Undercover Boss - Mathilde Berg - E-Book

Undercover Boss E-Book

Mathilde Berg

0,0
2,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die angehende Journalistin Hannah hat nur ein Ziel: so schnell wie möglich ihr Volontariat abzuschließen. Nun wird ihr auch noch der neue Kollege Lars Schelling aufs Auge gedrückt, um den sie sich kümmern muss. Als Hannah einer spannenden Story auf der Spur ist, wird sie aus den eigenen Reihen boykottiert. Wer hat die Hände im Spiel? Hat Lars sie verraten oder ist ihr Vorgesetzter Nils Förster mal wieder der Saboteur? Ein Netz aus Liebe und Intrige webt sich um Hannah …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 408

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Undercover Boss

Liebe und Intrige im 4/8 Takt

Mathilde Berg

Erstveröffentlichung Dezember 2020

Inhaltsverzeichnis

Hannah4

Hannah9

Lars12

Hannah13

Hannah17

Hannah21

Lars26

Hannah28

Hannah35

Lars41

Hannah45

Hannah56

Lars63

Lars71

Hannah77

Lars84

Hannah89

Hannah96

Hannah105

Lars111

Hannah118

Lars121

Hannah129

Lars134

Hannah140

Hannah151

Lars163

Hannah172

Hannah185

Lars194

Hannah201

Hannah206

Elias217

Hannah222

Danke236

Lesetipp238

Inhaltsverzeichnis

Hannah

Rücksichtslos drängelt sich Nils an mir vorbei. Mit seinem Ellenbogen pufft er mir in die Seite. „Mach mal Platz, Plantschkuh!“

„Autsch!“ Mit schmerzverzerrtem Gesicht reibe ich mir die Stelle. Morgen werde ich dort mit Sicherheit einen blauen Fleck haben.

Nils dreht sich zu mir um und grinst höhnisch.

„Pass doch mal auf, du Vollidiot!“, eilt mir meine Kollegin Lisa zu Hilfe.

„Wer zuerst kommt, malt zuerst. Die Schmalen nach vorn, und die Fetten nach hinten. Was soll denn der Neue von uns denken, wenn er die gleich zu Gesicht bekommt? Der läuft nachher sofort wieder weg. Außerdem, hinter der sieht mich doch keiner. Die braucht ja Platz für zwei.“

„Sagt gerade der, der aussieht wie Rumpelstilzchen. Außerdem bist du viel größer. Wir können hinter dir nichts sehen. Denkst du, wir wollen in deinem Schatten stehen?“

Verstohlen schaue ich an mir herunter.

„Von mir aus darfst du gern neben mir stehen, Lisa Schätzchen.“ Süffisant befeuchtet er seine schmalen Lippen und krault sich den langen, ungepflegten Vollbart.

Lisa verzieht angewidert das Gesicht.

„Ach, lass ihn“, versuche ich, Lisa zu beruhigen. Nils hat ja recht. Ich bin nun mal kein schlankes Reh. Jedenfalls nicht so wie Lisa. Wenn ich einen Kopf größer wäre, sähe das schon anders aus.

„Du Knallkopf glaubst wirklich, du bist der aller Größte, was?“

Nils hat schon eine passende Antwort parat, die sicherlich nicht jugendfrei ist, wird aber von unserer Personalchefin unterbrochen, was ihm sichtlich missfällt.

Lisa wirft ihr langes, braunes Haar mit einer lässigen Handbewegung über die Schulter.

„Komm, Hannah, wir gehen da rüber. Dort ist die Luft besser. Hier stinkt es mir zu sehr.“ Lisa hakt sich bei mir ein und zieht mich hinter sich her zur anderen Seite vom Besprechungsraum.

„Liebe Kolleginnen und Kollegen.“ Frau Peschke klatscht in die Hände, um sich Gehör zu verschaffen. Augenblicklich verstummt das Gemurmel. „Ich darf Ihnen heute unseren neuen Volontär, Lars Schelling, vorstellen. Bitte begrüßt ihn und überhäuft ihn mit viel Arbeit. Er soll ja schließlich was lernen.“ Sie lacht über ihren eigenen Witz, und die Kollegen lachen vereinzelt aus Höflichkeit mit. Am lautesten natürlich Nils. Das war ja klar! Für ihn war das kein Witz, sondern eine Tatsache, dass wir Volontäre für die festangestellten Journalisten arbeiten, während er die Füße auf den Tisch legt und sich den lieben langen Tag seinem Instagram-Account widmet, Läuse aus seinem struppigen Bart sucht und die Lorbeeren auf meine Kosten einheimst. Denn bisher war ich die einzige Volontärin und warte auf eine Festanstellung. Vielleicht ist das ein Zeichen des Schicksals, dass ausgerechnet jetzt ein neuer eingestellt wird. Immerhin bin ich schon seit zwei Jahren hier. Ein fester Job mit einem vollen Gehalt wäre echt an der Zeit.

Der Neue wird mit Sicherheit von Nils unter Beschlag genommen werden. Dann hätte ich Zeit, an meiner eigenen Story zu arbeiten und endlich einen Vertrag zu bekommen. Vor allem aber würde ich nicht mehr als Fußabtreter für Nils dienen müssen und auch seinen Grapschfingern entgehen.

Lisa stupst mir mit dem Ellenbogen in die Seite.

„Der sieht ja gut aus“, flüstert sie mir ins Ohr. „Hoffentlich kommt er in mein Büro! Der ist wirklich was fürs Auge.“

Lisa seufzt, und ich schaue mich um. Die anderen Kolleginnen starren den Neunen auch mit einem schmachtenden, verträumten Blick an. Ich schüttele verständnislos den Kopf.

Seine Augen strotzen nur so vor Arroganz, die, zugegeben, wunderschön und rauchblau sind. Wohlgemerkt, der Rest ist auch nicht übel. Durchtrainierter Körper, dunkelblonde, kurze Haare, Dreitagebart. Na, da muss ich mir ja keine Sorgen machen, dass der mich anspricht. Wieder schaue ich an mir herunter. Jeans, Pulli, Sneaker. Wie meine feinen Haare aussehen, die ich im Überfluss besitze, kann ich direkt fühlen – sie fliegen mir wie immer wirr um den Kopf herum. Da hilft auch Bürsten nichts. Selbst wenn ich sie mit einem Haargummi zusammenhalte, winden sich die widerspenstigen Biester daraus hervor. Ich seufze. Nicht jeder kann perfekt sein.

„Unwahrscheinlich“, sage ich leise zu Lisa. „Zum einen wird sich Nils das Frischfleisch unter den Nagel reißen, und zum anderen ist in deinem Büro doch kein Platz!“

„Ja, ich weiß, aber Gitta könnte doch bei dir sitzen.“

„In meiner Besenkammer? Ha–ha, sehr witzig. Der Raum bietet gerade mal so viel Luft zum Atmen, dass es für mich reicht! Nee, nee, nee.“

„Platz ist in der kleinsten Hütte. Ein bisschen Gesellschaft würde dir ganz gut tun. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg!“

„Du spinnst ja. Ich bin froh, dass ich in dem Kabuff meine Ruhe habe.

„Herr Schelling hat in den USA studiert“, erzählt Frau Peschke weiter, „und möchte nun sein Wissen über die hohe Schreibkunst bei uns vervollständigen. Bitte heißen Sie Herrn Schelling recht herzlich in unsere Mitte willkommen.“ Sie applaudiert, und die anderen tun es ihr gleich.

„Ach du meine Güte. Eine College-Pfeife!“, höre ich Nils sagen. „Wer will sich denn die Zeit nehmen, dem alles beizubringen? Bei dem Pensum, was wir abarbeiten.“

Als ob er jemals selber eine Kolumne recherchiert und geschrieben hat, denke ich mir. Zumindest nicht, seit ich hier arbeite.

