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Heine Bakkeid

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Beschreibung

Wenn man am Tiefpunkt ist, gibt es nur einen Weg: hoch, in den Norden Thorkild Aske wird aus dem Gefängnis entlassen. Früher war er interner Ermittler bei der norwegischen Polizei und ein gefragter Verhörspezialist, doch dann lief etwas entsetzlich schief. Nun steht er vor dem Nichts. Von Schuldgefühlen und Schmerzen geplagt, lässt er sich von seinem Freund und Psychologen Ulf überreden, nach einem jungen Mann zu suchen: Rasmus Moritzen arbeitete auf einer verlassenen Leuchtturmwärterinsel im nordnorwegischen Meer. Er ist spurlos verschwunden. Ein Tauchunfall, vermutet die örtliche Polizei, für sie ist der Fall erledigt. Doch damit wollen sich Rasmus' Eltern nicht zufrieden geben. Thorkild macht sich auf in den Norden, wo die Polarnacht anbricht. Bald schon bemerkt er, dass er nicht allein auf der kargen Felseninsel ist. Und als die Herbststürme wüten, wird tatsächlich eine Leiche angeschwemmt. Thorkilds alter Spürsinn erwacht: Denn es handelt sich nicht um Rasmus. Die Thriller-Entdeckung aus Skandinavien: packend, atmosphärisch, voller Sogkraft.

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Ähnliche


Heine Bakkeid

... und morgen werde ich dich vermissen

Thriller

Aus dem Norwegischen von Ursel Allenstein

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Wenn man am Tiefpunkt ist, gibt es nur einen Weg: hoch, in den Norden

 

Thorkild Aske wird aus dem Gefängnis entlassen. Früher war er interner Ermittler bei der norwegischen Polizei und ein gefragter Verhörspezialist, doch dann lief etwas entsetzlich schief. Nun steht er vor dem Nichts. Von Schuldgefühlen und Schmerzen geplagt, lässt er sich von seinem Freund und Psychologen Ulf überreden, nach einem jungen Mann zu suchen: Rasmus Moritzen arbeitete auf einer verlassenen Leuchtturmwärterinsel im nordnorwegischen Meer. Er ist spurlos verschwunden. Ein Tauchunfall, vermutet die örtliche Polizei, für sie ist der Fall erledigt. Doch damit wollen sich Rasmus' Eltern nicht zufrieden geben.

Thorkild macht sich auf in den Norden, wo die Polarnacht anbricht. Bald schon bemerkt er, dass er nicht allein auf der kargen Felseninsel ist. Und als die Herbststürme wüten, wird tatsächlich eine Leiche angeschwemmt. Thorkilds alter Spürsinn erwacht: Denn es handelt sich nicht um Rasmus.

 

Die Thriller-Entdeckung aus Skandinavien: packend, atmosphärisch, voller Sogkraft.

Über Heine Bakkeid

Heine Bakkeid, Jahrgang 1974, ist ein renommierter norwegischer Jugendbuchautor. «... und morgen werde ich dich vermissen» ist sein erster Kriminalroman und Auftakt der Reihe um den ehemaligen Polizisten Thorkild Aske, die in 11 Ländern erscheint. Bakkeid beherrscht die Kunst des filmischen Erzählens, die raue, maritime norwegische Landschaft ist die perfekte Kulisse dafür.

Es gibt Tage, an denen man nicht sieht, dass die Berge noch stehen.

Es kommen Stunden, in denen alle Dinge schnell in der Flut entlang den öden Stränden verschwinden.

Augenblicke, da man keinen Menschen kennt.

Herbjørg Wassmo

SIEBEN MINUTEN

Um drei Minuten nach fünf kommt die Reue. Eine panische Reue, die durch meinen Körper jagt, während ich nach Luft japse. Ich zucke und zittere und zappele mit den Beinen, um mich zu befreien, doch es hilft nichts.

Zwei weitere Minuten sind vergangen, und meine verzweifelten Atemzüge werden endlich ruhiger. Ich spüre, dass ich keinen Sauerstoff mehr brauche, sondern einfach nur an diesem Strick baumle, und mein System schaltet sich nach und nach ab.

Es ist acht Minuten nach fünf, und ich höre das Wasser unter mir auf die Fliesen prasseln. Ein heiseres Gurgeln entfährt meiner Kehle, während mir die Tränen über die Wangen rinnen – oder der Wasserdampf – und das, was noch von mir übrig ist, mit in den Abfluss im Boden spülen. Ich friere.

Dann steht sie da. Direkt vor mir, so grau wie der übrige Raum. Ich merke, dass ich lächeln will. Ich möchte jubeln vor Freude darüber, sie wiederzusehen. Ich versuche, den Mund zu öffnen, um es ihr zu sagen, ihr mitzuteilen, dass dies das höchste Glück ist, das ein Mensch zu fühlen imstande ist. Stattdessen höre ich ein Knacken, und im nächsten Moment liege ich auf dem Boden. Das Wasser aus den Gefängnisduschen spült über mein Gesicht, während der schwarze Zeiger an der Wanduhr weitertickt.

Zehn nach fünf.

Mittwoch

1

Stavanger ist die Stadt der weichen Hundehaufen. Wie Pilze ragen sie in verschiedenen Brauntönen auf ihre ganz eigene beschissene Weise vom Asphalt auf.

Ich schreite über einen weiteren braunen Asphaltpilz hinweg und eile die Pedersgata entlang in Richtung Zentrum. Früher lag die Arbeitsvermittlung in einem ebenerdigen Großraumbüro mit Panoramafenstern, die auf die Klubbgata und den See Breiavatn hinausgingen. So konnten die Passanten auf die armen Kreaturen herabsehen, die sich hinter den Plastikpflanzen, Raumteilern und Lampenschirmen vor Nachbarn und Bekannten zu verstecken versuchten, während sie erklären mussten, warum sie ihre Arbeit verloren hatten. Diese Inszenierung des asozialen Individuums hat seit meinem letzten Aufenthalt allerdings den Ort und den Namen gewechselt. Jetzt befindet sich die Behörde in traditioneller eingerichteten Räumlichkeiten direkt nebenan.

Ich ziehe eine Wartenummer aus dem Automaten und setze mich auf ein rotes Sofa in einem Raum ohne Fenster und Sauerstoff. Es ist eine Art Bunker auf Bodenhöhe, wo der Geruch von Schweiß und Käsefüßen und der übliche Versagergestank, den die hiesige Klientel ausdünstet, sofort alle Sinne befällt, sobald man zur Tür hereintritt. Trotz der vielen Menschen um mich herum ist nahezu kein Geräusch zu hören. Nur ein träges Summen und sporadisches Tastengeklapper unterbrechen die Stille.

«38?»

Eine Arbeitsvermittlerin steckt den Kopf durch die Tür und sieht sich im Wartezimmer um. Ich gehe auf sie zu, und sie begrüßt mich mit einem schlaffen Händedruck und bittet mich herein.

«Ich heiße Iljana», sagt sie mit starkem osteuropäischem Akzent und sinkt auf ihren Bürostuhl. «Nehmen Sie doch Platz.»

«Danke», antworte ich und setze mich.

Iljana hat schwarzes, wirres Haar, das zu einem Knoten hochgesteckt ist. Sie trägt ein graues Kostüm mit großen schwarzen Knöpfen, wie man sie früher einmal Teddybären als Augen eingesetzt hat.

«Wie kann ich Ihnen helfen?»

Ich nenne ihr mein Geburtsdatum und meine Personennummer, und Iljana tippt die Angaben ein.

«Thorkild Aske?»

«Ja, das bin ich.»

«Waren Sie früher schon einmal arbeitssuchend gemeldet?»

«Nein.»

Ich reiche ihr den Brief, den mir mein Resozialisierungshelfer im Gefängnis von Stavanger mitgegeben hat.

Iljana lehnt sich über ihren Schreibtisch, während sie liest. Als sie fertig ist, lächelt sie schwach. Sie hat kleine Zähne, beinahe unnatürlich klein, und ihre Augen sind genauso grau wie ihr Kostüm.

«Na gut, Thorkild.» Sie faltet ihre Hände auf dem Schoß. «Ihr Resozialisierungshelfer schreibt, Sie würden gern an einer fächerübergreifenden Weiterbildung teilnehmen, die Ihnen nach der Haft dabei hilft, wieder in die Gesellschaft zurückzufinden. Und das ist natürlich gut.» Sie betont das Wort gut und lächelt erneut.

Ich nicke.

«Ich war beim Verein zur Wiedereingliederung, der mir eine Wohnung und einen Psychiater und einen Hausarzt vermittelt hat, und ich habe mit verschiedenen Integrationsgruppen gesprochen. Sie alle bilden eine sogenannte Verantwortungseinheit, die mir dabei hilft, meine kriminelle Laufbahn hinter mir zu lassen. Wenn Sie mich fragen, bin ich zu beinahe einhundert Prozent rehabilitiert.»

Sie versteht die Ironie nicht und wendet sich wieder ihrem Computer zu. «Sie sind auf die Polizeischule gegangen.» Sie scrollt auf dem Bildschirm nach unten, während sie spricht. «Polizeimeister, Polizeikommissar, Polizeihauptkommissar und dann eine Position bei der Spezialeinheit für interne Ermittlungen.» Sie zögert und fährt sich mit der Zungenspitze über die kleinen Vorderzähne, ehe sie sich mir wieder zuwendet.

