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Um ungewollten Babys das Leben zu retten, muss sie Freiheit und Ruf riskieren: Der neue Roman »Wie ein Stern in mondloser Nacht« von Marie Sand erzählt die ebenso anrührende wie erschütternde Geschichte der Hebamme Henni Bartholdy, die aus einer Not heraus die Babyklappe neu erfindet und von diesem Moment an auf sich allein gestellt bleibt. Immer größer wird die Schere zwischen Arm und Reich im Berlin der 50er-Jahre. Das sieht auch die Hebamme Henni Bartholdy mit wachsender Sorge. Wie kann es sein, dass im Deutschland des Wirtschaftswunders verzweifelte Mütter ihre ungewollten Babys aus Scham und schierer Not aussetzen oder gar töten? Als auch Hennis große Liebe, der Arzt Ed von Rothenburg, keine Antwort weiß, handelt sie. Kurzerhand stellt sie eine Apfelsinenkiste in den Hinterhof ihres Geburtsraumes auf. Bis tatsächlich das erste Findelkind in der Klappe liegt – und lebt! In ihrem Roman um die Babyklappe erzählt Marie Sand einfühlsam und zu Herzen gehend ein erschütterndes Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte, das so in keinem Geschichtsbuch steht. Damit setzt sie einer weiteren »stillen Heldin«, einer Hebamme, ein Denkmal. Entdecken Sie auch den Tatsachenroman »Ein Kind namens Hoffnung« über eine mutige Frau, die während des 2. Weltkriegs unter Einsatz ihres eigenen Lebens ein jüdisches Kind rettet. »Es ist ein Roman der Zeitgeschichte, eine gut erzählte Geschichte über eine heimliche Heldin, die als Frau Großartiges im Dritten Reich geleistet hat.« Niederbayern TV über »Ein Kind namens Hoffnung«
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Seitenzahl: 415
Veröffentlichungsjahr: 2023
Marie Sand
Die Geschichte einer heimlichen HeldinRoman
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
Immer größer wird die Schere zwischen Arm und Reich im Berlin der 50er-Jahre. Das sieht auch die Hebamme Henni Bartholdy mit wachsender Sorge. Wie kann es sein, dass im Deutschland des Wirtschaftswunders verzweifelte Mütter ihre ungewollten Babys aus Angst, Scham und schierer Not aussetzen oder gar töten? Als ihre junge unverheiratete Patientin sich nach der Geburt aus Angst vor der Schande das Leben nimmt, als die illegal in Deutschland lebende Nachbarin androht, ihr Kind umzubringen, weil sie es nicht ernähren kann, da weiß Henni: Jetzt muss sie handeln.
Sie stellt eine Apfelsinenkiste im Hinterhof ihres Hauses auf, verteilt Zettel, auf denen sie Hilfe verspricht. Bis tatsächlich das erste Findelkind in der Klappe liegt – und lebt! Was wie ein Wunder anmutet, wird von Politikern mit Strafe bedroht …
Motto
Prolog
Henni
1. Kapitel
2. Kapitel
Liv
3. Kapitel
4. Kapitel
Henni
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
Liv
14. Kapitel
15. Kapitel
Henni
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
Liv
20. Kapitel
21. Kapitel
Henni
22. Kapitel
23. Kapitel
Liv
24. Kapitel
Epilog
Leseprobe
PROLOG
Teil I: 1938
1. Kapitel
… und in der schwärzesten Nacht meines Lebens sah ich Sterne
Carlos Ruiz Zafón
Die Frau war barfuß. Sie lief leise über das Pflaster, die Steine glänzten schwarz, obwohl der Mond nicht schien. Über ihr weitete sich der Himmel zu einem endlosen Loch. Nie regte sich dieser Himmel, wenn sie ihn brauchte. Es hatte eine Zeit gegeben für Bitten, für Hoffnung. Aber das war lange her, auch hatte sie verlernt, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Deshalb drückte sie das Baby an sich, ein Bündel im Küchentuch, kaum zwei Stunden alt, zwei Stunden waren wie ein Wimpernschlag in einer trostlosen Zeit. Sie krümmte sich, denn ihr Bauch schmerzte, wie ausgeleiert knackten die Lendenwirbel mit jedem Schritt. Wenn sie die Zähne zusammenbiss, hielt sie es aus, alles hielt sie dann aus, wenn der Mund nur eine Linie blieb und sich nicht öffnete. Weder für ein Gebet noch für ein Jammern, es wäre vergebens.
Er mochte kein Kind. Und ohne ihn würde sie es nicht schaffen.
Sie sah nach links zu der Ziegelsteinmauer hinter Gestrüpp, dann nach rechts zu den Mülltonnen. Auch das wäre eine Lösung. Sie atmete zu laut. Sie wollte das nicht, auf keinen Fall wollte sie solche Gedanken, deshalb drückte sie das Baby an ihre Hüfte, ganz nah sollte es sein. Sie hatte es gesehen, hatte es liebkost. Wie schön es war. Sie beschleunigte die Schritte, geradewegs auf die gelbe Fassade zu. In der Nacht war alles grau.
Arm blieb arm, einsam machte krank, und ein Kind brachte keinen Trost.
Stille unter dem rot-weiß karierten Küchentuch, nur sein Herzchen pochte, als ahnte es. Sie umfasste es fester, sprach es nicht an, denn es hatte keinen Namen.
Jetzt stand sie auf der untersten Stufe und lauschte in den Hof. Irgendwo schlug ein Fenster zu. Sie fuhr herum und spähte ins Dunkel, da bewegte sich nichts. Jetzt riss der Moment und grub sich nicht mehr in ihre Gedanken. Endlich fühlte sie sich sorglos, fühlte sie sich frei.
Nicht größer als eine Apfelsinenkiste stand die Klappe vor ihren Füßen. Den Geruch von Holz hatte sie schon immer gemocht, und der weiche Stoff darin stimmte sie froh. Behutsam legte sie das Baby in die Klappe, zupfte am Küchentuch. Ihr Kind sollte nicht frieren.
Klingel an der Hintertür. Zähl bis zwanzig, wenn du läufst, dann bist du in Sicherheit.
Hatte sie gesagt.
Warum sollte sie lügen?
1947
BERLIN, AUGUST1947
Henni bewegte sich wendig zwischen den Schutthaufen hindurch, als wären sie Wegweiser in der bombardierten Stadt. Manchmal gelang es ihr, die einstigen Häuser an der Farbe der Steinbrocken zu erkennen, dann stellte sie sich vor, der Kurfürstendamm wäre noch immer die Prachtstraße voller Licht hinter blitzblanken Fenstern. Sie dachte an die Sonntagsspaziergänge mit dem Vater. »Einmal ums Karree und einen Schoppen bei Diener Tattersall. Ein Kneipenbesuch muss drin sein«, pflegte er zu sagen, bevor er Henni an die Hand nahm. »Und du, meine Kleine, darfst die Pferde dort streicheln.« Seine Hand war groß und schwielig, Henni erinnerte sich genau: An den Fingerspitzen blätterte die Haut ab vom Arbeiten mit Terpentin, als wäre seine Haut ein sich lösender Lack in rosa Pastell. Da war sie neun Jahre alt gewesen, hatte ihren Vater bewundert wie einen Helden, wenn er ihr erklärte, mit welch feinen Instrumenten er die Ornamente der Häuser bepinselte und wie er die großen Flächen mit einem Scheuerschwamm behandelte. Auf Gerüstbrettern schwang er sich am Mauerwerk hoch, und als sie ihn fragte, ob ihm nicht schwindelig werde, nah am Himmel, weit weg vom Boden, da antwortete er: »Einer muss es doch tun.« Dabei stand Freude in seinen Augen, er wedelte mit dem Arm in die Ferne wie ein Schöpfer dieser wunderbaren Straße.