„Vielen Dank, Herr Förster, für Ihren qualifizierten Einwurf“, entgegnet Frau Peschke mit einer säuerlichen Miene. Sie kann es überhaupt nicht leiden, wenn man sie unterbricht, besonders wenn es sich um dumme Zwischenrufe handelt. „Darüber haben wir uns natürlich im Vorfeld Gedanken gemacht. Das Beste wird sein, wenn Frau Rosenow ihn unter ihre Fittiche nimmt.“

Mir wird schlagartig heiß im Gesicht, als ich meinen Namen höre. Dabei waren meine Gedanken bereits bei dem Thema, über das ich schreiben wollte. Der Rest meines Körpers wehrt sich vehement gegen diese Entscheidung, was sich in einem flauen Gefühl in der Magengrube und lautem Gegrummel äußert. Das passiert ständig, wenn ich nervös bin. Ich mag es einfach nicht, im Mittelpunkt zu stehen.

Ein tumultartiges Raunen geht durch die Reihen der Kolleginnen, und sie scheinen nicht die Einzigen zu sein, denen diese Neuigkeit bitter aufstößt.

„Wieso denn ausgerechnet die?“, fragt Nils entgeistert in die Runde.

„Weil sie im Gegensatz zu Ihnen, wie Sie soeben geistreich beigetragen haben, Zeit hat. Frau Rosenow ist hier ja schon länger als Volontärin tätig und kann ihn in unsere Gepflogenheiten einweisen, damit er Ihnen schnell zur Verfügung steht und gut zuarbeiten kann. Frau Rosenow?“ Frau Peschke versucht, mich im Pulk der Kollegen ausfindig zu machen.

Ich bleibe weiterhin im Schutz der Masse stehen. Meine Füße wollen einfach nicht von der Stelle. Ich befinde mich offensichtlich unter Schock.

Eine Hand legt sich auf meinen Rücken, die mich ungefragt nach vorn drückt.

„Ah, da sind Sie ja!“, flötet Frau Peschke. „Seien Sie so gut und führen ihn in der Redaktion herum.“

„Ich?“, würge ich hervor. Meine Stimme ist kratzig, meine Zunge wie gelähmt.

„Ja, Sie!“

„Okay. Und wo soll er sitzen?“

„Na, in Ihrem Büro, Kindchen! Wo denn sonst?“ Frau Peschke lächelt gekünstelt.

Ich merke die Blicke der Kolleginnen, die sich wie Giftpfeile in mein breites Kreuz bohren.

„Das … das ist doch viel zu klein. Könnte er nicht …“

„Frau Rosenow!“ Die Personalchefin wird ernster. „Lassen Sie sich etwas einfallen. Sie sind doch nicht seit gestern bei uns, oder? Improvisieren Sie. Das kann ja nicht so schwer sein.“

„Schon, aber …“

„Gut!“ Sie wendet sich wieder dem Kollegium zu. „Dann wünsche ich Ihnen allen einen schönen Arbeitstag und Ihnen, Herr Schelling, einen guten Start.“

Murrend und hinter vorgehaltener Hand flüsternd löst sich die Versammlung auf. Alle schlendern zu ihren Büros. Toll! Da bin ich ja wieder mal Gesprächsthema Nummer eins in der Redaktion.

Voller Selbstmitleid atme ich geräuschvoll ein. Lisa klopft mir aufmunternd auf die Schulter. „Nur Mut!“

„Ha–ha, sehr witzig!“

„Und vergiss nicht, mit unserem Neuzugang in meinem Büro vorbeizukommen.“

„Lisa … ich wollte das nicht …“

Sie zwinkert mir aufmunternd zu und geht.

Nun sind nur noch er und ich im Besprechungsraum übrig. Langsam komme ich wieder zu mir. „Ja … also … äh … Ich bin Hannah. Hannah Rosenow. Ich bin hier Volontärin im zweiten Jahr und …“

„Ist das Volontariat nicht üblicherweise nur anderthalb Jahre?“

Schön, ein Klugscheißer, na wunderbar! Nicht, dass mich seine Präsenz schon genug unter Druck setzt. Nein, er entpuppt sich auch noch als zweiter Nils. Was mich dabei wurmt, ist, dass er recht hat.

„Normalerweise, ja. Willkommen im Verlag Gröne“, erwidere ich, und meine Stimme trieft vor Sarkasmus. Mit diesem überflüssigen Spruch hat er meine Achillesferse getroffen. Ich mache mich so groß wie möglich und sage von oben herab: „Ich führe dich als Erstes herum, damit du alle kennenlernst. Danach geht’s gleich an die Arbeit. Mein Büro ist nämlich auch das Archiv. Also, nicht das vom Verlag, nur von dieser Abteilung. Seit der Hausmeister in Rente ist, wurden die Akten aus Bequemlichkeit in diesem Raum eingelagert. Er ist klein, fensterlos und bis obenhin voll mit Kartons. Deine erste Aufgabe wird sein, Ordnung zu schaffen und das alte Zeug in den Keller zu verfrachten. Ich hoffe, du machst dir dein weißes Hemd und deine zarten Hände nicht schmutzig.“

„Und wie diese Hände zart sind!“, kontert er und zwinkert mir mit einem schiefen Lächeln zu.

Das ist doch nicht zu fassen! Ich ignoriere seine unpassende Bemerkung. Schlucke sie voller Stolz herunter, als ob nichts passiert wäre, und verlasse den Raum. Er folgt mir. Ich kann seinen Blick auf meinem Körper fühlen. Augenblicklich wird mir ganz warm. In der Magengrube fängt es an, zu kribbeln. Ich bin wie elektrisiert. Verlegen zupfe ich meinen schlabbrigen Pulli zurecht. Warum in Gottes Namen musste ich heute Morgen unbedingt dieses alte Ding anziehen? Zu allem Überfluss stelle ich mir vor, wie seine Hände über meine Haut streichen. Ich balle die meinen zu Fäusten und schüttele den Kopf, um ihn daraus zu verbannen.

Hannah

„Ui, da hatte aber jemand einen schlechten Tag! Was hast du denn mit dem gemacht?“

Lisa und ich gehen gemeinsam zum Parkplatz. Während ich meinen Fahrradhelm zurechtrücke, höre ich, wie jemand seine Autotür mit voller Wucht zuknallt. Ein Motor heult auf. Als ich dem Geräusch folge, sehe ich, wie mein neuer Kollege und Tischnachbar mit einem Kavalierstart grußlos an uns vorbeifährt und vom Gelände prescht. Der Drang, ihm die Zunge rauszustrecken, ist unwiderstehlich und nur mit Mühe zu unterdrücken.

„Wieso?“, frage ich bewusst unschuldig.

„Na, der kann es ja gar nicht abwarten, vom Hof zu kommen.“

Ich zucke mit den Schultern. „Vielleicht hat er noch einen Termin? Soll ja vorkommen!“

„Ach, komm schon. Der ist bestimmt nett, so wie der aussieht!“

„Wer? Lars der Eisbär? Vielleicht ist er in der Realität aufgewacht und hat gemerkt, dass er selber arbeiten muss und sein Äußeres keine Wirkung auf mich hat, im Gegensatz zu dir und den anderen. Der muss nicht denken, nur weil er aussieht, als wäre er einem Modekatalog entstiegen, springe ich, wenn er mich ansieht. No way, Lisa.“

„Lars der Eisbär?“, lacht Lisa. „Wie kommst du denn darauf?“

„Na, er sieht doch aus wie einer. Alle oder besser gesagt jede möchte ihn knuddeln und ihm durch sein volles Haar strubbeln. Ihr bekommt alle gleich einen glasigen Blick, wenn ihr ihn seht. So wie bei einem Hundebaby.“

„Na, wenn das Lars der Eisbär ist, dann möchte ich mich gern mal an sein Eisbärfell kuscheln.“

„Tu dir keinen Zwang an. Lars ist für uns alle da. Das hat Frau Peschke ja heute Morgen gesagt.“