Ich komme ihrer Frage zuvor. «Das ist die Polizei, die die Polizei jagt.»

«Aha.» Sie nickt. «Dann liegt es wohl auf der Hand, dass wir wieder nach einer Tätigkeit bei der Polizei suchen, wenn Sie so weit sind, oder?»

Ich lächle zurück. «Ich wurde vom Dienst suspendiert», sage ich und spüre, wie der Schmerz in meinen Wangen und das Grummeln im Bauch wieder erwachen. Und gleichzeitig ist mein Mund so trocken, dass ich kaum sprechen kann.

«Wie bitte?»

Ich habe eine Wasserflasche dabei, schraube den Deckel ab und trinke, in der Hoffnung, dass das Wasser hilft. «Aber gegen mich wurde auch ein Berufsverbot verhängt.»

«Für wie lange?»

«So lange ich lebe», antworte ich, schraube den Deckel wieder zu und stelle die Wasserflasche neben mich auf den Boden. Das Kribbeln unter meiner Gesichtshaut geht in ein schmerzvolleres, pulsierendes Hämmern über.

«Und was haben Sie jetzt vor?»

«Ich hatte gehofft, das könnten Sie mir sagen.» Ich nehme die Flasche wieder und zerquetsche sie zwischen den Händen. Alles macht mich ratlos – die Schmerzen, der Geruch, das Licht, der Mangel an Sauerstoff und die Situation. Hier zu sitzen und mit noch einer Fremden sprechen zu müssen, wieder einer Verantwortlichen. Ich habe das dringende Bedürfnis, in einem Raum ohne reflektierende Flächen allein zu sein. Und trotzdem weiß ich, dass ich hier durchmuss, um auf die andere Seite zu gelangen. Ulf hat gesagt, es würde kein Weg daran vorbeiführen.

Iljana blickt wieder auf den Brief, ehe sie sich zum Bildschirm hindreht.

«Hier steht, dass Sie eine Berufsunfähigkeitsrente beantragen wollen, während Sie in medizinischer Behandlung sind?»

Ich nicke. «Es herrscht im Moment eine gewisse Uneinigkeit darüber, wie viel Prozent Arbeitsfähigkeit ich eigentlich noch habe. Nach meinem Arbeitsunfall.» Ich male mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft. «Und trotzdem sind ich, die Kontaktbeamten, der Resozialisierungshelfer, das Krankenhauspersonal, der Gefängnispfarrer, der Hausarzt, der Psychologe und mein Freund, der Psychiater, zu der Entscheidung gekommen, dass ich längerfristig einen würdigen Versuch unternehmen sollte, wieder am Arbeitsleben teilzuhaben.»

«Arbeitsunfall?»

«Steht das denn nirgendwo?» Ich zeige auf den Brief. «Der Mensch Thorkild Aske hat versucht, sich einige Monate vor seiner Entlassung aus dem Gefängnis an einem Rohr in der Gemeinschaftsdusche zu erhängen. Und noch dazu mitten in den Weihnachtsferien.»

«Was ist passiert?», flüstert sie.

«Das Rohr brach durch.»

Iljana starrt mich an, als hätte sie Angst, ich könnte sie oder mich selbst jeden Moment mit einer der dekorativen Plastikbananen auf ihrem Schreibtisch attackieren.

«Also gut», sagt sie schließlich zögernd. Sie holt tief Luft und räuspert sich. «Dann wollen Sie wohl eine Umschulung machen?»

«Umschulung zu was?» Ich quetsche die Wasserflasche so fest zusammen, dass kleine Wassertropfen über meine Finger und auf den Boden spritzen. «Zu einem vierundvierzigjährigen Erdgasingenieur mit Gehirnschaden? Oder Börsenmakler? Oder Zahnarztgehilfen?»

Iljana schielt verstohlen zu der Uhr in der rechten Ecke des Bildschirms, ehe sie mit neuen Schwung sagt: «Ich würde vorschlagen, wir warten erst einmal ab, wie über Ihren Antrag auf Arbeitsunfähigkeitsrente beschieden wird. Und bis dahin sehen wir uns verschiedene Möglichkeiten an, wie Sie außerhalb des Polizeiberufs wieder ins Arbeitsleben einsteigen können.»

Sie tippt etwas ein, scrollt nach unten und haut schließlich noch einmal fest in die Tasten, bis sie zufrieden ist und sich wieder mir zuwendet. «Was halten Sie denn davon, in einem Callcenter zu arbeiten?»

2

Ich will einen Versuch unternehmen, die Schmerzen in Wangen und Bauch durch Nahrungsaufnahme zu vertreiben, und kaufe ein Club Sandwich in einem Café direkt neben dem Arbeitsamt. Anschließend gehe ich die Hospitalgata entlang und weiter durch die Pedersgata und nehme Kurs auf die Einzimmerwohnung, die mir von der Kriminalfürsorge zugeteilt wurde und direkt unterhalb der Stadtbrücke liegt.

Im Briefkasten finde ich einen Möbelkatalog und einen Umschlag, der an mich adressiert ist. Es ist immer derselbe, nur das Alter der Kinder ändert sich. Sie werden älter, aber ihre Gesichter sind nie dieselben. Als ich zum ersten Mal einen solchen Brief bekam, waren es Bilder von Babys aus Zeitschriften und Katalogen. Anfangs schickte sie auch Ausschnitte von Babybetten, Rasseln, Milchfläschchen und Milchpumpen.

Ich nehme den Brief und den Katalog mit und schließe meine Wohnungstür auf. Die Post lege ich auf den Tisch zwischen dem Sofa und dem Fernsehmöbel ohne Fernseher, ehe ich zur Küchenzeile gehe und den Tablettendosierer aus dem Schrank über dem Miniherd hole. Ich öffne den Mittwochsdeckel, entleere den Inhalt des kleinsten Fachs in meine Handfläche und spüle ihn mit einem Schluck Wasser herunter. Anschließend stelle ich die Kaffeemaschine an und setze mich mit dem Brief aufs Sofa.

Diesmal befinden sich zwei Ausschnitte darin. Ein Foto von einem sieben- oder achtjährigen Jungen mit leicht gelocktem braunem Haar. Er trägt ein buntes T-Shirt mit dem Aufdruck eines Fischs mit Hut und Schnorchel, der in einem Korallenriff umherschwimmt. Der Text darunter lautet: Findet die perfekten Anziehsachen für Spiel und Spaß – Jeans, T-Shirts, Jacken und vieles mehr. Wir haben bunte und strapazierfähige Kinderkleidung in allen Größen.

Das zweite Foto zeigt ein Mädchen im gleichen Alter. Laut Bildunterschrift trägt sie eine kurzgeschnittene altrosa Jacke mit abnehmbarem Kunstpelzkragen, eine enggeschnittene Jeans und ein passendes T-Shirt. … Wir bieten Jeans für den Alltag, praktische Kleidung zum Spielen und schicke Kleidung für festliche Anlässe und für jede andere Gelegenheit …

Ich lege die Ausschnitte vorsichtig wieder in den Umschlag und schiebe sie zusammen mit dem Möbelkatalog ans Ende des Tisches, ehe ich mich auf dem Sofa zurücklehne und die Augen schließe.

Da klingelt das Telefon.

«Na?», sagt eine raue Männerstimme mit ausgeprägtem Bergenser Dialekt und zieht gierig an einer Zigarette. Ulf Solstad ist ausgebildeter Psychiater und Leiter meiner neuernannten Verantwortungsgruppe. «Wie lief das Treffen?»

Ich habe Ulf während meiner Haft im Gefängnis kennengelernt, wo er eine achtzehnmonatige Haftstrafe wegen Erpressung absaß, ohne dass dies die Nachfrage nach seinen Diensten anschließend in irgendeiner Weise beeinträchtigt hätte. Ganz im Gegenteil scheint er bei den Bürgern der Stadt, die Geld und Probleme haben, jetzt sogar noch gefragter zu sein als vor seinem Knastaufenthalt.

«Großartig», antworte ich spöttisch. «Sieht ganz so aus, als würde mir eine herausragende Karriere im Callcenter bevorstehen.»

«Reg dich ab, Maaann!» Selbst für einen Menschen aus Bergen zog Ulf das A unnatürlich in die Länge. «Halt einfach durch und folge den Rattengängen durch dieses verwirrende Netzwerk, das man für solche wie dich aufgebaut hat. Genau das will man: alle aussieben, die nicht stark genug sind. Wenn sie dich zu denen sortiert haben, die Rehabilitierungsleistungen beziehen dürfen, dauert es nicht mehr lange, bis du für immer in den Kreis der Asozialen aufgenommen wirst, das verspreche ich dir. Und bis dahin: Mach dich locker.»

«Wie bitte?»

«Hör mal», sagt Ulf, während ich mich aus dem eingesunkenen Sofa hochmühe, um mir eine Wasserflasche zu holen. «Ich fühle mich sehr geehrt, dass du mich zu einem Mitglied in deiner Verantwortungsgruppe ernannt hast, und ich verspreche, alles zu tun, damit du im Leben das erreichst, was du dir wünschst, Thorkild.»

Ich höre die Zigarette knistern.

«Ich brauche mehr Sobril.» Ich klaube die Wasserflasche auf, die mir aus der Hand gefallen und unter das Sofa gerollt ist. «Ich habe bald keine mehr. Außerdem müssen wir die Dosis vom Oxycontin erhöhen.»