Alles weg. Zerschossen. Verbrannt. Der Vater tot. Henni stellte den Putzeimer ab und fuhr sich mit dem Ärmel ihrer weißen Bluse über die Stirn. Seither war die Familie arm geworden. Doch das musste nicht so bleiben! Das konnte besser werden, wenn Hände, Beine mitmachten, wenn es im Kopf noch Hoffnung gab! Meinte auch die Mutter. »Sei fleißig, nicht vorlaut, aber lass dich nie unterbuttern. Achte auf adrette Kleidung und Manieren, dann klappt es auch mit der Zukunft.« Henni zog die heruntergerutschten Kniestrümpfe hoch, sie würde später das Gummi darin fester knoten. Jetzt aber wurde es Zeit fürs Putzen. »Heute ist Zahltag, immer ist Zahltag nach dem Putzen«, hatte die Mutter sie erinnert. »Lass dir also das Geld geben!«
Mit einem Seufzer drückte Henni die Augen fest zu, als könnte sie damit die Trauer um den Vater aussperren, und als sie sie wieder öffnete, tanzten tatsächlich kleine Lichter über dem Geröll. Nicht stecken bleiben im Schlamassel, sagte sie sich, dabei nahm sie den Eimer wieder auf und beschleunigte den Schritt, denn sie wusste, dass die Herrschaften keine Verspätung wünschten. Andernfalls wurde Frau von Rothenburg streng.
Henni musste die Sache flott hinter sich bringen, deshalb überholte sie die Menschen auf den Bürgersteigen. Manche lächelten ihr zu, und sie dachte, dass sich überall, sogar hinter dem größten Schutthaufen, ein kleines bisschen Fröhlichkeit versteckte. Jedenfalls fühlte sie etwas Ähnliches unter der Haut, ob es am Wetter lag oder an der Aussicht auf ein deftiges Essen am Abend, wusste sie nicht. Die gute Laune war in ihr! Fröhlich summte sie ein Sommerlied, dessen Text sie nicht kannte, stieg die fünf Stufen des vornehmen Hauses hinauf und klingelte neben dem in Gold geprägten Namen.
Während Henni wartete, ließ sie den Blick am Haus der von Rothenburgs entlangschweifen: Weder Abbrüche an den Ornamenten noch Risse im Gemäuer, kein Ruß beschmutzte die zartgelbe Farbe, kein einziges Bogenfenster war zersplittert. Zwischen den drei Stockwerken warfen Gesimse ein Schattenspiel auf die Fassade, ungerührt von den zerstörten Häusern rechts und links und gegenüber. Wie ein Schmuckstück für die Ewigkeit stand das von-rothenburgsche Haus hinter Linden und ragte stolz über die Bäume hinaus. Nur dem Giebel fehlte ein Stück Mauer, vermutlich herausgesprengt im Frühjahr 1945, als Bomben fielen, bis die Stadt lichterloh brannte. Die Mitte vom Dach. Eine kleine Verletzung, dachte Henni, nicht der Rede wert. Ehrfürchtig berührte sie den Feinputz der Fassade, den vielleicht ihr Vater verstrichen hatte. Auf eigentümliche Weise fühlte Henni sich dem Haus verbunden. Obwohl sie es nie zuvor betreten hatte, stieg ein vages Gefühl von Heimeligkeit in ihr auf.
Sie klingelte ein zweites Mal. Schon wollte sie sich auf die Treppenstufen setzen, die Wand ansehen und für den Vater beten, es möge ihm gut gehen oben bei Gott, da hörte sie ein dumpfes Summen. Sie trat in eine Empfangshalle ein, von Säulen unterteilt, die Wände verziert mit Freskenmalerei. Hier lässt es sich wohnen, befand sie und eilte die mit Sisalteppich belegten breiten Stufen hinauf. »Ein Haus im Haus«, hatte die Mutter geschwärmt, »so wertvolle Möbel und überall Kunst.« Deshalb zog Henni Schuhe und auch die rutschenden Strümpfe aus, als die obere Tür nach einem weiteren Summen aufsprang. Sie steckte den Kopf durch den Rahmen, grüßte in die Diele und trat ein, als sie keine Antwort erhielt. Niemand schien auf sie zu warten oder sich zu wundern, dass sie anstelle der Mutter gekommen war. Sie vernahm lediglich ein Knarren am Ende der Holztreppe, die in den ersten Stock führte, dann schloss sich eine der oberen Türen. Einen Moment zögerte sie. Was sollte sie tun? Einfach in den unteren Räumen loslegen und sich die Putzstunden auf einem Zettel notieren? Das fand Henni naheliegend, denn das obere Stockwerk, das hatte die Mutter erwähnt, war tabu. So suchte sie das Bad, um die Seifenlauge anzurühren, und fand sich in einem Raum wieder, der so groß war wie die gesamte Kellerwohnung, in der sie lebten. Die Sonne brach sich im Milchglas, das bis zum Boden reichte, und gab dem Raum eine geheimnisvolle Anmutung. In der Mitte eine Emaillewanne auf geschwungenen Eisenfüßen, derart wuchtig, dass eine ganze Familie auf einmal darin baden könnte, am Rand zwei Waschbecken, auf edlem Holz befestigt, und dazwischen mindestens fünf Meter Platz für einen Walzer. Die gesamte Wandfläche über den Becken war von einem gerahmten Spiegel bedeckt, daneben stand ein gemauertes Regal. Die stuckverzierte Decke war über und über mit kleinen runden Lampen versehen, wie Henni es zuvor nie gesehen hatte. Begeistert knipste sie das Licht an, und es war, als würde sich ein Sternenhimmel über ihr aufspannen. Sie pfiff durch die Zähne und dachte an ihr eigenes Bad: ein Verschlag hinter der Küche, abgetrennt durch einen Polyestervorhang, unverputzt die Wände und nur der alte Rasierspiegel des Vaters hing schräg am Nagel. Kein Neid, wer hat, der hat, sagte sie sich, zog den gepunkteten Kittel der Mutter über und band die Haare mit einem Einmachgummi im Nacken zusammen. Dann füllte sie Wasser in den Eimer, spritzte Seife hinein und schlich barfuß durch die Wohnung, um die gedehnte Stille nicht zu stören. Zwei Stunden, länger würde sie hier nicht bleiben. Sie hatte Wichtigeres zu tun, als für diese reiche Familie, die sie noch nicht einmal beim Eintritt begrüßte, auf Knien zu rutschen. Außerdem konnte man den Lohn verdoppeln, indem man die Arbeitszeit verkürzte. Nun spürte sie doch ein bisschen Wut im Bauch: auf die von Rothenburgs und auch auf die Mutter.
»Die von Rothenburgs sind ein Glücksfall für uns«, erklärte diese oft, »die bringen uns quasi das Essen auf den Tisch.« Henni sah das anders. Es tat ihr leid, dass die Mutter bei Fremden putzen musste. Das war nicht gut, denn sie alterte zu schnell, wegen der vielen Arbeit und auch, weil sie sich ständig um das Paulchen sorgte. Der kleine Bruder hustete nachts und klagte lange schon über Schmerzen hinter den Rippen. Oft überließ die Mutter ihm ihre Portion Abendessen, Haferschleim mit zerstoßenen Eierschalen. »Der braucht Calcium, denn der wächst«, sagte sie dann und schluckte ihren eigenen Hunger zu laut hinunter. Kein Wunder, dass die Mutter schwächelte, eine ausgemergelte Frau, früher einmal eine Augenweide mit rosigen Wangen und etwas Raffiniertem im Blick. Und heute war es geschehen. Da war die Mutter zusammengebrochen und hatte befohlen: »Henni, du gehst zu den von Rothenburgs. Sei leise, höflich, vor allem frag nach Geld.«
Wenn die wenigstens mit Zigaretten bezahlen würden, wo doch die Reichsmark kaum mehr einen Wert hat!, dachte Henni, während sie die Lauge über dem Parkett ausgoss. Dann könnte man zusätzlich zu den Rabattmarken was Anständiges auf dem Schwarzmarkt tauschen, Kalbsknochen für die Suppe oder einen Schnaps, damit die Mutter besser schliefe oder lustig würde. Mit dieser Vorstellung versuchte Henni, sich von der Arbeit abzulenken, damit die Stunden schneller vergingen. Sie hatte sich fest vorgenommen, später einmal anders zu leben. Sie würde auf sich achten. Als Lehrerin würde sie kleine Kinder unterrichten und ihnen zwischendurch Beruhigendes über das Leben erzählen. Auf Weltreise gehen, am Rand von Ozeanen stehen, sich über die weiten Wasser wundern. Derart in Gedanken vertieft, trocknete sie die Böden, bürstete Polster und wischte Staub, bis ihr der Schweiß zwischen den Schulterblättern hinunterrann. Ihr Gesicht fühlte sich glühend an wie nach einem Sonnenbrand. Mit dem Ärmel rieb sie sich über die Stirn, unter dem Haargummi juckte die Haut, hoffentlich keine Läuse von dem Paulchen.
