Unersättlich - Hermann Mezger - E-Book

Unersättlich E-Book

Hermann Mezger

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Beschreibung

Zwei reiche Familien kämpfen in Portugal um die Vorherrschaft im Fischfang. Als es einen Toten gibt, wird Hauptkommissar Bramme gebeten, die Untersuchung des Falles kritisch zu überwachen. Bald stellt er fest, dass es nicht nur um den Fischfang geht. Ominöse Verbindungen nach Brasilien und plötzlicher Reichtum deuten auf den Drogen- und Mädchenhandel hin. Ein heruntergekommener Maler, der immer in der Nähe des Geschehens auftaucht, bereitet ihm ebenso Kopfzerbrechen wie der verschwundene Leiter des Zollamtes. Brammes gründliche Art findet wenig Gegenliebe. Mehrmals wird versucht, ihn umzubringen. Bei einem Ausflug wird sein Schiff von einem Hubschrauber angegriffen. Mit einer spektakulären Verzweiflungstat, die das Schiff an den Rand des Untergangs bringt, holt er den Hubschrauber vom Himmel. In bekannt souveräner Art löst Bramme diesen gefährlichen und verzwickten Fall.

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Seitenzahl: 173

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Impressum

Unersättlich

Hermann Mezger

Copyright: © 2014Hermann Mezger

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

ISBN 978-3-7375-8621-4

Der Roman einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung des Verfassers unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in elektronische Systeme.Die Handlung dieses Romans ist frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Ereignissen, Personen, lebend oder verstorben, Firmen und Institutionen wäre rein zufällig.

Titelbild: hank-mediengestaltung.de unter Verwendung folgender Fotos:

Igor Chaikovskiy (Fotolia), PHB.cz (Fotolia), l-jacky (123rf)

1. Kapitel

Berühmt werden wollte Hauptkommissar Holger Bramme schon immer. Jetzt, da er es war, gäbe er viel darum, wenn er diese Bürde wieder loswerden könnte. Von Publicity hielt er gar nichts; das war wirklich das Letzte, was er brauchen konnte. Er hatte es nicht gern, wenn ihm der Ruf eines gnadenlosen Kriminalisten vorauseilt und das nicht nur, weil es die Ermittlungen noch komplizierter machte, als sie ohnehin schon waren. Neugierige konnte er nicht ausstehen, und Fragen, weshalb er so erfolgreich war, gingen ihm auf die Nerven. In Wahrheit war er nur überaus gründlich, und ohne rot zu werden gab er offen zu, dass er auch immer viel Glück gehabt hatte. Und dann der Neid! Sicher: Er hatte viel gesehen von der Welt, aber während er in Zentralasien und Südamerika riesige Drogenkartelle zur Strecke brachte, riskierte er auch mehr als einmal sein Leben. Nicht umsonst waren ihm die höchsten Orden, die Russland und die Vereinigten Staaten von Amerika zu vergeben haben, an die Brust geheftet worden.

Daheim in Kiel machte ihm sein Kollege Petersen unterdessen den Platz streitig. So kam ihm der Auftrag, in Setubal einmal nach dem Rechten zu sehen und bei einem Mordfall die Augen offen zu halten, wie gerufen. Wenn man so wie er in der weiten Welt herumstreunte, taugte man für die Schreibtischarbeit ohnehin nicht mehr viel. Die Freude, dass er wieder mal dem lästigen Papierkrieg und dem miesen Wetter in Deutschland entkommen konnte, zauberte ein spitzbübisches Lächeln auf sein Gesicht. Wenn er jetzt so darüber nachdachte, von muntermachenden Sonnenstrahlen beschienen, die durch das Flugzeugfenster auf seine Haut fielen, missgönnte er seinem Kollegen Petersen ganz und gar nicht das große Büro, die anfallenden, aber wenig anspruchsvollen Aufgaben und nicht zuletzt die schnell ansteigende Pulsfrequenz ihres Vorgesetzten Kriminalrat Behrendtsen. Petersen hatte dies nun alles für sich ganz allein.

