Ungeduld des Herzens. Roman - Stefan Zweig - E-Book

Ungeduld des Herzens. Roman E-Book

Zweig Stefan

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Beschreibung

In "Ungeduld des Herzens" entführt Stefan Zweig den Leser in eine komplexe Gefühlswelt, in der Liebe, Mangel an Selbstwertgefühl und die Unmöglichkeit menschlicher Beziehungen thematisiert werden. Der Roman spielt in der österreichischen Gesellschaft der frühen 20er Jahre und zeichnet sich durch Zweigs feinsinnigen, psychologischen Stil aus. Die Protagonistin, die von einer tiefen inneren Zerrissenheit geprägt ist, wird mit ihrer eigenen Ungeduld und der Unfähigkeit, ihr Herz zu öffnen, konfrontiert. Durch die kunstvolle Verwebung von Emotionen und psychologischer Analyse bietet der Roman einen tiefen Einblick in die menschliche Psyche und deren Widersprüche. Stefan Zweig, ein prominenter österreichischer Schriftsteller und Intellektueller, war bekannt für seine tiefen Einblicke in die menschliche Natur und seine Empathie für die zwischenmenschlichen Konflikte seiner Zeit. Zweigs eigene Erlebnisse als Exilant und seine Erfahrungen im Ersten Weltkrieg prägten seinen Blick auf die Fragilität des Lebens und der Beziehungen. Diese Einflüsse spiegeln sich unmittelbar in der emotionalen Tiefe und Komplexität seiner Charaktere wider. "Ungeduld des Herzens" ist eine Einladung, sich mit den Facetten der menschlichen Emotionen auseinanderzusetzen. Leser, die an psychologischer Literatur und der Untersuchung der menschlichen Beziehungen interessiert sind, finden in diesem Roman einen wertvollen Beitrag. Zweigs meisterhafte Erzählkunst und seine Fähigkeit, die Seele der Menschen zu ergründen, machen dieses Werk zu einer zeitlosen Lektüre. In dieser bereicherten Ausgabe haben wir mit großer Sorgfalt zusätzlichen Mehrwert für Ihr Leseerlebnis geschaffen: - Eine prägnante Einführung verortet die zeitlose Anziehungskraft und Themen des Werkes. - Die Synopsis skizziert die Haupthandlung und hebt wichtige Entwicklungen hervor, ohne entscheidende Wendungen zu verraten. - Ein ausführlicher historischer Kontext versetzt Sie in die Ereignisse und Einflüsse der Epoche, die das Schreiben geprägt haben. - Eine Autorenbiografie beleuchtet wichtige Stationen im Leben des Autors und vermittelt die persönlichen Einsichten hinter dem Text. - Eine gründliche Analyse seziert Symbole, Motive und Charakterentwicklungen, um tiefere Bedeutungen offenzulegen. - Reflexionsfragen laden Sie dazu ein, sich persönlich mit den Botschaften des Werkes auseinanderzusetzen und sie mit dem modernen Leben in Verbindung zu bringen. - Sorgfältig ausgewählte unvergessliche Zitate heben Momente literarischer Brillanz hervor. - Interaktive Fußnoten erklären ungewöhnliche Referenzen, historische Anspielungen und veraltete Ausdrücke für eine mühelose, besser informierte Lektüre.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Zweig Stefan

Ungeduld des Herzens. Roman

Bereicherte Ausgabe. Der einzige beendete Roman des Autors Stefan Zweig
In dieser bereicherten Ausgabe haben wir mit großer Sorgfalt zusätzlichen Mehrwert für Ihr Leseerlebnis geschaffen
Bearbeitet und veröffentlicht von Good Press, 2023
EAN 8596547690573

Inhaltsverzeichnis

Einführung
Synopsis
Historischer Kontext
Autorenbiografie
Ungeduld des Herzens. Roman
Analyse
Reflexion
Unvergessliche Zitate
Notizen

Einführung

Inhaltsverzeichnis

Im Zentrum dieses Romans steht die gefährliche Verwechslung von Mitgefühl und Mitleid: jenes süße, selbstbestätigende Gefühl, das vorgibt, gut zu handeln, während es andere an uns bindet und uns selbst die Freiheit nimmt, wirklich zu verstehen, wofür wir verantwortlich sind, weil wir statt klarer Entscheidung die Wärme moralischer Selbstberuhigung suchen und dabei eine Kette von Erwartungen, Missverständnissen und sozialen Zwängen auslösen, die den Einzelnen ebenso unbarmherzig umklammert wie eine ganze Gesellschaft, die ihre sensibelsten Konflikte lieber durch Etikette und Rücksicht überdeckt, als sie mit aufrichtiger Sprache und praktischer Hilfe zu durchdringen.