Plötzlich ein Poltern.
Im ersten Stockwerk wurde eine Tür geöffnet und wieder zugeschlagen, kräftige Schritte auf Holzdielen. Henni näherte sich der Treppe.
»Du bist nicht mein Vorbild, Vater.« Eine junge Männerstimme; sie wirkte in einer unaufgeregten Art entschlossen.
»Du wirst tun, was ich dir sage. Punkt!«, dröhnte eine zweite, sehr tiefe Stimme.
Um zu hören, was da los war, trat sie auf die erste, die zweite, wagte sich vor bis zur dritten Stufe. »Solange du die Füße unter meinen Tisch setzt, gehorchst du! Es wird getan, was ich verlange!« Es folgte ein dumpfer Knall, vermutlich ein Faustschlag auf einen Tisch. Hektisch sprang Henni die drei Stufen wieder hinunter, als würde ihr der Ärger gelten. Lautstarken Streit ertrug sie nicht, besonders nicht unter Männern. Sie atmete tief ein und aus, wie sie es immer tat, wenn etwas schieflief. Sie könnte flüchten. Oder sie könnte sich bemerkbar machen, vermutlich hatten die Männer vergessen, dass jemand im Haus war. Besser ist es, die Arbeit unauffällig zu Ende zu bringen, entschied sie. Sie bückte sich, um den Lappen auszuwringen. Nur nicht ablenken lassen. Das da oben geht mich nichts an. Das ist privat. Aber der Streit dauerte an, bis jemand krachend eine Tür öffnete. »Was habe ich bei dir nur falsch gemacht? Deine Mutter hat dich von Anfang an verhätschelt. Eine Tracht Prügel hin und wieder hätte dir nicht geschadet. Im Gegenteil!«, dröhnte es. Dann die andere, die junge Stimme: »Lass es doch einfach gut sein, Vater, auch wenn ich bei meiner Haltung bleibe.«
Wieder Schweigen.
Henni legte den Lappen zur Seite, verharrte in der gebückten Haltung, um kein Geräusch zu erzeugen, sie wollte nicht wie eine Lauscherin erscheinen.
»Vater, ich bringe keine Kinder um! Mehr gibt es nicht zu sagen.« In der Stimme des Sohnes vernahm sie ein Vibrieren. Um Himmels willen, wer sollte denn hier Kinder umbringen? Henni fühlte sich wie gefangen in diesem Satz, er verkündete ein Drama!
»Davon redet doch niemand, Junge. Das sind Zellklumpen. Biologisch gesehen«, regte sich der Vater auf und drohte: »Noch bist du nicht in Cambridge. Noch kann ich das verbieten! Überhaupt als deutscher Student in England – weißt du, was mich das kostet? Du solltest dankbar sein. Ich bin unten in der Praxis, falls du dich entschuldigen willst!«
Auf der Treppe erschien ein großer, breitschultriger Mann im weißen Kittel. Stampfend nahm er zwei Stufen auf einmal. In weniger als drei Sekunden stand er vor Henni, und sie dachte, ein Berg von einem Mann ist das. Sein Gesicht war von scharfen Falten durchzogen, seine Augen lagen tief in den Höhlen. Er trat auf den nassen Putzlappen, sie wusste nicht, ob sie erst ihren Namen nennen oder sich erst entschuldigen sollte. Aber da bellte er schon: »Wer sind Sie? Was haben Sie hier zu suchen?«
»Die Tochter der Putzfrau, meine Mutter …«, wollte Henni sich vorstellen, doch er hob die Hand wie einer, der Ruhe gebietet. »Schon gut. Schrubben Sie mal ordentlich. In diesem Saustall gibt es weder Ordnung noch Respekt!« Mit zornigen Bewegungen strich er sich die Sohlen auf dem klatschnassen Lappen ab und hinterließ Abdrücke quer durch die Diele bis zur Haustür. Weder schloss er die Tür hinter sich, noch grüßte er zum Abschied.
Erst jetzt merkte Henni, dass sie zitterte. Zu präsent war noch immer der Schock, als vor zwei Jahren grölende Männer ihre Mutter auf der Straße begrabscht hatten. »Komm her, du deutsches Mistweib, mach die Beine breit. Oder sollen wir an die Kleine?«, hatten sie mit einem harten Akzent gerufen. Traten gegen Steine. Nahmen Anlauf mit Gejohle. Verzerrten voller Gier ihre Gesichter. Da nahm die Mutter mit der alten Reisetasche in ihrer Hand Schwung, drehte sich zweimal um sich selbst und schlug einem der Männer mit Wucht gegen den Kopf. »Zurück, zurück mit dem Paulchen«, hatte sie Henni zugerufen, »nichts passiert. Wir leben.« Es war jene Nacht gewesen, in der sie sich aus den Flammen der alten Bäckerei gerettet hatten, die Nacht des letzten Angriffs auf Berlin. Damals, nach Mutters Schleuderschlag, hatten Hennis Knie vor Angst geschlottert, kaum war sie fähig gewesen, ein Bein vor das andere zu setzen.
Auch jetzt fühlte sie sich wackelig und in einer ärgerlichen Weise zurückgeworfen in die schlimme Zeit. Vorbei. Niemand will mir an die Wäsche, so was passiert hier nicht. Hier bin ich sicher,beruhigte sie sich und zählte bis zwanzig. Dabei drehte sie die Schultern zur Seite. Weg von der offen stehenden Haustür, von den Fußabdrücken auf dem zuvor polierten Boden, hin zur gegenüberliegenden Seite der Wohnung, hin zum Bad. Ein Refugium war der Raum, ein Ort für die Seele. Dort wollte sie hin, sich duschen, eincremen mit Vanilleöl, das auf dem Regal stand. Sie seufzte, horchte noch einmal zum ersten Stockwerk hin, von oben war kein Mucks mehr zu vernehmen. Deshalb reinigte sie den Boden in der Diele ein zweites Mal und ärgerte sich über die verlorene Zeit. Der Metzger würde in einer Stunde schließen, und dann gäbe es lediglich Brot und Butter, ohne Belag.
Es blieb noch die Treppe übrig. »Die Schmierseife pur aufs Holz«, erinnerte sich Henni an die Anweisung der Mutter und verteilte kniend die Paste auf den unteren Stufen.
Oben öffnete sich eine Tür mit Radau.
