Und morgen wieder schön - Marie Sand - E-Book

Und morgen wieder schön E-Book

Marie Sand

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Beschreibung

Die Geschichte einer Friseurin, die die Modewelt in Paris aufmischen will – und am Ende in ihrem kleinen Laden in Berlin die Formel für Schönheit neu erfindet. Als Amanda mit ihrem Skizzenbuch im Rockbund in Paris ankommt, will sie nur eins: Karl Lagerfeld treffen und für ihn die Frisuren zeichnen. Aber so einfach wie Amanda, die aus dem kleinen Eifeler Friseurladen ihrer Mutter geflüchtet ist, sich das vorstellt, scheint es nicht zu werden. Der Weg ist steinig und lang – und doch avanciert sie als talentierte Friseurin zum Liebling der High Society der 1970er-Jahre, als sie Françoise Hardy den schrägen Pony verpasst und damit den Look einer ganzen Generation prägt. Auf der Höhe des Erfolgs aber erkrankt ihre Freundin an Brustkrebs. Amanda begreift, was der Verlust der Haare unter der Chemotherapie mit Frauen macht. Damit trifft sie eine Entscheidung, von der sie später sagen wird: "Ich hätte etwas in meinem Leben versäumt, hätte ich diese Arbeit nicht getan." Ein wichtiger Roman voller Mitgefühl, mit einem hoffnungsvollen Blick auf die Zukunft Marie Sand schreibt über Frauen, die aus Liebe zum Leben handeln: Ihren heimlichen Heldinnen geht es nicht um Anerkennung. Sie bemühen sich einfach jeden Tag darum, die Welt ein bisschen besser zu machen.

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EPUB
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Seitenzahl: 362

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Marie Sand

Und morgen wieder schön

Roman

Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.

Über dieses Buch

In Paris scheint sich Amandas großer Traum zu erfüllen, nämlich für Karl Lagerfeld die Frisuren zu zeichnen. Der aber lehnt erst einmal ab und empfiehlt sie an Frankreichs Star-Friseur René. Bald avanciert Amanda zum Liebling der High Society der 1970er-Jahre – bis eine Freundin an Brustkrebs erkrankt und während der Chemotherapie die Haare verliert. Amanda sieht, was dieser Verlust mit einer Frau macht. Um der Freundin zu helfen, entwickelt sie ein neuartiges Konzept und beschließt, mit ihrem Talent, krebskranken Frauen beizustehen. Wo Ärzte hilflos mit den Schultern zucken und Psychologen die Worte fehlen, ist Amanda für die Frauen da. Sie macht ihren kleinen Laden zu einem besonderen, einem unverwechselbaren Ort und verspricht: »Du bist stärker als der Krebs. Und morgen bist du wieder schön.«

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Motto

Anmerkung

Berlin, 1979

Teil I, Paris

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Teil II, Berlin

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Nachwort

Eitelkeit ist Selbsterhaltungstrieb.Und das ist gar nicht so ungesund.

 

Karl Lagerfeld

Bei diesem Roman handelt es sich um ein fiktives Werk. Ähnlichkeiten mit realen Personen, Szenen und Orten bestehen oder sind in künstlerischer Freiheit erdacht.

Berlin, 1979

Ein weißes Tuch über dem Spiegel, die Lampe an der Decke gedimmt, so sollte es sein, so wünschte sich Amanda die Atmosphäre im hinteren Bereich ihres Ladens. Sie zog am schweren Vorhang, teilte mit ihm den Raum. Vorne scherzte sie mit ihren Kundinnen, da durfte sie laut sein, schlagfertiger als manche Berliner Schnauze, auch mal zu Rockmusik mit den Hüften wippen. Hinten aber herrschte Stille. Da gab es nur sie und die andere, selten ein Lachen, eher die Angst vor dem, was das Leben gerade bot. Hinten im Raum roch es nicht nach Haarspray, nicht nach Ammoniak. Das würde die Schleimhäute ihrer besonderen Kundin reizen. Deshalb duftete es nach indischen Ölen, und die Musik, die leise aus dem Lautsprecher kam, beruhigte das Gemüt.

»Kriegen wir das hin?«, fragte die junge Frau vor ihr und fügte trotzig hinzu, dass sie sonst die Chemo abbreche. Dabei rutschte sie tiefer in den Ledersessel und umklammerte die Lehne. »Mein Kind soll eine schöne Mama haben – und keine mit nacktem Schädel. Sie darf all das nicht wissen, deshalb nenne ich nicht meinen Namen.«

»Wie alt ist dein Kind?«

»Ein Töchterchen, sie ist vier und so verliebt in mich.«

»Das ist gut.«

»Wird es gelingen?«

»Klar, wir zwei haben einen Plan. Du wirst nicht haarlos sein. Versprochen. Und abgebrochen wird hier gar nichts! Kotz dir von mir aus die Medizin aus dem Leib, doch deine Seele hältst du gesund, die trägt dich da durch.« Amanda fuhr mit den Fingern vorsichtig durch die blonden Haare der Frau. Strähnen rieselten hinab. Sie bückte sich, hob jedes einzelne Haar auf, als wäre es ein Faden aus Gold. »Es wird Zeit«, erklärte sie, »länger können wir nicht warten.«

Die junge Frau schloss für einen Moment die Augen, dann öffnete sie sie wieder und bestimmte: »Fangen wir an.«

Amanda drehte die Haare zum Zopf, setzte die Schere nah am Kopf an und schnitt. Sie zeigte keine Regung im Gesicht, denn sie wusste, Mitleid wäre fehl am Platz und aufmunternde Sätze ebenso. Es war eine durch und durch ernste Situation, Worte konnten stören. Sie nahm den Rasierer zur Hand, fuhr über den Kopf. Vor und zurück, vor und zurück, bis sich die Linien in die Musik einfügten wie ein Refrain aus Schmerz und Hoffnung.

In das Surren des Apparates bat die junge Frau: »Nimm das Tuch vom Spiegel. Ich sehe hin, dem Krebs zeig ich's!«

»Gut«, sagte Amanda und legte den Rasierer auf den kleinen Beistelltisch. Sie ließ das Tuch hinuntergleiten, während sie den Blick zur Seite wandte, denn diese ersten Sekunden gehörten der jungen Frau, dem Rendez-vous mit ihrem fremden Ich. Männer setzen sich eine rattenscharfe Brille auf die Nase und finden sich mit Glatze sexy, dachte Amanda. Frauen leiden.

Dann trafen sich ihrer beider Blicke im Spiegel.

»Ich bin da«, versprach Amanda, »wann immer du mich brauchst.« Und als sie das Zittern in den Schultern bemerkte, wusste sie, jetzt war der Zeitpunkt richtig für eine Umarmung. »Du bist nicht allein«, flüsterte sie. »Atme langsam ein und aus, immer ein und aus.« Und erst als die Schultern der jungen Frau sich entspannten, lockerte Amanda die Umarmung und goss das rote Öl in die Handflächen, massierte es sehr sanft in die ungeschützte Kopfhaut, als wäre die Nacktheit ein Wunder.