Ungeduld des Herzens (1939) ist der einzige zu Lebzeiten veröffentlichte vollendete Roman des österreichischen Autors Stefan Zweig. Entstanden im Exil, kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, blickt das Buch zurück in die untergehende Welt der k.u.k. Monarchie. Zweig, berühmt für psychologische Novellen, wendet hier seine analytische Kunst auf eine große, zusammenhängende Erzählung an: eine Untersuchung der moralischen Verstrickung, die entsteht, wenn Gefühle, gesellschaftliche Normen und verletzte Eitelkeiten kollidieren. Die historische Distanz dient nicht nostalgischer Verklärung, sondern schärft den Blick für die Mechanik der Selbsttäuschung, für die Macht sozialer Rituale und für die Verantwortung, die aus Nähe und Zuwendung erwächst.

Im Fokus steht der junge Leutnant Anton Hofmiller, stationiert in einer Provinzgarnison der Vorkriegszeit. Eine unbedachte Geste auf einem Fest – die höfliche Aufforderung zum Tanz – bringt ihn in peinliche Verlegenheit, als er erkennt, dass die junge Dame, an die sie gerichtet ist, körperlich beeinträchtigt ist. Aus Scham und dem Wunsch, sein Missgeschick wiedergutzumachen, sucht er die Nähe der Familie und gerät in einen Kreislauf aus Besuchen, Rücksichten und Erwartungen. Was als höfliche Wiedergutmachung beginnt, weitet sich zu einer Prüfung seiner Wahrhaftigkeit und seines Pflichtgefühls, verstärkt durch Standesregeln, medizinische Hoffnungen und die Dynamik einer eng vernetzten Gesellschaft.

Zweig untersucht die feinen Übergänge zwischen Empathie und Selbstgefälligkeit, zwischen Hilfsbereitschaft und heimlichem Eigeninteresse. Wie weit reicht moralische Verantwortung, wenn Zuwendung die Freiheit des anderen berührt? Welche Rolle spielen Scham, Eitelkeit und Angst vor öffentlicher Meinung? Der Roman öffnet diese Fragen in konkreten Situationen: in Blicken und Gesten, in Einladungen, Gesprächen, Verzögerungen. Dabei treten Klassenunterschiede, militärische Ehrbegriffe und Vorstellungen von Männlichkeit genauso hervor wie die unscheinbaren Routinen des Alltags, die Entscheidungen vorbereiten oder verhindern. Das Ergebnis ist eine Ethik der kleinen Schritte, in der jede Ausrede, jedes Zögern, jede Übertreibung eine neue Schicht von Verstrickung erzeugt.

Formell verbindet das Buch spannungsvolles Erzählen mit psychologischer Präzision. Die Handlung entfaltet sich retrospektiv, als selbstkritische Erinnerung, deren Tempo nicht durch äußere Sensationen, sondern durch innere Schwankungen gesteuert wird. Zweig setzt auf Nahsicht: wechselnde Stimmungen, soziale Mikrogesten, die Taktik von Höflichkeit und das Schweigen zwischen Sätzen. Die Sprache zielt nicht auf spektakuläre Überraschungen, sondern auf das langsame Sichtbarwerden dessen, was man nicht wahrhaben möchte. So entsteht ein erzählerischer Sog, der weniger dem Was als dem Wie folgt: dem Entstehen und Zerfallen von Rechtfertigungen, dem Griff der Konvention, der verführerischen Logik des Mitleids und den Möglichkeiten, die ein Nein eröffnen könnte.

