... und viele Küsse - Rudolf Rach - E-Book

... und viele Küsse E-Book

Rudolf Rach

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Beschreibung

Lill Andersson – Literaturagentin aus Schweden, Geschäftsfrau, erfolgreich, attraktiv, auf ganz eigene Weise sinnlich und doch eigentümlich unnahbar – reist mit ihrem Mann zu einer Theaterpremiere nach Nizza; einer ihrer Autoren wird gefeiert. Gleich am ersten Abend im Hotel, wo sie sich mit Jean Bart trifft (jenem Verleger aus Paris, den die Leser bereist aus Rudolf Rachs Debüt, der Französischen Geschichte kennen) lernt sie einen Autor kennen, der sich in sie verliebt, während auch Bart ihr den Hof macht. Doch damit nicht genug: Durch eine Indiskretion erfährt sie, dass ihr Mann – ein Rockmusiker – sie mit einer Studentin betrügt. Scheinbar kühl und wie en passant beschließt sie in dieser emotional doch durchaus turbulenten Gemengelage sich von ihm zu trennen – aber da beginnt sich das Karussell erst recht zu drehen, schneller, immer schneller. Die Herren umschwärmen die Dame, überbieten sich mit ihren Verführungskünsten, und doch hat das pittoreske Trio ein Problem: Keiner weiß genau, zu wem er gehört. Ist die Liebe denn doch nur das seltsame Spiel der leichten Muse?

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weissbooks.w

Impressum

Rudolf Rach

… und viele Küsse

© Weissbooks GmbH Frankfurt am Main 2016

Alle Rechte vorbehalten

Konzept Design

Gottschalk+Ash Int’l

Umschlaggestaltung

Susanne Gerhards / SG Konzept & Design, Düsseldorf

unter Verwendung eines Motivs von

© Andreas Grigoleit / VISUM creative

Foto Rudolf Rach

© Max Ratjen

Erste Auflage 2016

ISBN 978-3-86337-132-6

Dieses Buch ist auch als Printausgabe erhältlich

ISBN 978-3-86337-111-1

weissbooks.com

Rudolf Rach

… und viele Küsse

Roman

… und viele Küsse

Wenn Sie denken, kommen Sie in Schwierigkeiten, bemerkte Bart, doch Schoenboom wiegelte ab: Was macht das, wenn man einfach weiterdenkt? Das war im Herbst 2010.

Inhalt

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Kapitel XVI

Kapitel XVII

Kapitel XVIII

Kapitel XIX

Kapitel XX

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

I

Lill Andersson hatte schon früh aufstehen müssen.

Bei der Passkontrolle in Arlanda stellte sich heraus, dass der Personalausweis ihres Mannes seit vier Tagen abgelaufen war. Obwohl er als Rockmusiker einigermaßen bekannt war und auch die Grenzbeamtin sich irgendwie an sein Gesicht erinnerte, wäre es sinnlos gewesen, eine Diskussion mit ihr anzufangen.

Wenn Sie sich ein Taxi nehmen …

Die Frau schob den Ärmel ihrer Uniformjacke etwas zurück und schaute auf die Uhr.

… und zum Zollverwaltungsgebäude fahren, in dem auch die Kollegen von der Polizei untergebracht sind … geben Sie mir noch mal Ihre Bordkarte …

Sie schaute wieder auf ihre Uhr.

… könnte es vielleicht noch klappen.

Es war sechs Uhr morgens. Lill Andersson war Anfang vierzig, ihr Mann ging auf die fünfzig zu. Beide hatten sich auf die Reise nach Nizza gefreut und wenn sie den Flug verpassten, würden die Tickets verfallen. Nicht nur die Tickets, sondern auch der Gutschein für das Hotel.

Pelle Persson, so hieß ihr Mann, lief los. Der Taxifahrer war nicht erbaut über die kurze Strecke. Um ihn zu besänftigen, versprach Persson ihm ein anständiges Trinkgeld und bat ihn, vor dem betongrauen Zollgebäude zu warten. Als er endlich das Büro gefunden hatte, in dem der zuständige Beamte saß, übersah er, geblendet durch das grelle Neonlicht, eine Glasschranke, die den Raum gegen Luftzug schützte. Das Glas war dick und splitterte nicht, doch Persson spürte, wie seine Stirn heiß wurde. Benommen ging er auf den Schreibtisch des Beamten zu und reichte ihm wortlos den abgelaufenen Ausweis. Erst dann ließ er sich auf den davorstehenden Stuhl fallen. Der Beamte streifte die Plastikkarte mit einem flüchtigen Blick und zog ein Papiertaschentuch aus einer Schublade.

Sie bluten, bemerkte er, stand auf und holte das notwendige Formular. Persson drückte sich das Taschentuch an die Stirn, und als er das Blut sah, fing er an, sich zu ärgern: über sich und seine Unaufmerksamkeit.

Eine blutige Stirn für tausend Kronen, murmelte er misslaunig, als seine Frau ihn verdutzt ansah. Die Schlange vor der Gepäckkontrolle war inzwischen länger geworden, aber Arlanda liegt in einem dünn besiedelten Land. So kriegten die beiden ihr Flugzeug, wenn auch ziemlich verdrossen, vor allem wegen der tausend Kronen, die das provisorische Ausweispapier gekostet hatte.