Das aufregende, unbeständige und gefährliche Leben, das Bramme führte, war nicht jedermanns Sache, für ihn aber genau das Richtige. Er fühlte sich für diesen Job berufen. Geld war ganz bestimmt nicht der Grund, weshalb er sich von einem Abenteuer in das andere stürzte. Das Beamtengehalt war ohnehin nicht dazu geeignet, zu Höchstleistungen anzuspornen. Nein, ein Leben ohne Kitzel war für ihn einfach unvorstellbar. Mit seinen gut vierzig Jahren war er zwar kein junger Spund mehr, aber das Feuer, das er bei jedem neuen Fall in sich spürte, hatte mit dem Alter nichts zu tun. Dieses Feuer führte dazu, dass Bramme noch für sehr lange Zeit nicht ablehnen würde, wenn eine neue Herausforderung wie diese vor der Tür stand. Er war bekannt dafür, dass er nicht aufgab, bis alle Rätsel gelöst und alle Schuldigen gefunden waren.

Das Lächeln auf seinen Lippen wurde deutlicher, als er an die guten Freunde dachte, die er in den letzten Jahren kennen gelernt und mit denen er so viel erlebt hatte. Bei dem Gedanken an die vielen Abenteuer, die hinter ihm lagen, gespickt mit Bomben, explodierenden Jachten, nervenzehrenden Wanderungen durch Wüsten, Berge und Urwälder, halsbrecherischen Fluchten und der Erkundung völlig unbekannter Länder, kribbelten seine Finger vor gespannter Erwartung auf das, was ihm wohl dieses Mal bevorstand. Meist entpuppte sich ein harmlos aussehender Fall, und dies war wieder mal so einer, als äußerst riskant und gefährlich. Ein flaues Gefühl stellte sich in seiner Magengegend ein. Doch das kannte er bereits. Respekt vor der Gefahr war gesund. Das hatte ihn in den letzten Jahren am Leben gehalten.

In diesem Moment legte sich eine schmale, warme Hand auf seine Schulter und als er aufblickte, sah Bramme eine hübsche, brünette Stewardess neben sich stehen.

„Senhor? Wir werden gleich zur Landung ansetzen, bitte schnallen Sie sich an“, bat sie und sah ihn dabei mit einem Lächeln an, wie man es heutzutage von jedem Werbeplakat der Welt herunterlächeln sah. Bramme kannte dieses halbgefrorene Lächeln nur zu gut. Es erinnerte ihn daran, wie wichtig es war, sich in der reizüberfluteten Welt von heute seine Individualität zu bewahren.

„In Ordnung!“, sagte er seinerseits, förderte sein charmantestes Lächeln zu Tage und beobachtete amüsiert, wie die junge Frau sich mit einem koketten Hüftschwung auf den Weg Richtung Cockpit machte.

Neugierig und gutgelaunt wandte sich Bramme dem Fenster zu und entdeckte unter sich die roten, sonnengetränkten Dächer der Vororte Lissabons, hier und da blau gesprenkelt mit Outdoor-Pools und dem satten Grün vereinzelter Palmen. Unten kam die Costa Azul in ihrer ganzen, beeindruckenden Schönheit ins Blickfeld. Sein Herz pochte schneller, als er die vielen kleinen Segelboote und die großen Motorjachten sah, die entlang der mondänen Badeorte zu erkennen waren. Segeln war eines der Dinge, für die sein Herz auf immer schlagen würde. Je mehr sich das Flugzeug der Stadt näherte, desto mehr Hochhäuser türmten sich unter ihm auf, und je mehr Details er von dem quirligen Leben da unten ausmachen konnte, desto mehr stieg die Vorfreude in ihm hoch. Als die Stewardess ein weiteres Mal auf ihn zukam, schloss er schnell den Sicherheitsgurt und warf ihr einen unschuldigen Blick zu, den sie mit einem weiteren nichtssagenden Lächeln beantwortete. Behaglich räkelte er sich in seinem Sitz und schaute wieder zum Fenster hinaus. Irgendwie hatte er das vage Gefühl, nichts in der Vergangenheit würde das toppen  können, was nun vor ihm lag.