Lisa schaut mich seltsam von der Seite an. „Findest du nicht, dass du etwas zu fies zu ihm warst? An seinem ersten Tag? Für sein Aussehen kann er ja nichts.“

Schlechtes Gewissen keimt in mir auf. „Schon. Aber … aber ich wollte auf gar keinen Fall, dass er denkt, er könne mir auf der Nase herumtanzen und mich rumschupsen wie einige andere. Anwesende ausgeschlossen. Nur weil er zufällig gut aussieht …“

Lisa seufzt und nickt zustimmend. „Hmhm.“

„… braucht er nicht zu denken, dass ich Prinz Charming ergeben zu Füßen sinke und ihm seine sündhaft teuren Lederschuhe küsse. Ich hoffe für ihn, er weiß, woher das Leder für diese Schuhe kommt. Nicht, dass ein artengeschütztes Tier sein Leben lassen musste, damit er Eindruck auf die Frauenwelt machen kann.“

„Was macht dir mehr Angst? Dass du ihn gut findest oder er dich toll findet?!“

„Quatsch!“, bestreite ich. „Weder noch. Wir sind viel zu verschieden. Dieser arrogante Schnösel und ich? Niemals, nur über meine Leiche!“

Mittlerweile sind wir am Fahrradstand angekommen. Ich verabschiede mich von Lisa und entriegele das Zahlenschloss an meinem Hollandfahrrad.

***

Der warme Wind pustet mir ins Gesicht. Es riecht nach Sommer. Ich genieße die Sonnenstrahlen auf der Haut und das Fahren ohne Jacke und Schal. Die Girlande aus Seidenblumen am Lenker flattert im Luftstrom. Bei jedem Hubbel auf dem Radweg macht die verrostete Fahrradklingel ein leises Ping. Meinen ganzen Ärger vom Tag kann ich jetzt wegstrampeln. Unwillkürlich muss ich an das Gespräch mit Lisa denken. Wenn ich ehrlich bin, würde es mir mehr Angst machen, wenn Lars mich mögen würde. Dass er mich wahrscheinlich nicht leiden kann, ist jedoch offensichtlich. Zumindest seiner säuerlichen Miene nach zu urteilen. So kann ich ihn wenigstens im Verborgenen anschmachten und mich auf mein Ziel konzentrieren.

Lars hat sicherlich gedacht, er würde mit jemandem wie Lisa zusammen in einem Büro sitzen und nicht mit einer Vogelscheuche wie mir. Es hat mich einfach geärgert, dass ich jetzt den Babysitter für ihn spielen darf und er an meinen Hacken klebt wie ein ausgespuckter Kaugummi.

Leider musste er die Kisten mit den Ordnern wirklich allein in den Keller schaffen, weil Nils mir wieder seine supereiligen Sachen mit den Worten „Deadline läuft, Dickerchen!“ aufs Auge gedrückt hatte. Auf dem Weg nach draußen habe ich die ‚supereilige Sache‘ dann in seinem Korb auf dem Schreibtisch gesehen. Er hatte sich meinen Bericht noch gar nicht angeschaut. So viel dazu. Aber diese Schikane bin ich mittlerweile gewohnt.

Andererseits soll Lars nicht denken, dass er nur mit den Fingern zu schnippen braucht, damit ich freudestrahlend vor ihm auf die Knie falle wie die anderen Weiber im Büro. Schon klar, würde ich auch, wenn ich so aussehen würde wie die. Er hat dunkelblondes, dichtes Haar, und am liebsten möchte ich meine Hände darin vergraben und … Hallo, Hannah, aufwachen! Verdammt. Es ärgert mich, dass mir dieser Typ nicht aus dem Kopf geht.

Lars

„Verdammt!“ Vor Wut schlage ich mit der Faust auf das Lenkrad. Ich hasse es, abhängig von anderen zu sein. Niemals hätte ich einwilligen sollen. Nur meiner Mutter zuliebe habe ich mich auf diesen Deal eingelassen. Wer schlägt schon einer Sterbenden den letzten Wunsch ab? Und was erschwerend hinzu kommt: Ich habe zurzeit keine finanziellen Mittel, um mein eigenes Projekt durchzuziehen.

Auf dem Parkplatz fahre ich an meinen neuen Kolleginnen Liane, Luise – oder wie sie auch heißen mag – und Hannah vorbei. Die Dünne winkt mir zu, während Hannah mit ihrem tödlichen Blick Giftpfeile auf mich schießt. Für einen Moment glaube ich, sie würde mir die Zunge rausstrecken.

Heute Morgen wollte ich mit meinem lockeren Spruch das Eis zwischen uns brechen. Aus irgendeinem Grund hat das nicht geklappt. Im Gegenteil, es ist mächtig nach hinten losgegangen, so wie sie sich aufgeregt hat. Den ganzen Nachmittag hat sie nicht mehr mit mir gesprochen. Nur das Nötigste, als sie mit mir die Bürorunde gemacht hat. Danach habe ich mich mächtig ins Zeug gelegt und die Rumpelkammer aufzuräumen, die Hannah Büro nennt. Alle hundertsechsunddreißig staubige, mit Akten gefüllte Kartons habe ich – wohlgemerkt, ohne zu murren oder zu ächzen – in den Keller geräumt, um sie zu beeindrucken.

Anstatt sich zu bedanken oder mich zu loben, hat sie mir jedoch den Staubsauger in die Hand gedrückt. Das war über allen Maßen frustrierend. Noch nie ist mir so was passiert. Ansonsten liegt mir die Frauenwelt zu Füßen.

Was für ein beschissener Tag. Am meisten ärgere ich mich aber darüber, dass ich meinem Erzeuger nicht die Stirn geboten, sondern mich gefügt und klein beigegeben habe.

Ich fahre jetzt zu Marek. Mein Bruder versteht mich. Der einzige Lichtblick, wie mir scheint. Ich drehe das Radio lauter und gebe am Ende des Parkplatzes richtig Gas, sodass die Räder quietschen, als ich auf die Hauptstraße biege.

Hannah

Auf dem Weg nach Hause radele ich mich so richtig in Rage. Was bildet sich dieser Y-Chromosom-Träger eigentlich ein? Wutschnaubend schnappe ich mir meine gepackte Sporttasche. In ein paar Minuten habe ich die Gelegenheit, mich auszupowern.

Das Sportstudio ist gleich um die Ecke. Der Besitzer der Muckibude ist mein Türnachbar Rudi. Ich war froh, als er mir bei unserer abendlichen Begegnung auf dem Hausflur einen Nebenjob anbot. Wir geben uns sozusagen die Klinke in die Hand. Wenn ich nach Hause komme, geht er zu seinem Sportstudio.

Als Volontär sind die Verdienstmöglichkeiten begrenzt. Nachbarschaftshilfe, hat er augenzwinkernd zu mir gesagt. Als ehemaliger Bodybuilder bedient er fast jedes Klischee. Braungebrannt, überaus muskulös und kann vor Kraft kaum laufen und geradeaus schauen. Manchmal ist der Mädchenschwarm etwas weltfremd und nicht immer ganz helle, aber er ist ein herzensguter Mensch und meistens gut gelaunt.

Bevor ich aufbreche, sehe ich in meiner kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung nach meinen Mitbewohnern Paul und Gisbert – meine beiden Meerschweinchen. Die Vormieter haben Paul einfach hier stehen lassen. Als ich einzog, stand sein alter, schäbiger Käfig mitten im Zimmer. Der kleine Kerl war mehr tot als lebendig. Ich schloss ihn sofort ins Herz und päppelte ihn wieder auf. Ich kann Menschen nicht verstehen, die so etwas tun. Ein hilfloses Tier so seinem Schicksal zu überlassen.

Damit er nicht so allein ist, habe ich ihm einen Freund dazu geholt.

Paul begrüßt mich mit seinem munteren Quieken. Gisbert sitzt im leeren Futternapf und schaut mich vorwurfsvoll an.