Aus den Augenwinkeln sah sie einen jungen Mann, groß, blond, trotz der Sommerhitze mit Wollhose, Hemd und Pullunder bekleidet, eine rote Fliege um den Hals, an den Füßen trug er diese neumodischen Gummilatschen, er nahm zwei Stufen auf einmal, ungelenk wirkte er bei diesem Sprint auf der Treppe, ein arroganter Kerl, der mit einem »Platz da!« über Henni hinwegsprang, auf der vorletzten Stufe danebentrat, mit den Armen ruderte, fiel – und mit dem Kopf auf die scharfe Kante des Blecheimers schlug. Das Seifenwasser ergoss sich in die Diele und vermischte sich langsam mit seinem Blut. Henni schrie auf. Er drehte den Kopf zu ihr um. Er atmete flach und raunte: »Ich kann kein Blut sehen.«
Henni sprang die drei Stufen hinunter, dachte, der feine Pinkel hätte aufpassen können, die Mutter würde stinksauer sein. Laut fragte sie: »Tut es sehr weh?«, und kniete sich neben den Verletzten. Dabei zog sie ihren Kittel aus, wischte das mit Blut durchsetzte Putzwasser auf. »Sonst versaust du dir noch die adrette Hose.«
Er aber raunzte: »Was soll denn das? Hol Lappen und wasch die Wunde aus.« Dann rollte er mit den Augen, nur noch Weißes war zu sehen. Sie wollte durch die Tür und den Flur laufen, weg von dem Mann, raus aus diesem Haus, aber eine innere Stimme mahnte, genau das nicht zu tun, sondern die Nerven zu bewahren und dem armen Kerl zu helfen. So eilte sie ins Bad, schnappte sich einen Stapel Waschlappen und auch Badetücher, um sie ihm unter den Kopf zu legen. Während sie wieder zu ihm hastete, rief sie: »Augen auf, nicht schlapp machen!«
»Ich versuch’s«, antwortete er und befingerte die Wunde.
»Achtung: Blutvergiftung!«, herrschte sie ihn an und schlug vor, einen Arzt zu holen. Aber er griff nach ihrem Handgelenk: »Kein Wort zu meinem Vater! Ich habe eine Verabredung. Sieh zu, dass du das hinkriegst, du Anfängerin.« Eine dicke, blonde Haarsträhne fiel über seine Stirn in die Wunde. Er schien es nicht zu merken, erzählte von Lucia, dem schönsten Mädchen im Nachkriegsberlin, es sprudelte aus ihm heraus, und Henni dachte, das sei nicht normal, er müsse doch Schmerzen haben, überhaupt verhalte er sich überdreht.
»Sei still, wenn ich dir helfen soll!« Mit den Fingern kämmte sie ihm die Haare aus dem Gesicht und hörte kaum mehr hin, was er von sich gab, fand sein Loblied auf Lucias Grazie, auf ihre Porzellanhaut, auf Sanftheit und auf ihren reizenden Augenaufschlag schlichtweg albern. Irgendwann unterbrach sie ihn, meinte, es wäre ihr sehr recht, er würde einfach mal den Mund halten. Er schwieg, um dann verärgert zu antworten: »So kannst du mit mir nicht umgehen.« Doch Henni hob die Schultern. »Du kannst dich auch allein verarzten, ich reiße mich nicht darum, Krankenschwester zu spielen.« Behände tupfte sie mit den Waschlappen die Wunde ab, als hätte sie Erfahrung. »Mein Bruder, das Paulchen, fällt ständig hin. Der ist ein Tollpatsch. Aber in deinem Alter? Das hätte mächtig schiefgehen können.« Sie deutete auf seine Füße und befand: »Mit den Latschen solltest du nicht rennen.«
Er sah sie nachdenklich an, murmelte etwas wie »frech« und »unverblümt«, sein Gesicht nahm plötzlich einen belustigten Ausdruck an. »Duz mich ruhig. Ich heiße Ed.« Dann fügte er hinzu: »Und mag Frauen, die zupacken.«
»Klang gerade anders. Lucia scheint eher ein Püppchen zu sein.«
Immer wieder nahm sie einen Waschlappen und drückte ihn auf Eds Stirn. Der verzog keine Miene, obwohl die Wunde groß war wie ihr halber Daumen und bis auf die Schädeldecke klaffte. Wenn das nicht genäht wird, bleibt eine Narbe. Da kriechen Bakterien rein, und er wird blöd im Kopf, dachte Henni.Laut fragte sie nach Hochprozentigem, denn das tröpfelte ihre Mutter auf Paulchens Knie, wenn er mal wieder auf dem Schutt beim Spielen stolperte und sich die Haut aufriss.
»Quatsch, ich brauche keinen Schnaps auf die Wunde, sondern einen zur Beruhigung.« Ed lachte, als wäre ihm ein Witz gelungen, und versuchte aufzustehen. »Das bisschen Dreck schafft der Körper alleine, dafür hat der Mensch Abwehrkräfte. Außerdem: Du hast ja gerade geputzt, da dürfte der Boden sauber sein, oder?«
»Das mit der Verabredung wird heute nichts, es sei denn, du willst deine Lucia mit einem Kopfverband beeindrucken«, befand sie und nahm den kleinen, goldumrahmten Standspiegel vom Vertiko. »Übel, oder?«
»Sieht wüst aus, in der Tat.« Er drehte den Kopf, zeigte sich von vorne und im Profil, zog einen Mundwinkel nach oben und das Auge unter der Wunde zum Schlitz. »Tja, da hast du was angerichtet. Kann Ärger geben. Du hast ja gehört, wie mein Alter brüllen kann.«
»Wieso krieg ich Ärger? Du bist doch das Trampel«, protestierte Henni.
»Ich hätte mir das Genick brechen können.« Er legte den Spiegel auf den Boden und wandte sich zu Henni um. Zum ersten Mal sah er ihr direkt ins Gesicht, den Kopf zu ihr hingeneigt, die Lider halb gesenkt. Sie hielt den Blick fest, drei Sekunden oder länger, bis ihr warm wurde im Nacken und überall auf der Haut. Seine Augen erinnerten Henni an einen nebeligen Mittagshimmel, wenn die Sonne ihre Strahlen auffächerte und wahllos ihr Licht versprühte. Weichgezeichnet, hätte ihr Vater gesagt, ohne Konturen und Pigmente.
»Für ’ne Putzfrau bist du zu hübsch! Du bist eher eine Feine.« Er schnalzte mit der Zunge. »Habe ich mich vorgestellt? Nicht richtig? Ich bin Eduard Wilhelm von Rothenburg, der einzige Nachkömmling dieser veralteten Dynastie, die einst ihre Latifundien zu Gold machte und sich deshalb um verbrannte Erde nicht scheren muss. Und du?« Er beugte sich noch weiter vor und hauchte ein Küsschen durch die Luft zu ihr hin.
»Das beeindruckt mich nicht. Außerdem muss ich jetzt los, gleich schließt der Metzger.«
»Bleib noch!« Er umfasste wieder ihr Handgelenk, aber dieses Mal nicht fest; eher zögerlich legte er seine langen Finger darum, fast kam es ihr wie ein Bitten vor. »Du bist die Tochter der Putzfrau? Wie heißt sie noch, Wilma?«
»Du setzt dich wohl immer durch, oder?«
»Na, hör mal! Ich bin hier ein Opfer.«
»Das nennt man verwöhntes Kind.«
»Wieder frech?«
»Ich hätte dich vor der Schmierseife auf den Stufen warnen sollen, aber es ging so schnell. Wenigstens ist deine Hose nicht versaut. Wäre schade um den teuren Stoff. Blut wäscht sich nämlich schlecht raus.« Sie streckte den Hals vor, kam mit ihrem Gesicht nah an seines, um die Verletzung abschließend zu begutachten: »Keine Sorge, die Wunde heilt, wenn du nicht daran rumfummelst. Lass sie vor allem fachmännisch verbinden.« Sie löste seine Finger von ihrem Handgelenk, hielt ihm verträglich den Arm hin, damit er sich daran hochziehen konnte. Ein wenig schien er wackelig auf den Beinen zu sein. »Bringst du mich nach oben? Wurst kannst du aus unserem Kühlschrank mitnehmen, steht in der Küche.« Und er stützte sich auf ihre Schulter, wirkte schwach und stark zugleich, schwach, weil er ein wenig in die Knie sackte, und stark, weil dieser blassblaue Schleierblick nun konzentriert auf ihr lag und sich auf seiner Stirn eine Falte zeigte, als versuchte er mit all seiner Gedankenkraft, ihren Willen zu beeinflussen. »Du bleibst! Ich meine: Wäre schön, wenn du mir Gesellschaft leisten könntest, Engel.« Er grinste sie an, bemerkte, das habe er charmant formuliert, ob sie ihm da wenigstens zustimme.