»Warum ich?«

Die Frage war zu groß. Niemand kannte die Antwort. Kein Arzt. Kein Priester. Kein Heiler. In keine Klinik passte sie hinein.

»Ich weiß es nicht. Auch nach all den Jahren finde ich kein Muster. Obwohl ich viele, sehr viele Geschichten ähnlich wie deine kenne.«

Teil I, Paris

1968 bis 1972

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 1

Mai 1968

Mit ohrenbetäubendem Quietschen bremste der Zug in den frühen Morgenstunden im Gare de l’Est. Amanda raffte ihre Sachen zusammen und eilte durch den schmalen Gang zur Tür, als könnte sie den Ausstieg verpassen. Sie hob das Kinn, streckte den Rücken. Um Punkt sechs Uhr morgens setzte sie an diesem denkwürdigen Dienstag den ersten Schritt auf Pariser Boden, stellte die Trainingstasche ab und dachte: Wahnsinn, fast im Modehimmel angekommen. Mehrmals rieb sie mit den Handflächen über den Faltenrock. Obwohl eine Kühle sie umfing, schwitzte sie. Die Nerven, es sind die Nerven.

Nur wenige Menschen liefen an ihr vorbei, vermutlich Berufspendler oder Reisende, so wie sie eine war. Ihre Gesichter wirkten freundlich, manche noch verschlafen. Amanda aber war hellwach und kniff die Augen zusammen, um alles, wirklich alles in sich aufzunehmen, kein Detail sollte ihr entgehen. Lange hatte sie diesen Moment ersehnt, und endlich war er da. Unter ihren Füßen floss ein Muster aus Licht, über ihr wölbte sich die gläserne Decke des Pariser Ostbahnhofs. Wie oft hatte sie sich vorgestellt, was sie bei diesem Schritt in die neue Zukunft empfinden würde. Hatte überlegt, ob sie vor Rührung weinen, sich aus Angst vor der eigenen Courage schütteln oder ob ein Schauer über ihren Rücken jagen würde, weil alles fremd und doch geplant war? Nichts dergleichen. Nur die feuchten Hände nahm sie wahr und auch die Sorge um ihr Skizzenbuch. Seit dem heimlichen Aufbruch aus Bonn steckte es zwischen Rockbund und Lendenwirbel. Gut so. Es würde ihn beeindrucken. Sie malte sich aus, wie er danach griff, darin blätterte, wie er nickte und bemerkte: »Mon dieu, c’est magnifique.« Schon jetzt spürte sie seine vier Küsschen, seinen Dank nach Pariser Art. Sehr langsam berührte Amanda ihre Wange, fast schien es ihr, als würde diese Stelle glühend. Noch ahnte er nicht, dass sie auf dem Weg zu ihm war, doch das würde sich bald ändern. Sie lächelte. Ein herausforderndes Lächeln, es prickelte auf den Lippen wie ein Lutschen am Brausestäbchen. Fort aus Palmersheim, fort aus dem kleinen Friseursalon der Mutter, in dem die Langeweile ein und aus ging. Grau getönt, spraygefestigt, ohne Fantasie reingeschnitten oder am Hinterkopf toupiert bis zum Spliss. Nicht so ihre Entwürfe, gezeichnet mit weichem Bleistift in zackigen Linien. Nichts Gestricheltes, nichts Nachdenkliches, ihre Skizzen verrieten künstlerische Unbedingtheit. Wie Paris! Sie reckte das Kinn noch höher und schloss die Augen, um dem Klang der Stadt zu lauschen. Sie hörte das leise Sprechen der anderen im Vorübergehen, das Klackern der Schuhsohlen auf Stein, das Rauschen des Straßenverkehrs, sobald sich die Türen der Bahnhofshalle öffneten. Ein Spatz flog nahe der Kuppel und fiepste, jemand schleifte einen Koffer vorbei. Amanda bewegte die Hüften, das war der Swing, den sie wollte, nichts wollte sie mehr, als hier zu sein. In ihrem Kopf gab es ein Straßennetz gefügt aus Gedanken, all die Sehenswürdigkeiten könnte sie tanzenden Schrittes finden: den Eiffelturm, den Pont Neuf, den Louvre, den Jardin du Luxembourg, die Champs-Élysées und die großen Avenuen entlang der prächtigen Fassaden in Saint Germain. Sie war bereit! Sie hatte über ein Jahr lang Französisch gebüffelt, heimlich hatte sie die Volkshochschule zweimal wöchentlich besucht. Wenn ihr wüsstest, wenn ihr wüsstet von meinem Plan …, hatte sie gedacht und jede Eventualität berechnet und das lästige Wort scheitern aus ihrer Vorstellungskraft gestrichen. Und jetzt sagte sie es laut, weil es endlich zur Wahrheit wurde: »Karl, ich bin dir auf den Fersen.«

Damit hob Amanda die Trainingstasche wieder hoch, zog den Reißverschluss auf und fingerte die alte Zeitschriftenseite heraus. Obwohl sie den Text auswendig kannte, überflog sie wieder die Zeilen, die von Karl erzählten, von dem Deutschen in Paris, von seinem Talent zum Zeichnen und seinem Sinn für Schönheit, und wieder dachte sie: Der ist wie ich. Aber sie hatte sich vorgenommen, nichts zu überstürzen. Alles brauchte einen Plan, eine Reihenfolge, wenn es gelingen sollte. Peu à peu, so lautete das Motto: Erst das Zimmer, dann das Auskundschaften, und am Ende stand das Treffen.

Amanda eilte über den Bahnsteig und weiter durch die Halle, durch eine der bogenförmigen Flügeltüren. Als sie auf den Vorplatz trat, verschnaufte sie, denn es stach in ihrer Seite wie nach einem Hundertmeterlauf. Erst da fiel ihr auf, dass sie gesprintet war, dabei sollte sie bedachtsam sein, um keinen Fehler zu machen, auch wenn die Freude auf alles unter den Fingernägeln brannte, so galt es, den Plan einzuhalten. Erst in die Unterkunft, bestimmte sie. Ein kleines Zimmer unterm Dach, mitten im Quartier Latin. Perfekt. Die Concierge hatte die Lüge mit der Volljährigkeit geschluckt, und das Zauberwort »Austauschstudentin« hatte ihr die Mietzusage beschert. Ein bisschen Geflunkere gehört dazu, will man ans Ziel. Hat Karl auch gemacht. Hat es mit dem Alter nicht so genau genommen. Versonnen schürzte Amanda die Lippen, wie sie es immer tat, wenn sie an den schönen Karl dachte. An dessen perfektes Profil, an die schwarzen Augen und seinen etwas verzogenen Mund, als wollte er sagen: Noch nicht gewusst?Der König bin ich. Würde Amanda ihren Traummann zeichnen, er sähe aus wie Karl, hätte dieses unbesiegbare Selbstbewusstsein. Es schien ihm der Stolz in die Wiege gelegt wie der Start in ein ganz und gar wunderbares Leben. Ja, sie kannte seinen Aufstieg, jeder Schnipsel, jede Reportage aus den Magazinen pappte auf der Tapete ihres Kinderzimmers, was die Mutter mit einem Tippen gegen die Stirn und dem Wort Dötschkopp kommentierte. In ihre Wiege hatte man weder ein Kuscheltier noch einen schönen Satz gegeben, eher das Naserümpfen der Mutter samt Frage: Was soll aus dem Panz nur werden?