«Sind die Schmerzen schlimmer geworden?»

«Ja», antworte ich. «Und ich habe neuerdings beim Gehen Krämpfe in den Beinen.»

«Vielleicht sollten wir lieber die Neurontin-Dosis überprüfen?»

«Nein!», rufe ich und presse meinen Zeigefinger in das zerstörte Wangengewebe. Bald brennt mein ganzes Gesicht vor Schmerz. «Davon bekomme ich Kopfschmerzen. Und von den Risperdal auch. Ich vertrage sie einfach nicht.»

«Thorkild, das Thema hatten wir schon mal. Neurontin ist speziell für Nervenschmerzen gedacht, und das wirst du wahrscheinlich für den Rest deines Lebens nehmen müssen. Risperdal ist ein Anti-Psychotikum, auf das du weiterhin in höchstem Maß angewiesen bist. Man glaubt immer, man bräuchte mehr Benzodiazepine, weil sie die Angst dämpfen. Die und die Oxys. Aber das ist keine Lösung. Wenn wir etwas herabsetzen, dann die, und über das andere entscheiden wir nach und nach, wenn du dich außerhalb der Mauern wieder halbwegs zurechtfindest. Alles klar?»

«Ich kann aber nicht schlafen», schmolle ich und schiebe mit der Ferse die Post vom Tisch. Ich weiß, dass er recht hat, und das ärgert mich.

«Doch, das kannst du», erwidert Ulf ruhig. «Deshalb habe ich dir das Sarotex verschrieben.» Er hustet kräftig, ehe er fortfährt: «Du nimmst sie doch immer noch alle, oder?»

«Was meinst du?»

«Na, die Medikamente. Du nimmst sie doch?»

«Natürlich.»

«Auch die Risperdal?»

«Ja.»

«Dir ist schon klar, dass du sie brauchst, Thorkild?»

«Jaja, ich weiß», antworte ich viel zu schnell.

«Hör auf, mich zu belügen!», ruft Ulf streng. «Ich bin nicht dieser verdammte bucklige Gefängnispfaffe, der verzweifelt versucht, seine Himmelsquote zu erfüllen.» Er atmet schwer. Ich habe sein Ritual der perfekten Zigarette gestört, und er wird sich sofort eine neue anzünden müssen, sobald er diese bis zum Filter in sich eingesogen hat.

«Er hat gesagt, ich wäre eine Biene ohne Blumen.»

«Wer?»

«Der Gefängnispfarrer.»

«Willst du mich verarschen?»

«Nein.»

Ulf steckt sich tatsächlich eine neue Zigarette an und atmet schwer in den Telefonhörer. «Erzähl mir die Geschichte, Thorkild. Bitte, tu mir den Gefallen!»

Ich beschließe, ihm diesmal eine gelungene Zigarettenpause zu bescheren, und erzähle. «Ich bin eine Biene in einer Welt ohne Blumen, und die Entscheidung, wie ich die Zeit bis zum Winter nutzen werde, liegt ganz in meiner Verantwortung.»

«Bis zum Winter?» Ulf raucht und atmet harmonisch. Ich kann es durchs Telefon genau hören. In der Art und Weise, wie er den Rauch einsaugt und wieder hinausbläst, liegt tiefe Dankbarkeit.

«Der Winter, der früher oder später in unser aller Leben einbricht», fahre ich fort und spüre, wie sich auch meine Muskeln entspannen. Ich sinke auf das Sofa zurück und lasse mich von dem Möbel nach unten zwischen die Kissen ziehen. Die guten Pillen sorgen dafür, dass sich der Schmerz allmählich auflöst und verschwindet.

«Du verarschst mich doch? Bitte sag, dass das nicht wahr ist, Thorkild?»

«Nein, ich verarsche dich nicht. Er hat gesagt, das wäre so, wie wenn man Wellen gegen den Fels schlagen hört: Schschschschp … Puuuuuh. Schschschp … Puuuh.»

«So etwas Bescheuertes habe ich ja noch nie gehört: Schschschp … Puuuuuh. Darf ich das klauen?»

«Tu dir keinen Zwang an!»

Wir schweigen eine Weile.

«Du», sagt Ulf, als ich soeben auflegen will. Er spricht gerade laut genug, um die gute Stimmung zu zerstören. «Da ist jemand, der mit dir sprechen will.»

«Aha?»

«Jemand, den du kennst. Von früher.»

Er zögert, als hätte er noch nicht ganz entschieden, ob er mir wirklich erzählen sollte, um wen es geht.

«Wer?»

«Freis Onkel», sagt Ulf schließlich, ehe er hinzufügt: «Und seine Exfrau, Anniken Moritzen.»

«Arne Villmyr?» Ich spüre, wie ich nervös werde. Mein Mund ist mit einem Mal staubtrocken, und das Licht, das durch die Fleecedecke vor dem Fenster dringt, brennt mir in den Augen. «Warum?»

«Es hat nichts mit Frei zu tun», antwortet Ulf angestrengt, als sei er sich immer noch nicht sicher, ob er gerade das Richtige tut. «Arne und seine Exfrau haben einen gemeinsamen Sohn …»

«Arne ist schwul!», falle ich ihm trotzig ins Wort. Mir gefällt die Wendung nicht, die dieses Gespräch nimmt, und gleichzeitig wachsen in mir die Unruhe und das Bedürfnis, einfach aufzulegen und das Licht und die Geräusche abzustellen.

«Und trotzdem», antwortet Ulf ganz ruhig, ohne mir einen Vorwand zu geben, das Gespräch zu beenden, «haben er und seine Exfrau also einen gemeinsamen Sohn …»

«Was hat das mit mir zu tun?» Ich kneife die Augen zusammen und wende mein Gesicht ab, von der Fleecedecke und von dem Licht, das hindurchscheint.

«Wenn du mich mal ausreden lassen würdest», schnauft Ulf und bläst schwermütig den Rauch aus. «Also: Anniken Moritzen ist eine Patientin von mir. Sie braucht …» Er zögert erneut und inhaliert, ehe er weiterredet. «Die beiden brauchen Hilfe. Ihr Sohn ist verschwunden.»

«Ich bin kein Privatdetektiv.»

«Nein, Gott bewahre!», keucht Ulf. «Aber Anniken ist eine Freundin, und mir fällt nichts anderes ein, was ich in dieser Situation noch für sie tun könnte. Außerdem habt ihr, Arne und du, diese gemeinsame Vergangenheit, der du sowieso nicht entkommen kannst, und jetzt hat er darum gebeten, mit dir sprechen zu dürfen. Ich denke, das bist du ihm dann doch schuldig?»

Der Schmerz presst sich gegen meine Haut, die Augen, die Hirnrinde. «Bitte», stöhne ich zwischen meinen zusammengebissenen Zähnen hindurch. «Nicht heute, nicht jetzt.»

«Rede mit ihnen. Hör dir an, was sie zu sagen haben.»

«Ich habe keine Lust.»

Ulf seufzt erneut. «Du hast ein schweres Los gezogen, Thorkild, und du warst am Boden und hast dich wieder aufgerappelt. Als anderer Mensch.» Er keucht erneut und drückt die Zigarette aus. Halb geraucht, zerstört. «Lass diese Wohnung nicht zu deiner neuen Gefängniszelle werden. Du musst an die frische Luft kommen, mit Leuten reden und herausfinden, wer du eigentlich sein willst in deinem neuen Leben in Freiheit.»

«Ich weiß es», flüstere ich und versinke erneut im Sofa. Dann öffne ich die Augen, zwinge mich, in das gleißende Licht zu sehen, das die Decke ausfüllt, und halte meinen Blick dort, bis mir die Augen überfließen.

«Was hast du gesagt?»

«Dass ich es weiß.»

«Sicher?»

Ulf Solstad senkt die Stimme zu einem therapeutischeren Tonfall. «Okay», sagt er, als ich nicht antworte. «Dann kommst du nachher vorbei, und wir können uns bei der Gelegenheit auch deine Dosierung ansehen. Versprichst du mir das? Ja?»

Seinen dritten Versuch, die perfekte Zigarette zu rauchen, muss Ulf Solstad ohne mich unternehmen.

3

Arne Villmyr steht neben Anniken Moritzen, die auf einem Bürostuhl sitzt, ihre Hände vor sich auf dem Schreibtisch gefaltet. Hinter ihnen umrahmen drei bodentiefe Fenster die Landschaft des Viertels Forus mit seiner dröhnenden Autobahn, den Grünflächen und den Industriegebäuden. Arne ist genauso geschmackvoll gekleidet wie beim letzten Mal, als ich ihn vor bald vier Jahren in seiner Villa in Storhaug Vest getroffen habe. Nur sein Haar ist ein wenig dünner geworden und das Gesicht blasser.

«Thorkild Aske?», fragt Anniken Moritzen, ohne von ihrem Stuhl aufzustehen.

«Ja», antworte ich und gehe widerstrebend auf sie zu.

«Sehr erfreut», entgegnet sie ausdruckslos.

Ich nehme eine gleichgültige Verachtung wahr, als sie mir endlich die Hand gibt. Und mein rechter Mundwinkel reagiert wieder einmal nicht auf den Impuls zu lächeln, sodass ich wohl nur ein schiefes Grinsen hinbekomme.