2. Kapitel

Eine große Reisetasche in der Hand und den Trenchcoat lässig über die Schulter geworfen, betrat Bramme die Ankunftshalle. Die verglasten Gänge wirkten sauber und modern, und im Vorbeigehen blieb er kurz stehen, um im Spiegelbild seinen Kragen zu richten. Er trug ein weißes Leinenhemd, dessen Ärmel hochgekrempelt und dessen obere Knöpfe geöffnet waren und das er ungezwungen in seine cremefarbene Hose gesteckt hatte. Das Blond seiner Haare schimmerte leicht bronzefarben im diesigen Licht, das durch die oberen Fenster fiel, und durch das getönte Orange der Sonnenbrille auf seiner Nase konnte man gerade noch ein Paar meerblaue Augen funkeln sehen.

Zufrieden wandte er sich ab und ließ seinen Blick suchend über die vielen Wartenden schweifen, die mit Schildern und Zetteln ausgerüstet dastanden, um Passagiere in Empfang zu nehmen. Comissario Vilar jedoch, der sich ihm mit einem Prospekt in der Hand zu erkennen geben sollte, war nirgends zu entdecken. Bramme runzelte leicht die Stirn, doch gleich darauf verwandelte sich sein Unmut in ein mattes, nostalgisches Lächeln: Das fing doch gut an! Ganz so, wie er es kannte.

Während Bramme noch da stand und ein zweites Mal die Gesichter der Menschen durchforstete, wurde er von den anderen Passagieren einfach weitergeschoben. Sich in der Menge treiben lassend, richtete er den Blick zur Decke und erfreute sich des strahlend blauen Himmels. Plötzlich tauchte neben ihm ein gut genährter, junger Mann  mit pechschwarzen Haaren auf und legte ihm die Hand auf die Schulter

„Willkommen in Portugal, Senhor Bramme. Mein Name ist Vilar. Pedro Vilar!“

Sie schüttelten sich lächelnd die Hände, und Bramme fielen die strahlend weißen Zähne des jungen Mannes auf. Vilar trug Jeans, ein offenes Hemd wie Bramme und ausgetretene Sneakers. Er schien etwas übereifrig, aber auf angenehme Weise motiviert zu sein.

„Hatten Sie einen guten Flug?“

„Danke! Ich habe das Schmuddelwetter bei uns zu Hause gegen die Sonne Portugals eingetauscht. Mehr kann man von einem Flug nicht erwarten.“

Vilars Blick musterte ihn von oben bis unten, als suche er etwas. Schließlich hob er fragend die Augenbrauen.

„Ist das etwa Ihr ganzes Gepäck?“, fragte er mit einer Geste in Richtung der Reisetasche und machte dabei ein Gesicht, als wüsste er nicht, ob er besorgt oder amüsiert sein sollte. Bramme jedoch zuckte nur die Achseln und schob die Sonnenbrille ein Stück die Nase hoch.

„Ja! Für ein paar Tage im sonnigen Portugal reicht es. Regenschirm und Windjacke brauche ich hier ja nicht“, sagte er zufrieden.

Vilar nahm ihm grinsend die Tasche ab und drängte ihn mit sanfter Gewalt  zum Ausgang.

„Ein paar Tage. So, so!“

Der junge Mann lächelte verschmitzt.

„Sie glauben also, dass Sie den Mordfall in ein paar Tagen gelöst haben?“

Inzwischen traten sie ins Freie. Bramme blieb abrupt stehen. Zwischen seinen Augenbrauen bildeten sich zwei kleine, senkrechte Falten, die sein Kollege Petersen sofort als Alarmzeichen gewertet hätte.