Amanda blinzelte gegen die gleißende Helligkeit an, die sich über den Vorplatz des Ostbahnhofs ergoss, und rief sich den Weg in Erinnerung. So oft vorgestellt, so oft mit dem Finger über die Stadtkarte gefahren! Da entdeckte sie das rote Metro-Schild. Inmitten einer vierspurigen Straße prangte es weithin sichtbar. Darauf steuerte sie zu, lief die Treppe hinunter in den Tunnel. Es roch nach abgeriebenem Gummi, nach Schweiß und Parfüm.

Es roch nach Leben.

Kapitel 2

Was die Einzigartigkeit der Stadt ausmachte, hätte sie nicht in einem Satz benennen können, zu vieles beeindruckte sie. Die Fassaden der Häuser aus hellem Sandstein, in der Sonne leuchtend, die roten Tonschornsteine, wie Blumentöpfe auf den Dächern dekoriert, oder die verschlungenen Wege in den Parks und die Brücken über die Seine – all das verursachte ihr auch Wochen nach der Ankunft Herzklopfen. Amanda wurde nicht müde, das Pariser Leben aufzuspüren. Stundenlang hielt sie sich an einer Tasse Kaffee fest, um den angeregten Gesprächen an den Tischen der Bistros zu lauschen und dabei ihr Französisch zu verbessern. Sie mochte das Gitarrenspiel der Stadtmusiker, wenn die an den Straßenecken ihr Repertoire zum Besten gaben. Und neugierig war sie auf die Clochards. Oft fragte sie sich, an welcher Stelle deren Alltag eine Wende genommen hatte, sodass die Männer und Frauen zwischen Hecken schliefen. Manchmal setzte sie sich auf eine Bank zu ihnen, teilte ihr Baguette, hoffend auf eine Geschichte, aber die Clochards nickten nur und schwiegen. All diese Eindrücke sog Amanda in den ersten Wochen in sich auf. Was ihr missfiel, das war der hektisch lärmende Verkehr. Hatte sie bislang die Ordnung auf den Straßen in Palmersheim, Euskirchen oder Bonn kennengelernt, so kam es ihr vor, als ob es in Paris kaum Regeln gab. Das Rot einer Ampel schien nicht immer zu gelten, und manches Mal sprang Amanda erschrocken zur Seite. Deshalb gewöhnte sie es sich ab, an der Ampel stehen zu bleiben, vielmehr versuchte sie es, den anderen gleichzutun und wartete auf eine Lücke, um zwischen den Autos hindurch auf die andere Seite zu gelangen. Das brachte ihr manchmal ein wildes Hupen ein. Wie auf einem fremden Stern, dachte sie und nahm sich vor, sich noch mehr dem Takt der Stadt anzupassen.

Nach solchen Tagen des Auskundschaftens bot ihr das muffige Zimmer in der Rue de la Montagne-Sainte Geneviève ein Refugium, wenn sie sich abends auf der Matratze ausstreckte, die fadenscheinige Decke aus braunem Damast bis zum Hals zog und ihre Erlebnisse sortierte. Ja, sie war angekommen in Paris, aber noch lange nicht am Ziel. Um das zu erreichen, brauchte sie Karl! Nur fühlte sie sich noch nicht gewappnet, um dem Modekönig gegenüberzutreten, ihr Skizzenbuch aufzublättern und zu sagen: »Herr Lagerfeld, das will ich zu Ihrer Mode beitragen! Sehen Sie die Frisuren? Sie müssen wissen, es sind die Haare, die eine Frau unverwechselbar machen. Stoffe und Schnitte sind Beiwerk – die Haare sind die Essenz.« Noch zögerte sie, fragte sich, ob er ihr Anliegen verstehen oder nur belustigt die Nase rümpfen würde angesichts einer jungen Deutschen aus der Provinz. Deshalb wollte sie weitere Gründe sammeln, um Karl zu überreden, dass die Haute Couture eine Haarkünstlerin wie sie brauchte.

Es würde nicht einfach sein, ihn für sich zu gewinnen. Aus den Zeitschriftenartikeln wusste sie um seine Scharfzüngigkeit. Dem Mann war nur mit Überzeugungskraft beizukommen. Aber wie?

Sie suchte in den Schaufenstern der Modeläden entlang den Champs-Élysées, in den angesagten Hochglanzmagazinen, selbst in den Schaukästen der Modelagenturen – und wurde nicht fündig. Was konnte sie vorbringen, das dieser Karl Lagerfeld nicht mit einem herrischen Wedeln der Hand abtun konnte? Da kam ihr eines Abends, es war in jenem vagen Zustand zwischen Wachen und Schlafen, der Louvre in den Sinn. Wie elektrisiert setzte Amanda sich im Bett auf, krallte die Finger in die Decke. Das ist es!Auf den Gemälden finde ich, was ich suche. Göttinnen, Bräute, Geliebte, Königstöchter – sie dachte an die Renaissance-Frauen von Botticelli, Michelangelo, Dürer und da Vinci, allesamt in besten Farben gemalt. Wie hatte Amanda an den Lippen der Zeichenlehrerin gehangen, als die erzählt hatte, dass diese Künstler ihre Farben aus gestoßenen Knochen, aus Pflanzen, aus giftigem Blei gewonnen, dass sie ein Vermögen für die Ingredienzen ausgegeben hatten. So viel Läuseblut in einem einzigen Gramm Purpur, um den Zauber zu entfalten. Diesen Männern war kein Weg zu weit gewesen, um das Geheimnis der Schönheit in der Malerei zu lüften. Von Nürnberg aus war Albrecht Dürer losmarschiert, hatte die gefährliche Strecke über die Alpenpässe genommen – wer weiß, vielleicht hatte er hinter jeder Biegung eine Räuberbande vermutet – und sich doch nicht aufhalten lassen. Er wollte damals, um 1500, nach Venedig, und das um jeden Preis, selbst wenn es das eigene Leben gekostet hätte, er hätte die Anstrengungen auf sich genommen, Amanda war sich sicher, um die Nacktheit der Frauen in der Malkunst zu studieren und ihnen Licht und Schatten auf die Körper zu malen – und zwar ohne Marderpelz auf den Schultern und ohne Perlenkette um den Hals. Die pure Schönheit suchten sie alle in Haut und Haaren und im Lächeln eines einzigen Augenblicks.