Ein Blick auf den Personalausweis hätte doch genügt, brummte er.

Lill war klug genug, ihm keinen Vorwurf zu machen, und er immerhin so diszipliniert, die Schuld nicht auf seine Frau zu schieben.

Als das Flugzeug die dicke Wolkendecke durchbrach und das nasse schwarzbraune Land unter ihnen verschwunden war, besserte sich die Stimmung. Die Stewardess rückte mit einem Verbandskasten an. Sie hatte zarte und doch entschiedene Hände, und als sie ihm das Pflaster auf die Stirn drückte und dabei seinen Kopf mit der linken Hand von hinten festhielt, um den notwendigen Gegendruck zu erzeugen, wäre es ihm am liebsten gewesen, wenn sie noch weitere Pflaster angebracht hätte, in aller Öffentlichkeit und in Gegenwart seiner Frau.

Ein Wunder, dass meine Brille noch ganz ist, sagte er und bedankte sich.

Ein paar Stunden später lagen Lill Andersson und Pelle Persson in Liegestühlen auf dem Dach des Radisson-Hotels an der Promenade des Anglais. Der direkte Blick auf die Bucht war durch eine Bar versperrt und das kleine Schwimmbecken mit seinem milchig-grünen Chlorwasser wirkte wie eine Karikatur des Meeres, das sich weiter draußen im Dunst verlor. Der Flughafen war nur ein paar Kilometer weit weg, sodass die in dichten Abständen startenden Maschinen ihre Begleiter blieben. Man hörte sie kaum, weil sie in einer steilen Kurve aufs Meer hinaus drehten, um dann, schnell an Höhe gewinnend, wieder in Richtung Festland nach Norden zu fliegen. Nur wenige machten sich auf in Richtung Süden, nach Korsika oder weiter nach Algier, Tunis oder Tanger.

Er müsste gleich hier sein.

Persson steckte seine Uhr in den weißen Hotelbademantel. Seine Frau war erschöpft von der Reise und berauscht von der Sonne eingeschlafen. Erst als sie die Augen aufschlug, merkte sie, dass seine Hand mit den kräftigen Fingern durch ihre dunkelblonden Haare glitt. Er wiederholte, was er gerade gesagt hatte, und sie machte die Augen wieder zu.

Ich glaube, er kommt nicht alleine, antwortete sie und schlug mit geschlossenen Augen nach einer Fliege. Persson zog sein Handy aus der Tasche und fixierte die kristallblaue Fläche, auf der die letzten Nachrichten aufleuchteten.

Was muss man tun, damit ein Tropfen Wasser nicht verdunstet? Man muss ihn ins Meer werfen. Buddhistisches Sprichwort, übersetzt von einem ungezogenen Mädchen.

Das war die vorletzte Botschaft. Die letzte stammte von seinem Manager – wegen eines Konzerts in Uppsala. Persson griff sich wieder eine Strähne von Lills Haaren und rieb sie zwischen Daumen und Mittelfinger.

Wie sollte er die vorletzte Botschaft deuten?

Die kleine Falte um den Halsansatz seiner Frau fiel ihm wieder auf; immer, wenn sie ein dekolletiertes Kleid trug, fiel ihm diese Falte auf.

Die Nachricht war aus Rom gekommen, daran bestand kein Zweifel, und angehängt war ein Foto, das das »ungezogene Mädchen« beim letzten Rockfestival in Sölvesborg geschossen hatte. Persson auf der Bühne mit einem Mikrofon in der Hand; das volle, leicht gekräuselte Haar bis in den Nacken, die Augen beinahe geschlossen, den kantigen Kopf leicht nach vorne gebeugt. Klar, er war nicht mehr der Jüngste, aber die Kraft war noch da, das Feuer brannte noch unter den Falten. Was ihn auf dem Foto ärgerte, war der Ring. Der breite goldene Ehering um seinen Mittelfinger. Warum zog er den Ring vor einem Konzert nicht ab? Niemandem würde das auffallen. Beim nächsten Mal, schwor er sich.

Olivia hatte die Band mit Essen und Getränken versorgt. So hatten sie sich kennengelernt. Sie studierte Werbegrafik und interessierte sich nicht sonderlich für Rockmusik. Olivia machte den Job, weil sie Geld brauchte.

Ist es nicht wunderbar, alles abschütteln zu können? Du setzt dich ins Flugzeug, und nach zwei Stunden bist du in einer anderen Welt. Pelle, bestell uns was zu trinken.

Lill erinnerte sich nicht, wann er ihr das letzte Mal mit den Händen durch die Haare gefahren war. Öffentlich und zärtlich. Und weil sie sich nicht erinnern konnte, hatte sie das Gefühl, als sei etwas nicht in Ordnung. Sie schlug die Augen auf und starrte in den blauen Himmel, in dem die glänzenden Rümpfe der Flugzeuge schnell immer kleiner wurden.

Persson winkte dem Kellner und bestellte einen Pastis. Das war für ihn Südfrankreich: Männer in weiten Hosen, die Zigarette im Mundwinkel und ein Glas mit Anisschnaps in der Hand.