„Moment mal! Damit wir uns recht verstehen: Ich habe hier keinen Fall zu lösen. Wie heißt der Ermordete noch mal?“

„Miguel Mora.“

„Die Aufklärung des Mordes an diesem Miguel Mora ist allein Ihre Sache. Meine Aufgabe ist es lediglich, darauf zu achten, dass bei den Untersuchungen nichts unter den Teppich gekehrt wird!“

Ein kurzes Schweigen trat ein. Comissario Vilar stand da wie ein begossener Pudel und ließ die Schultern hängen. Zu allem Unglück huschte in diesem Moment auch noch eine schwarze Katze über den Bürgersteig und verschwand hinter einem Container.

„Mein Fall ist es auch nicht“, gab Vilar schließlich achselzuckend zu verstehen, „die Untersuchungen vor Ort führt mein Kollege Henrique Caldelas. Ich bin nur hier, um Ihnen den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen.“

„Das kann ja heiter werden!“, murmelte Bramme vor sich hin, doch die  Sonnenstrahlen, die ihn vor einer knappen Stunde im Flugzeug begrüßt hatten, ergossen sich nun herrlich einladend und ungefiltert über sein Gesicht, und er nahm die Brille ab, um die Nase in den Himmel zu strecken. Nach den vergangenen Tagen im vergleichsweise frostigen Deutschland erschien ihm Portugal wie das Paradies auf Erden, und die Sonne hatte nun mal die gute Eigenschaft, Probleme kleiner erscheinen zu lassen und die positiven Dinge ins rechte Licht zu rücken.

Vilar hielt es offensichtlich für klug, das Thema nicht weiter zu vertiefen, und nachdem er Bramme geduldig beim Tanken von Vitamin D zugesehen hatte, lächelte er.

„Darf ich Sie zu einem Imbiss, oder einem Drink einladen?“

„Nein, danke“, Bramme setzte die Sonnenbrille wieder auf und folgte Vilar, „wie weit ist es denn bis Setubal?“

„Ach, das ist nur ein Katzensprung. Setubal ist berühmt für seine Austern. Wenn ich nur daran denke, läuft mir schon das Wasser im Munde zusammen!“ Sich die Lippen leckend und scherzhaft den Bauch reibend verdrehte er genießerisch die Augen.

„Wo wohne ich überhaupt?“, wollte Bramme wissen.

„Wir haben Sie in einem kleinen schnuckeligen Hotel untergebracht. Sie werden begeistert sein!“

Er winkte ein herannahendes Taxi herbei, und als er Brammes fragenden Blick sah, beeilte er sich, seinen Gast aufzuklären.

„In Setubal steht natürlich ein Wagen für uns bereit.“

Der Taxifahrer hielt von Geschwindigkeitsbeschränkungen gar nichts und bretterte auf der Überholspur erst durch die Stadt und dann über den siebzehn Kilometer lange Ponte Vasco da Gama, ein beeindruckendes Meisterwerk der Brückenbaukunst. Am Ende der Brücke fuhren sie auf eine Raststätte zu.

„Haben Sie wirklich keinen Hunger, Senhor Bramme?“

„Nein. Erst die Arbeit und dann das Vergnügen. Jetzt fahren wir erst mal zu Ihrem Kollegen Caldelas und holen uns die Ermittlungsakte und den Wagen.“ „Mir knurrt aber schon der Magen!“

„Hunger fördert die Kreativität“, gab Bramme ironisch zurück und nahm die Sonnenbrille ab.

Vilar spielte den Beleidigten, doch Bramme tat so, als bemerke er das nicht.

„Was wissen Sie denn über den Fall?“

„Ich weiß auch nur das, was in den Zeitungen steht.“

„Und was steht da drin?“

„Dass sich zwei einflussreiche Familien, die Moras und die Delgados, in der Wolle haben. Der älteste Sohn der Moras ist erschossen worden, und sein Vater beschuldigt nun die Delgados.“

„Hat er Beweise?“

„Keine Ahnung! – Das ist aber nicht der einzige Fall, der uns derzeit zu schaffen macht.“

„So?“

„Der Leiter des hiesigen Zollamtes, Jorge Tavira, ist seit ein paar Tagen spurlos verschwunden.“

„Das geht mich nichts an. Damit sollen sich Ihre Kollegen herumschlagen.“

Damit ein für alle Mal klar war, dass er mit dem zweiten Fall nichts zu tun haben wollte, schaute Bramme demonstrativ zum Fenster hinaus.