»Du bist verabredet«, wandte sie ein. So viel Hartnäckigkeit nach solch einem Sturz hätte sie ihm nicht zugetraut, und deshalb fügte sie entschieden hinzu: »Ich bringe dich nach oben, dann bin ich hier fertig.«
Eds Zimmer war groß wie ein Salon und vollgestopft mit altertümlichen Möbeln, die Fenster waren mit Samtgardinen verhängt und die Wände mit dunkelrotem Textil tapeziert. Henni staunte über diese Düsternis: Jagdbilder und schwere Eichenholzschränke! »Wie im Heimatmuseum«, entfuhr es ihr. Um nicht zu lachen, legte sie sich die Hand auf den Mund. Ed stand neben ihr mit hängenden Armen und mit einem Ausdruck im Gesicht, der halb resigniert, halb humorvoll wirkte. »Reichtum verpflichtet, manchmal bis zur Geschmacklosigkeit.«
»Soll ich mal drüberwischen?«, fragte Henni und hüstelte. Er sah sie an, als hätte er das erwartet.
»Kommst du morgen wieder?«, fragte er.
»Nein.«
»Gut so. Du solltest dich nicht um den Krempel fremder Leute kümmern. Wie viel Mark kriegst du?«
»Zehn.«
»Ich gebe dir zwanzig, wenn du noch eine Stunde bleibst. Im Ernst: Ich will hören, wie du wohnst. Die Nöte armer Leute interessieren mich. Außerdem mag ich Wilma.« Sein Blick ruhte auf ihr. Sie zählte bis drei, dann senkte sie die Augen und fand die Stille unangenehm. Weder wollte sie erzählen noch in diesem Zimmer stehen. Sie hatte ihre Arbeit erledigt, nun musste sie schleunigst zum Metzger, wieso verstand er das nicht? Unsicher malte sie mit den Sandalenspitzen ein Zickzackmuster in den Teppich. Hat er denn nichts anderes zu tun, als herumzulungern und große Reden zu schwingen? Da muss ich wohl sehr deutlich werden. Henni setzte an, ihm zu erklären, dass sie weder Gespräch noch Vertrautheit wünsche, dass sie eigentlich die oberen Räume nicht betreten solle und es Ärger gäbe, wenn man sie hier erwischte.
Er stieß ein Lachen aus und bat: »Sieh mich an, bitte.« Seine Wangen waren erhitzt, und seine Unterlippe bebte kaum sichtbar. Er sprach zu hektisch, zu laut, seine langen Arme zogen große Kreise in der Luft, deuteten auf die Wand, auf den Schrank, bis sie auf Hennis Schultern liegen blieben, schwer drückten sie dort, während er ohne Punkt und Komma weiterredete. Er wisse vom Leiden der Menschen, von der Verzweiflung, ohne Wohnung durch die Jahre zu kommen. In den Ruinen seien Mikroben, überall verseuchte Steine. Durchfall sei vorprogrammiert. Da gehe die Immunkraft runter. Die Tuberkulosezahlen stiegen, sei doch kein Wunder, wenn die Leute zusammenhockten wie Herden. »Deshalb: Fahr nicht in diesen überfüllten Straßenbahnen. Da ist mindestens einer, der dich anstecken könnte. Meine Güte, warum klärt hier niemand die Leute auf?« Seine Stimme klang entschlossen. »Ich will das tun. Später, nach meinem Studium, will ich helfen. Dafür brauche ich die beste Ausbildung in Cambridge.«
»Hast du deshalb mit deinem Vater gestritten?«, fragte sie.
Er sah sie eindringlich an: »Das ist eine andere Geschichte. Wie heißt du eigentlich? Ich kenne noch immer nicht deinen Namen.«
Und als sie ihn nannte, da zog er die Nase kraus, so heiße kein Mädchen, höchstens einen Dackel könne man Henni rufen! »Für mich bist du Henriette. Das hat Klang. Das hat Stil.«
Henni tippte sich an die Stirn. »Die armen Leute warten auch auf einen wie dich. Endlich kommt ein Prediger in Gummilatschen.«
»Nicht lustig machen! Ich will wirklich wissen, wie es euch geht. Euch da unten.«
»Und ich will wirklich gehen«, imitierte sie seinen Tonfall und hob die Handflächen zur Decke, so wie er es tat. Bevor er entgegnete, für die Tochter der Putzfrau sei sie sehr eigensinnig, drehte sie sich um und lief in die Diele hinunter, um die Lappen auszuwaschen, Kittel und Seife in den Eimer zu stopfen. Aber er rief ihr nach wie ein verwöhnter Junge. »Engel, ich brauche dich, sofort! Es klopft in meiner Wunde.« Genervt ging sie zur Haustür, dachte, bloß weg hier, das ist doch alles Theater! Vor der Tür zog sie Strümpfe und Schuhe an, und als sie sich aus der Hocke wieder aufrichtete, stand er vor ihr: »Dein Lohn«, flüsterte er. »Ich bin nicht mehr verabredet, ich gehe nicht hin.«
Sie nahm das Geld entgegen, das Ed ihr in die Hand zählte. Zwanzig Mark – und fünf Zigaretten. Und einen Ring Fleischwurst aus dem Kühlschrank.
»Stimmt so«, zwinkerte er ihr zu, dabei stimmte es ganz und gar nicht, aber wer beschwerte sich schon über einen doppelten Lohn samt Wurst, wenn der Magen knurrte?
BERLIN, AUGUST1947
Der Geruch von Kohl und Bratkartoffeln in altem Fett stand im Hausflur, als Henni die Hintertür öffnete. Er haftete in den Ritzen vom Keller bis zum Dach. Heute störte er. Sie wollte die angenehmen Düfte der von-rothenburgschen Villa in der Nase behalten, wollte Licht sehen, das durch Milchglas gebrochen wurde, nicht das Flackern der nackten Glühbirne, die am Kabel hing. Der Flur war zu eng, schmutzig, ein verkommener Gang mit Feuchte unter dem Putz. Und dennoch dachte sie: Es muss nicht für immer sein. Alles lässt sich ändern, wenn die Zeit reif ist. Dabei berührte sie ihr Halstuch, das sie wie einen Talisman trug. Ihr Vater hatte es ihr vor vielen Jahren geschenkt, ein leichter Baumwollstoff in Rot, Gelb und Blau: »Mit diesen drei Farben kannst du dir deine eigene Welt bunt streichen. Jede Nuance ist möglich, außer weiß.« Jetzt, in diesem stickigen Flur, wurde ihre innere Welt schwarz, alle Farben verrührt, bis eine zähe, stickige Mischung entstand, durch die kein Schimmer drang. Schwarz war die Wut. Ja, Henni war wütend auf den reichen Jungen, auf Ed, der ihr wie ein Gönner doppelten Lohn gezahlt hatte. In dessen Augen sie die Tochter der Putzfrau war, der man einen Ring Fleischwurst in die Hand drückte und die sich bedankte mit einem angedeuteten Knicks. Ohne Stolz war sie gewesen in der ersten Freude über die Wurst, weil die nach Salzwasser und Fett roch, nach etwas Nahrhaftem zwischen den Zähnen. Sie knotete das Tuch enger um den Hals und entschied, nie wieder einen Fuß in das Haus der von Rothenburgs zu setzen. Dieser Entschluss versöhnte sie ein wenig mit sich selbst. Zwar konnte sie den unterwürfigen Eindruck nicht rückgängig machen, aber sie konnte Ed ignorieren, er juckte sie nicht, war nur eine Begegnung, aufdringlich und einmalig.