Dass dieses Werk als Klassiker gilt, liegt an der dichten Verbindung aus Zeitbild, moralischer Intelligenz und erzählerischer Ökonomie. Ungeduld des Herzens bündelt die Spannungen einer Epoche im Übergang und macht sie durch eine private Geschichte erfahrbar. Es gibt keine lehrhafte Botschaft, sondern eine erlebte Ambivalenz, deren Genauigkeit bis heute irritiert. Zweig zeigt, wie Gefühle sozial geformt werden und wie freiwillige Blindheiten sich zu Schicksal verdichten können. Die Klarheit seiner Prosa, die Strenge der Komposition und die Unbestechlichkeit des Blicks haben das Buch über Modefragen hinausgetragen und es im Kanon der großen psychologischen Romane verankert.

Der literarische Einfluss des Romans lässt sich in der nachhaltigen Aufmerksamkeit für moralische Grenzfälle erkennen, die er kultiviert hat. Viele spätere Erzählungen über Verantwortung, vermeintliche Hilfsbereitschaft und die Dynamik ungleicher Beziehungen knüpfen implizit an Zweigs Konstellation an. Dabei wirkt weniger ein bestimmtes Motiv nach als eine Haltung: das Bestehen darauf, innere Motive und soziale Formen gleichzeitig zu lesen. Übersetzungen in zahlreiche Sprachen und eine stetige Präsenz im Gespräch über zentraleuropäische Literatur haben das Werk weit über seinen historischen Schauplatz hinausgetragen. Es bleibt ein Referenztext, wenn es darum geht, psychologische Genauigkeit mit erzählerischer Spannung zu verbinden.

Die Entstehung im Exil verleiht dem Roman einen Resonanzraum, der über die private Geschichte hinausreicht. Zweig, ein kosmopolitischer Humanist, schrieb nach dem Verlust seiner geistigen Heimat und unter dem Eindruck politischer Verwüstungen. Die rückblickende Schilderung der k.u.k.-Welt gewinnt daraus nicht Verklärung, sondern melancholische Genauigkeit: ein Blick für Zerbrechlichkeit, für überholte Rituale, für das unsichere Gleichgewicht zwischen persönlicher Würde und gesellschaftlicher Rolle. Diese Perspektive auf einen vergangenen Ordnungsrahmen schärft zugleich das Sensorium für die Allgegenwart moralischer Prüfungen, die in jeder Zeit andere Namen tragen, aber eine ähnliche Struktur von Nähe, Abhängigkeit und Selbsttäuschung besitzen.

Im Werk Stefan Zweigs nimmt Ungeduld des Herzens eine Sonderstellung ein. Während seine Novellen in konzentrierter Form psychische Extremsituationen darstellen, dehnt der Roman das Beobachtungsfeld, um langsame Prozesse, Gewöhnungseffekte und die kumulative Macht kleiner Entscheidungen sichtbar zu machen. Die Figuren erhalten Zeit, widersprüchlich zu sein; Ursachen und Folgen verweben sich vorsichtig, ohne didaktische Verkürzung. Gerade diese Ausdauer im Detail, verbunden mit erzählerischer Straffung, zeigt eine andere, reifere Seite von Zweigs Kunst. Sie ergänzt das bekannte Panorama seines Œuvres und bildet einen eigenständigen, geschlossenen Beitrag zur Tradition des analytischen, aber spannungsorientierten Gesellschaftsromans.

Wer dieses Buch liest, begegnet keinem Rätsel, das durch einen plötzlichen Trick gelöst wird, sondern einer Bewegung, die zunehmend unabweisbar wirkt. Spannung entsteht aus der Frage, wie lange Selbstbilder tragen, wann ein höflicher Ton zur Ausrede wird und wie genau Sprache Verantwortung verschiebt. Die Szenen sind so gebaut, dass man die Versuchung des bequemen Mitleids miterlebt, während zugleich die Konturen des Notwendigen sichtbar werden. Dadurch lädt der Roman zu einem langsamen Lesen ein, das nicht bloß verurteilt, sondern prüft: Welche Antworten gäben wir, wenn uns Ansehen, Zugehörigkeit und eine konkrete Notlage zugleich anblicken?