»Morgen gehe ich ins Museum«, entschied sie. Wenn Dürer auf einem Esel wochenlang für die Kunst über Berge geritten war, dann würde sie ganz Paris erlaufen. Das mache ich, dachte sie und stellte sich die Köpfe der Frauen vor, die sie für die Haute Couture bearbeiten würde. Gepflegte Haare mit intakter Schuppenschicht, einzelne Fäden wie Gold, Pech oder Kupfer, die sich zu etwas Wunderbarem fügten. Wenn die Haare glänzten, dann war die Frau schön. Mit diesen Gedanken kuschelte sich Amanda unter die kratzige Decke und schlief ein.

Die nächste Woche verbrachte sie im Louvre. Punkt neun Uhr stand sie am Eingang und grüßte freundlich das Personal, schritt schnurstracks auf die Gemälde zu, um vor dem Gedränge, das bald einsetzen würde, ruhige Minuten zu finden. Es kam sogar vor, dass sie zu dieser frühen Stunde dort allein war. Das sind, so dachte sie, Momente wie Gottesgeschenke. Es faszinierte sie das helle Rot der Haare, das Botticelli den Grazien gab. Und der Sog, den Mona Lisa verursachte, bestand für Amanda aus dem perfekten Zusammenspiel von Mimik und Frisur, denn Mona Lisa war keine klassische Schönheit, keine nach Bewunderung strebende Frau. Das Bescheidene betörte. Und als Amanda lange, sehr lange vor diesem Bild stand, da kam ihr gar in den Sinn, dass es der verborgene Schmerz war, den das Lächeln offenbarte und der Mona Lisa eine Unsterblichkeit gab. Wie anders kam Albrecht Dürer in seinem Selbstbildnis als junger Mann daher. Auch hier sinnierte Amanda lange, bewunderte diese Akribie seiner Locken, die sie als Eitelkeit interpretierte und auch als Wertschätzung seiner selbst. Immer wieder ging sie zu diesem Porträt, stellte sich vor, wie aufwendig es im ausgehenden 15. Jahrhundert gewesen sein musste, diese Frisur zu kreieren. Vermutlich, so dachte sie, mit Hitze und Öl, aufgedreht auf kleinen Hölzern. Bei dieser Vorstellung kicherte sie in sich hinein und zückte ihr Skizzenbuch, um sie nachzuzeichnen.

Am Ufer der Seine arbeitete sie die Details aus, die sie sich eingeprägt hatte. Darunter schrieb sie einen Satz wie ein Versprechen: Haarkünstlerin will ich werden. Und das war viel, viel mehr, als eine Friseurin zu sein.

Sie ließ den Blick entlang der Seine schweifen, dort hinten wohnte Karl. Ab sofort würde sie seinen Tagesablauf studieren, nahm sie sich vor und erhob sich vom Steinrand des Ufers, um nach Hause zu spazieren. Da trat ein älterer Mann neben sie, legte seine Hand auf ihre Schulter, sagte: »Ich habe dich beobachtet. Du zeichnest? Ich auch! Hast du Geld für mich?« Der Mann, mit löchrigen Jeans bekleidet, stand ausgemergelt und in Lederlatschen vor ihr, jede Rippe drückte sich durch seine faltige Haut, die an einigen Stellen mit Henna verziert war. Unwillkürlich fing Amanda an, die Rippen zu zählen und dachte: Der bräuchte mal was Deftiges, ein Schwarzbrot mit Leberwurst oder einen Sauerbraten. Und als sie nicht antwortete, da fügte er hinzu: »Keine Angst, wir sind doch Kollegen.« Er wies auf ein Bild aus Kreide, grell und in groben Strichen auf das Trottoir gemalt. Eher aus Höflichkeit als aus Überzeugung sagte Amanda: »Das ist gut, wirklich gelungen.« Er aber lachte sie aus, sagte, er wisse, dass sie lüge, und ob sie ihn auf einen Espresso mit Croissant einladen wolle. »Ich bin schon lange hier und lebe auf der Straße. Ganz Paris ist meine Wohnung.« Sie musterte ihn eindringlich, denn bislang hatte sie noch niemand in dieser Art angesprochen, und neugierig geworden auf seine Geschichte, willigte sie ein.

Bis nachts saßen sie am Rande des Louvre in einem Bistro, sahen die Dunkelheit aufziehen, die Lampen aus den Fenstern der Häuser am gegenüberliegenden Ufer der Seine scheinen, sahen die Sterne am Himmel. Der Mann, er nannte sich Antoine, redete davon, dass Paris nie ganz dunkel und nie ganz still wurde, dass in Dakar im Senegal auch nachts die Trommeln schlugen und dass es in der Schweiz eine Höhle gab, die jedes Geräusch schluckte. Überall habe er seine Kreidebilder hinterlassen. Auch wenn der Regen oder der Schnee sie verwischten, so würde doch immer eine kleine Spur von ihm bleiben. Er fuhr sich mit den schmutzigen Händen durchs Gesicht. »Mein Trip rund um die Welt dauert schon zwanzig Jahre. Und? Wie ist es bei dir?« Sie antwortete nicht, weil das Strahlen seiner Augen ihr die Sprache verschlug. In diesen Augen, so dachte Amanda, ist sein Zuhause, seine ganze Vorstellung vom Glück wohnt nur in ihm.