Henni schloss die Wohnungstür auf, und bevor sie die Mutter begrüßen konnte, hörte sie schon deren geflüsterten Vorwurf: »Du bist zu spät. Du weißt doch, dass dein Bruder auf dich wartet.« Das Paulchen lag auf der Couch, eng an die Mutter gelehnt, und nuckelte am Daumen. Henni fuhr mit den Fingerspitzen über die kurzen, blonden Haare des Bruders und über seine Stirn. Das reichte, um zu merken, dass er immer noch Fieber hatte, seit Tagen schon glühte der Kleine. Sie sah in das zerknitterte Gesicht der Mutter, die sich langsam aufsetzte, darauf bedacht, das Paulchen nicht zu stören. »Hast du den Lohn bekommen?«
»Geht es dir besser, Mama?«
»Haben die gezahlt?«
»Ja, ja. Soll ich Abendbrot machen? Ich kann dir Kaffee aufbrühen.«
»Einen Muckefuck? Nein, lass mal. Den trinken wir morgen zum Frühstück«, entschied die Mutter.
Henni lachte leise auf, nein, nein, Bohnenkaffee meine sie, und wühlte ein ganzes Pfund aus dem Einkaufsnetz und dazu eine Flasche Schnaps. »Für dich.«
»Wo hast du das her?« Die Mutter kniff die Augen zusammen. »Wir sind arm, trotzdem ehrlich.«
Henni stutzte über den eindringlichen Ton, dachte sie doch, die Mutter würde sich freuen. Zögerlich gestand sie, dass der Sohn der von Rothenburgs den doppelten Lohn gezahlt hatte, die Zigaretten erwähnte sie nicht und auch nicht den Schwarzmarkt. Da betastete die Mutter die Herrlichkeiten auf dem Tisch, und ihre Augen wurden weit. Sie streichelte Hennis Wange, das hatte sie lange nicht getan. »Hast du gut gemacht.« Der Schalk blitzte in ihren Augen auf, während sie hinzufügte: »Da musst du auch nach dem Wochenende hin, bis es mir besser geht.« Den Einwand, dass Montag die Sommerferien vorüber seien, dass Henni sich auf der Zielgeraden vor dem Abitur befand, überhörte die Mutter. »Wir müssen ans Überleben denken. Lernen kannst du später. Schluss.« Dieses Schluss kam bedrohlich daher wie eine Warnung vor dem Schlag. Henni wich einige Schritte zurück. Ja, ja, sie werde dort putzen, versprach sie. Weil das Paulchen seine Medizin brauchte. Weil die Haut der Mutter fahl aussah. Weil sie dachte, eine Woche Unterricht nachzuholen sei das geringere Übel, verglichen mit dem verfluchten Hunger. Um wirklich kein Widerwort zu geben, legte sie das Tuch auf ihren Mund, leckte daran. Es schmeckte nach trostlosem Grau.
Die verhaltene Freude, die der Kurfürstendamm noch vor wenigen Tagen ausgestrahlt hatte, war verloren. Die Schutthaufen schienen nicht mehr farbig, und es tanzten keine Lichtpunkte mehr auf den Steinen. Die Regenwolken hingen tief. In dem Moment, als Henni die fünf Stufen zum von-rothenburgschen Haus betrat, tuckerte der Schulbus vorbei. Aus den Augenwinkeln erkannte sie ihre Mitschüler, fein gekämmt und mit weißem Kragen, die Tornister auf dem Rücken. Sie selbst hätte dort sitzen sollen, lernen für eine bessere Zukunft. Stattdessen schrubbte sie bei diesen reichen Leuten und benahm sich wie eine Magd. Und als sie auf die Klingel drückte, hörte sie im Geiste die Schulglocke läuten und das Trampeln der Neuankömmlinge über den langen steingeplätteten Flur. Es tat ihr leid, dass die Freundinnen an der Ecke zur Pariser Straße vergeblich auf sie warteten, dass sie den Gottesdienst zu Beginn des Schuljahrs nicht besuchte. Sie bedauerte sich, wieder in das Haus der reichen Leute gehen zu müssen und vielleicht dem verwöhnten Sohn zu begegnen, möglicherweise wieder Zeugin eines Streits zu werden. Überhaupt fand sie es gruselig, wie der Hausherr über ungeborene Kinder gesprochen hatte. Bis in den Schlaf hatte sein Ausdruck sie verfolgt: »Zellklumpen«. Seither fand sie das Haus der von Rothenburgs nicht mehr einladend, es hatte seinen Charme und auch das Erhabene verloren.
Henni zählte die Schritte durch den Flur, um sich abzulenken, schon gar nicht wollte sie an Ed denken, sondern daran, dass sie es bis zur vierten Stunde noch in die Schule schaffen könnte, wenn sie sich beeilte. Die Vorstellung gefiel ihr, und das hob ihre Laune. Doch kaum war sie im Erdgeschoss an der Praxis von Dr. von Rothenburg vorbeigelaufen, wurde oben schon die Wohnungstür aufgerissen. Ed stand da, hielt den Zeigefinger auf den Lippen: »Psst. Mein Vater soll nichts merken.« Er fasste Henni am Arm. »Komm rein, wir sind allein. Mutter ist eine Woche im Landhaus.« Er schloss leise die Tür, bat sie nach oben in sein Zimmer. Ihr Zögern kommentierte er mit den Worten: »Keine Bange. Ich wusste, dass du kommst, und nicht deine Mutter, Wilma. Ich habe so was im Blut. Alles ist vorbereitet. Schwarzbrot mit Schinken und Limonade. Außerdem mein Tonbandgerät. Webster Chicago Wire Recorder. Vier Drahtspulen und ein Mikrofon. Kennst du so was?« Er tätschelte zärtlich den braunen Kasten mitten im Zimmer auf einem Tisch. »Hat nicht jeder. Hilft aber, wenn man Wichtiges behalten will. Das Band kann ich später nutzen, wenn ich Arzt bin.«
»Was soll das?« Henni stellte den Eimer auf den Boden, streifte den frisch gewaschenen, gepunkteten Kittel über die weiße Bluse und bemerkte: »Ich will in zwei Stunden mit dem Putzen fertig sein – und habe keine Zeit für deine Reporterspielchen. Draußen laufen in Massen arme Leute rum, schon gemerkt? Frauen in Lumpen, frag eine von denen.«
»Du musst drei Stunden bleiben wie sonst deine Mutter.« Sein Zwinkern fand sie albern, überhaupt kam er ihr vor wie ein Fotomodell auf diesen Illustrierten, die es seit einigen Monaten wieder am Kiosk gab: geschniegelt und adrett. Eine männliche Modepuppe in Sommerwolle gehüllt. Die Hände tief in die Hosentaschen gesteckt, stand er breitbeinig vor ihr. Seine üppigen Haare hatte er mit Pomade zurückgekämmt. An den Füßen trug er keine Gummilatschen, sondern blank geputzte Lederschuhe ohne Schnürsenkel. Slippers nannte man die, davon hatte sie gelesen. »Ed. Ich komme nicht in dein Zimmer. Ich erzähle dir nichts von armen Leuten. Lass mich einfach arbeiten. Ach, noch was: Ich brauche keine Zuschauer«, sagte Henni und nahm den Eimer wieder in die Hand, um die Seifenlauge anzurühren.