Für mich einen Porto, ergänzte seine Frau und sah auf die Uhr.

Da sind sie.

Lill richtete sich auf und zog mit einer entschlossenen Bewegung ihren Bikini zurecht. Persson streifte den Bademantel über. Der Wind, der von den Bergen herunterwehte, hatte aufgefrischt. Die Sonne stand immer noch hoch, doch der Dunst über dem Meer war inzwischen so stark, dass die Schiffe am Horizont von einer Sekunde auf die andere verschwanden.

Der Mann, mit dem sie verabredet waren, war Ende vierzig, hieß Jean Bart und war Verleger. Er kam aus Paris und Lill hatte geschäftlich mit ihm zu tun. Persson kannte ihn auch; sie waren sich schon in Stockholm begegnet. Sein Begleiter war etwas jünger. Bart stellte ihn als Autor eines Romans vor, der vor einiger Zeit erschienen und äußerst erfolgreich sei.

Der Verleger sprach seinen Namen französisch aus, doch Persson hörte heraus, dass es sich um einen germanischen, vermutlich französisierten Namen handelte. Beide waren elegant gekleidet und Lill entschuldigte sich für ihre »Aufmachung«, was nicht ganz logisch war, weil sie nicht viel anhatte. Der Verleger und sein Autor trugen dunkle, gut geschnittene Anzüge und leichte Lederschuhe, der Autor übrigens ohne Strümpfe, was Lill auffiel, als er sich auf einen der herumstehenden Liegestühle setzte und die Hosenbeine leicht hochzog.

Im Ernst, sagte Bart und beugte sich nach vorne, um seiner Behauptung Nachdruck zu verleihen, das Buch könnte etwas für den skandinavischen Markt sein. Ein Mann rechnet mit seiner Ex ab. Ein ewiges Thema. Leicht und französisch.

Dabei schnipste er mit den Fingern. Was den Autor veranlasste, ebenfalls mit den Fingern zu schnipsen und eine leicht gequälte Miene aufzusetzen.

Lill legte ihm besänftigend die Hand auf den Arm.

Nicht so bescheiden, Monsieur …

Weil ihr der Name nicht einfiel, kam ihr der Autor zu Hilfe.

Schoenboom. Nennen Sie mich einfach Léonard.

Vraiment, Monsieur Léonard, Ihr Buch interessiert mich, ich möchte es unbedingt lesen.

Lill Andersson arbeitete seit Jahren als Agentin in der Buchbranche und kannte sich mit Autoren aus.

Der Kellner brachte Pastis und Porto und Persson fragte die beiden Besucher, was sie trinken wollten. Zu seinem Erstaunen wollten sie Wasser, der Verleger stilles und der Autor sprudelndes.

Keinen Wein, fragte Persson.

Bart schlug die Karte zu.

Rot, Weiß, Rosé! Da bleibt nur noch die Qual der Wahl. Nein, ein Glas Wasser und einen Kaffee dazu.

Dann wandte er sich an Lill. Ob sie etwas aus dem Theater gehört habe.

Ja, sagte sie, Henning war vor ein paar Tagen hier, die Proben haben ihm gut gefallen.

Seit wann schreibt Mankell auch Theaterstücke, erkundigte sich der Autor.

Das ist seine große Leidenschaft, erklärte Lill. Und mit dem Geld, das er mit den Romanen verdient, unterstützt er ein Theater in Mozambik.

Warum gerade da, wollte Schoenboom wissen.

Ja, warum? Ich habe ihn nie danach gefragt.

II

Mankells Stück spielte im Spätsommer 1944, kurze Zeit nachdem die alliierten Verbände die Deutschen aus der Normandie vertrieben hatten. Ein Foto von Robert Capa, aufgenommen in Chartres, hatte ihn dazu angeregt. Eine Menschenmenge treibt eine junge, kahlgeschorene Frau durch die Stadt. Die Frau hat ein Baby auf dem Arm. Um sie herum nur Hohn und Verachtung. Im Erdgeschoss sind überall die Fensterläden zu und aus den oberen Stockwerken hängen Fahnen der Widerstandsgruppen. Junge Frauen, ältere Männer, junge Kerle, alte Weiber; Kinder und Uniformierte; eine Gehässigkeitsprozession. Am Ende des Zuges schwenkt jemand eine gewaltige Trikolore. Dicht neben der kahlgeschorenen Frau ein Polizist, er kann die höhnischen Bemerkungen nicht lassen. Doch das arme Wesen schaut trotzig ihr Baby an. Zwei Schritte vor ihr ein Mann mit gesenktem Blick und einem Bündel in der Hand. Vermutlich ihr Vater. Die Bürger von Chartres. Eben noch haben sie gejohlt, als man der hübschen Frau auf dem Platz vor dem Bürgermeisteramt die Haare abrasiert hat. Jetzt ziehen sie in Richtung Gefängnis. Weil die Frau mit einem deutschen Soldaten geschlafen hat und schwanger geworden ist, muss sie büßen.