Heute, da Mitgefühl öffentlich performt und privat verhandelt wird, besitzt Zweigs Analyse besondere Aktualität. In Debatten über Care-Arbeit, Grenzen professioneller Hilfe, Abhängigkeitsverhältnisse und die Sprache der Solidarität spiegelt sich die zentrale Frage des Buches: Wann hilft man dem anderen – und wann hilft man vor allem dem eigenen Bild von sich? Der Roman sensibilisiert für die Macht von Rollen, für die Wirkung gut gemeinter Gesten und für die Verantwortung, die Zusagen erzeugen. Er lädt ein, über Ableismus, soziale Hierarchien und die Ethik von Versprechen nachzudenken, ohne einfache Rezepte zu liefern.

Ungeduld des Herzens bleibt deshalb relevant, weil es die moralische Imagination schärft und unsere Bereitschaft zur Selbstprüfung fordert. Zeitlos sind die Genauigkeit, mit der Zweig Gefühle modelliert, die Disziplin, mit der er Ambivalenzen stehen lässt, und die Eleganz, mit der er psychologische Beobachtung in Handlung übersetzt. Historisch präzise und zugleich allgemein verständlich, führt das Buch vor, wie eng Freiheit und Verantwortung, Nähe und Respekt, Wort und Tat gekoppelt sind. Wer es liest, gewinnt keine bequeme Beruhigung, aber eine Schule der Aufmerksamkeit – für den anderen und für die eigenen Beweggründe.

Synopsis

Inhaltsverzeichnis

Stefan Zweigs Roman Ungeduld des Herzens, 1939 erschienen, führt in die letzten Jahre der k.u.k.-Monarchie. Im Mittelpunkt steht der junge Leutnant Anton Hofmiller, der seine Erinnerungen an eine folgenschwere Verstrickung erzählt. Stationiert an einer Grenzgarnison, lernt er durch eine Einladung den Haushalt des reichen Grundbesitzers von Kekesfalva kennen. Die Begegnung öffnet ihm eine Welt, die sich von der nüchternen Ordnung des Militärs deutlich unterscheidet: kultivierte Gesprächsrunden, Musik, Aufmerksamkeit. Was zunächst wie ein gesellschaftlicher Erfolg wirkt, entpuppt sich bald als moralische Bewährungsprobe, in der Höflichkeit, Eitelkeit und echte Empathie untrennbar ineinandergreifen und die Grenzen zwischen Pflicht und Gefühl verwischen.

Bei einem Fest im Hause Kekesfalva begeht Hofmiller aus Unkenntnis einen taktlosen Fehler: Er bittet die junge Tochter Edith zum Tanz, ohne zu wissen, dass sie aufgrund einer Lähmung an den Rollstuhl gebunden ist. Ihre verletzte Reaktion lässt ihn in Scham versinken. Er sucht, den Fauxpas gutzumachen, und kehrt am nächsten Tag mit einer Entschuldigung zurück. Aus dem Wunsch, zu trösten, erwächst eine regelmäßige Besuchspraxis. Zugleich beginnt das Motiv des Mitleids, das dem Roman seinen Kern gibt, Hofmillers Wahrnehmung zu bestimmen: Er will helfen, anerkannt werden und sich von der Demütigung des Abends innerlich reinwaschen.

In der Nähe der Familie findet Hofmiller Anerkennung, die ihm im Kasino der Offiziere fehlt. Herr von Kekesfalva, ein selfmade Wohlhabender, begegnet ihm großzügig und dankbar. Edith zeigt sich scharfsinnig, launenhaft und sehr sensibel gegenüber kleinsten Gesten. Die junge Angehörige des Hauses, Ilona, fungiert als Vertraute und ordnende Kraft, zwischen Nähe und Distanz vermittelnd. Hofmiller genießt die Wärme des Salons, die Zuwendung und das Gefühl, gebraucht zu werden. Gerade darin verschiebt sich jedoch der Maßstab: Was als höfliche Pflicht begann, wird zu einem Tagesrhythmus, der Erwartungen weckt, Hoffnungen nährt und in der Schwebe lässt, ob aus Mitgefühl eine bindende Verpflichtung entsteht.