»Ich will nicht, dass du hier sauber machst.«
»Aha, und wer erledigt das?«
Er kratzte sich am Kinn, tat, als überlegte er angestrengt, aber ein Lächeln verriet, dass diese Geste spaßig sein sollte. Und als Henni wortlos ins Bad ging, denn jede Minute war kostbar, holte er sie mit großen Schritten ein. »Ich habe einen Geistesblitz«, sagte er, »geh doch einfach in die Schule. Ich putze.«
Dieses Angebot verschlug ihr zuerst die Sprache, dann fragte sie ihn verärgert: »Hast du nichts Besseres zu tun?«
Ungewöhnlich ernst antwortete er: »Nur wenn du lernst, wird was aus dir. Ich helfe, so einfach ist das.«
»Warum?«
»Du gefällst mir eben.« Er kam näher und umfasste ihre Schultern. »Wir vereinbaren was: Ich mache reine, und nach der Schule kommst du wieder und erzählst mir von eurer Armut.«
»Nach der Schule kann ich nicht. Ich habe einen kranken Bruder, um den kümmere ich mich nachmittags. So sieht Armut aus. Die beschäftigt einen den ganzen lieben langen Tag.«
»Gut, dann Samstag. Am Samstagmorgen kommst du zu mir. Eine Stunde Reden für eine Woche putzen. Einverstanden?« Er streckte die Hand aus: »Schlag ein.«
Henni überlegte. In seinem Gesicht sah sie nur Aufmunterung, und seine blasse Haut kam ihr vor wie ein unbeschriebenes Blatt. Alles rein, weiß, da gab es nichts Falsches. Der meinte es ehrlich, sonst wäre da ein verschlagener Blick, ein Spott im Mundwinkel, oder die Haut würde sich färben, immer färbte sie sich, wenn das Herz schneller schlug, weil eine Lüge es eilig hatte. »Deine Wunde ist genäht?«
»Ja, mein Alter hat darauf bestanden, ist vielleicht besser so.«
»Dann gehe ich jetzt in die Schule und du übernimmst das hier?«
»Versprochen.«
»Die ganze Woche?«
»Ja.«
»Weißt du, wie man putzt?«
»Kein Problem, bin ja pfiffig.«
Das ließ sie sich nicht zweimal sagen. »Ich hole den Eimer und den Kittel um eins ab. Und das Geld?«
»Ehrensache.« Ed krempelte die Ärmel hoch, fragte, warum sie hier rumstehe und blöd aus der Wäsche schaue?
Als sie die Haustür schloss, hörte sie, wie das Wasser im Bad aus dem Hahn lief. Er sang Peg O’ My Heart von Buddy Clark.
Er hielt Wort. Jeden Mittag stand der Eimer vor der Wohnungstür, und Ed öffnete sie einen Spalt weit, hielt ihr ohne Kommentar einen Umschlag mit Geld und ein paar Zigaretten entgegen. Das Geld war abgezählt, zehn Mark und keine einzige mehr. Wertvoller aber waren die Zigaretten. Bereits am dritten Tag kannte man Henni auf dem Schwarzmarkt, es öffneten sich die richtigen Trenchcoats, wenn sie kam, die richtigen Taschen schnappten auf: Fleisch, Kaffee, Mehl, Rapsöl, Zucker – Schnaps.
Die Mutter fragte nicht mehr, woher Henni diese Reichtümer hatte, wo doch die zugeteilte Nahrung auf den Lebensmittelmarken vorne und hinten nicht ausreichte. Lediglich ihr Tonfall wurde freundlicher, als Henni es gemeinhin von ihr gewohnt war. »Ich hab’s gewusst, meine Große, aus dir wird mal was.« Dabei spuckte sie wie ein Maurer in die Hände. »Wo gearbeitet wird, da wird was verdient. Meine Rede, merk dir das. Bist du höflich zu den von Rothenburgs? Es sind so reizende Leute.«
Henni hob die Schultern: »Ich habe in den letzten Tagen nur den Sohn gesehen, Ed. Sein Vater scheint früh in seine Praxis zu gehen, die Mutter ist verreist.«
Am Freitag, dem letzten Tag von Hennis Putzwoche im von-rothenburgschen Haus, lag auf dem Eimer ein dicker Strauß Anemonen. Die Tür öffnete sich wieder einen Spalt. Zu Geld wurde ihr ein Bogen Büttenpapier gereicht, darauf in schön geschwungener Schrift: Nun kommt Dein Teil, Engel. Morgen um zehn in meinem Zimmer. Ed.
Ehrensache, dachte Henni, als sie sich am Samstagmorgen unter dem Vorwand aus der Kellerwohnung schlich, sie müsse sich die Hausaufgaben für die kommende Woche besorgen. Zwar fand die Mutter, es gebe Wichtigeres zu tun als dieses Büffeln nach Stundenplan, das führe nämlich schnurstracks daran vorbei, was das Leben von einem verlange, doch Henni ließ sich nicht einschüchtern. Sie würde ihr Versprechen ebenso einhalten wie Ed das seine. Sie lief eiliger als üblich über den Ludwig-Kirch-Platz, die Uhlandstraße entlang bis zum Kurfürstendamm, weiter im Zickzack um Platanen, obwohl die Zeit nicht drängte.
An der Wohnungstür wurde sie nicht von Ed empfangen. Wie beim ersten Mal war die Tür angelehnt, und die Räume schienen verlassen. Es duftete frisch nach Soda und Kalk, nach ATA. Henni zögerte. Was sollte sie antworten, würden die Herrschaften sie nach dem Grund ihres Kommens am Samstag fragen? Unsicher sandte sie ein »Guten Morgen« in die Diele. Keine Antwort. Sie schlich durch die Räume der unteren Etage, alles sauber geputzt und ordentlich. Gut, nun würde sie seine Fragen beantworten, was war schon dabei? Bevor sie nach oben stieg, rief sie seinen Namen und wartete, bis ein dumpfes »Komm schon, komm endlich« durch die geschlossene Tür zu ihr drang.
Ed stand am Fenster, die Hände an der Glasscheibe. Sie sah seinen schmalen, nach vorn gebogenen Rücken. »Es ist nicht, was du denkst. Ich ruhe mich nicht auf dem Geld meiner Eltern aus. Vor allem will ich mich nicht über Leute, wie ihr es seid, erhöhen. Standesdünkel ist mir egal. Warum merkst du das nicht?«, flüsterte er und drehte sich zu ihr um: »Schön, dass du da bist. Was ist mit Wilma, deiner Mutter? Sie tut mir lange schon leid, allein, ohne Mann. So eine fleißige Frau. Meine Mutter würde das nicht hinkriegen.« Seine Stimme war bedachtsam, etwas Trauriges schwang mit, etwas, das Henni berührte. »Ich will hören, wie ihr lebt, wo ihr wohnt, erzähl mir von euren Nöten. Es interessiert mich, weil ich helfen möchte. So viel Leid nach dem Krieg, so unfassbar viel kaputt. Vor allem die Menschen.«
»Wenn ich dir von uns erzähle, dann verlässt das niemals dein Zimmer? Also absolut im Vertrauen?«
Er streckte zwei Finger in die Luft wie zum Schwur. »Ich verpflichte mich zu schweigen, großes Indianerehrenwort«, sagte er sanft. Nun glich er nicht mehr dem arroganten Schnösel aus reichem Haus, der Geld für ein Gespräch anbot, sondern wie einer, der sich einfühlen wollte in ihre Geschichte.