Niemand hatte das Stück spielen wollen. Nur der jüdische Theaterdirektor in Nizza hatte den Mut gehabt. Vor der Premiere bat er Lill und ihre Begleiter in sein Büro und hielt eine kleine Ansprache – allerdings ohne auf den politischen Aspekt der Vorstellung einzugehen. Er empfinde es als eine Ehre, den Text Mankells inszenieren zu dürfen, und danke insbesondere den Schweden für ihr Kommen.

Während der Aufführung saß Lill neben Schoenboom. Der Autor hatte ihr den Vortritt gelassen und war dann vor Bart in die Reihe geschlüpft. Die Szene, in der der vielleicht zwanzigjährige deutsche Soldat zu den Klängen von Glenn Millers Big Band mit einer jungen Französin tanzt, gefiel dem Autor besonders gut. »Air Mail Special« mitten im Krieg.

Haben die Schweden auch kollaboriert, flüsterte er der Agentin ins Ohr.

Unser Land war neutral, erwiderte sie verblüfft.

Dann kann man mit beiden Seiten Geschäfte machen. Und die Abrechnung danach fällt weniger brutal aus.

Schoenboom wartete, bis auf der Bühne umgebaut wurde, beugte sich wieder zu ihr und flüsterte noch leiser:

Die kahlgeschorenen Frauen, denen man das Hakenkreuz auf die Brust tätowierte, waren die Sühneopfer für das, worüber niemand reden wollte: den unnötigen Waffenstillstand gleich nach Kriegsbeginn und die Kollaboration auf allen Ebenen. Als diese Zeit vorbei war, gab es Franzosen, die das bedauerten.

Trotz der kritischen Tendenz des Stückes wurde die Premiere – zu Barts Erstaunen – stürmisch beklatscht. Im Foyer gab es ein Fest. Der Champagner floss und machte das Französisch der Gäste flüssiger. Persson wollte dringend telefonieren und Bart tauchte mit einer Schauspielerin, die er von früher kannte, in der feiernden Menge unter. Lill ergatterte sich einen Platz auf einem Sofa. Die jungen Leute neben ihr vergnügten sich bestens. Leider redeten sie zu schnell und außerdem war es laut.

War dahinten nicht Léonard?

Lill sprang auf und drängte sich durch das Gewühl. Da er sie nicht wahrnahm, zog sie ihn am Ärmel.

Tanzen Sie mit mir?

Léonard war leidlich erzogen. Außerdem war Lill eine attraktive Person. Ihr Körper war weniger grazil als die der Pariserinnen und das angriffslustige Leuchten in ihren Augen erinnerte ihn an eine Uhrenreklame mit einer amerikanischen Schauspielerin, deren Namen ihm aber nicht einfiel.

Also dann!

Die Musik kam aus Lautsprechern – die gleiche wie im Stück. Etwas nostalgisch, fand Léonard. Lill lehnte sich an seine Schulter, als ob sie ihn schon lange kennte. Sanft und zugleich ziemlich rücksichtslos schob sie ihm ihren Oberschenkel zwischen die Beine, was den Autor zu einer spöttischen Anspielung bewog.

Finden Sie nicht auch, dass Frauen anatomische Vorteile haben?

Lill lief rot an, doch das fiel in dem Trubel nicht weiter auf.

Machen Sie sich keine Sorgen, Monsieur Léonard, wir haben genügend andere Nachteile.

Persson hatte sich an der Bar niedergelassen und winkte den Tanzenden lässig zu. Als Bart mit der jungen Frau wieder lachend vor ihnen auftauchte, kommentierte Schoenboom: Schauspielerinnen sind seine Spezialität.

Und Ihre?

Abzuwarten.

Was da kommt?

Nein, beides zusammen. Ich suche und warte ab.

Sind Sie schon fündig geworden?

Ja, heute Nachmittag.

Hier in Nizza?

Ja, Bart und ich waren bei Matisse in der Villa etwas oberhalb der Stadt. Sicher kennen Sie Matisse. Seine Zeichnungen gehen mir nicht aus dem Kopf. Die Porträts, die nur das Wesentliche erzählen, alles andere aussparen.

Lill zog ihr Bein etwas zurück, was ihm entgegenkam.

Und was ist das Wesentliche?

Dass wir etwas zu trinken kriegen!

Die Musik machte eine Pause und Léonard schob Lill durch das Gedränge vor sich her. Um sich besser verständlich zu machen, beugte er sich über ihre Schulter und berührte dabei versehentlich ihren Nacken. Sie drehte sich um, und in diesem Moment hätte er Lust gehabt, sie zu küssen. Stattdessen sagte er:

Mit ein paar Strichen ist Matisse gelungen, was andere mit Tonnen von Farbe nicht schaffen. Während der letzten zwanzig Jahre seines Lebens hat er vorwiegend mit demselben Modell gearbeitet.

Lill verstand nicht, worauf er hinauswollte.

Zwanzig Jahre sind eine lange Zeit. Heute.

Eine lange Zeit? Wer weiß. Vielleicht waren früher zwanzig Jahre noch länger, weil die Leute früher starben. Es passierte weniger, deshalb wurde die Zeit länger. Im Übrigen ist es etwas anderes, sich mit zwanzig zu verlieben als mit sechzig.