Die medizinische Betreuung liegt bei Dr. Condor, einem sachlichen, zugleich menschlich wachen Arzt. In Gesprächen mit Hofmiller entfaltet er die Idee, dass wahre Anteilnahme Verantwortung bedeutet und sich von sentimentaler Rührung unterscheidet. Die Begegnung mit seiner blinden Frau vertieft diese Perspektive: Würde, Selbstbestimmung und gelingende Zuneigung sind möglich, wenn man den anderen nicht auf sein Leiden reduziert. Für Hofmiller wird das zur leisen Warnung. Er ahnt, dass sein Bedürfnis, zu trösten, mit Eitelkeit und Flucht vor Selbstvorwürfen vermengt ist. Dennoch treibt ihn die Mischung aus Scham, Zuneigung und Pflichtgefühl weiter in ein Verhältnis, dessen Regeln unausgesprochen bleiben.

Mit jedem Besuch steigern sich Ediths Erwartungen. Kleine Gesten werden als Versprechen gelesen; freundliche Worte erhalten das Gewicht von Bekenntnissen. Der Vater interpretiert Hofmillers Präsenz als mögliches Glück für seine Tochter. Hofmiller, selbst unsicher über seine Gefühle, lässt Situationen geschehen, statt sie zu klären. In Momenten starker Erregung und Rührung gibt er Zusicherungen, die über das hinausgehen, was er innerlich tragen kann. Zweig zeigt, wie Mitleid in eine Dynamik kippt, die nicht mehr vom Leidenden, sondern vom Beschwichtigen der eigenen Gewissensnot geleitet ist. Aus gut gemeinten Höflichkeiten wird eine moralische Verpflichtung, deren Tragweite Hofmiller erst allmählich begreift.

Parallel dazu verschärft die Welt der Garnison den Konflikt. Der Offiziersstand verlangt Disziplin, Distanz und makelloses Auftreten. Hofmiller versucht, sein intensives Verhältnis zum Hause Kekesfalva zu verbergen, um Spott und Gerede zu vermeiden. Doch Andeutungen, Zufälle und Fehltritte sickern in die Öffentlichkeit. Die Diskrepanz zwischen privater Fürsorge und öffentlicher Rolle wächst. Ein unbedachter Auftritt und das Flüstern der Kameraden konfrontieren ihn damit, dass höfische Taktik den Kern der Sache nicht berührt. Was im Salon noch als zarte Hoffnung erschien, wirkt im grellen Licht des Kasinos wie eine Belastung, der er sich entziehen möchte und die ihn zugleich fesselt.

Neue medizinische Aussicht lässt die Erwartungen weiter steigen. Hofmiller fördert den Kontakt zu Spezialisten, unterstützt Untersuchungen und Therapien, die eine Besserung erhoffen lassen. In der Atmosphäre knapper Fortschritte und Rückschläge vermengen sich professionelle Einschätzungen und persönliche Projektionen. Für Edith wird Hoffnung zum Lebenselixier, für ihren Vater zur Besessenheit, für Hofmiller zur moralischen Falle: Je mehr er hofft, desto weniger kann er sich entziehen, ohne als treulos zu erscheinen. Der Roman beleuchtet, wie Wissen, Wunsch und Angst vor Enttäuschung ein Geflecht bilden, in dem die Beteiligten sich wechselseitig in Erwartungen verstricken, die niemand mehr steuern kann.

Schließlich erzwingt eine Zuspitzung die Entscheidung. Hofmiller wird darauf festgelegt, ob sein Beistand Verbindlichkeit bedeutet oder ob er die Beziehung auf eine ehrlichere, wenn auch schmerzhafte Grundlage stellen will. Konfrontiert mit den Blicken der Gesellschaft und dem Flehen des Hauses, schwankt er zwischen Mut zur Wahrheit und dem Impuls, zu beschwichtigen. Eine Kette von Missverständnissen und gefühlsgetriebenen Schritten beschleunigt die Ereignisse. Die Ungeduld des Herzens, der Drang, Leid sofort zu lindern, ohne die Folgen zu bedenken, führt zu einer Wendung, die das Leben aller Beteiligten tief erschüttert, ohne dass eine einfache Lösung oder klare Schuldzuweisung möglich wäre.