Arne Villmyr macht keine Anzeichen, meine Geste zu erwidern, als ich ihm ebenfalls die Hand entgegenstrecke.

«Ich habe ein Bild von ihm.» Anniken Moritzen zieht ein Foto aus einer Schreibtischschublade.

«Schön», sage ich bemüht, beuge mich zu ihr und nehme das Foto in beide Hände, damit es nicht auf den Boden fällt.

«Es ist vor fünf Monaten aufgenommen worden, als wir meine Eltern in Jütland besucht haben.» Anniken spricht den Dialekt der Region, ohne dass sie versucht, ihren dänischen Ursprung zu verbergen. Sie ist Mitte fünfzig, trägt ein dunkelblaues Kostüm und eine weiße Bluse, deren zwei oberste Knöpfe geöffnet sind. Mir fällt auf, dass sie bestimmt einen ganzen Kopf größer ist als ihr Exmann.

«Sieht aus wie ein schöner Ort, um seine Kindheit zu verbringen.»

Sie blickt zu mir auf, als wolle sie sagen, dass sie weiß, was ich gerade versuche, lässt meine Bemerkung jedoch unerwidert. «Es ist das letzte Bild, das ich von ihm habe.»

Sie starrt das Foto an, als wäre sie immer noch dort, im Garten ihrer Eltern, und würde grillen und Limonade trinken. Rasmus, ihr Sohn, kümmert sich um den Grill, er trägt rote Liverpool-Shorts, Sandalen und eine weiße Kochmütze. Sein Körperbau ist sportlich, seine Haut sonnengebräunt. Der Großvater prostet dem Fotografen mit einem kleinen Bier zu, während Anniken Moritzen in einem Sessel sitzt und in die Kamera winkt.

«Rasmus hat letztes Jahr mit ein paar Schulfreunden die Welt umsegelt.» Verträumt betrachtet Anniken von unten die Rückseite des Fotos, während sie redet, als würde sie versuchen, auch die letzte Energie der Erinnerungen, die es hervorruft, in sich aufzusaugen. «Aber nach einem Ausflug nach Nordnorwegen kam er dann auf die Idee, ein ehemaliges Konferenzhotel auf einer Leuchtturminsel dort oben in ein Erlebnishotel umzuwandeln.»

«Erlebnishotel?»

«Wracktauchen, Harpunenfischen und solche Freiluftaktivitäten. Rasmus sagt, dass so etwas im Ausland sehr beliebt sei.»

«Wie alt ist er?», frage ich, obwohl ich es weiß. Im Bus auf dem Weg nach Forus habe ich in einer Internetzeitung eine Notiz darüber gefunden, dass ein siebenundzwanzigjähriger Mann, der vermisst wird, vermutlich bei einem Tauchunfall unweit der Ortschaft Skjellvik in der Gemeinde Blekøyvær ums Leben gekommen ist.

«Unser Rasmus ist siebenundzwanzig Jahre alt.»

«Und wann ist er dort hingefahren?»

«Anniken hat das Hotel im Sommer für ihn gekauft», erklärt Arne. Hinter ihm haben die Sonne und der Wind begonnen, an den Regenwolken zu zerren. Blasse Grautöne, die schnell nach Südosten ziehen.

Anniken nickt, ohne uns anzusehen. «Die Leuchtturminsel ist vollständig verlassen, seit das frühere Konferenzhotel irgendwann in den Achtzigern geschlossen wurde. Rasmus ist sofort nach dem Kauf mit ein paar Freunden hingefahren, die ihm bis zum Ende der Ferien bei der Restaurierung helfen sollten.»

«Und wann ist er verschwunden?»

«Am Freitag vor fünf Tagen habe ich zum letzten Mal mit ihm gesprochen. Die Polizei hat sein Boot gestern Morgen gefunden. Deshalb glauben sie, dass er entweder Samstag oder Sonntag zum Tauchen hinausgefahren ist.»

«Und Sie?» Ich sehe Arne Villmyr an, der angestrengt ins Leere starrt wie ein Wachsoldat. Hinter ihm hat der Regen begonnen, leise gegen das Fenster zu picken.

Arne schüttelt schwach den Kopf, als im nächsten Moment mit einem schweren, krachenden Donnern über uns die Regenschleusen geöffnet werden und das Wasser in regelmäßigen Strömen über die Scheiben fließt.

«Sie hatten nicht viel Kontakt», erklärt Anniken an Arnes Stelle und schlingt die Arme um ihren Oberkörper, als stünde sie draußen in den Regenschauern.

«War er allein, als er verschwand?», frage ich, und mein Blick gleitet von dem Foto zu den tiefen Grautönen hinter dem Fenster.

«Ja, im letzten Monat war nur er da.»

«Warum glaubt die Polizei, dass er ertrunken ist?» Nur noch ganz kurz, Thorkild, rede ich mir innerlich gut zu. Nur noch ein paar Fragen, und du kannst wieder nach Hause gehen.

«Als sie das Boot gefunden haben, war seine Taucherausrüstung weg. Wenn er die Zeit hat, fährt Rasmus immer zu den Schären vor der Leuchtturminsel, um zu tauchen. Am Freitag hat er noch zu mir gesagt, er wolle am Wochenende wieder hinaus, wenn gutes Wetter sei.»

«Haben Sie irgendeinen Anlass zu glauben, dass ihm etwas anderes zugestoßen sein könnte? Dass es kein Tauchunfall war?»

«Nein.»

Ich kann die Irritation auf ihrem Gesicht ablesen. Wahrscheinlich habe ich genau dieselbe Frage gestellt wie alle anderen, mit denen sie seit dem Verschwinden ihres Sohns in Kontakt war.

Am liebsten würde ich sie an den Schultern fassen, um sie zu schütteln. Ihr sagen, dass sie aufwachen soll. Mit dem Träumen aufhören soll. Ihre Hoffnungen führen zu nichts. Sie brechen lediglich Herzen und zerreißen den Menschen, all diese Träume, die wir mit offenen Augen träumen.

«Ich bin sofort hochgefahren, als ich ihn nicht erreicht habe. Ich hatte im Gefühl, dass etwas nicht stimmte.» Anniken Moritzen dreht sich zu ihrem Exmann um. «Das habe ich dir doch gesagt. Er hätte zurückgerufen. Er ruft immer zurück.»

Arne legt ihr vorsichtig die Hand auf die Schulter und nickt stumm.

«Aber da oben herrschte ein Unwetter», fährt sie fort. «Der Lensmann und der Polizeibeamte haben sich geweigert, mich zu dem Leuchtturm zu fahren. Sie haben mich wie ein hysterisches Weib behandelt, das sie einfach in ein Hotelzimmer in Tromsø stecken konnten, hundert Kilometer entfernt, während sie selbst in ihr Büro zurückgekehrt sind und Däumchen gedreht haben. Niemand wollte mir helfen, niemand wollte etwas unternehmen. Alle hocken einfach nur da, verstehen Sie? Sie hocken einfach da, während mein Junge irgendwo da draußen auf dem Meer ist und Hilfe braucht!» Sie stößt ein bitteres Schluchzen aus. «Deshalb bin ich nach Hause zurückgekommen, Arne», flüstert sie dann, während ihr die Augen überlaufen. «Weil du gesagt hast, du würdest jemanden finden, der uns hilft. Der uns zuhört. Erinnerst du dich? Du hast versprochen, jemanden zu finden, der uns helfen kann.»

Arne schließt die Augen und nickt wieder und wieder. Anniken Moritzen wendet sich erneut mir zu. «Und zwar Sie, Aske.» Sie holt tief Luft und wischt sich mit dem Handrücken über die Wange. «Mit Ihnen werden sie sprechen, das weiß ich. Sie können ihn finden», fügt sie hinzu und lächelt warm, angesichts der Hoffnung, die dieses Hirngespinst in ihr aufkeimen lässt. Sie klammert sich an die Illusion, dass noch Zeit wäre. «Ja, Sie können Rasmus für mich finden.»

Ich blicke wieder hinab auf den Mann auf dem Foto. Als ich in Rasmus’ Alter war, habe ich als Hauptkommissar in der Finnmark gearbeitet und meine Zeit damit verbracht, betrunkene Mopedfahrer davon abzuhalten, mit der Schrotflinte auf Straßenschilder zu schießen. «Ich bin aber kein Ermittler», erkläre ich und lege das Foto vor mir auf den Schreibtisch.

«Wir würden Sie bezahlen», wirft Arne Vollmyr ein. «Falls es darum geht.»

«Das ist es nicht», flüstere ich. Ich will sagen, dass es zu spät ist. Dass niemand unter solchen Umständen auf dem Meer verschwindet und fast eine Woche später wieder auftaucht, aber Arne Villmyr umrundet bereits den Schreibtisch.

«Kommen Sie», sagt er und fasst meinen Oberarm. «Wir reden draußen weiter.»

Wir lassen Anniken Moritzen zurück und gehen hinaus in den Flur und bis zum Aufzug.

«So», sagt er und lässt meinen Arm erst los, als wir dort angekommen sind. Er drückt den Knopf und dreht sich zu mir um. «Jetzt sind wir allein.»

«Hören Sie …», hebe ich an, doch er fällt mir ins Wort.