„Na, ihr beiden? Geht’s euch gut?“ Ich kraule Paul hinter den Ohren. Fülle dann den Futternapf und wechsele das Wasser aus. Lege eine Möhre in den Käfig und beobachte die beiden, wie sie selig an der Wurzel knabbern. Ich könnte ihnen stundenlang zusehen. Mein Blick fällte eher zufällig auf die große Uhr an der Küchenwand, und ich realisiere, dass meine Schicht in fünf Minuten anfängt.

***

Wie immer betrete ich das Trainingscenter auf den letzten Drücker und völlig abgehetzt. Der durchdringende Beat vom Step-Aerobic-Kurs in Studio drei empfängt mich am Eingangsbereich, genauso wie der Geruch der schwitzenden Leiber an den Geräten. Auch hier ist Musik zu hören, zu der sich die Kunden auf den Laufbändern und Crosstrainern rhythmisch bewegen. An der Butterfly-Maschine wärmen sich die Jungs vom Hanteltrainingskurs auf. Die meisten typisch in Jogginghose und Muskelshirt, damit die Mädels gleich sehen können, was für coole Poser sie sind.

Auf der linken Seite winkt mir Ilka zu, die hinter der Theke steht und Eiweißshakes für eine Gruppe junger Männer mixt. Es sind die Bodybuilder, deren Kurs zeitgleich mit dem Hanteltraining läuft.

Ich zerre meine sperrige Sporttasche hinter mir her. Bleibe wie so oft überall hängen. Ecke an der Türzarge an, bis mir die schwere Tasche von der Schulter rutscht, mir die Haare unter dem Gurt einquetscht und mit einem lauten Plumps auf dem Laminat aufkommt. Jetzt habe ich die ungeteilte Aufmerksamkeit aller, die sich in meiner unmittelbaren Nähe auf ihren Geräten abmühen – und ausgerechnet auch die von Rudi. Demonstrativ tippt er mit seinem Finger auf seine nicht vorhandene Armbanduhr. Sein Blick spricht Bände.

„Ups!“, entfleucht es mir, und ich lächele verlegen. Ich spüre, wie ich einen roten Kopf bekomme. Meine Wangen und Stirn glühen, als wäre ich im Fieberwahn. Ich hasse solche Situationen, aber diese hier passt gut zum heutigen Tag.

Dann ist der peinliche Augenblick zum Glück vorbei, und jeder widmet sich seiner Tätigkeit, als ob nichts passiert wäre.

„Gut, dass du da bist“, ruft Ilka von der Bar. „Ich muss gleich los. Heute treffe ich mich mit meiner Aktivistengruppe.“

„Aha! Malt ihr wieder Pappplakate für euren nächsten Sitzstreik im Supermarkt?“

„Nee! Obwohl das eine wirklich gute Aktion war. Zumindest hat an diesem Tag keiner Eier aus einer Legebatterie im Supermarkt gekauft. Und wir haben auf das Leid der Tiere aufmerksam gemacht.“

„Ich hätte dich zu gern in dem Hühnerkostüm gesehen.“

„Geschwitzt habe ich wie sonst was, aber das war es mir wert. Die Qualen der Tiere in Bodenhaltung oder den sogenannten Freilaufgehegen ist unmenschlich groß. Hast du mal gesehen, wie die Tiere aussehen? Keine Federn am Hals, blutige Stellen am Körper …“

„Igitt!“

„Ganz zu schweigen von dem Schicksal, das die meisten männlichen Küken erwartet, die lebendig geschreddert und zu Tiermehl weiterverarbeitet werden. Das musst du dir mal vorstellen! Da wird den pflanzenfressenden Kühen Tiermehl gefüttert. Wie pervers ist das denn?“

„Wenn ihr mit eurem Kaffeekränzchen fertig seid, könntet ihr dann wieder an die Arbeit gehen?“ Wie aus dem nichts steht Rudi hinter uns.

Schuldbewusst zucke ich zusammen. „Ah … ja, klar.“ Geistesgegenwärtig greife ich nach dem Geschirrhandtuch vor mir und poliere ein sauberes Glas.

„Ich bin dann mal weg“, sagt Ilka. „Wenn du Lust hast, komm doch mal mit. Wir können immer jemanden gebrauchen, der mithilft.“

„Heute hat Hannah andere Verpflichtungen.“

„Rudi, du Sklaventreiber, wir sehen uns morgen.“ Ilka zwinkert dem Sonnyboy zu und rauscht ab.

„Ich bin kein Sklaventreiber, ich bezahle sie!“, ruft er ihr hinterher. Doch Ilka ist schon hinter der Tür verschwunden.

„Also … ich wollte nicht so hart sein. Bitte entschuldige, es sollte nicht böse rüberkommen.“

Ich kann mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. „Nein, Rudi, alles in Ordnung. Du hast ja recht. Aber wenn Ilka in Rage gerät, ist sie nun mal nicht zu bremsen.“

„Hmmm.“ Rudi starrt immer noch zur Tür. Ein seltsamer Ausdruck liegt auf seinem Gesicht.

„Sag mal, Rudi?“

„Hmmm?“

„Hast du dich schon mal mit Ilka verabredet?“

„Was?“ Erst jetzt wacht er aus seiner Trance auf. „Wieso das denn? Wie kommst du darauf? Ist das so offensichtlich?“ Zu meiner Überraschung sackt dieser große, starke Mann in sich zusammen.

„Ach, Rudi! Du bist ja bis über beide Ohren in Ilka verliebt.“

„Hmm. Was soll ich denn machen? Ich weiß nicht, was ich zu ihr sagen soll. Könntest du nicht mir ihr reden?“

„Ich?“

„Na ja, du kannst doch gut mir ihr. Du könntest ja … durch die Blume fragen, ob sie mich leiden mag. Sodass sie keinen Verdacht schöpft.“

„Leiden mag?“

„Du weißt schon, was ich meine, Hannah!“

Da steht dieser große, muskulöse Mann vor mir und schaut mich mit seinen braunen Teddyaugen an. Ich knicke innerlich ein. Obwohl ich mich weder einmischen noch als Kupplerin fungieren möchte, kann ich nicht anders.

„Okay“, seufze ich. „Ich versuche es. Aber ich verspreche dir nichts!“

Rudi strahlt. „Hannah, du bist die Beste!“ Er nimmt mich in die Arme und drückt mich, und mein Schmunzeln wird breiter.

Das Schlimmste, was einem passieren kann, ist, unglücklich verliebt zu sein in jemanden, der keine Ahnung hat, dass du existierst, weil du unsichtbar für ihn bist. Ich fühle mich oft wie Jean-Baptist Grenouille aus dem Roman ‚Das Parfüm‘.

In diesem Moment bin ich Rudi sehr verbunden. Verstehe ihn. Weiß, wie es in ihm aussieht. Daher werde ich alles in meiner Macht Stehende tun, damit Ilka Rudi wahrnimmt.

Hannah

Die Montagabend-Schicht nimmt ihren Lauf. Am Anfang der Woche ist es immer besonders voll. Wahrscheinlich drückt die sowieso schon Schlanken das schlechte Gewissen, weil sie am Wochenende nur Joggen waren und ansonsten auf dem Sofa gechillt haben. Allerdings sehen sie nicht danach aus, als ob sie allein auf der Couch versauern würden.

Man darf eben nicht nur von sich auf andere schließen. Ich liebe es einfach, zu Hause zu sein. Einkäufe und Hausputz werden möglichst am Samstagvormittag erledigt. Danach gehört das Wochenende mir. Ich schließe die Haustür ab und igele mich in einer Wolldecke ein. Manchmal schalte ich sogar mein Handy aus, damit mich keiner stört. Meine Mutter hat die Angewohnheit und das Talent, in den unpassendsten Augenblicken anzurufen. Es ist ja nicht so, dass wir uns nie sehen. Jeden Mittwoch schaue ich bei ihr vorbei. Sie kocht dann was Schönes. Manchmal ist das meine einzige warme Mahlzeit unter der Woche.