Vor Setubal wurde der Verkehr dichter und kam des Öfteren ins Stocken. Motorroller drängelten sich durch die Autoschlangen und ernteten hupenden Protest dafür. Bramme begann, diese lebendige Stadt zu mögen.

3.Kapitel

Das Polizeirevier in Setubal lag direkt an der Avenida Luisa Todi. Es war weiß gestrichen, um der ungnädigen Sonneneinstrahlung etwas Einhalt zu gebieten. Da die Platzverhältnisse dort sehr beengt waren, hatte  Comissario Henrique Caldelas, angeblich auf Drängen des Ministeriums, für den Sonderermittler aus Deutschland ein Büro im benachbarten Comando Distribal eingerichtet. Dieses hellgelb gestrichene Gebäude war von einem hohen Staketenzaun abgeschirmt, dahinter lag ein großer Parkplatz. Es machte einen vertrauenerweckenden Eindruck.

Als Bramme das Gebäude betrat, spürte er sogleich eine angenehme Kühle. Schon auf den paar Schritten vom Taxi bis zum Eingang hatte ihm die Sonne ordentlich eingeheizt.

Vilar öffnete ihm die Tür zu Caldelas` Büro, und Bramme trat ein. Der Comissario war ein Mann in den besten Jahren, kleinwüchsig, quirlig, mit pomadisierten schwarzen Haaren und einem unübersehbaren Schnauzbart. Er ließ seine beiden Gäste auf der Stelle spüren, dass sie nicht willkommen waren. Besonders Bramme beäugte er wie einen abgebrühten Schurken, der zu allem fähig war. Entsprechend kühl fiel die Begrüßung aus. Bramme machte sich gar nicht erst die Mühe,  Caldelas die Hand zu geben. Die Atmosphäre gefror zu Eis.

„Mein Name ist Holger Bramme, ich bin von Ihrem Justizministerium beauftragt worden, den Mordfall Mora zu untersuchen. Bitte geben Sie mir die entsprechenden Ermittlungsakten.“

Caldelas blickte Bramme scharf an, lehnte sich zurück und faltete unbeeindruckt die Hände über dem Bauch.

„Da könnte ja jeder kommen! Die Akten bleiben hier!“

In Bramme stieg die Wut hoch. Was wollte der Giftzwerg mit seinem Verhalten erreichen? Wollte er Macht, die er in Wirklichkeit gar nicht besaß, demonstrieren oder hatte er gar etwas zu verbergen?

„Erstens bin ich nicht zu meinem Vergnügen hier, und zweitens bin ich nicht jeder.“

Bramme zog ein Papier aus der Brusttasche, entfaltete es und reichte es Caldelas.

„Wenn Sie mit mir nicht zusammenarbeiten wollen, dürfen Sie das nur sagen. Ein Anruf von mir genügt, und Sie sind Ihren Job los.“

Stille trat ein und man konnte förmlich das Knistern hören, das in der Luft lag. Der Comissario überflog das Schreiben mit dem ihm wohlbekannten Briefkopf; er wirkte verunsichert, aber schließlich kippte die Stimmung. Bramme hatte gewonnen.

Caldelas öffnete wortlos die Schublade seines Schreibtisches, holte eine Akte heraus und ließ sie betont widerwillig vor sich auf den Tisch fallen.

„Bitteschön!“

„Danke!“, bemerkte Bramme übertrieben freundlich, griff nach der Akte, setzte sich ungefragt an einen kleinen Tisch und begann, darin zu blättern.

Ganz oben auf waren Fotos abgeheftet, die den Ermordeten zeigten. Bramme hatte schon viele Tote gesehen und er war einiges in dieser Hinsicht gewohnt. Aber immer, wenn der Tod einen Menschen in der Blüte seiner Jahre gewaltsam an sich riss, wurde er sentimental.