Das müssen Sie irgendwo gelesen haben, kam es zurück.

Léonard ärgerte sich über seine Unvorsichtigkeit. Streng genommen konnte er über die Gefühle von Sechzigjährigen nicht viel wissen. Doch er verteidigte sich: Wenn ich meine Gefühle beobachte, merke ich, wie sich ihre Amplitude und Intensität verringern.

Monsieur Léonard, vielleicht sollten Sie ein Physik-Studium beginnen.

Lill warf ihre Haare in den Rücken, und weil er nicht reagierte, setzte sie hinzu: Gut, dass ich solche Beobachtungen an mir noch nicht habe anstellen können.

An der Bar fragte sie ihren Mann, ob er telefoniert habe.

Der Rockmusiker schwenkte das Eis in seinem Whiskyglas und schüttelte den Kopf. Das Geklimper und die Geste hatten etwas Süffisantes. Dann wandte er sich direkt an Schoenboom.

Arbeiten Sie an einem neuen Manuskript?

Ich suche nach einem Stoff.

Persson trank sein Glas leer und schüttelte noch einmal die Eiswürfel hin und her.

Musik machen, das will jeder. Schreiben natürlich auch. Und dann kommt der Moment, an dem man sich erinnert, dass einem mal was eingefallen ist.

Schoenboom prostete ihm zu.

Sie wissen wahrscheinlich, dass Proust erst nachmittags aufgestanden ist. Im Bett liegen und seinen Gedanken nachhängen oder in einer Gemäldesammlung sitzen und Bilder anschauen, wie ein Museumswärter. Als Junge hat mich diese Vorstellung fasziniert.

III

Als Lill Andersson am nächsten Tag aufwachte, streckte sie ihren Arm nach der anderen Bettseite aus. Wie jeden Morgen. Doch ihre Hand fand keinen Widerstand. Das Bett war leer. Die Sonne schien durch die von einem leichten Luftzug bewegten Gardinen, und das gleißende Licht schmerzte. Sie griff nach ihrem Handy. Es war halb zehn. Die Handtasche lag neben dem Bett, und es dauerte einen Moment, bis sie ihr Notizbuch herausgekramt hatte. Wo war die Nummer? Unter S? Oder stand sie unter seinem Vornamen? Genau, Léonard und eine französische Handynummer. Ihre Assistentin in der Stockholmer Agentur hatte das schon verschiedentlich als Mangel an Logik angekreidet, wenn sie in dringlichen Fällen in Lills Adressbuch nach einer Nummer suchen musste. Lill hatte sich immer gerechtfertigt: Wenn Menschen mir nahe sind, stehen sie unter ihrem Vornamen. Warum ist das unlogisch?

Jedenfalls stand Léonard unter seinem Vornamen.

Schoenboom meldete sich gleich, und sie drehte sich zufrieden auf den Rücken.

Ob er gut geschlafen habe, erkundigte sie sich. Die Antwort kam ohne Zögern: Ich habe von Ihnen geträumt.

Und was ist mit der Amplitude? Hat sie sich vergrößert?

Sie zwingen mich, mit Ja zu antworten.

Übertreiben Sie nicht. Haben Sie Lust auf einen Kaffee?

Dann werde ich Ihnen den Traum erzählen.

Vorausgesetzt, ich will ihn hören.

Sie stand auf und während sie sich anzog, fiel ihr auf, dass die Lampe an der Decke die gleiche Farbe wie ihre Unterwäsche hatte. Ein blasses Grün. Nur dass ihre Unterwäsche mit hübschen Spitzen besetzt war. Sie rief ihren Mann an, aber da besetzt war, hinterließ sie ihm eine Nachricht.

Das Café lag nicht am Meer, sondern stadteinwärts im alten Zentrum. Das ganze Viertel war mit viel Aufwand herausgeputzt worden und der aufgeräumte Taxifahrer drückte mehrmals seinen Stolz darüber aus. Den Arm ließ er lässig aus dem Fenster baumeln und wenn es ihm in den Sinn kam, zeigte er auf das eine oder andere Gebäude und machte eine erläuternde Bemerkung. Viel verstand sie nicht von seinem mediterranen Französisch. Erst als der Chauffeur ihr zwanzig Euro abverlangte, fiel ihr auf, dass der Wagen nicht über einen Taxameter verfügte.

Léonard saß schon an einem der Leichtmetalltische auf der Terrasse und las eine Sportzeitung. Bevor er aufstand und Lill flüchtig auf die Wangen küsste, legte er das Blatt beiseite.

Meine Lieblingslektüre.

Wahrscheinlich spielen Sie Golf?

Er überhörte die Ironie.

Als Schüler haben wir jede Gelegenheit genutzt und sind zu Autorennen gefahren. Hinterher haben wir die leeren Ölkanister mit nach Hause geschleppt. Heute reichen mir die Rennberichte.

Ah, Gegensätze ziehen sich an.

Als er nicht reagierte, fügte sie hinzu: Sorry für die Plattitüde.

Léonard faltete die Zeitung zusammen und achtete darauf, dass die einzelnen Blätter im Falz korrekt übereinanderlagen.

Sie meinen das schnelle Fahren und das bedächtige Schreiben?