Wir reden dann über die Ereignisse der letzten Tage. Natürlich könnte ich auch bei ihr wohnen. Das hat sie mir schon oft angeboten. Aber ich möchte unabhängig sein. Ich will es allein schaffen und ihr vor allem nicht auf der Tasche liegen. Sie hat schon genug Probleme.

Ich kann stundenlang auf der Couch liegen und in einem Buch versinken. Oder ich arbeite an meinem Roman. Ich liebe es, zu schreiben und auf den Flügeln der Fantasie davon zu fliegen.

Doch dann holt mich der Montag in die Realität zurück und schlägt voll zu. So wie heute. Zwischen dem Mixen von Eiweißshakes und Ausfegen der Umkleidekabinen esse ich mein Butterbrot, das ich mir heute früh geschmiert habe. Ich will mich nicht beschweren, denn wenn viel zu tun ist, vergeht wenigstens die Zeit schnell.

Da ich von den Aushilfen am längsten dabei bin, kenne ich mich mit vielen Dingen aus, die anfallen. Ich bin eben ein Mädchen für alles. Genauso wie in meinem Job im Verlag ist es gut, wenn man flexibel und ein Allrounder ist.

Es ist Kurswechsel. Step-Aerobic ist zu Ende. Bauch-Beine-Po fängt gleich im Anschluss an sowie Zumba und Spinning für Fortgeschrittene. Zwischen den vielen sportbegeisterten Menschen sammele ich die leeren Gläser ein, die auf den Tischen neben den Geräten stehen. Auf meinem Tablett stapeln sich die Trinkgefäße. Die Fitnessgeräte sind so gut wie alle belegt. Die Kursteilnehmer nutzen vorher die Gelegenheit, ihre Muskulatur aufzuwärmen.

Als hätte sich die Menschenmenge wie die Fluten des Roten Meeres geteilt, steht da plötzlich mein neuer Kollege. Vor Schreck werden meine Hände schwitzig. Das Tablett gerät in bedrohliche Schieflage. Manche Gläser rutschen und klirren laut gegeneinander. Einige kippen um. Im letzten Moment kann ich es gerade noch halten und eine Katastrophe abwenden.

Kann der mich nicht wenigstens in meinem Feierabend in Ruhe lassen? Dass er hier auftaucht, bringt mich völlig aus dem Konzept.

Er schaut in meine Richtung. O Gott! Hat er mich gesehen? Panik breitet sich in mir aus. So kenne ich mich überhaupt nicht.

Schnell tauche ich in der Menge unter, aber anscheinend nicht schnell genug, denn er erkennt mich. Er winkt und kommt auf mich zu. Ich beeile mich, das Tablett neben der Hantelbank hinter mir verschwinden zu lassen.

„Na, das ist ja eine Überraschung! Was machst du denn hier?“

Das ist wohl die blödeste Frage, die ihm hätte einfallen können. Jedes Mal, wenn er den Mund aufmacht, steigt Wut in mir auf. Ja, was mache ich hier wohl? Ich möchte ihm am liebsten mein Shirt mit der Aufschrift ‚Rudi’s Fitnessbude‘ an den Kopf werfen. Dabei schaut er so spöttisch, dass es mir in den Fingern juckt, ihm eine Ohrfeige zu verpassen.

„Ach, hallo! Hab’ dich gar nicht gesehen“, sage ich stattdessen. „Was ich hier mache? Tja, ich vermute, das gleiche wie alle anderen im Fitnessstudio.“

„Du läufst?“

„Wer? Ich?“ Erstaunt schaue ich mich um. Neben mir steht das Laufband, das wohl gerade frei geworden ist. „Ja, genau. Ich habe gewartet bis das, äh … Laufband frei wird. Voll heute.“ Mutig stelle ich mich auf die Tretmühle.

„Cool, habe ich dir gar nicht zugetraut.“

Die Blöße will ich mir jetzt nicht geben. Außerdem muss er nicht unbedingt checken, dass ich hier nur arbeite und nicht zum Vergnügen bin. Er scheint ja keine Geldsorgen zu kennen. Sein Auto mit dem Schwaben-Stern hat sicherlich Papi finanziert.

Ich streiche mir ein paar verirrte Strähnen aus dem Gesicht. Hier im Studio ist die Luft oft so trocken, dass sich meine Haare elektrisch aufladen und mir wirr um den Kopf schwirren. Mein Blick fällt auf das Display. Herrje, hierfür benötigt man ja ein technisches Studium! So viele Knöpfe und Einstellungen. Mehr aus Zufall finde ich den Einschaltknopf. Das Band fängt gleich an, zu rotieren. Schneller als erwartet. Durch den plötzlichen Ruck komme ich kurz ein wenig ins Straucheln, was ich aber gut überspielen kann. Instinktiv setze ich einen Fuß vor den anderen.

„Also dann …“, sage ich zu ihm als Zeichen, dass das Gespräch jetzt beendet ist. Lars bleibt aber unglücklicherweise neben mir stehen und schaut mir zu. Macht auch keine Anstalten, zu gehen. Ich hatte gedacht, er würde nur Höflichkeiten austauschen wollen und dann wieder verschwinden. Da habe ich mich wohl getäuscht. Apropos gehen. Je mehr ich auf dem Band laufe, umso schneller wird es. Inzwischen jogge ich, obwohl ich in meinem ganzen Leben noch nie gejoggt bin.

„Und du? Bist du nur zum Zuschauen hier?“, presse ich stoßweiße hervor. Die Puste geht mir langsam aus.

„Nein, ich wollte in den Indoor-Cycling-Kurs. Bin neu hier.“

Ach was!

„Der Kurs beginnt immer pünktlich. Darauf legt Joachim sehr viel wert. Raum fünf. Treppe hoch, dann links, dem Schweißgeruch hinterher.“

Ich habe das Gefühl, dass mir gleich die Lunge platzt. Inzwischen habe ich schon ein ordentliches Tempo drauf. Will der denn gar nicht gehen? Ich renne, was das Zeug hält. Darum halte ich mich krampfhaft am Griff fest.

„Na, dann will ich dich nicht länger stören. Du hast ja schon ein ordentliches Tempo drauf.“ Er gibt mir einen Klaps auf die Schulter. „Respekt!“

„Hannah?“, ruft Rudi. „Hannah!“

Ich kann Lars nur noch zunicken. Mir ist glühend heiß. Allerdings schwirren meine Haare nicht mehr. Die kleben mir nämlich jetzt klatschnass an Kopf fest.

„Es gibt doch nichts Schöneres als sich mal so richtig auszupowern, was?“

Ich lächele gequält. Meine volle Konzentration gilt dem Laufband, damit ich bloß nicht über meine eigenen Füße stolpere.

„Also, man sieht sich.“

Lars macht sich endlich auf den Weg zu seinem Kurs. Gott sei Dank, denke ich. Mein Problem mit dem Laufband ist aber noch nicht gelöst. Der Ausstellknopf ist in unerreichbarer Entfernung. Ich traue mich einfach nicht, die Hand vom Griff zu lösen. Das Band wird immer schneller. Plötzlich verlassen mich die Kräfte. Meine Beine knicken weg und sausen mit dem Band nach hinten weg.

Verzweifelt und mit letzter Kraft mache ich Vorwärtssprünge, um auf dem Band zu bleiben. Ich kann mich nicht mehr halten. Meine schwitzigen Hände rutschen vom Griff ab, mit denen ich jetzt panisch in der Luft rudere, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Irgendwann verliere ich auch diesen Kampf, der sich für mich wie eine Ewigkeit anfühlt, in Wirklichkeit aber nur Sekunden dauert.