„Blattschuss!“, murmelte Bramme vor sich hin, während Vilar und Caldelas zum Schweigen verurteilt waren. „Mitten ins Herz! Saubere Arbeit.“

Auf den folgenden Seiten fand er nur noch die Protokolle der Spurensicherung, dahinter einige nichtssagende Zeugenaussagen. Wie bei dem unbefriedigenden Ende eines Romans drehte er das letzte Blatt in der Akte mehrfach um. Er wollte sicher gehen, dass er nichts übersehen hatte. Mit erhobenen Augenbrauen sah er zu Caldelas auf.

„Wo ist denn der Obduktionsbericht?“

„Obduktionsbericht? Wozu das denn? Der Mann ist mit einer Kugel hingerichtet worden. Das sieht doch jedes Kind“, erwiderte der Comissario, und machte dabei den Eindruck eines auf frischer Tat ertappten Diebes.

„Sie wissen doch genau so gut wie ich, dass jeder Ermordete in die Gerichtsmedizin muss!“

„Dazu ist es zu spät“, sagte Caldelas kleinlaut.

„Zu spät?“, mischte sich da Vilar ein, „heißt das, der Tote ist schon beigesetzt worden?“

„Es war der ausdrückliche Wunsch der Familie Mora, den Toten umgehend zu beerdigen.“

„Kein Mensch kann sich über die bestehenden Gesetze hinwegsetzen, auch die Familie Mora nicht!“ Bramme zwang sich ruhig zu bleiben. „Veranlassen Sie, dass der Tote sofort wieder ausgegraben wird!“ Er klatschte die Akte zu und unterstrich damit, dass seine Forderung unwiderruflich war. Im Augenwinkel sah er, wie Caldelas der Schweiß auf die Stirn trat.

„Muss das sein?“, fragte dieser nervös.

„Das muss sein! Und zwar sofort! Sorgen Sie dafür, dass die Leiche nicht hier untersucht wird, sondern in Lissabon!“

Vilar holte sein Handy aus der Tasche. „Ich werde sogleich das Nötige veranlassen!“

Bramme griff nach seinem Trenchcoat, klemmte sich die Akte unter den Arm und schickte sich an, zu gehen. Caldelas hörte zähneknirschend zu, wie Vilar mit der Staatsanwaltschaft telefonierte. Als Bramme noch einmal innehielt und sich nach Caldelas umdrehte, hätte dieser sich am liebsten in Luft aufgelöst.

„Gibt es auch eine Akte über den verschwundenen Zöllner?“

„Sicher!“, entgegnete Caldelas, einem Nervenzusammenbruch nahe, „möchten Sie die auch haben?“

„Ich möchte nur mal einen Blick hineinwerfen.“

4. Kapitel

Vor dem Abendessen hatte Bramme das Bedürfnis nach etwas Bewegung. Nachdem er sein Zimmer bezogen hatte und sein bisschen Gepäck losgeworden war, machte er einen Spaziergang durch den Garten des Hotels. Das prachtvolle Renaissancegebäude türmte sich elegant in den purpurnen Abendhimmel; von der See her wehte eine angenehme Brise. Zufrieden schlenderte er einen Kiesweg entlang, wandelte unter Palmen an den in allen Farben leuchtenden Bougainvilleas vorbei, hörte dem aufgeregten Gezwitscher der Vögel zu und schaute interessiert einer Smaragdeidechse nach, die vor ihm über den Weg huschte und in einer Mauerritze verschwand. Er genoss dieses paradiesische Flair in vollen Zügen.

Auch wenn er seine Arbeit liebte, so waren ihm diese Momente äußerst wichtig. Sie bildeten den nötigen Ausgleich, damit man in der ständigen Hektik und Anspannung nicht den Kopf verlor. Zu seinem großen Glück war ihm bisher Leid erspart geblieben. Er wusste nicht, wie es sich anfühlte, wenn man einen guten Freund oder einen nahen Verwandten verlor.