Lill griff sich die Zeitung und blätterte durch die Seiten.

Am Ende, sagte er ruhig. Die Rennberichte stehen auf den letzten Seiten, weil es die aktuellsten Nachrichten sind.

Sie tippte auf ein Foto – fast eine halbe Seite groß. Ein Rennwagen, der aus einer Kurve heraus beschleunigte, eine Reklamemaschine.

Wo ist denn hier noch ein Mensch?

Schoenboom blickte suchend nach dem Kellner.

Ihre Betrachtungen in Ehren, aber Sie irren sich. Diese Rennfahrer sind große Sportler. Mit durchtrainierten Körpern und exzellenten Reflexen.

Lill Andersson schüttelte den Kopf.

Rädchen in einer enormen Logistik. Ohne die nichts geht. Nehmen Sie einen Läufer. Ein Mensch auf seinen zwei Beinen. Durch Wald und Wiese, Schnee und Eis.

Der Kellner kam, und sie bestellte einen Espresso. Schoenboom rückte seinen Stuhl so, dass er ihr genau gegenübersaß.

Sie sind ja richtig altmodisch. Seit Jahrhunderten sitzen wir im selben Zug. Je mehr der Mensch sich die Natur untertan macht, desto unwichtiger wird er. Wir emanzipieren uns.

Als der Espresso auf dem Tisch stand, trank sie einen Schluck und setzte, um ihrer Antwort das notwendige Gewicht zu verleihen, die Tasse etwas heftiger auf.

Mich interessiert eine Frage.

Und welche?

Macht uns das glücklicher? Nein, anders ausgedrückt: Kann der Fortschritt uns wieder mit der Natur versöhnen?

Schoenboom kam ihr zu Hilfe.

Wollen Sie sagen: nicht mit ihr auf Kriegsfuß zu leben?

Lill Andersson antwortete nicht sofort; nahm die Tasse, blickte prüfend in den schwarzbraunen Kaffee und stellte sie dann wieder auf das Tischchen zurück.

Ja, genau das.

Es entstand eine Pause, bis Lill ihr Handy aus der Tasche zog und es auf den Tisch legte.

Gestern Abend haben Sie angedeutet, dass Sie ein Modell suchen, wie Matisse. Vielleicht brauchen Sie eine Muse.

Als er nicht gleich reagierte, setzte sie hinzu:

Jemand, der Sie anregt und kontrolliert. Habe ich recht?

Wenn das die Lösung wäre, antwortete Schoenboom zögerlich. Als ich gestern die Fotos aus dem Atelier gesehen habe, nein, die Zeichnungen, bin ich richtig neidisch geworden. So eine Sinnlichkeit. Matisse muss ihr hautnah gewesen sein. Haben die beiden miteinander geschlafen? Vor der Arbeit oder nachher? Was mag seine Frau dazu gesagt haben?

Weil der Kellner nicht zu sehen war, rief Schoenboom ungehalten: Noch zwei Espresso.

Lill gefiel die Wendung, die das Gespräch nahm. Ihr Französisch klang erstaunlich weich. Der schwedische Akzent federte durch und verlieh ihren Sätzen einen zusätzlichen Charme.

Was hat Sie neidisch gemacht? Die Frau, mit der Matisse gearbeitet hat, oder was dabei herausgekommen ist: die Schönheit seiner Bilder?

Beides. Die Frage ist, ob man das trennen kann.

Sie sah ihn an und ihre blauen Augen weiteten sich ein wenig. Offenbar war ihm das unangenehm, denn er warf einen Blick in den Himmel und wechselte das Thema.

Es ist kühler, als ich gedacht habe.

Lill steckte sich mit einem Streichholz eine Zigarette an.

Erzählen Sie, was Sie geträumt haben?

Léonard lachte laut und falsch. Wie jemand, dem man einen Witz erzählt und der ihn nicht begreift.

Besonders mutig sind Sie nicht, bemerkte sie.

Schoenboom kippelte mit seinem Stuhl.

Wenn Sie vor mir sitzen, geht es nicht. Vielleicht am Telefon.

Obwohl sie sich damit hätte zufriedengeben können, stichelte sie weiter.

Wo bleibt denn die französische Galanterie?

Eine Bö fuhr über die Terrasse; Lill schlug den Kragen hoch, ihre Haare flogen im Wind.

Gestern Abend, als mein Mann mit rundem Rücken und dem Whiskyglas auf dem Barhocker hing, habe ich meine Zukunft gesehen.

Schoenboom schaute wieder in den Himmel, als interessiere ihn ihre Zukunft nicht. In Wirklichkeit war er so gespannt, dass er ihr mit einer Frage zuvorkam.

Wollen Sie sich von ihm trennen?

Sie zog an ihrer Zigarette, und die graublauen Wölkchen lösten sich in der frischen Luft auf.

Trennen kann man sich nur von jemandem, mit dem einen etwas verbindet.

Schoenboom beugte sich nach vorne und stützte seine Ellbogen auf den Tisch.

Wenn man jahrelang mit jemandem gefrühstückt hat, fehlt einem plötzlich was. Man merkt das erst hinterher.