Ich sause vom Laufband. Mit einem Angstschrei falle ich auf den Po, schlage einen filmreifen Purzelbaum rückwärts und komme auf dem Bauch zum Liegen. Meine Fußspitzen donnern in das Tablett mit den Gläsern, dass ich dort abgestellt habe. Es klirrt und scheppert gewaltig. Erschöpft bleibe ich auf dem müffelnden Teppich liegen.

„Hannah!“, ruft Rudi in der Ferne.

In meinen Ohren rauscht es, und mein Herz rast wie nach zwanzig Tassen Espresso. Bäuchlings bleibe ich erschöpft auf der blauen Auslegeware liegen. Mit letzter Anstrengung hebe ich den Kopf. Neben mir erblicke ich ein Paar weiße Turnschuhe.

„Hmmm?“ Ich blinzele nach oben.

Rudi steht neben mir mit Eimer und Wischmopp. „Was machst du denn da unten auf dem Fußboden?“

„Rudi, ich … ich liege einfach so hier rum. Der Teppich müsste übrigens dringend gesaugt werden“, versuche ich, zu scherzen. Ich habe zwar meine Würde verloren, aber meinen Humor offensichtlich nicht.

„Mensch, Hannah! Ausruhen kannst du dich zu Hause. Und wenn du schon Bodenexpertin bist – die Damendusche muss auch dringend gereinigt werden.“

Umständlich rappele ich mich auf.

Rudi drückt mir Eimer und Mopp in die Hände. „Und stell das Laufband aus, das irgendein Idiot angelassen hat.“

Hannah

Bevor ich mich der Gruppendusche mit vollem Einsatz widme, sammele ich die Glasscherben auf, die um das Tablett auf dem Teppich verstreut liegen. Scherben bringen ja bekanntlich Glück.

Von meinem Malheur hat anscheinend keiner so richtig etwas mitbekommen. Jedenfalls spricht mich niemand darauf an. Ich sehe auch keinen, der hinter vorgehaltener Hand etwas tuschelt oder mich komisch von der Seite ansieht. Was ich durchaus als positiv bewerte.

Herrje, war das peinlich! Aber so typisch für mich. Ich bin eine große Meisterin darin, mit solchen Aktionen unabsichtlich in den Mittelpunkt zu geraten.

Meine Beine fühlen sich wie Gummi an. Morgen werde ich mit Sicherheit einen ordentlichen Muskelkater haben plus einen blauen Fleck an meinen Rippen, den mir Nils heute Morgen verpasst hat.

Der Waschraum ist schnell wieder vorzeigbar. Dank der Musik, die durch die Lautsprecher in der Decke auf mich herabrieselt. Im Takt schwinge ich meinen Mopp von rechts nach links.

Ich schlappe in meinen Badelatschen pfeifend und gemächlich in Richtung Abstellkammer, um meine Putzutensilien zu verstauen. Gleich ist Feierabend.

Jonas steht hinter der Theke. Er halbiert Orangenscheiben für den letzten Saunagang, als ein Schrei aus seiner Richtung mich zusammenfahren lässt.

„Ahhhhhhh … verdammt, ich habe mich geschnitten!“ Jonas hält den Finger in die Höhe. „Ich blute!“

Eimer und Mopp lasse ich fallen und eile meinem Kollegen zu Hilfe. Ich mache mich auf das Schlimmste gefasst. Tatsächlich kann ich aber nur einen Tropfen Blut erkennen, den er sich aus der winzigen Wunde quetscht. Erleichtert atme ich auf.

„Ach, Jonas, so schlimm ist das gar nicht.“

„Doch!“, erwidert er wehleidig.

„Halte deinen Finger unter den Hahn und kühle ihn mit kaltem Wasser.“

Da er keine Anstalten macht, meiner Anweisung Folge zu leisten, nehme ich kurzentschlossen seine Hand und halte sie unter den Wasserstrahl.

„Mist …“

„Jonas, bitte! Es ist ein wirklich nicht schlimm.“

„Doch, es tut verflucht weh!“

„Es ist nur ein winziger Schnitt. Hier, sieh selber.“

„Nein, lieber nicht.“

„Trockne deinen Finger mit der Küchenrolle ab. Ich hole dir ein Pflaster.“

„Mir wird schlecht!“

„Ach, Quatsch! Doch nicht wegen so einem winzigen Schnitt.“ Ein klitzekleines Tröpfchen Blut sucht sich seinen Weg durch das Papier. Jonas wird blass um die Nase.

„Rudi!“, rufe ich in den Raum. „Ich brauche hier ganz dringend deine Hilfe!“

Da sackt Jonas auch schon zusammen. Gerade kann ich ihn noch halten, bevor er hart aufschlägt. Gemeinsam sinken wir zu Boden.

Dann steht Rudi neben mir. „Was ist denn hier los?“

„Jonas hat sich geschnitten. Nicht doll, aber er ist einfach in Ohnmacht gefallen.“

Rudi kniet sich neben mich. Er tätschelt ihm die Wangen, bis er wieder aufwacht. „Na, mein Junge? Ich glaube, du ruhst dich noch ein wenig aus.“ Er hebt Jonas auf, als wäre er leicht wie eine Feder, obwohl er ein breites Kreuz hat und mindestens 1,80 m groß ist. Rudi trägt ihn zu der Krankenliege im Büro. Über seine Schulter hinweg ruft er zu mir: „Kümmerst du dich um den Aufguss in der Sauna? Danach kannst du auch gern Feierabend machen.“

Feierabend! Das lasse ich mir nicht zweimal sagen. Schnell räume ich mein Putzzeug weg, das ich vorhin so unsanft fallengelassen habe.

Der letzte Aufguss ist immer sehr gut besucht. Zum Glück hat mir Jonas, unser Saunameister, gezeigt, wie man die Aufgusszeremonie korrekt durchführt. Einen Tag lang habe ich die richtige Handtuchwedel-Technik gelernt. Am Ende des Crashkurses war er zufrieden und ich erschöpft und klitschnass geschwitzt. Jetzt ist Premiere vor Publikum.

Mit dem Tablett Orangen und einem Holzbottich voll Wasser mache ich mich auf den Weg zur Sauna. Wäre doch gelacht, wenn ich die Nackedeis nicht zum Schwitzen bekommen würde.

Schon durch das kleine Fenster, das zum spärlich beleuchteten Raum führt, kann ich sehen, wie die Gäste dicht gedrängt, Pobacke an Pobacke, bis in die obere Reihe sitzen.

Bottich und Tablett stelle ich ab und öffne die Tür, um den Innenraum zu lüften. Heiße Luft schlägt mir entgegen.

Jetzt kommen die letzten Vorbereitungen. Jonas hat eine ganze Gefriertruhe voll Kunstschnee, daraus forme ich drei faustgroße Bälle, so wie er es mir gezeigt hat, lege sie in eine Holzschale und nehme die ätherischen Öle sowie das große Handtuch mit.

Nun habe ich alles beisammen. Jetzt ist Showtime. Ich gebe zu, ich bin sehr aufgeregt. Schließlich mache ich das zum ersten Mal. Mit klopfendem Herzen betrete ich die Sauna mit den Utensilien und schließe die Tür hinter mir. Nervös räuspere ich mich und hole tief Luft.