Während er so durch den Garten schlenderte und mit den Fingern gedankenverloren über die raue, faserige Oberfläche einer Palme strich, musste er an die Familie Mora denken und an die Schmerzen, die er ihr durch die Exhumierung ihres Sohnes zufügen würde. Sicher, es war überhaupt nicht geklärt, unter welchen Umständen und aus welchen Motiven der Mord an Miguel Mora begangen worden war. Doch Mord war Mord, und ein getöteter Mensch und die, die um ihn trauerten, verdienten Respekt. Dieser Respekt konnte aber nicht so weit gehen, dass man bestehende Gesetze missachtete.

Gerade beugte er sich über die hellgelbe Blüte einer ihm unbekannten Blume, als Vilars Stimme ertönte und ihn zusammenfahren ließ.

„Na, habe ich Ihnen zu viel versprochen?“

Bramme richtete sich auf und lächelte Vilar an, der ihm entgegenkam.

„Keineswegs, hier kann man es aushalten!“

„Ist alles in Ordnung?“, fragte Vilar besorgt, der offensichtlich Brammes nachdenkliche Miene bemerkt hatte, doch dessen  Lächeln wurde breiter.

„Wollen wir essen gehen?“

Vilars Gesicht hellte sich sofort auf.

„Nichts lieber als das!“

Sie schlenderten langsam zum Hotel zurück und nahmen auf der Terrasse Platz. Von hier aus konnten sie nicht nur den schönen Garten bewundern, sondern auch den golden und purpurrot schimmernden Sonnenuntergang.

Ein Ober brachte die Speisekarten, und Vilar bestellte ungefragt zwei Porto seco.

„Was können Sie mir denn empfehlen?“, fragte Bramme, der mit der Speisekarte nicht zurechtkam.

„Also ich bestelle Segredo de Maria. Das ist ein Mus aus Muscheln mit Reis.“

„Oh, nein danke!“, entgegnete Bramme, der nach etwas suchte, was ihm wenigstens halbwegs bekannt vorkam. Nur allzu gut erinnerte er sich noch an das Hammelauge, das er in Zentralasien hatte verdrücken müssen. „Wie wäre es denn mit sechs Austern als Vorspeise und danach ein Seezungenfilet?“

„Das ist eine sehr gute Wahl! Die Austern nehme ich auch.“

Der Ober brachte die Aperitifs, und Vilar gab die Bestellung auf.

„Ich habe eine Flasche Weißwein für uns bestellt. Das ist Ihnen doch recht?“

„Mehr als recht! Die haben wir uns heute redlich verdient, und wir müssen ja auch noch auf eine gute Zusammenarbeit anstoßen.“

Grinsend prosteten sie einander zu, und als Bramme die ersten Tropfen des porto seco auf seiner Zunge spürte, waren alle Anstrengungen des Tages schlagartig verschwunden.

„Apropos verdient“, nahm Vilar den Faden wieder auf, „der Staatsanwalt wollte sich zwar mit der Genehmigung der Exhumierung etwas zieren, aber allein die Erwähnung des Justizministers hat genügt, um ihn zur Vernunft zu bringen. Der Obduktion steht also nichts mehr im Wege.“

„Unser Kollege Caldelas wird das nicht gerne hören. Der Mann gefällt mir nicht!“

„Zugegeben: Er war nicht besonders kooperativ, und sein Verhalten war ausgesprochen unfreundlich, aber Sie müssen ihn auch verstehen: Er war hier jahrelang der unumstrittene Chef, und plötzlich wird ihm einer vor die Nase gesetzt. Und dazu noch ein Ausländer!“

„Sie mögen ja recht haben, doch ich bleibe dabei: Mit dem Mann stimmt etwas nicht!“

In diesem Moment kam der Ober zurück und stellte eine große Schale mit Austern, Brot und halbierten Zitronen auf den Tisch. Allein der Anblick ließ Bramme das Wasser im Mund zusammenlaufen. Nachdem Vilar noch den Wein gekostet und ihnen der Ober „Bom apetite!“ gewünscht hatte, zog sich dieser mit einer leichten Verbeugung zurück.