«Mein Sohn ist tot», sagt Arne Villmyr ruhig, während er sein teures Hemd zurechtzupft. «Es gibt nichts zu ermitteln», fährt er fort, und als er mit dem Hemd fertig ist, sieht er mich an. «Ihre Aufgabe besteht darin, dorthin zu fahren, seine Leiche zu finden und sie nach Hause zu bringen.»

«Herrgott», entfährt es mir, und ich hebe in einer resignierten Geste die Arme. «Wie soll ich das tun?»

«Schwimmen oder tauchen Sie, springen Sie durch tausend brennende Feuerringe, mir ist es schnuppe, wie Sie es anstellen. Ich habe Rasmus schon verloren, als ich vor vielen, vielen Jahren meine Familie verloren habe. Aber er kann nicht einfach verschwinden, als hätte er nie existiert. Wir brauchen ein Grab, zu dem wir gehen können.» Arne spannt seine Kiefermuskulatur an, und sein Blick wird härter. «Und ich habe mich selbst davon überzeugt, dass Sie derjenige sind, der dafür sorgen kann. Nennen Sie es das Begleichen einer alten Schuld, nennen Sie es, wie sie wollen, aber finden Sie Rasmus für uns, und bringen Sie ihn wieder nach Hause.»

«Arne», sage ich. «Bitte. Was mit Frei passiert ist, können Sie doch jetzt nicht ausnutzen und gegen mich verwenden. Nicht so …»

«Und ob ich das kann, Thorkild», erwidert er genauso ruhig und besonnen wie zuvor, obwohl ich sehen kann, wie sich seine Brust unter dem Hemd hebt und senkt. «Aber Sie dürfen nicht über sie sprechen», fährt er fort. «Noch nicht. Nicht, ehe Sie Rasmus gefunden und ihn nach Hause gebracht haben. Anschließend können Sie wieder in dem Loch verschwinden, aus dem Sie gekrochen sind, und mit dem Rest Ihres Lebens anstellen, was Sie wollen. Aber bis dahin suchen Sie ihn, und ich bezahle Sie dafür. Klar?»

Der Aufzug ist längst gekommen und wieder verschwunden, als Arne sich umdreht und wieder zu Anniken Moritzens Büro zurückkehrt. Vor der Tür bleibt er stehen, noch immer mit dem Rücken zu mir. «Geben Sie uns ein Grab, Aske», sagt er und legt die Hand auf die Türklinke. «Noch ein Grab. Ist das verdammt noch mal zu viel verlangt?»

4

Abends ist die Wohnung besonders grau. Das dunkle Licht, zusätzlich gedämpft von der Fleecedecke, die ich vor das Fenster meines kombinierten Schlaf- und Wohnzimmers gehängt habe, verstärkt nur umso mehr den fahlen Farbton, der diesen Raum erfüllt. Draußen kann ich den Regen durch die Dachrinne gluckern hören und das Dröhnen der Autos, die über die Schrägseilbrücke zwischen der Stadt und Grasholmen, Hundvåg und den dahinterliegenden Inseln fahren.

Ich liege auf dem Sofa. Im Hintergrund knistert das Radio mit der gurgelnden Kaffeemaschine um die Wette.

Leonard Cohen proklamiert mit rauer Stimme: You who wish to conquer pain, you must learn what makes me kind … Ulf hat schon zu Beginn meiner Therapie vorgeschlagen, ich solle nach meiner abendlichen Medikamentendosis eine bestimmte Art von Musik hören, um meinem schlaflosen Körper all die sedativen Stimulanzen zu geben, die er braucht, aber ich bevorzuge das Radio und seine Unberechenbarkeit.

Ich rolle mich auf die Seite und drehe das Gesicht der Dunkelheit und dem Stuhl zwischen der Wand und der Kochzeile zu, als ich ein Geräusch höre.

«Frei», keuche ich und setze mich auf, während Cohens Stimme singt: You say you’ve gone away from me, but I can feel you, when you breathe …

Plötzlich erfüllt säuerlicher, modriger Geruch den Raum. Vorsichtig krieche ich zum Rand des Sofas und rapple mich auf. In meinem Körper breitet sich ein intensives Kribbeln aus. Die Erwartung, die Freude über das, was gleich passieren wird.

Ich gehe zum Stuhl und strecke die Hand in die Dunkelheit, während das Radio erneut knistert und die Musik verstummt und von einem unangenehmen Hintergrundlärm abgelöst wird, der sich mit dem Herbstregen draußen vermischt.

Wir tanzen engumschlungen zum Summen des Kühlschranks in der kleinen Küche. Keine Musik, kein Licht, nur das Prasseln des Regens und der zerfetzte Himmel über uns. Ich merke nicht mehr, dass meine Wange vor Schmerz brennt. Alles, was ich sehe, sind ihre Lippen, die im Takt der monotonen Bewegungen unserer Körper beben.

«Ich hätte nie gedacht, dass ich dich wiedersehen würde», schluchze ich verkrampft, während irgendwo unter meiner Haut etwas explodiert, als sich die Tränen, die sich in den zerstörten Tränenkanälen gesammelt haben, endlich ihren Weg bahnen.

Ihr nussbraunes, wildes Haar hat alle Farbe und allen Glanz verloren. Der Duft von unbekannten Pflanzenextrakten, Kräutern und Vanille ist dem stechenden Geruch von Desinfektionsmittel und kalter Erde gewichen. Der Geruch von ihr, von uns, ist verschwunden – weggewaschen von der Zeit, die wir voneinander getrennt waren.

«Aber du bist zurückgekommen.» Ich verschränke meine Finger mit ihren, lege die Arme um ihre Hüften und ziehe sie an mich. Wir taumeln zum Schlafsofa, wo ich die Decke wegziehe und über meine Schulter lege wie einen Mantel, ehe auch ich mich hinlege. Ich spüre, wie ich zittere, als ihr kalter Körper meinen berührt.

Ich zittere vor Freude.

5
Der erste Tag mit Frei, Stavanger, am 22. Oktober 2011

Nach fast einem Jahr in den Staaten war ich erst vor kurzem wieder an meine Arbeitsstelle bei der Spezialeinheit in Bergen zurückgekehrt. Jetzt befand ich mich allerdings auf der Treppe einer Villa im Westen des Stadtteils Storhaug in Stavanger, wo ich einen Anwalt treffen sollte. Er war mit einem der beiden Fälle in dieser Stadt betraut, die ich näher untersuchen wollte. Deshalb war ich hergekommen.

Beim ersten Fall ging es um einen möglichen Verstoß gegen die Schweigepflicht, angeblich begangen von einem Gerichtsangestellten in einem Prozess um Schadensersatz, in den zwei ausländische Ölfirmen verwickelt waren. Der zweite Fall war weitaus ernster. Ein Polizeibeamter aus Stavanger war von einem Kollegen wegen mehrerer Verstöße gegen das Straf- und das Waffengesetz angezeigt worden. Mit dem beschuldigten Kollegen hatte ich im Lauf der Woche einen Termin für eine Befragung vereinbart.

«Wer bist denn du?», fragte plötzlich eine Stimme hinter mir, als ich gerade die Klingel drücken wollte. Die Sonne schien, es war warm und mild, obwohl der Herbst die Blätter der Bäume bereits bunt färbte. Ich drehte mich um. Ihre Augen waren schmal und markant, ihr Gesicht oval und umrahmt von Locken, die sie an der Seite eingeflochten hatte.

«Thorkild Aske», antwortete ich und trat einen Schritt zur Seite. «Und wer bist du?»

«Frei», sagte sie und kam die Treppe hoch, bis sie direkt neben mir stand. Sie war Anfang zwanzig und fast so groß wie ich. «Und was machst du hier?»

«Ich habe um fünf einen Termin mit Arne Villmyr. Der wohnt doch hier?»

«Bist du von der Polizei?»

«Gewissermaßen ja.»

Frei legte ihre Hand auf das Geländer und lehnte sich ein wenig zurück, während sie mich mit einem so brennenden, jugendlichen Blick ansah, dass ich mich am liebsten weggedreht hätte aus Scham über mein eigenes Alter und meine körperliche Unzulänglichkeit.

«Was heißt das genau?»

«Ich arbeite in der Spezialeinheit für interne Ermittlungen, wir sind …»

«Die ehemalige SEFO.» Sie lächelte schief, ehe ich noch etwas sagen konnte, und öffnete mir die Tür. «Bleibt nur die Frage, was du bei Onkel Arne machst? Willst du ihn verhaften?»

«Wie gesagt, ich …»

«Frei? Bist du das? Komm schnell rein und mach die Tür hinter dir zu», rief eine Männerstimme aus dem Inneren des Hauses. «Ich glaube, da ist ein Wespennest unter der Treppe, und ich will diese ekligen Biester nicht im Wohnzimmer haben.»

Für einen kurzen Moment blickte ich in den Himmel und in das grelle Sonnenlicht, ehe ich wieder Frei ansah. Sie war bereits im Flur aus den Sandalen geschlüpft und spazierte nun barfuß über das Parkett ins Wohnzimmer, das am Ende des hellen Gangs lag.

«Hier ist ein Mann», sagte sie gerade so laut, dass ich es hören konnte. «Eine Art Polizist, der mit dir reden will …»

Donnerstag

6

Mein Anblick im Spiegel an diesem Morgen erinnert an ein hässliches Gespenst aus der Unterwelt. Das Gesicht ist fahl und grau, der Mangel an Sonnenlicht und Vitaminen macht sich bemerkbar. Meine Augen sind schmal und von bläulichen Rändern und geschwollenen Lidern umrahmt, sodass ich sie nur halb öffnen kann.

