffi und mir und verschwindet kurze Zeit später.
Als Martin den Dominik anstupst und ihm zuzwinkert, schaut er uns an und sagt kurzerhand, dass sie mal weg müssten.
Wir lassen sie zwar ohne weitere Worte gehen, fragen uns aber die ganze Zeit, wo sie wohl hingehen.
In der Zeit, da sie weg sind, gehen wir rein und setzen uns zu Mama an den Küchentisch. Steffis Handy klingelt zwei – drei Mal mit SMS von Dominik und ich fange an, mit Mama über Handys zu reden.
Ich möchte auch unbedingt eins haben. Sie will es aber nicht, sie begründet das nur mit dem Satz, dass ich so etwas nicht brauche und was ich damit denn überhaupt will.
Als es endlich an der Türe klingelt, sind die Zwei wieder zurück. Steffi rennt noch einmal kurz zum Spiegel, macht sich ihren Lipgloss drauf und wir gehen anschließend zurück vor die Türe.
Meine zwei kleinen Schwestern kommen mir auf dem Weg nach draußen entgegen und wollen rein zum Spielen.
Wir setzen uns auf dem nahe gelegenen Spielplatz auf eine Bank und rauchen.
Als Dominik eine selbstgedrehte Zigarette raucht, wird es Steffi und mir ziemlich schummrig im Magen. Es riecht irgendwie komisch. Mir wird schon fast schlecht davon, weil es so intensiv riecht.
Steffi nimmt wie immer kein Blatt vor den Mund und will natürlich sofort wissen, was das ist:
"Sind das Drogen? Dominik, sag es mir! Ich will das wissen!"
Doch er belächelt es und sagt, sie soll aufhören herum zu spinnen! Als ob er Drogen nehmen würde.
Sei doch lächerlich, so etwas über ihn zu behaupten! Er erklärt uns, dass es irgendein Aroma Tabak sei.
Dabei hampelt er aber nervös umher, was mir die Sache nicht wirklich glaubhaft erscheinen lässt.
Das würde es in vielen Geschmacksrichtungen geben, wie Erdbeere, Vanille, Pfefferminz und vieles mehr, beteuert er uns ständig.
Daraufhin fragt er uns, ob wir es auch mal probieren wollen.
Da wir ihm nicht ganz glauben können, was er da sagt, lehnen wir sein ungewöhnliches Angebot ab.
Martins Blick bei Dominiks Frage sah komischerweise auch irgendwie entsetzt aus, was es mir noch offensichtlicher macht, dass Stefania vielleicht gar nicht so unrecht hatte.
Er sah aus, als würde er ihm am liebsten sagen wollen:
"Was redest du da gerade für eine Scheiße!!!"
Irgendwie scheint uns das Ganze nicht ganz geheuer zu sein. Reden aber nicht weiter darüber, stattdessen fangen wir mit den Beiden zu flirten an. Martin kommt mir manchmal so nah, dass es mich unheimlich nervös macht.
Wir verbringen die Zeit bis zum Sonntagabend zusammen, bis Mama Steffi nach Hause fahren muss.
Das Wochenende ist perfekt gewesen und Martin ist sooo süß! Dabei werde ich gerade mal elf und er ist fünfzehn. Steffi wird bald zwölf, sie ist ja ein Jahr älter als ich und hat genau an Heiligabend Geburtstag, ich knapp einen Monat vorher.
Ich habe überhaupt keine Lust morgen auf die Schule.
Die können mich doch eh alle nicht leiden.
Ständig muss ich mir mit ansehen, wie sie mich ignorieren oder über mich reden oder auch lachen. Will gar nicht wissen was sie über mich erzählen.
Viel lieber würde ich jeden Tag bei Martin sein und unsere nächtlichen Ausflüge genießen. Ich hoffe die Schultage vergehen schnell bis zum Wochenende.
Die nächsten Zwei Wochen vergehen aber ganz angenehm.