Kapitel 3

Zwar war Amanda davon überzeugt, dass Mode eine vergängliche Schönheit bot, doch sie wusste um das Lebensgefühl, das Kleider und Accessoires einer Frau schenkten. Je praller das Portemonnaie, desto farbenfroher das Schweben auf feinen Ledersohlen, mit schicken Taschen am Handgelenk und mit Stoffen, die sich zarter um den Körper schmiegten als die eigene Haut. Auch Amanda war vor diesem Verführerischen der Mode nicht gefeit, ja, manchmal sah sie neidisch den Frauen in engen Kostümen und Absatzschuhen hinterher, wenngleich sie ahnte, dass ihr solch teure Teile nicht standen. Sie war zu klein, ein wenig pummelig, der Saum hinge dann zu tief, die Ärmel müsste sie krempeln und um die Hüften spannte der Bund. Sie hatte es ausprobiert in den ersten Tagen in Paris. »Dieses Kostüm von Christian Dior schmeichelt jeder Frau«, hatte die Verkäuferin erklärt und gleichsam geraten, es eine Nummer größer als üblich zu nehmen. »Die Kollektion ist in diesem Sommer auf Figur geschneidert.« Amanda hatte am Vorhang der Umkleidekabine so lange herumgeruckelt, bis kein Schlitz mehr offen gewesen war, bis die Verkäuferin keinesfalls hineinsehen könnte. Sie hatte sich in die Sommer-Schurwolle gezwängt, ihre Kniestrümpfe bis zu den Fußfesseln runtergerollt, den Bauch eingezogen, bis es stach. Sieht an mir aus wie ein eingelaufener Putzlappen, fand sie und wuschelte sich durch die blonden Locken, kniff sich in die roten Wangen und formte ihre vollen Lippen zum Kussmund. Da riss die Verkäuferin den Vorhang zurück, sagte zunächst nichts. Sie trat näher an Amanda heran und flüsterte: »Unbedingt Nylonstrümpfe und Absatzschuhe. Türmen Sie die Haare hoch, falscher Zopf da rein, halbe Flasche Haarspray, vielleicht noch ein bisschen Strass, dann sieht die Sache besser aus.« Amanda hatte kurz überlegt, den Blick vom Spiegelbild zur Verkäuferin wandern lassen und festgestellt: »Mein Stil ist anders, wissen Sie, ich mag’s eher locker, weil Haare beim Gehen und beim Lachen schwingen sollen, deshalb mag ich kein Spray.« Sie war mit hocherhobenem Kopf und aufreizender Langsamkeit aus dem Laden stolziert, und dabei war ihr zwischen den Kleidern, so teuer wie ein Monatsumsatz der Mutter im heimischen Friseursalon, ein Gedanke gekommen: Man darf diese Mode lieben, aber muss sie nicht tragen, um eine Star-Friseurin zu sein.

Davon würde sie Karl überzeugen. Auch wollte sie ihm erzählen, dass es Frauen gab, denen die klasse Kurven und die optimale Beinlänge nicht gegeben waren, die sich trotzdem an edlen Kleidern nicht sattsehen konnten und insgeheim hofften, da möge einer kommen, um auch für sie etwas mit raffinierten Nähten und einem Schwung im Stoff zu entwerfen, das jedes Pölsterchen verschwinden ließe. »Lieber Herr Lagerfeld, jede Frau will, dass sich andere den Hals nach ihr verrenken. Wissen Sie, Krankenschwestern, Friseurinnen, Studentinnen, Hausfrauen aus Mietkasernen, auch Verkäuferinnen und Sekretärinnen in der Verwaltung träumen von so was.« Er würde das verstehen, Amanda war sich sicher. Und dann würde sie ihm von der angeborenen Schönheit verraten, von den Haaren. Da wollte sie ran, an die Köpfe von Karls Models bei der großen Show, um Frauen auf den Straßen von Paris zu zeigen, wie Mode und Haar eine Symbiose bilden konnten. Dafür muss ich auf die Showbühne von Chloé!, dachte sie, und ihr wurde ganz heiß im Nacken. Wenn er es verlangte, würde sie dafür ihre rosafarbene Bluse und den geliebten Karorock ablegen, sich in ein Cocktailkleid reindrehen und Stöckelschuhe tragen, einzig, um neben ihm zu arbeiten. Zwei Künstler aus Deutschland! Ja, sie würde Karl klarmachen, dass der teuerste Fummel nicht wirkte, wenn die Haare wie ausgeleiert hingen. Allmählich nahm ihr Plan Gestalt an. Es wurde Zeit, ihn zu präsentieren! Nur hin und wieder funkte noch die Stimme der Mutter dazwischen: Lieber Gott, womit habe ich dieses Kind verdient, was habe ich nur falsch gemacht? Dann verschränkte Amanda die Arme vor der Brust. Der Mutter und der Heide werd ich’s zeigen! Und doch kam dabei ein Stückchen Heimweh in ihr hoch. Sie drückte es entschieden wieder runter, für so was hatte sie keine Zeit. Nein, ein Zurück nach Palmersheim gab es nicht, eine Ausbildung in Mutters Friseursalon kam nicht infrage. Überhaupt wäre es eine Schmach, reumütig dort wieder anzuklopfen. Die Mutter würde vielleicht lachen, vielleicht zur Ohrfeige ausholen, das wusste man nie, auf jeden Fall würde sie sagen: »Haste nix in der Täsch, biste nix wert. Zieh den Kittel über und rühr die Dauerwelle an.« Wenn Amanda daran dachte, zählte sie das Geld im Brustbeutel nach. Tatsächlich musste sie handeln.

Seit Tagen schon notierte sie Karls Tagesablauf, um den richtigen Moment für das Gespräch zu finden. Nie betrat er das Geschäft von Chloé vor dem frühen Nachmittag, denn vormittags zeichnete er. Da sah sie ihn vom Ufer der Seine aus im ersten Stock seines Appartements sitzen, den Kopf geneigt, keine einzige Bewegung in seinen Schultern. Sie erkannte ihn an den schwarzen Haaren, am blendend weißen Hemd, immer stand das Fenster offen und hob die Sonne um zehn Uhr seine Silhouette hervor. Karls Tage hatten Struktur. Und allmählich erkannte sie, dass solch eine Konsequenz zum Erfolg führte. Wer sich treiben ließ, erreichte kein Ziel, der verlief sich auf seinem Weg. Gerne hätte sie ihrer Schwester Heide von dieser Einsicht erzählt, hätte abends im Bett mit ihr darüber geflüstert, aber Heide war nicht da, die saß fest im Dorf, war dort geboren und würde dort irgendwann einmal sterben. Nicht mit mir, dachte Amanda, meine Welt soll groß sein! Ihr fiel der Kreidemaler von der Seine ein, der rund um den Erdball seine Spuren hinterließ. Das hatte ihr imponiert, trotz der zerschlissenen Hose und der hervorstehenden Rippen hatte der Mann etwas Schönes an sich. Der war mit sich im Reinen. War sie es auch?

Beleuchtet von dem funzeligen Schein der Nachttischlampe wirkten die Möbel im Dachzimmer noch schräger und spärlicher als bei Tageslicht. Ein Holzschrank, dessen Türen nicht richtig schlossen, ein Tisch mit Stuhl und ein Waschbecken an der Wand, ein erblindender Spiegel darüber. Aber es war sauber und warm im Zimmer und die Aussicht über Paris atemberaubend. Hier könnte sie bleiben, bis die Frauen von Paris erkennen würden: Da gab es eine, die Haarkreationen erschuf wie die begnadeten Modemacher die Klamotten. Diese Amanda, würden die Frauen tuscheln, hat eine Formel für Schönheit gefunden. Solche Gedanken machten ihr Mut. Dann versenkte sie sich die halbe Nacht in Bücher, die sie bei den Bouquinisten am Seine-Ufer erstanden hatte, las von den mathematischen Berechnungen des großen Leonardo da Vinci, von seinen Regeln zu Proportion und Körperbau. Oder sie verglich in Magazinen Fotos von Sophia Loren mit denen von Claudia Cardinale, auf der Suche nach etwas, das sich nicht in einen Zeitgeist pressen ließ, sondern gültig blieb. Sie sah sich wieder und wieder die ausgeschnittenen, gesammelten, abgehefteten Kreationen der Modeschöpfer an und starrte auf all die Models, die sie vorführten. Und dabei fiel ihr das Unverkennbare von Karls Werken auf, jene mit lockerem Handgelenk gezeichnete Linie, spritzig und leicht, ohne die Schwere einer berechnenden Art. Bist ein Genie, dachte sie zärtlich und fuhr mit den Fingerspitzen über die Seiten.