Ich wasche mir das Gesicht, fahre mir mit den nassen Fingerkuppen über die halbmondförmige Narbe am Auge und folge ihrem Verlauf bis zu der gezackten Hautformation mitten auf der Wange, ich berühre jeden einzelnen Krater, jede Verzierung. Der Schmerz tritt fast sofort ein.

«Ich kann nicht», flüstere ich meinem Gesicht im Spiegel zu, während ich an dem Tablettendosierer herumnestle, der meine Morgenmedizin enthält. «Er sollte es besser wissen. Ich schaffe das noch nicht.»

Nachdem ich meine Pillen genommen habe, ziehe ich mich an und gehe zum Fenster. Ich hebe einen Zipfel der Fleecedecke hoch und spähe hinaus. Es ist einer dieser grauen Tage, die Sonne scheint nicht, es regnet nicht, alles ist in einförmiges Graublau gehüllt.

Als ich mich gerade wieder umdrehen will, erblicke ich einen Mann mit Helm, engem T-Shirt und Radlerhosen, der mit dem Fahrrad auf das Mietshaus zuhält. Er bremst vor dem Eingang, sieht zu meinem Fenster hinauf und zückt sein Handy.

Ulf Solstad ist kräftig, knapp einen Meter fünfundneunzig groß und beinahe glatzköpfig. Nur an seinem Hinterkopf ist noch ein Büschel dickes rotes Haar vorhanden, das er zu einem Pferdeschwanz gebunden hat, als wäre er ein japanischer Samurai.

Hastig lasse ich den Zipfel der Decke fallen und weiche zum Sofa zurück, da klingelt auch schon mein Telefon.

«Guten Morgen, Thorkild», sagt Ulf atemlos, als ich mich endlich überwinde und drangehe. «Vorhin hat Anniken Moritzen angerufen. Sie sagt, sie hätte kürzlich eine Nachricht von dir erhalten.»

«Das stimmt.» Ich sinke auf das Sofa und versuche, mich auf das Kribbeln in meiner Wange zu konzentrieren, es in der Schmerzwarteschlange nach vorn wandern zu lassen, damit es die Kontrolle über den Augenblick übernimmt.

«Ich kann nicht fahren.»

«Warum?»

«Es hat keinen Sinn.»

«Weil?»

«Weil Arne sagt, ihr gemeinsamer Sohn wäre tot.»

«Da wird er wohl recht haben.»

«Herrgott noch mal», stöhne ich. «Was wollt ihr dann von mir?»

«Wir tun das für Anniken», antwortet Ulf ruhig. «Eines Tages werden sie ihren Jungen finden. Aufgedunsen und grün, nachdem er eine Weile im Wasser gelegen hat und die Fische und Krabben an ihm geknabbert haben. Aber er ist trotzdem noch ihr Sohn, verstehst du? Und ich kann dir sagen, sie wird diesen Moment, der ihr bald bevorsteht, kaum verkraften. Du beherrschst die Polizeisprache und die Vorgehensweise in solchen Situationen, du kennst die Abläufe. Für sie ist das vielleicht in erster Linie eine Möglichkeit, sich selbst zu beweisen, dass sie noch nicht aufgegeben hat. Niemand kann aufgeben, bevor er Gewissheit hat, Thorkild. Bevor alles versucht wurde. Da stimmst du mir doch zu?»

Ich sage nichts, hocke nur mit dem Telefon in der Hand da und starre auf die Fleecedecke vor meinem Fenster.

«Komm jetzt runter, Thorkild», fordert Ulf, als ich nicht antworte.

«Nein.» Meine Stimme bricht, und die Tränen drücken gegen meine Augäpfel, ohne einen erlösenden Weg durch meine zerstörten Tränenkanäle zu finden.

«Dann lass mich rein, und ich komme hoch.»

«Ich will nicht.»

«Ich gehe nicht eher, als bis du runterkommst oder mich hereinlässt.»

«So lange kannst du doch gar nicht warten», erwidere ich, weil mir nichts Besseres einfällt. «Du musst zur Arbeit.»

«Ich schicke der Krankenkasse einfach eine Rechnung über eine lange Therapiesitzung mit dir», entgegnet Ulf, ohne die Beherrschung zu verlieren, ohne sich eine Zigarette anzuzünden. Ohne aufzugeben.

«Verdammt!» Ich springe vom Sofa auf. «Wie kann man nur so stur sein! Ich fasse es nicht. Ich soll tatsächlich in den Norden fahren und um diese dämliche Schäre rudern, um nach einem Typen zu suchen, von dem sowieso alle sagen, dass er tot ist, ertrunken, für immer verschwunden?»

«Es gibt auch noch einen anderen Grund, weshalb ich möchte, dass du hinfährst.»

«Und der wäre?»

«Elisabeth.»

«Meine Schwester? Was hat die damit zu tun?»

«Nichts.»

«Ja, und?»

«Wann hast du sie zuletzt gesehen?»

Trotzig zucke ich die Achseln.

«Ich will, dass du mit ihr redest, wenn du dort bist.»

«Und worüber?»

«Über dich. Was du durchgemacht hast.»

«Warum sollte ich?»

«Betrachte es einfach als einen notwendigen Teil deines neuen Lebens, Thorkild. Du bist kein Vernehmungsleiter mehr. Der Informationssammler ist futsch. Seiner Ehre und Berufsbezeichnung beraubt. Jetzt bist du einer von uns … ein Informationsverteiler. So schmerzhaft es auch sein muss, das zu akzeptieren.»

Ulfs nicht gerade subtile Ausdrucksweise kann für Leute mit einem zarten Ego und einem angegriffenen Selbstvertrauen schwer zu verkraften sein. Glücklicherweise ist mein Ego auch futsch, und mein Selbstvertrauen ist ausgezogen und hat sich ein besseres Leben gesucht.

«Du brauchst eine professionelle Behandlung», fährt Ulf fort. «Aber du musst dir auch einen gesunden Referenzrahmen außerhalb dieser therapeutischen Kreise suchen. Und ich möchte, dass wir diesen Paradigmenwechsel mit deiner Schwester Liz einläuten. Ich weiß, dass dir viel an ihr liegt. Mehr als du dir vielleicht selbst eingestehen willst. Außerdem habe ich noch einmal über das nachgedacht, was wir gestern besprochen haben, und ich würde dir für die Reise ausnahmsweise ein neues Rezept für Oxynorm ausstellen.»

Ich spüre, wie in meinem Bauch ein Kribbeln aufkommt, das die Wirbelsäule empor bis zum Hinterkopf wandert und meinen Speichelfluss anregt.

«Wie viel?»

«Dieselbe Dosierung wie letztes Mal.»

«Und was ist, wenn ich länger bleiben muss?»

«Dann schicke ich ein elektronisches Rezept an den Ort, wo du dich gerade aufhältst.»

Ich lasse das Handy auf den Fernsehtisch fallen und presse meine Fingerknöchel gegen den Mund. Der Schmerz in der Wange ist weg. Dieses eine Mal, wo ich ihn wirklich brauche, verduftet er einfach. «Scheiße, scheiße, scheiße!», flüstere ich und beiße in meine Knöchel, ehe ich tief Luft hole und wieder nach dem Handy greife. Ich gehe zum Fenster und ziehe die Decke einen Spaltbreit beiseite.

«Okay», sage ich leise. «Ich fahre. Komm hoch.»

Ulf hält immer noch sein Telefon in der Hand, als ich die Tür öffne. Er nickt mir zu, drängt sich an mir vorbei, reißt die Decke vom Fenster und lässt sich auf das Sofa fallen, das unter seinem Gewicht knackt. «Aha, und wann geht der Flug nach Tromsø? Halb vier?» Ich habe keine Ahnung, mit wem er spricht. Er schnipst mit den Fingern und blickt demonstrativ zur Küchenecke.

Ich zucke mit den Schultern. «Was meinst du?»

«Aschenbecher, verdammte Hacke!» Ulf zieht den Rucksack von den Schultern, kramt sein Portemonnaie und ein Päckchen Marlboro Gold heraus, nimmt aus dem Ersteren eine Visakarte und aus dem Letzteren eine Zigarette, die er mit einer hektischen Handbewegung anzündet, ehe er tief inhaliert. «Ja, one-way.»

Der Rauchgestank dringt in meine Nasenlöcher und setzt sich unter meiner Gesichtshaut fest. Ich wende mich ab und gehe ins Bad, suche meinen Kulturbeutel und lege den Rasierapparat, den Tablettendosierer und eine Tasche mit Medikamenten hinein sowie schließlich auch die restlichen Hygieneartikel. Anschließend kehre ich in die Küche zurück, um die Kaffeemaschine und das Reiseradio einzupacken, während Ulf im Hintergrund dabei ist, den Buchungsvorgang abzuschließen.

«He!», ruft Ulf aus seiner Rauchwolke heraus, als er sieht, wie ich die Kaffeemaschine in ein Handtuch wickle. «Die brauchst du nicht. In Nordnorwegen gibt es auch Kaffee.»

«Aber ich mag meine Kanne», protestiere ich.