„Hallo, mein Name ist Hannah, und ich begrüße euch zu dem letzten Aufguss des heutigen Abends, den ich für euch mache. Es gibt insgesamt drei. Für die erste Runde habe ich euch Zitrone mitgebracht. Das Aroma ist frisch, fruchtig und wirkt desinfizierend. Für den zweiten Pfefferminze und zuletzt Kiefer. Beide Öle befreien die Atemwege. Wenn ihr euch nicht wohlfühlt, dürft ihr gern nach unten, sofern das möglich ist. Sollte es euch dennoch zu viel werden, könnt ihr die Sauna jederzeit verlassen. Ich wünsche euch gute Entspannung und ein angenehmes Schwitzen.“

Mit dem Schöpflöffel gieße ich zwei Kellen Wasser auf die Lavasteine, das sofort zischend verdampft. Die Lavasteine knacken. Ich beträufele die erste Schneekugel mit Zitronenöl und lege sie in die Glut. Danach gieße ich eine Kelle Wasser darüber und zerklopfe die Kugel. Langsam schmilzt das Eis. Der fruchtige, frische Duft der Zitrone entfaltet seine Wirkung. Ich falte mein Frotteehandtuch auf die halbe Größe, rolle es auf der einen Seite etwas ein und schwenke es mit Schwung nach hinten links, über den Kopf und dann nach vorn, ähnlich der Bewegung der Vorhand beim Tennis, und schlage die heiße Luft vom Ofen zu den Gästen. Ein Wohliges Ah und Oh kommt mir entgegen. Meine Augen haben sich inzwischen an das diffuse Licht gewöhnt. Mit einem Schlag wird mir heiß, und es liegt nicht an der steigenden Raumtemperatur.

Vor mir auf der untersten Stufe sitzt, natürlich splitterfasernackt, mein neuer Kollege und grinst wie ein Honigkuchenpferd. Den Impuls, ihn mit der Ecke des Handtuchs, selbstverständlich versehentlich, zu treffen, kann ich nur mit Mühe unterdrücken.

Muss das denn sein? Kann der mich nicht in Ruhe lassen? Der Kerl verfolgt mich schon den ganzen Tag! Kurz vor Feierabend muss ich ihn nun wirklich nicht auch noch hier in der Sauna sehen.

Oh. Mein. Gott!

Ich kann alles – aber auch wirklich alles – sehen, da er breitbeinig in einer typisch männlichen Pose vor mir sitzt. Sein Oberkörper mit seinen definierten Muskeln ist ja ein richtiger Hingucker. Und es scheint ihm überhaupt nicht peinlich zu sein, ganz im Gegensatz zu mir. Normalerweise macht es mir nichts aus, andere Menschen unbekleidet zu sehen, bei bekannten Gesichtern ist das jedoch etwas anderes. Es gibt eben Dinge, besonders von Kollegen und Eltern, die möchte man nicht sehen. Lars scheint das aber keineswegs etwas auszumachen. Anstatt sich anders hinzusetzen, bleibt er machomäßig so hocken und glotzt mich wie ein Mondkalb auf Ecstasy an.

Ich versuche, mich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Was mir schwerfällt. Seine dominante Nähe bringt mich aus dem Konzept. Als ob es nichts Besonderes wäre, reiche ich jedem das Tablett mit den Orangenstücken an. Für die obere Reihe muss ich mich ein bisschen recken. Die meisten machen Platz, damit ich das Brett bis in die hinterste Reihe reichen kann. Hier nimmt man Rücksicht auf den anderen und übt sich in Diskretion, damit man den schwitzenden Nebenmann nicht unnötig berührt. Bis auf Lars. Pietätlos stoßen seine Knie gegen die der Sitznachbarn rechts und links neben ihm.

Mir bleibt tatsächlich nichts anderes übrig, als zwischen seinen Beinen nah an ihn heranzutreten, damit die obere Bank in den Genuss der Orangenstücke kommt. Kurz bleibt mir die Luft weg, als ich versehentlich seinen Oberkörper berühre. Er fühlt sich, zu meinem Leidwesen, fürchterlich angenehm an. Mir schwirrt ein Schwarm Schmetterlinge durch den Bauch. Beinahe lasse ich das Tablett fallen.

Zum Glück fange ich mich schnell wieder und fahre mit meiner Arbeit fort. Ich konzentriere mich auf den nächsten Durchgang.

Die zweite Schneekugel mit dem Pfefferminzöl kommt in die Glut. Darüber leere ich wieder zwei Kellen Wasser, ehe ich sie zerklopfe. Der frische Minzduft beißt in den Atemwegen und befreit sie. Ich rolle das Handtuch auf und wirbele mit der Propellerbewegung die heiße Luft vom Ofen zu den Gästen. Der Schweiß fließt in Strömen, nicht nur bei mir.

Puh, Ah, Boa, geht es durch die Reihen. Um den Effekt vor dem letzten Durchgang zu erhöhen, reiche ich nun den Eimer mit den Eiswürfeln herum. Damit können sich die Saunierenden abreiben, um abzukühlen.

Und wieder ist es Lars, der keinen Platz macht, damit ich an die hintere Bank komme. Es bleibt mir also nichts anderes übrig, als mich abermals dicht vor ihn zu stellen.

Als die obere Reihe fertig ist, kann ich den schweren Bottich mit den Eiswürfeln nicht länger halten. Er gleitet mir durch die rutschigen Hände, aber ich fange ihn noch gerade so auf. Dabei ist der Eimer jedoch in eine bedenkliche Schräglage gekommen, und die Gravitation erledigt den Rest. Die gefrorenen Wasserwürfel prasseln auf Lars herab und landen auf seine Körpermitte.

„Ups!“, entfleucht es mir.

Wie von der Tarantel gestochen springt Lars mit einem überhaupt nicht männlichen Schrei auf. Plötzlich ist er hellwach.

„Bist du total bescheuert? Kannst du nicht aufpassen?“, schimpft er, und ich stehe da wie ein begossener Pudel. Meine Haare kleben mir am Kopf, genauso wie das Shirt am Körper. Ich bin so perplex, dass ich kein Wort der Entschuldigung hervorbringe. Röte schießt mir ins Gesicht, die man in diesem schemenhaften Dunkel zum Glück nicht sieht.

Hämisches Gelächter hinter vorgehaltener Hand entspannt die Lage, und Lars verlässt fluchend die Sauna. Leichte Schadenfreude breitet sich in mir aus. Es gibt also doch noch Gerechtigkeit! Nicht, dass ich jemandem oder ihm etwas Schlechtes wünsche. Doch das hat er irgendwie verdient.

Als er endlich draußen ist, beginne ich mit der letzten Runde. Am Ende bekomme ich Applaus. Diese Anerkennung habe ich zum Abschluss dieses schrecklichen Tages wirklich gebraucht.

Lars

„War das peinlich, Marek!“ Ich sitze auf dem Sofa. Meine linke Hand ruht auf meinen geschlossenen Augen. Die Mansardenwohnung liegt im vierten Stock und hat einen tollen Ausblick auf die Innenstadt. Das Grün der Bäume ragt zwischen den Dächern hervor. Es erweckt den Eindruck, man wohne hier eher im Wald als in einer Großstadt. Die Wohnung ist nicht groß, aber sie gehört mir. Jedenfalls solange ich die Miete zahle. Meinem Vater war es zwar nicht recht, als ich hier eingezogen bin, da er es lieber gesehen hätte, ich wäre bei ihm in der Villa wohnen geblieben, aber er hat mich nicht umstimmen können. Ich bin immer noch stolz auf mich, sein Angebot für das Loft, das er mir kaufen wollte, ausgeschlagen zu haben. Hier bin ich mein eigener Herr und stehe nicht mehr unter seiner Fuchtel. Es reicht schon, dass ich ihm in anderen Dingen ausgeliefert bin.

Das Gelächter von meinem kleinen Bruder dringt aus dem Handy direkt an mein Ohr.

„Ich habe mich total bloßgestellt!“

„Du meinst wohl eher entblößt“, prustet Marek.

„Ha-ha, sehr witzig. Ich habe mich absolut zum Honk gemacht. Was soll sie denn jetzt von mir denken?“

„Sicherlich nur Gutes. Und süße Träume wird sie bestimmt auch von dir haben. Hi-hi-hi.“ Marek scheint sich auf der anderen Seite der Leitung köstlich zu amüsieren. Es macht ihm Spaß, mich damit aufzuziehen. Mein Bruder hat manchmal einen sonnigen Humor.