Die Reporter porträtierten den Deutschen in Paris. Ganz wild waren sie darauf, von seinem Talent zu berichten. Wie er zeichnete. Wie er schneiderte. Wie flott er über die Laufstege in Paris, Rom, New York lief, gefolgt von seinen Mannequins mit den launenhaften Gesichtern. Und fast verwegen fühlte sich Amanda, als ihr der Gedanke kam, dass auch sie selbst sich solche Reportagen wünschte. Sie würden davon schreiben, wie sich eine Frau ins richtige Licht rücken konnte. Worauf es ankam, war das Heben des Kopfes, und zwar immer ein bisschen höher als normal. Dann gelang der Auftritt selbst im Kittel. Kommen wir ins Geschäft, Karl, dachte Amanda. Es würde kein leichtes Gespräch für sie werden in seiner Schneiderei, das ahnte sie. Auf jeden Fall aber sollte er am Ende durch die Zähne pfeifen und sagen: »Du bist mit allen Wassern gewaschen.« Ja, Karl, lass uns über Schönheit reden, du und ich. Über die schicken Frauen, die auf zehn Millimeter hohen Absätzen stöckeln, auf Pumps, die ich niemals tragen würde, weil meine Mutter zu oft gesagt hat, einem Trampel wie mir läge der Fuhrmannsschritt in den Genen. Lass uns auch darüber reden, wie die schicken Frauen aussehen, wenn sie barfuß sind, abgeschminkt und mit verquollenen Augen nach dem Aufwachen in ihren Tag starren, hoffend auf die Liebe vom Ehemann, auf ein bisschen Anerkennung von irgendwoher, wenn Sorgen und Ängste auch ihren Blick trüben. Lass uns reden, Karl! Was bliebe, wären die schicken Frauen nackt und schutzlos und ohne deine Kleider. Was, Karl, wäre dann?

Mit diesen Gedanken setzte sich Amanda auf eine Parkbank und zeichnete ihre Ideen. Sie nahm das Geschmücke weg, strichelte die Natürlichkeit, holte mit Bleistiftlinien hervor, was sich unter Hüten, Seidentüchern und falschen Zöpfen verbarg – die Frechheit auf der Stirn, den Humor in den Augen, die Klugheit in den Mundwinkeln, den Schalk im Nacken, die Würde in der Brust. Sie schenkte den Frauen andere Frisuren, solche, die mit ein wenig Wuscheln und Schütteln in Form fielen, die nicht versuchten, einer kleinen Gestalt mehr Länge zu geben oder hageren Wangen mehr Fülle. Mal herrisch, mal lasziv, mal mit einer Schläue im Blick brachten die Frauen im Skizzenbuch das Gegebene zum Leuchten. Irgendwo zwischen Wahrheit und Täuschung musste die Formel für Schönheit liegen.

Von diesem Gedanken angetrieben, wagte sie sich am frühen Nachmittag endlich auf die Avenue de Montaigne und in die Nähe von Chloé. Sie stellte sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite in die Hofeinfahrt, ließ das Haus mit der goldenen Nummer fünfzig nicht aus dem Blick. Nur nichts überstürzen, dachte sie und wartete auf den einen Moment, den das Schicksal ihr vor die Füße werfen sollte. Aus dem Halbdunkel der Einfahrt starrte sie hinüber auf das Haus Chloé, sah den schwarzen Rolls-Royce um zwei Uhr vorfahren. Sie wunderte sich, dass Karl trotz Nieselregen eine Sonnenbrille trug, und kurz hatte sie das Gefühl, er blicke schlecht gelaunt zu ihr hin. Da verließ sie der Mut. Vielleicht war es Intuition, vielleicht auch die Angst vor Karls Nein. Zum ersten Mal fürchtete sie, dass ihr Plan an einem seidenen Faden hängen könnte. Würde Karl nämlich mit seiner Hand durch die Luft wedeln, sie hätte keine Alternatividee. Sie setzte alles auf diese eine Karte, aber die, das spürte sie jetzt deutlich, war noch nicht dran, die war noch nicht im Spiel.

In dieser Nacht träumte sie von Frauen in spektakulärer Garderobe. Sah sich hinter Bühnenvorhängen stehen, beflissen mit Kamm und Schere und mit hitzigen Wangen. Sah sich umhüllt von einer Blase aus feinster Seide. Sah sich in dieser Seidenblase hoch und höher steigen. Sie entschwebte der Stadt über den Eiffelturm hinweg, bis die roten Dächer zu Farbklecksen verschwammen, bis diese Blase, in der sie saß und staunte, den zackigen Sternen zu nahe kam und platzte. Und als Amanda hochschreckte und sich umsah, als sie versuchte, diesen Traum zu deuten, da ahnte sie, was sie davon abhielt, Karl zu begegnen. Es war die Einsicht, dass sie etwas Altes zu Ende bringen musste, bevor sie etwas Neuem Raum geben konnte. Das Gespräch mit der Mutter war überfällig. Es galt, der Mutter die Flucht aus Palmersheim endlich zu erklären.

Kapitel 4

Amanda umrundete die Telefonzelle, es war die einzige in der Nähe ihrer Unterkunft in der Rue de la Montagne-Sainte Geneviève. Die Scheiben waren teils eingeschlagen, teils mit Farbe beschmiert, soweit sie erkennen konnte, stand dort etwas wie: Seid Realisten. Verlangt das Unmögliche! Seit Tagen blieb es jedoch ruhig auf den Straßen im Quartier Latin, seit Präsident de Gaulle Neuwahlen angekündigt hatte, herrschte Friede in der Nacht. In den Wochen vor dem Abitur hatten sie in der Schule über die Revolte in Frankreich diskutiert. Amanda erinnerte sich an die Vorhersage der Lehrerin: »Das schwappt noch bis zu uns ins Rheinland.« Auf der Abiturfeier hatte die Lehrerin betont, dass Handwerk goldenen Boden habe und ein Studium manchmal den Geist verdrehe. Amandas Mutter hatte am lautesten applaudiert und ihren Töchtern diesen Satz später wiederholt, wobei sie Amanda streng angesehen hatte: »Ab sofort hörst du mit der Kritzelei in deinem Heft auf. Die Leute tuscheln schon im Dorf. Du lernst Haare zu schneiden im Salon, dann weißt du, was du hast, und kommst nicht auf dumme Gedanken.«

Diese Zurechtweisung fiel Amanda ein. Sie warf trotzdem die Münzen in den Apparat und wählte die Nummer.