«What the f… Ach, was soll’s.» Er winkt ab und zieht eine Grimasse. «Ja, pack sie ruhig ein – und Klopapier, eine Spülbürste und einen Schuhlöffel. Geht mir am Arsch vorbei.» Dann wendet er sich wieder seinem Telefon zu. «Ja, hallo? Wie viel macht das insgesamt, sagten Sie?»

Nachdem er das Gespräch beendet und sich eine neue Kippe angezündet hat, dreht er sich zu mir um und behält den Rauch kurz in den Lungen. «Weißt du was», sagt er und bläst ihn langsam aus. «Ich glaube, diese Reise wird dir guttun. Richtig gut …»

7

Es ist schon dunkel, als das Flugzeug in Tromsø landet. Eine dünne Schicht Neuschnee bedeckt den Boden. Ich hebe meinen Koffer vom Band und begebe mich hinaus in die kalte Luft, um ein Taxi zu suchen. Fünfzehn Minuten später stehe ich meiner Schwester gegenüber, die mich ungläubig anstarrt.

«Thorkild?» Sie zieht mich in ihre Arme.

«Hallo, Liz!» Die Umarmung fühlt sich gut an, und als sie sich mir schließlich entwindet, würde ich sie am liebsten gar nicht mehr loslassen.

«Wie geht es dir?» Sie streicht mit ihrem molligen Zeigefinger über meine Wange und mustert mich eingehend mit ihren Kulleraugen.

«Tipptopp», antworte ich.

«Wann bist du entlassen worden?»

«Vor ein paar Tagen.»

«Und was machst du hier?»

«Ein Fall», antworte ich.

«Ein Fall? Arbeitest du wieder bei der Polizei?»

«Nein.»

«Aber …», stammelt sie und schüttelt verwirrt den Kopf.

«Willst du mich denn nicht reinlassen?»

«Doch, natürlich.» Liz führt mich in den Flur, wo wir eine Weile schweigend stehen bleiben und uns betrachten. Im Sommer wird sie fünfzig, aber sie sieht älter aus. Alt und verbraucht. Ihre Augen sind geschwollen, als hätte sie gerade geweint, ihre Hände sind schwielig und dick, und sie ist immer noch viel zu übergewichtig. Die Jahre, die seit unserer letzten Begegnung vergangen sind, haben bei uns beiden Spuren hinterlassen.

«Du siehst traurig aus, Thorkild.»

«Mach dir deswegen keine Gedanken. Wie geht es dir?»

Sie weicht ein wenig zurück. «Ganz gut.»

«Schlägt er dich immer noch?»

«Thorkild, versprich mir, dass du nicht …»

Ich sehe die Verzweiflung aus ihren Augen leuchten, während in mir die Wut aufsteigt.

«Ich habe gefragt, ob dein Mann dich immer noch schlägt? Wenn ich mir die blauen Flecken an deinem Hals und deinen Armen ansehe, scheint es ganz so, als würde er sich seinem Hobby sogar noch eifriger widmen als früher.»

«Hör auf, ich verkrafte das jetzt nicht. Arvid und mir geht es gerade wirklich gut, und da kannst du nicht einfach hereinschneien und alles kaputt machen. Das will ich nicht … Das werde ich nicht zulassen.»

Ich schüttele den Kopf und gehe ins Wohnzimmer, ohne die Schuhe auszuziehen.

«Wo ist er?»

«Thorkild!», heult sie mit dieser zitternden, hysterischen Stimme, die sie nach acht Jahren Beziehung mit einem gewalttätigen Fernfahrer entwickelt hat. Er kann seine Finger nicht von ihr lassen, im negativen Sinne.

Ich höre ein Knarren im Obergeschoss, nehme mehrere Treppenstufen auf einmal und stoße die Tür zum Schlafzimmer auf.

Arvid sitzt auf dem Bett, mit gebeugtem Rücken und diesem ausweichendem Blick, den er hinter den Strähnen seiner dunklen ungewaschenen Haare versteckt.

«Was zum Teufel machst du hier?», fragt er noch, ehe ich ihm einen Tritt ins Gesicht versetze. Arvid fällt nach hintenüber und kullert auf den Boden, wo er mit dem Kopf unter dem Nachttisch liegen bleibt.

Im nächsten Moment fegt Liz ins Zimmer und reißt jammernd und zeternd an meiner Jacke.

«Was hast du getan? Was hast du getan?»

Arvid kommt auf die Füße und presst seine Hand ans Ohr. Seine stechenden Augen fixieren Liz. «Siehst du? Siehst du, was du angerichtet hast? Dieser Kerl ist lebensgefährlich, das habe ich immer schon gesagt. Er ist ein Monster, kapierst du?»

Er spuckt Blut und wischt sich die Hände an seinem T-Shirt ab.

Liz lässt mich los und stürzt zu ihrem Mann. Sie streicht mit den Fingern über sein Gesicht und flüstert beruhigend auf ihn ein, aber Arvid schlägt ihre Hand weg und kommt auf mich zu.

«Ich glaube, du solltest lieber aufpassen, sonst zeige ich dich an, und dann kommst du sofort wieder in den Knast. Das weißt du nur zu gut, du verdammter Mörder!», blafft er mich an, als er an mir vorbeigeht. «Und solltest du dich hier noch einmal blicken lassen, wenn ich da bin, übernehme ich keine Verantwortung für das, was dann passiert.»

Mit diesen Worten rammt er mir den Ellbogen in die Rippen und knallt die Tür hinter sich zu.

 

«Ist das wirklich alles, was du in deinem Leben erreichen willst, Liz?»

Sie hat Kaffee, Kekse und Brote auf den Tisch gestellt, und wir sitzen auf dem Sofa im Wohnzimmer, das sich seit meinem letzten Besuch nicht verändert hat. Neu ist nur ein schwarzer Ledersessel direkt vor dem Fernseher. Er gehört Arvid, ohne Zweifel.

«Es ist nicht so, wie du denkst.» Sie sieht mich an und beschließt, das Thema zu wechseln: «Hast du mit Mama gesprochen, seit du draußen bist? Sie fragt immer nach dir, wann du wohl anrufst.»

«Nein, ich bin noch nicht dazu gekommen.»

«Sie sagen, ihr Zustand hätte sich verschlechtert.» Liz starrt in die Keksdose. «Wenn die Flüge nach Oslo nicht so teuer wären … Und jetzt, wo Arvid in Frührente ist …»

«Und Papa?»

«Der ist immer noch schwer aktiv. Vor einer Woche habe ich ihn in den Nachrichten gesehen, es ging um den Bau eines neuen Aluminiumwerks in Island. In dem Beitrag wurde gesagt, er würde eine neue politische Gruppe anführen. Umweltschutz. Eine Art Guerilla-Einheit. Sie nennen sich wohl Kæfa Ísland.»

«Kiffer-Island?» Ich lache, während ich mir die funkelnden Augen und das lange, silbrig schimmernde Haar meines Vaters vorstelle, der sich jedes Mal von neuem ereifert, wenn die Polizisten ihn und seine Mitstreiter von einem Kraftwerk wegschleifen, an dem sie wieder einmal gegen die kapitalistischen Kräfte auf der Vulkaninsel protestieren. «Manche Dinge ändern sich nie.»

«Du erinnerst mich an ihn.» Liz’ Blick streift die Narben auf meiner Wange, ehe sie mir wieder in die Augen sieht. Sie stößt einen Schluchzer aus, der ihren massigen Körper auf dem Sofa erzittern lässt.

«Bis auf die Haare natürlich. Warum trägst du sie immer so kurz?»

«Inwiefern?», frage ich ausdruckslos und sehe, wie ihr kurzer Freudenausbruch dahinwelkt und stirbt. «Inwiefern erinnere ich dich an ihn? Du meinst wohl unsere ganz besondere chemische Zusammensetzung? Dieser Rost, den wir absondern, der alles erstickt und zerstört, mit dem er in Berührung kommt. Ist es das, was du siehst?»

«Thorkild, das meinte ich nicht, und das weißt du auch … Ich weiß, dass du nie … Alles, was passiert ist … Du würdest doch nie …»

«Was ist es dann?»

«Ich wollte doch nur …» Ihr Blick findet zurück zu meiner Wange und dem Narbengewebe. «Ausgerechnet du, du hast doch immer so gut ausgesehen», sagt sie schluchzend und begräbt das Gesicht in den Händen.

«Beruhige dich, Liz», sage ich und lege ihr die Hand auf den Arm, während ich mich an einem schmerzlosen Lächeln versuche. «Wir können schließlich nicht alle so hübsch sein wie du, wenn es auf die fünfzig zugeht.»

«Herrgott, Thorkild», schluchzt sie und sieht mich durch ihre Finger hindurch an. «Hör auf, mich auf den Arm zu nehmen, das ist nicht nett.»

«Wie bitte?», frage ich mit einer Unschuldsgeste. «Das war ernst gemeint!»

Endlich lässt sie die Hände wieder sinken.

«Du», beginnt sie zögerlich und greift nach einem Brot. «Ich glaube, du kannst nicht hierbleiben.»

«Keine Sorge, Liz, das werde ich auch nicht», entgegne ich. «Aber ich brauche deine Hilfe. Mein Führerschein ist eingezogen worden, und ich muss mir einen Mietwagen nehmen.»