Eine Taube trippelte um ihre Beine und flog gurrend auf ein gegenüberliegendes Fenstersims. Lill sah ihr hinterher, und Schoenboom trank seinen Kaffee aus.

Léonard, sehen Sie mir nach, dass ich im Augenblick für solche Weisheiten nicht empfänglich bin.

Dabei schlug sie die Beine übereinander, stützte sich mit ihren Händen auf das rechte Knie und setzte leise hinzu:

Oder finden Sie, dass die Taube, die eben weggeflogen ist, sich von uns getrennt hat?

Schoenboom zahlte und schlug vor, ins Musée Matisse zu fahren.

Wenn wir nicht zu viel Zeit dafür brauchen, entgegnete Lill. Sie bringen meine Pläne durcheinander.

Im Taxi versuchte sie noch einmal, ihren Mann zu erreichen. Wieder war besetzt, doch Pelle Persson rief gleich zurück. Er habe sie überall gesucht, erklärte er, worauf sie ihn fragte, ob er seine Mobilbox nicht abgehört habe.

Doch, aber die Nachricht nicht verstanden.

Wo sie sei, wollte er wissen.

Auf dem Rückweg nach Stockholm.

Es gab verschiedene Gründe, warum Persson nicht sofort verstand, was sie damit meinte.

Ja, ich habe mich entschlossen, mit der nächsten Maschine nach Stockholm zurückzufliegen.

Wir haben doch erst für übermorgen gebucht.

Ich habe es mir anders überlegt.

Lill konnte ihre Pläne von einer Stunde auf die andere ändern, wenn ihr Beruf sie dazu zwang. Persson wusste das. Doch diesen Ton kannte er nicht. Wenn jemand in einer ihm nicht vertrauten Sprache nach dem Weg fragt, erkennt der Einheimische beim ersten Wort, dass es sich um einen Fremden handelt. Ein Musiker hört sofort, ob ein Ton falsch ist. Lills Ton war nicht falsch, er war neu. Der Unterton, vielleicht auch der Oberton. Gleichzeitig spürte Persson, wie sich in seiner Brust etwas bewegte. Sein Herz fing an, schneller zu schlagen, der Kreislauf beschleunigte sich. Sein Körper hatte erkannt, was sich hinter ihrer Ankündigung verbarg.

Auch Schoenboom ahnte, was da im Busch war, und während das Taxi die Serpentinen hochschaukelte, hielt er sich am Türgriff fest; achtete darauf, dass sein Jackett und ihre Lederjacke sich nicht berührten. Er wollte in keine »Geschichte« hineingezogen werden. Das wenige, was er verstand – »Pelle«, »Stockholm« – und ihre entschlossenen Mundwinkel reichten. Ungeduldig fragte er den Taxifahrer, ob es keinen kürzeren Weg gebe.

Permettez-moi, Monsieur, eine Taxilizenz kriegen Sie hier nur, wenn Sie die Stadt kennen.

Als Lill mit einem entschiedenen Druck auf die Austaste das Gespräch beendete, fragte Schoenboom: Sind Sie jetzt davongeflogen?

Ja, ich weiß nur noch nicht, wann das Flugzeug geht.

Der Gang durch die Ausstellung gefiel ihr – jedenfalls betonte sie das öfter. Es war ihr recht, dass Léonard manchmal vorauseilte und sie vor einem Bild oder einer Zeichnung allein ließ. Dann hatte sie einen Moment zum Nachdenken. Weniger über ihre Entscheidung, als über deren Folgen. Persson hatte zwei Töchter, die sich an sie gewöhnt hatten. Und Lill sich an sie.

In einem Raum, in dem mehrere großformatige Akte hingen, betonte Schoenboom erneut, wie wichtig Modelle für Matisse gewesen seien. Der Maler sei geradezu abhängig von ihnen gewesen. Und vor einem Foto, das ihn mit dem langjährigen Modell im Atelier zeigte, verstieg sich der Autor zu der Behauptung: Ein alter reicher Sack, der seine Inspiration aus jungen Frauenkörpern zieht.

Lill trat protestierend einen Schritt zurück und er korrigierte sich.

Wenn schon nicht reich, dann berühmt. Läuft aufs Gleiche hinaus.

Und solche Akte malt man nicht, ohne einen weiblichen Körper vor sich zu haben.

Schoenbooms Angriffslust amüsierte sie.

Heißt das, Sie können auch nur schreiben, wenn Sie einen weiblichen Körper vor sich haben?

Nein, es würde mich verrückt machen, wenn beim Schreiben jemand in meiner Nähe wäre. Ein Maler zeichnet, wie man sagt, nach der Natur. Ein Autor schreibt auf, was er im Kopf hat. Sieht man von dem ab, was in Cafés oder der Metro entsteht.

Er machte mit der Hand eine abschätzige Bewegung und wollte weiter. Lill kramte in ihrer Handtasche, das Handy meldete sich. Nach kurzem Zögern nahm sie das Gespräch an. Jean Bart. Er wollte wissen, ob es bei der Verabredung bliebe.

Natürlich, bei welcher Verabredung?

Zum Lunch.