»Lennart!«

Die Stimme der Mutter klang ungehalten.

Drama, das wird ein Drama, kam es Amanda in den Sinn.

»Hallo, wer ist denn da?«, fragte die Mutter harsch.

»Ich bin’s.«

Schweigen.

»Ich bin in Paris.«

»Ich bin in Paris«, äffte die Mutter sie nach. »Du Dötschkopp! Du kommst sofort zurück.«

»Mutter!«

»Beweg deinen Hintern hierhin, oder ich mach dir so einen Knatsch, dass dir Hören und Sehen vergeht. Einfach abzuhauen!«

Der Wortschwall traf Amanda unvermittelt, mit solch einer Schimpftriade hatte sie nicht gerechnet. Sie wollte sagen, dass sich niemand sorgen müsse. Sie wollte erzählen vom Anfang in dieser Stadt, vom Ankommen und Gewöhnen, von all den Eindrücken. Von dem Grummeln im Bauch, wie eine gute Verheißung, ihr Plan würde gelingen. Doch die Mutter sprudelte ohne Punkt ihre Vorwürfe heraus. Bis Amanda rief: »Ich kann nicht! Ich kann nicht in deinem Salon arbeiten, frisieren wie du und Heide.«

»Dann lernst du das.«

»Nein. Das ist zu klein für mich.«

Die Mutter sog die Luft ein, dann gab sie einen zischenden Laut von sich: »Was heißt hier ›zu klein‹? Stell du mal so was auf die Beine! Wir schuften, bis unsere Füße platt sind, und du machst dich lustig über den Salon? Fräuleinchen, du bist neunzehn, noch nicht volljährig. Du nimmst den nächsten Zug, ich warte am Bonner Bahnhof. So jeck wie du kann man doch nicht sein!«

»Aber wir haben hundert Mal darüber gesprochen. Ich hab doch immer wieder erklärt, wovon ich träume.«

»Bliev op ’m Teppich! Hast einfach Geld genommen.«

»Das war mein Geld.«

»Es war für die Aussteuer.«

»Aber ich will gar nicht heiraten!«

»Aber dich diesem Willy aufdrängen? Peinlich ist das.«

»Nicht Willy, Karl! Bei ihm hat es auch mit dem Zeichnen angefangen. Erster Preis für eine Skizze. Wollmantel.« Sie drückte die Worte heraus, Widerworte, die die Mutter wie Unsinn abwinkte, Amanda konnte sie in der heimischen Küche stehen sehen, vor einem Berg Kartoffeln, vor einer riesigen Schüssel Mayonnaisesoße, die Wiener Würstchen im warmen Wasserbad. An den Montagnachmittagen war die Laune der Mutter schlecht, denn sie vermisste ihre Kundinnen und die Arbeit im Salon, sie fühlte sich zu Hause wie strafversetzt an den Herd, wenn sie die Mahlzeiten für die kommenden Tage vorbereitete und in luftdicht verschließbare Behälter füllte. Dann presste sie ihre Lippen zusammen oder stritt mit jedem, der ihr in die Quere kam, selbst Heide verschonte sie nicht.

Ein Kochtopfdeckel schepperte auf den Boden, und das Fluchen der Mutter folgte zu laut. »Stuss! Haareschneiden ist doch keine Kunst! Du machst die Lehre bei mir und Heide. Basta.«

»Nein!« Amanda umklammerte den Telefonhörer derart fest, dass die Finger schmerzten, fuhr sich mit der anderen Hand über das Gesicht, über den Hals, legte die Hand auf ihr Herz. Es wurde zu eng in dieser Telefonzelle, sie fühlte sich gefangen in diesem Gespräch, deshalb öffnete sie die Tür einen Spaltbreit, um den eigenwilligen Geruch der Straße zu schnuppern. Knoblauch und Espresso vermischten sich mit etwas Modrigem, mit dem Dunst der Müllsäcke, die gestapelt an den Hauswänden standen. Amanda lauschte den Geräuschen. Immer tat sie das, wenn sie zur Ruhe kommen wollte, wenn sie längst im Bett lag, wurden die Klänge der Straße zu ihrer Schlafmelodie – gedämpfte Stimmen von der kleinen Terrasse auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Obwohl das Café längst geschlossen war, blieben häufig Menschen dort sitzen, um zu diskutieren, anstatt nach Hause zu gehen. Oder es holperten Lastwagen durch die enge Straße, Männer entluden frühmorgens vor Sonnenaufgang die Waren. Nie wurde es still in diesem Viertel. Kaum hörte sie ein Käuzchen rufen, eine Nachtigall singen wie in Palmersheim. Anfangs hatte sie ihr Dorf inmitten der von Mohnblumen betupften Rapsfelder vermisst. Anfangs hatte sie das Sonnenlicht herbeigesehnt, das auf das Korn hinter Mutters Haus schien und den Ähren alle Nuancen gelber Farben schenkte, gebrochenes Pastell bis Dunkelgold. Bald würden die Strohballen dort liegen, wie oft hatte sie zusammen mit Heide daraus eine Höhle gebaut. Aber die Kindheit war vorüber und das Dorf nicht mehr ihre Welt. Und plötzlich formte sich ein Satz, er kam wie von selbst und völlig unerwartet über Amandas Lippen, er schmeckte süß und tröstlich. Sie hörte sich sagen: »Ich will die versteckten Schönheiten erkennen. Mutter, das ist meine Bestimmung.« Es klang in ihr nach, wurde zum Echo. Ihr Herz überschlug sich, sie atmete flach und schnell, denn sie hatte endlich den Grund gefunden, weshalb es diese lustvolle Unruhe in ihr gab, wenn sie zeichnete. Mit einem Mal wurde ihr klar, weshalb sie den kleinen Salon der Mutter und auch das Rheinland verlassen hatte und sich sauwohl fühlte in Paris. »Die verstehen das hier. Ich bin mir sicher.« Sie wiederholte es, als wäre es eine Tatsache, als wäre die Mutter begriffsstutzig.

»So ein Blödsinn. Versteckte Schönheit, was soll das sein?«, rief die Mutter dazwischen.

»Gut, lassen wir das«, befand Amanda. Und weil sie Frieden wollte, auch wenn sie den Segen der Mutter nicht bekam, schlug Amanda vor: »Kommt doch demnächst zu mir. Besucht mich mal. Sieben Stunden, und ihr seid in Paris! Wir machen es uns nett. Wir passen zu dritt ins Bett. Das Haus liegt mitten im Quartier Latin. Im fünften Stock. Wenn ich mich auf die Zehenspitzen stelle, sehe ich die Dächer und weiter hinten die Kuppel vom Pantheon!«

Wieder das Scheppern im Hintergrund. Dann stöhnte die Mutter auf: »Du hast en Ratsch em Kappes. Wie dein Vater. Du kommst zurück, oder ich habe ab sofort nur noch eine Tochter, nur noch Heide.«

»Ach, es renkt sich alles ein. Es gibt hier eine Concierge, die kann mir was ausrichten. Ich gebe dir mal die Telefonnummer. Hast du was zum Schreiben?«

Das Kratzen des Stifts war zu hören. »Heide meldet sich.« Dann ein Knacken in der Leitung.