«Für Arvid ist das alles auch nicht so leicht.» Ihr Blick wandert zu der leeren Keksdose, als wollte sie dort zwischen den Krümeln Kraft finden für die Lügen, die sie sich jeden Tag erzählen muss, um nicht zugrunde zu gehen. Ich kann diesen miesen Gewaltverbrecher noch so oft treten, und er wird sie trotzdem weiter schlagen, und sie wird weiter versuchen, Kraft aus der Keksdose zu schöpfen. Liz glaubt immer noch, das Ganze wäre nur eine Phase, die sie überstehen müsste, und wenn sie nichts mehr tut, was ihn reizt, wird er sie nicht mehr schlagen, und alles wird gut.

8

Ich stelle den Mietwagen, den Liz für mich organisiert hat, auf dem Parkplatz des Hotels ab. Dann gehe ich zur Rezeption, wo ich einchecke und um einen Parkschein bitte. Von Tromsø bis zum Gemeindezentrum in Blekøyvær, wo Arne Villmyr für den nächsten Morgen ein Treffen zwischen dem Lensmann und mir vereinbart hat, fährt man mindestens drei Stunden und muss unterwegs zweimal mit der Fähre übersetzen.

Mein Hotelzimmer hat eine Art Aussicht. Klotzige Gebäude, Straßenlaternen und Asphalt. Das angebliche Paris des Nordens versteckt sich wohl irgendwo in der Dunkelheit. Ich ziehe die Gardinen vor, öffne meinen Reisesack und hole meine Kaffeemaschine heraus, obwohl es im Hotelzimmer sogar einen Wasserkocher gibt.

Ich bin spät dran. Es ist schon halb acht, und mein Körper schmerzt. Mein Bedürfnis, den Schmerz und die Rastlosigkeit zu dämpfen, ist so groß, dass meine Finger zittern, als ich den Tablettendosierer hervornestle und den Deckel für die abendliche Dosis öffne.

Die Pillen, die in meine Hand kullern, sehen aus wie kleine Insekteneier. Ich suche die beiden orangefarbenen Antipsychotika Risperdal heraus und lege sie wieder in den Dosierer, die restlichen Tabletten schlucke ich auf einmal hinunter. Anschließend ziehe ich den Kaffee und die Filtertüten aus meinem Sack, hole Wasser aus dem Bad und schalte die Maschine an.

Sobald die ersten Tropfen in die Kanne fallen, stelle ich das Reiseradio an und lösche alle Lichter.

Ich ziehe mich aus und krieche unter die Bettdecke. Mein Körper hat schon begonnen, sich zu entspannen. Ein körniges Halbdunkel sinkt in mich ein, schlägt Wurzeln in mir und öffnet Türen, die ich nicht allein öffnen könnte. «Endlich», schluchze ich, während ich den Oberkörper fester gegen meine Knie presse. «Endlich bin ich so weit.»

Ich bleibe liegen und warte, doch nichts passiert. Die Klimaanlage surrt, das kalte Polarlicht presst sich durch die Gardinen, und bei mir tut sich nichts.

Schließlich setze ich mich auf und suche die Packung mit den schnellwirkenden Oxynorm heraus. Ich drücke zwei ovale Pillen aus dem Blister, werfe sie mir in den Mund und lege mich erneut hin.

Nach einer langen Zeit des Wartens mit weiteren Tabletten und verzweifelten Anfällen ziehe ich mich schließlich an und gehe hinaus.

 

Auf der anderen Seite der Brücke zeichnet sich die Eismeerkathedrale vor dem dunklen Polarhimmel ab. Ich folge dem Kai, bis ich in dem Einkaufszentrum unten am Schnellbootterminal komme.

Drinnen gehe ich in eine Parfümerie. Vorsichtig nehme ich einige Flakons aus dem Regal und rieche an ihnen. Nachdem ich verschiedene Sorten getestet habe, wähle ich eine durchsichtige Glasflasche mit einem schwarzen öligen Inhalt und einem silberfarbenen Deckel, flüssige Kohle, in Glas und Metall gegossen, und gehe damit zur Kasse.

«Soll ich das für Sie einpacken?», fragt die Verkäuferin, eine gekonnt geschminkte Frau in den Fünfzigern mit schwarz gefärbten Haaren, dunklen Augen und dünnen roten Lippen.

Ich nicke abwesend.

«Das wird ihr gefallen», sagt sie lächelnd und reicht mir die Tüte mit dem verpackten Parfüm.

«Ja.» Ich blicke hinein und auf das rote Geschenkpapier. «Vielleicht hätten Sie es doch nicht einpacken müssen», sage ich, und die Frau räuspert sich. Eine ältere Dame in Daunenjacke stellt sich neben mich, sie hält eine Parfümflasche in der Hand, auf der eine Biene abgebildet ist, unter der mit dünnen schwarzen Buchstaben das Wort «Honey» steht.

«Ja nun.» Die Verkäuferin blinzelt ein wenig irritiert. «Sie können es doch einfach wieder auspacken, bevor sie es ihr geben.» Sie wendet sich der Frau mit dem Honigtopf zu. «Das wird Ihnen gefallen», sagt sie lächelnd. «Soll ich es für Sie einpacken?»

Ich schließe die Tüte und gehe.

Kaum bin ich wieder in meinem Zimmer, hole ich die eingepackte Flasche hervor und platziere sie neben mein Kopfkissen. Hastig ziehe ich mich aus und lege mich auf den Rücken. Ich nehme das Päckchen, ziehe den Tesafilm ab und reiße das Papier auf.

Noch bevor ich den Flakon geöffnet habe, strömt der Duft daraus hervor. Meine Lider werden schwer, und das Kribbeln in meinen Beinen nimmt ab. Ich muss mich beeilen. Mit zitternden Händen hole ich das Parfüm aus der Schachtel und versuche, die Anspannung und Erwartung unter Kontrolle zu halten.

Der Silberdeckel gleitet leicht ab, und ich betätige den Pumpmechanismus. Ein Strom aus Duftpartikeln stiebt hervor und trifft mich im Gesicht. Ich niese und sprühe noch einige Male, ehe ich unter die Bettdecke gleite und die Augen schließe.

Mit dem Gesicht auf dem Kissen bleibe ich liegen und warte. Kurz darauf öffne ich die Augen wieder und setze mich auf. Die Klimaanlage saugt die Luft aus dem Zimmer und füllt sie mit einem sterilen, kühlen Hotelgeruch.

Ich stehe auf und prüfe, ob die Fenster tatsächlich geschlossen sind, ehe ich wieder ins Bett schlüpfe und mir noch einmal das Gesicht einsprühe. Diesmal bestäube ich auch meine Hände und Haare, bevor ich mich wieder zudecke.

«Verdammt noch mal!» Mit einem Ruck setze ich mich auf, reiße den Flakon an mich, drehe den Pumpkopf ab und setze die Flaschenöffnung an die Lippen. Die Duftpartikel fließen über meine Zunge und in meinen Rachen hinab. Ich lasse die Flasche los, falle schluchzend aufs Laken zurück und zerre die Decke über mich.

«Warum willst du nicht kommen?», wimmere ich und begrabe das Gesicht im Laken, während sich mein Körper wieder verkrampft. «Verstehst du denn nicht, dass ich dich brauche?»

9
Der erste Tag mit Frei, Stavanger, am 22. Oktober 2011

Vor der Villa in Storhaug glitzerte das blaue Hillevågsvatnet in der Sonne. Im Wohnzimmer tanzten winzige Staubkörner in dem Licht, das durch die großen, nach Westen gehenden Fenster hereinfiel. Ich war beinahe am Ende meiner Besprechung mit Freis Onkel, Arne Villmyr, der als Wirtschaftsanwalt in der Ölfirma arbeitete, die den Fall zur Anzeige gebracht hatte. Wir saßen uns an einem Esstisch aus Glas gegenüber, während Frei in einem Sessel am Fenster fläzte und ein Buch las. Auf ihrem Schoß lag ein MP3-Player.

«Sie schreibt gerade an einer Hausarbeit», erklärte Villmyr. Er war Mitte fünfzig, sein Gesicht hatte einen gesunden Teint, und sein zurückgekämmtes Haar war dünn, aber tiefschwarz.

«Aha.» Ich drehte mich zu der sonnenbeschienenen Frei um. «Was studierst du denn?»

Frei reagierte nicht, sie sah nicht einmal von ihrem Buch auf.

«Jura», antwortete Arne Villmyr an ihrer Stelle. «An der Universität hier in Stavanger.» Er rieb sich das glattrasierte Kinn, ehe er sich an seine Nichte wandte.

«Frei!»

«Was ist denn?» Frei stellte die Musik ab und richtete sich im Sessel auf.

«Geht es in deiner Hausarbeit nicht um diese Fälle von Polizeigewalt in Bergen in den Siebzigern?»

«Warum fragst du?»

«Unser Freund hier von der Spezialeinheit weiß sicher das eine oder andere über dieses Thema.»

Ich räusperte mich und klappte meinen Laptop zu. «Ich bin mir nicht sicher, ob ich so viel Neues darüber sagen kann. Die Vorfälle in Bergen waren ja ein Grund dafür, dass Ende der achtziger Jahre bei Polizei und Staatsanwaltschaft die Vorgehensweise bei internen Ermittlungen geändert wurde, und damals wurde auch die SEFO gegründet, unsere Vorgängereinheit. Aber ich habe leider nicht viel mehr zu diesem Thema beizutragen als das, was man in Büchern und wissenschaftlichen Aufsätzen lesen kann.»