Natürlich, wiederholte sie, wir sehen uns zum Lunch. Bitte, Jean, können Sie mir einen Gefallen tun? Suchen Sie alle Flugverbindungen nach Stockholm heraus.

Für heute?

Ja, bitte, zur Not via Frankfurt.

Schoenboom war stehen geblieben und rief ungehalten:

Warum hat mein Verleger nichts Besseres zu tun? Und warum wollen Sie unbedingt nach Stockholm zurück?

Léonard, sagte Lill, er kann doch nicht ahnen, dass Sie mir gerade Kunstunterricht erteilen.

Ein Verleger muss wissen, was seine Autoren stört.

Dieser Satz kam wie ein Trompetenstoß. Dann fiel Schoenboom ein, dass Lill als Agentin ja eine ähnliche Rolle wie sein Verleger spielte. Deshalb beeilte er sich, seine ästhetischen Betrachtungen wieder aufzunehmen.

Die Zeichnungen und Gemälde hier haben die Wirklichkeit weit hinter sich gelassen, sie transzendieren sie, dozierte er.

Das war ein bisschen viel. Die Trennung, die Verabredung mit Bart und nun auch noch die Transzendenz. Lill hatte Lust zu widersprechen.

Auf mich wirken sie sehr sinnlich.

Die Frauen, Schoenboom holte mit dem Arm zu einer großen Geste aus, die wir hier bewundern, bewegen sich nicht, sie sprechen und riechen auch nicht mehr. Sie bestehen nur noch aus Linien und Flächen. Stellen Sie sich vor, ein junges hübsches Mädchen zieht sich vor Ihnen aus und Sie wollen das, was Sie sehen und fühlen, in Linien verwandeln.

Léonard, ich glaube, Sie gehen die Frage falsch an.

Lill hakte sich bei ihm ein und zog ihn weiter.

Sie meinen, wir sollten ins Hotel fahren?

Moment, jetzt sind Sie einen Schritt vorausgeeilt. Sie wollen die Frauen ja nicht in Linien verwandeln, sondern mit den Linien zeichnen, was Sie empfinden. Damit die Körper fliegen können, müssen Sie sie leichter machen. Erst dann sind sie in der Lage, uns ein kleines Stück mitzunehmen.

An der Kasse kaufte der Autor ein paar Postkarten, der Katalog war ihm zu teuer. Es klingelte wieder und diesmal hatte Lill das Telefon gleich bei der Hand. Schoenboom versuchte, es ihr lachend zu entwinden, und es kam zu einem kleinen Streit. Sie bestand darauf, das Gespräch anzunehmen.

Bart hatte den Flughafen angerufen. Es gab nur noch eine Möglichkeit, nach Stockholm zurückzukommen.

Heute?

Ja, alles ausgebucht über Paris. Nur via Frankfurt …

Très bien, Jean, please be so kind …

Okay, dann sage ich das Essen ab und wir sehen uns am Flughafen.

Schoenboom war enttäuscht.

Das müssen Sie doch verstehen, Ihr Verleger will mich unbedingt sehen.

Warum bleiben Sie nicht hier? Langweile ich Sie?

Léonard, seien Sie nicht kindisch. Ich bin dabei, mich von meinem Mann zu trennen, und Sie machen mir eine Szene.

Weil Sie anziehender sind, als ich gedacht habe. Das rächt sich.

Selbstverständlich bot sie an, ihn in seinem Hotel abzusetzen. Während der Fahrt schwiegen beide vor sich hin. Er schaute sich die Postkarten an und sie qualmte eine Zigarette, nachdem sie den Fahrer um Erlaubnis gebeten hatte. Mit den Gedanken war sie schon in Stockholm. Nicht ganz, denn auch sie fragte sich: Warum bestehe ich darauf abzureisen? Vermutlich, weil es mir so leichter fällt. Taten schaffen Tatsachen.

Als Schoenboom ausstieg, setzte sie ein Lächeln auf und mahnte: Seien Sie nicht zu streng. Sie brauchen Ihren Verleger und Bart ist nicht der Schlechteste.

Um seine Enttäuschung zu überspielen, schlug er die Tür zu, ohne ihr die Hand zu geben.

Das Leben ist voller Zufälle, murrte er, und manchmal sind sie verdammt ärgerlich.

Während der Chauffeur wendete, fuhr sie die Scheibe herunter und winkte, ohne sich umzudrehen, so lange, bis ihr der Fahrtwind lästig wurde. Lill nannte dem Fahrer noch mal ihr Ziel und lehnte sich erleichtert in den Sitz zurück.

IV

Der Aéroport de Nice/Côte d’Azur besteht aus einem Betonskelett; ausgekleidet mit Rohrsystemen für Luft und Wasser, Kabelsträngen für die Energieversorgung und darüber Plastikverkleidungen, die dem inneren Wirrwarr ein freundlicheres Aussehen verleihen sollen. Mit etwas Glück dringt von draußen etwas Tageslicht in den Neonnebel. Die meisten Gebäude aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeichnen sich durch eine kurze Halbwertszeit aus, die französischen jedoch besonders. Schon wenige Jahre nach Inbetriebnahme ist der Glanz dahin, sind sie nur noch abgerutschtes Industriegut und das Verschrotten ist absehbar.