Verdutzt starrte Amanda auf den Hörer. Einfach aufgelegt. Noch nicht mal ein Auf Wiederhören! In ihrem Magen verdrehte sich etwas. Aus der Enttäuschung wurde Trotz. Nie wieder Palmersheim. Nie wieder Handtücher stapeln, Kundinnen Komplimente machen und dabei die Finger im Rücken kreuzen, weil die den Salon so nichtssagend verließen, wie sie ihn betreten hatten. Sie schnappte durch den Spalt der Zellentür nach Luft. Nein, Haare waren für Amanda nicht bloß Fäden aus Keratin, die man einfach abschnitt, fallen ließ, vom Boden fegte und entsorgte. Jedes einzelne gab einen Hinweis auf den Zustand der Seele. Bei Traurigkeit brach es, bei Schmerz wurde es glanzlos, und es verlor seine Strahlkraft, wenn etwas im Leben falsch lief. Unwillkürlich griff Amanda sich in die kurzen blonden Locken, dachte, dass ihre eigenen Haare nie geschmeidiger waren. Obwohl sie in der Fremde wohnte, obwohl ihr Zimmer spärlich eingerichtet war und sich die großblumige Tapete an den Rändern wellte. Obwohl nur kaltes Wasser aus der Dusche im Flur tröpfelte und sie sich besonders abends nach jemandem sehnte, mit dem sie die Erlebnisse des Tages teilen konnte, nahm Amanda etwas Helles in sich wahr. Sie wischte mit der Hand durch die Luft, wie sie es bei Karl gesehen hatte. Weg mit dem Störenden. »Meist gehen die Dinge gut aus«, murmelte sie.

***

»Amanda! Ici tout de suite«, rief die Concierge. Das Wortgewirr, das folgte, verstand Amanda nur bruchstückhaft. Irgendetwas von Strafe, von einer Ungehörigkeit, sogar das Wort Betrügerin meinte sie zu verstehen. Müde schielte sie auf den Wecker neben dem Eisenbett, sechs Uhr, zu früh für Paris. Durch die geschlossenen Gardinen fiel ein dumpfes Licht. Deshalb zog sie die Decke über den Kopf, dachte, es handle sich um ein Missverständnis, warum sonst sollte die Concierge nach ihr rufen? Aber die trampelte die Stufen hinauf bis zum Dach, an keinem Morgen zuvor hatte sie das getan, und klopfte wuchtig an die Zimmertür. »Ouvre la porte!« Amanda tastete sich aus dem Bett, wuschelte sich durch die Haare, strich das Nachthemd glatt und öffnete die Tür. Was die aufgebrachte Concierge redete, verstand sie kaum. Eher entnahm sie den Gesten, dass es sich um einen Rauswurf handelte, denn die ansonsten behäbige Frau wies auf die Tasche in der Ecke und dann auf Amanda: »On ne veut pas de police ici! Vite, vite, sors! Cinq minutes!« Dabei zog sie den Schlüssel aus dem Türschloss, ließ ihn in die Tasche ihres Kittels gleiten und warf Amanda einen strafenden Blick zu, während sie auf das Bett zumarschierte und die Kissen ausschüttelte. Amanda trat hinter sie, zögerlich berührte sie die Schulter der Frau: »Il y a un problème?« Aber die Concierge schüttelte sich, fauchte: »Ta mère.«

Mutter! In diesem unsäglichen Moment, in dem Amanda kaum bekleidet vor der aufgeregten Madame stand, fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: Mutter hatte sie verraten. Hatte gesagt, dass sie nicht volljährig war. Dass sie ohne Erlaubnis hier wohnte, abgehauen war und nach Hause zurückkommen sollte. Das war gestern Abend am Telefon keine leere Drohung gewesen. Sie machte ernst, mehr noch, sie wollte Amandas Glück verhindern. »Nicht mit mir!«, rief Amanda so laut aus, dass die Concierge einen Schritt zurückwich. Deshalb zwang sich Amanda zu einem Lächeln und hob beschwichtigend die Hände. Das alles sei ein Missverständnis. Gleichzeitig pochte die Angst hinter ihrer Stirn, dieses Zimmer zu verlieren und damit ihre ganze Zukunft, die gerade erst begann. Dieser Gedanke trieb ihr Tränen in die Augen. Sie faltete die Hände, bettelte nun ohne Scham wie eine Hungernde um eine Scheibe Brot: »Non, non. Madame. Sie dürfen mich nicht rauswerfen. Ich will bleiben.« Dabei zeigte sie auf den fleckigen Teppich, zeigte auf das geschmacklose Heiligenbild an der Wand, auf die Vase mit den verstaubten Trockenblumen und rief in ihrer Aufregung auf Deutsch: »Das ist mein Zuhause. Verstehen Sie? Sonst ist mein Leben zu Ende!« Die Concierge runzelte die Stirn, verstand kein Wort, aus ihrem Mund kam nur ein unbarmherziges: »Non. Cinq minutes. On veut pas de police.«

Nochmals bat Amanda kleinlaut: »Nur eine Nacht«, und sie hielt den Zeigefinger nah vor den Augen der Madame in die Höhe: »Juste une nuit.«

»Non!«

»Wenigstens noch duschen …« Die Vokabeln fehlten in der Aufregung, ihr Gehirn war plötzlich leer, deshalb wies sie auf das Bad im Flur, stammelte immer wieder: »Pardon Madame, je suis désolée.«

Aber die Concierge hielt fünf Finger hoch, wobei sie Amanda von Kopf bis Fuß nun wortlos musterte. Dann zog sie die Bettwäsche ab und hängte das Plumeau aus dem Fenster. Da schwieg auch Amanda – man musste wissen, wann zu betteln keinen Sinn mehr machte. Sie stopfte flugs ihre Sachen in die Trainingstasche, schalt sich gefühlsduselig, als sie sich noch einmal auf Zehenspitzen an das offene Dachfenster stellte und im Morgenlicht die Kuppel des Pantheons betrachtete. Sie zählte bis drei, weil, wie sie aus Büchern wusste, eine Gegenwart drei Sekunden dauerte. Vorbei! Meine Zeit hier ist vorbei. Amanda schwor sich, nie, nie wieder Heimweh zu empfinden, überhaupt nie wieder irgendjemandem von ihren Plänen zu erzählen, denn das brachte Unglück.

Kapitel 5

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