»Gut. Du zuerst«, entschied Henni. »Warum willst du weg, warum nach Cambridge? Seit letztem Jahr kann man wieder in Berlin studieren. Es hat mit deinem Vater zu tun, oder?« Die Pause, die folgte, war Henni unangenehm. Ed legte den Kopf schräg und sah sie lange an. »In Berlin fehlen Bücher zum Lernen, es fehlt an allem, noch nicht davon gehört?« Er wurde ernst. Wie bei der ersten Begegnung verhakte sich sein Blick mit ihrem, sein Gesicht nahm plötzlich einen zarten Schimmer an. Ein junger Mann, der sich in seine Fantasie versenkte, der dort herumstreifte, wo es nur gute Gedanken gab. Hinter seinen halb geschlossenen Augenlidern schien es hell zu werden, eine Freude huschte über seine Mundwinkel, wobei er sich nicht von Henni abwandte, ihr ohne einen einzigen Wimpernschlag in die Augen sah. Und sie fragte sich, ob ihre großen, braunen Augen ihm gefielen oder ob er sie lediglich aus Neugierde musterte. Dann hob und senkte er die Schultern: »Ich werde Medizin in England studieren und später in einem Krankenhaus arbeiten. Mein Vater sieht das anders. Er will, dass ich seine Praxis übernehme. Für ihn ist der Arztberuf ein Geld-, ein Machtberuf. Es hat nichts Selbstloses oder Fürsorgliches, wenn er seinen Patientinnen gegenübersitzt. Viele, die kommen, sind schwanger – und wollen das Kind nicht. Es sind auch leichte Mädchen aus gutem Hause darunter oder Edelnutten, Beute für Besatzer. Und es sind wohlhabende Gattinnen, die Angst haben, Figur und Attraktivität zu verlieren durch eine Geburt. Manchmal sind es Filmstars, die mit einem Schreihals an der Backe das Ende der Karriere befürchten. Für diese Frauen ist mein Vater da. Ein Retter! Das hat sich rumgesprochen in Berlin.« Wie erschöpft setzte er sich auf den Bettrand. »Und ich verrate dir was: Er ist verdammt gut darin, die Zellklumpen aus den Frauen rauszukratzen. Bis zur zwölften Woche. Bis es ein Fötus wird. Damit beruhigt er sein Gewissen. Tut so, als handle er verantwortungsvoll. Ich sehe das anders. Die Zellklumpen haben nämlich schon ein Herz! Ein ganzes Kreislaufsystem. Stumpen von Ärmchen und Beinchen. Knochen. Gewicht! Wenig, aber wiegbar. Fünfundzwanzig Gramm, falls du es genau wissen willst. Und da ist der Mund in diesen kleinen schemenhaften Gesichtern. Nur eine Mulde, noch nicht offen, nicht beweglich. Ich habe die Ahnung, dass der um Hilfe schreit.« Eds Stimme wurde lauter, die Haare fielen ihm in die Stirn, über die Augen, die Adern am Hals traten hervor. »Meine Mutter gibt sein Geld gemeinnützig aus. Gibt Leuten wie euch manchmal ein Scheinchen mehr, spendet dem Roten Kreuz eine Baracke, Stellwände, um die Zettel vom Suchdienst draufzupappen. Ich wette, wenn meine Mutter abends in den Spiegel sieht, bildet sie sich ein, dass da ein Nimbus in ihrer Hochsteckfrisur scheint. Ich könnte kotzen.« Ed wischte sich mit beiden Händen erst durchs Gesicht, dann über sein frisches Hemd. Immerzu tat er das, das erzeugte ein Knistern, dann schlug er mit der Faust kurz und hart auf sein Bett.
»Halt mal an«, wandte Henni ein und hockte sich vor ihn hin. »Vielleicht ist das alles richtig. Aber vergiss nicht: Schwangerschaft und Armut, das hängt zusammen.«
»Mein Vater behandelt nur die Reichen.«
»Dann sollte er das ändern.«
»Stimmt. Will er aber nicht. Deshalb werde ich Mütter beraten. Ich werde versuchen, dieses heranwachsende Leben zu retten. Ich werde prüfen, und zwar bis in den kleinsten Zweifel hinein. Dann erst werde ich abtreiben, und zwar umsonst.«
»Schwangerschaft nach Schwangerschaft nach Schwangerschaft. Das ist ein Schicksal der armen Frauen. Arm wird ärmer mit jedem Kind, ich sag’s dir. Das kenne ich aus der Nachbarschaft.«
Ed raufte sich die Haare: »Es gibt Kondome! Weißt du, Henriette, ich muss hier weg, so schnell wie möglich. Mir geht meine verlogene Familie aufs Gemüt.« Er sprang auf, machte einige Schritte über die doppelt gelegten Teppiche. Kein Hall war zu hören, nur Lautlosigkeit im Raum. Henni berührte den Ärmel seines Hemds, für einen Moment strich sie mit den Fingerspitzen darüber: »Das tut mir leid«, sagte sie und wusste selbst nicht genau, was sie meinte.
Er setzte sich neben sie und faltete die Hände wie zum Gebet. »Und nun du, bitte. Ich will es hören.«
Henni begann mit verzagter Stimme zu sprechen, einer Stimme, die sie bislang nicht an sich kannte. »Vater ist 1941 in Russland gefallen, überrollt vom Panzer.« Das Paulchen habe der Vater nie gesehen, die Mutter habe es mithilfe einer Nachbarin zur Welt gebracht. Sie erzählte vom Einsturz des Hauses am Ludwig-Kirch-Platz. »Da saßen wir im Keller des Bäckers, tief unter der Erde. Hinter Mehlsäcken haben wir uns geduckt, Kakerlaken krabbelten die Beine hoch bis in den Kragen. Wir haben gekauert, haben gebibbert vor Angst, wie wohl jeder Angst hatte in dieser gottverdammten Nacht.« Mit nun klarer Stimme redete sie weiter von der Suche nach einem neuen Dach über dem Kopf. »Wie durch ein Wunder war da plötzlich dieses Haus vor uns, hinter schwarzem Staub. Nur ein paar Straßenzüge weiter stand es, gespenstisch war das, keine Ruine, ein unzerstörtes Haus!« Sie unterbrach ihr Erzählen. »Erinnerst du dich, Ed? Der rußige Staub hat sich wie heißer Teer auf die Zunge gelegt. Wir haben uns Stoffe vor den Mund gehalten, Bettwäsche, Kleider, was griffbereit war. Mein Halstuch habe ich Paulchen übers Gesicht gelegt, er hat es weggerissen. Er ist panisch geworden. Seither hustet er, ihm hat es wohl die Lunge verklebt.«
»Wir sind im Haus geblieben, zum Glück hatten wir Vorräte. Haben wir immer im Schrank. Wir haben die Fenster nicht geöffnet, niemand von uns ist nach draußen gegangen, denn draußen war doch die Hölle«, erinnerte sich Ed.
»Das Haus, das wir gefunden hatten, war schnell überfüllt, viele Menschen sind in dieser Nacht umhergeirrt. Wir sind in der Kellerwohnung nicht weit von hier untergekommen.« Ein Provisorium, habe die Mutter gesagt und wieder um den Vater geweint.
»Da wohnt ihr immer noch?«, unterbrach Ed.
»Genau. Die anderen Mitbewohner sind später zu Verwandten gezogen. Wir sind geblieben, bis jetzt. Manchmal denke ich, dass kaum etwas länger dauern kann als ein Provisorium. Mittlerweile ist es unser Zuhause geworden. Wir haben uns an den Badverschlag gewöhnt, und vor allem sind wir froh, dass es diesen Backofen neben dem Herd gibt, beides aus Gusseisen. Das heizt die Räume im Winter. Das Paulchen braucht Wärme.«
Ed hörte aufmerksam zu. Und als Henni zum Fenster hinaus in den Himmel sah, um das Jammern loszulassen und die guten Gedanken zurückzuholen, da merkte sie, dass seine Hand noch immer auf ihrem Arm lag. Sie griff danach und sagte: »Hat gutgetan, darüber zu sprechen.«
»Ich möchte gerne was für dich tun. Wie kann ich dir helfen?«
»Das können nur wir selbst«, antwortete sie streng. »Und dein Mitleid brauche ich nicht.«
»War nur nett gemeint.« Ed fuhr sich durch die Haare, legte die Stirn in Falten, als suchte er angestrengt nach einer Lösung, und Henni fand, er sehe aus wie ein Kinoheld, als er sie fragte: »Darf ich dich küssen?«
»Mich wickelst du nicht um den Finger wie Lucia«, sagte sie lächelnd.
»Ich bin nicht der, für den du mich hältst, bin kein Pinkel. Ich glaube, dass ich was bewegen kann. Ich glaube an die Wissenschaft, an den Sinn, ein Arzt zu sein. Und du, Henriette, woran glaubst du?«