„Hoffentlich denkt sie nicht, dass ich ein Exhibitionist bin.“

„Ach komm, du stellst dich doch sonst auch mal gern zur Schau.“

„Ja, aber doch nicht so! Und schon gar nicht vor neuen Kolleginnen.“

„… die bald deine Angestellten werden, vergiss das nicht.“

„Hör bloß auf! Daran will ich überhaupt nicht denken. Das war die blödeste Schnapsidee aller Zeiten!“

„Wie ist es denn so weit gekommen? Ich meine, in der Sauna. Musstest du nicht damit rechnen, ihr eventuell dort zu begegnen?“

„Weiß auch nicht. Irgendwie war ich nicht ich selbst. Womöglich eine Fehlschaltung in meinen Synapsen. Eigentlich wollte ich gerade den Schwitzkasten verlassen. Die Sanduhr war schon durchgelaufen, und ich saß bereits ganz unten auf der untersten Bank, weil ich längst überhitzt war, als die Tür zur Sauna zum Lüften aufgemacht wurde. Das war sehr angenehm. Also bin ich sitzengeblieben. Ich hatte gerade an sie gedacht, wie sie auf dem Laufband so ein Tempo hingelegt hatte. Das habe ich ihr gar nicht zugetraut. Da stand sie auch schon vor mir. Zuerst habe ich das gar nicht geschnallt. Ich war noch so mit meinem Tagtraum beschäftigt …“ Aus dem Nichts taucht ihr hübsches Gesicht vor mir auf. Diese atemberaubenden Augen und ihr Blick gnadenloser Intensität, für den sie eigentlich einen Waffenschein benötigen sollte. Mit einem Blauton, den ich noch nie gesehen habe. Dunkelblau, und um die Iris ein grünlicher Farbkranz. Ihre Seelenfenster sind klar und unergründlich wie ein Bergsee und trotzdem warm wie ein Kaminfeuer und können sogar Funken sprühen. Und ihre geschwungenen, vollen Lippen …

„Erde an Lars! Bist du noch da oder schon eingeschlafen? Was ist dann passiert?“, holt mich Marek auf den Boden der Tatsachen zurück.

„Ach, was weiß ich“, erwidere ich verärgert. „Ich war wie hypnotisiert. Bin erst zu mir gekommen, als sie den Kübel mit den Eiswürfeln über mir ausgekippt hat. Das hat sie sicherlich absichtlich gemacht. Das Biest!“

„Na, das nenne ich mal eiskalt abserviert, mein Lieber!“

„Dann habe ich Hannah auch noch beschimpft, weil ich mich so erschrocken hatte. Wie soll ich ihr morgen nur unter die Augen treten?“

„Jedenfalls nicht nackt.“

„Sehr witzig, Marek. Das ist keine Hilfe. Ich muss das irgendwie wiedergutmachen, wo doch schon der Anfang so unterkühlt war. Dabei wollte ich doch nur mit meinem Spruch heute Morgen das Eis brechen.“

„Das hat offensichtlich schon sie übernommen. Es lebe die Emanzipation! Dafür hast du sie mit nackten Tatsachen konfrontiert“, erwidert mein Bruder, und ich höre über das Telefon, dass er schmunzelt.

„Ich muss unbedingt bei ihr punkten, sonst wird die Zusammenarbeit mit ihr der reinste Spießrutenlauf!“

„Okay, ich habe eine Idee. Wir machen Folgendes …“

Hannah

Ich werde vom fröhlichen Geschepper der Mülltonnen geweckt. Mit einem Auge schiele ich auf den Wecker. Zehn vor sieben! Mit einem Ruck sitze ich senkrecht im Bett. Verschlafen, na super! Der Dienstag scheint da anzufangen, wo der Montag aufgehört hat.

Reflexartig springe ich aus dem Bett, und meine Füße landen auf meinem Flokatiteppich. Offensichtlich gefällt ihm das nicht, denn er versucht, mich abzuwerfen. Vor Schreck strauchele ich. Mit schmerzverzerrtem Gesicht komme ich zum Stehen. Der Muskelkater in den Oberschenkeln ist unbeschreiblich und zieht bis in die Pobacken. Dennoch husche ich so schnell wie möglich ins Bad und mache mich fertig. Frühstück muss heute ausfallen. Das kann ich gleich im Büro nachholen.

Paul und Gisbert bekommen noch frisches Wasser und ihr Futter. Streicheleinheiten müssen bis nachher warten.

Ein anderes unerwartetes Problem taucht auf. Was ziehe ich an? Die Frage hat sich mir sonst noch nie aufgedrängt. Ich durchforste meine Sachen und muss feststellen, dass ich nichts Vernünftiges zum Anziehen habe. Demnächst muss ich dringend shoppen gehen. Nach zu langem Hin und Her, was mir die Uhr bestätigt, entscheide ich mich für eine Jeans und eine geblümte, taillierte Bluse. Im Schlafzimmer sieht es aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen.

Der knappen Zeit wegen verzichte ich darauf, meine leichte Naturkrause mit dem Glätteisen aus den Haaren zu ziehen. Noch ein bisschen Lipgloss, und fertig. Im Vorbeigehen schlüpfe ich in meine Sneaker und schnappe mir Tasche, Jacke und Fahrradhelm. In großen Sätzen haste ich die Treppen nach unten. Das Fahrradschloss klemmt natürlich. Der Verkehr ist heute Morgen enorm. Überall Gehupe und Geklingel. Liegt wahrscheinlich daran, dass ich eine halbe Stunde später als sonst auf der Piste bin. Schüler kommen mir in Scharen aus allen Gassen in die Quere und verlangsamen meine Fahrt.

Extrem genervt komme ich beim Verlag an. Der Eingangsbereich bremst mich kurzfristig aus, bevor ich die Stufen zur zweiten Etage hochhaste. Als Warnung an alle, die das Foyer ahnungslos betreten, steht ein gelbes Warnschild mit einem schwarzen Strichmännchen, das hilflos die Arme in die Luft reißt und ausrutscht. Unsere Reinigungskraft pflegt den Marmorboden mit äußerster Hingabe und stundenlang mit Bohnerwachs. Bei Regenwetter ist der Eingangsbereich besonders unfallträchtig. Die Eintretenden fallen regelrecht wie die Kastanien beim ersten Herbststurm zu Boden.

Mit dem Glockenschlag um acht Uhr klickt die Stechuhr meine Karte ab. Geschafft! Später als sonst, aber nicht zu spät. Ich atme tief durch und gehe zu meinem Büro.

„Na, gerade noch geschafft?“, ruft Nils von seinem Platz aus quer durchs Büro.

Klar, muss ja auch jeder mitbekommen, dass man mal etwas später dran ist als sonst.

Er sitzt mit überkreuzten Beinen, die auf der Tischplatte liegen, weit nach hinten gelehnt in seinem Bürostuhl und pult sich den Dreck mit einer verbogenen Büroklammer unter den Nägeln weg. Hmm, lecker.

Ich zucke nur entschuldigend mit den Achseln. „Der Verkehr heute Morgen. Ging nicht schneller.“

„Ich war auch mal jung, hi-hi.“ Bei seinem dreckigen Lachen dreht sich mir der Margen um. Zum Glück ist er noch leer, sonst müsste ich mich jetzt übergeben. „Merk’ dir eins, Dickerchen. Wenn du schon auf deinem Freund rumhüpfst, mach schneller oder verschiebe es auf den Feierabend. Montags bis freitags von acht bis siebzehn Uhr gehört dein Arsch mir. So, und nun schieb’ deinen dicken Hintern hierher. Ich habe Einiges, was du bis zwölf Uhr erledigt haben musst – und zwar zack, zack. Deadline läuft. Ach ja, heute Mittag hätte ich gern was vom Chinesen.“

Ich verdrehe die Augen. Nils hat ja eine super Laune. Widerrede ist da zwecklos. Ich schnappe mir wortlos die Liste, die Nils mir mit einem schmierigen Grinsen entgegenhält.