Zweig gestaltet die Geschichte als psychologische Studie über Mitleid, Verantwortung und Selbsttäuschung. Nicht Grausamkeit, sondern halbherzige Güte wird zur zerstörerischen Kraft, wenn sie Bindungen verspricht, die sie nicht tragen kann. Der Roman fragt, was wir dem Schmerz anderer schuldig sind und wo Hilfe in unerlaubte Selbsterhöhung umschlägt. Er zeigt, wie soziale Rollen, Standesnormen und persönlicher Ehrgeiz ethische Entscheidungen verzerren. Ohne die endgültigen Ereignisse vorwegzunehmen, bleibt die Botschaft nachhaltig: Echte Anteilnahme verlangt Klarheit, Respekt und den Mut, auch schmerzhafte Wahrheiten auszusprechen. Nur so kann Mitgefühl zur Verantwortung werden, statt zum Ausgangspunkt irreparabler Verwicklungen.

Historischer Kontext

Inhaltsverzeichnis

Der Roman Ungeduld des Herzens ist in den letzten Friedensjahren der Habsburgermonarchie verortet, in einer Provinzstadt des ungarischen Reichsteils. Die Duale Monarchie, 1867 verfasst, war eine komplexe Vielvölkerordnung, in der Krone, Kirche, Bürokratie und Armee das öffentliche Leben prägten. Unter Kaiser Franz Joseph I. schien Stabilität zu herrschen, doch hinter der Fassade wirkten nationale, soziale und kulturelle Spannungen. Das Offizierskorps bildete eine tragende Institution, die die Loyalität zum Staat verkörperte. In diesem Rahmen entfaltet Zweig seine Geschichte, deren individuelle Konflikte die brüchigen Grundlagen eines politischen und moralischen Systems spiegeln, das kurz vor dem Zusammenbruch stand.

Das Offizierskorps der k.u.k. Zeit lebte von streng kodifizierten Ehrvorstellungen und ritualisierten Umgangsformen. Dienen, Disziplin, Kameradschaft und makelloses Auftreten waren ebenso Pflicht wie die Pflege gesellschaftlicher Beziehungen. Duelle waren offiziell untersagt, inoffiziell aber Teil einer Ehrenkultur, die soziale Sanktionen verhinderte, indem sie Konflikte intern „bereinigte“. Das öffentliche Bild des Offiziers – Uniform, Tanz, Salonfähigkeit – war ein Kapital, das sorgfältig verwaltet werden musste. Zweigs junge Offiziere bewegen sich in genau diesem Gefüge: Ihr Handeln wird von Rang, Ruf und der Erwartung geprägt, sich moralisch eindeutig zu verhalten, selbst wenn die inneren Motive ambivalent sind.

In den Provinzstädten der Monarchie überlagerten sich aristokratische Lebensformen mit aufstrebendem Bürgertum. Salons, Bälle und gesellschaftliche Besuche waren soziale Knotenpunkte, an denen Zugehörigkeit ausgehandelt wurde. Wohlhabende Familien, darunter neue Geldeliten, suchten Nähe zum Offizierskorps und zur alten Grundbesitzerklasse, um Status zu befestigen. Ein Fehltritt im Ballsaal konnte daher weitreichende Konsequenzen haben, weil er Ehre, Schicklichkeit und Heiratschancen berührte. Zweig zeigt, wie diese höflichen Räume zugleich Kontrollräume sind: Wer einen Takt verfehlt – im Tanz oder im moralischen Urteil –, steht rasch unter Beobachtung eines ganzen Gemeinwesens.

Die Habsburgermonarchie war ein Mosaik aus Sprachen und Nationen. Im ungarischen Reichsteil trieb die Politik der Magyarisierung – vor allem seit den 1880er Jahren – die Anpassung an ungarische Sprache und Kultur voran. Für Minderheiten, darunter viele Juden, eröffnete die Übernahme ungarischer Namen und Gepflogenheiten soziale Aufstiegschancen. Gleichzeitig blieb Zugehörigkeit prekär, weil nationale und konfessionelle Marker im Alltag fortwirkten. Zweigs Figuren spiegeln diesen Balanceakt: wirtschaftlicher Erfolg und kulturelle Anpassung versprechen Anerkennung, doch bleiben sie in einem Umfeld wirksam, das Herkunft, Sprache und „Anstand“ unablässig taxiert.

Die rechtliche Emanzipation der Juden in der Monarchie schuf seit dem 19. Jahrhundert die Voraussetzungen für wirtschaftliche und intellektuelle Teilhabe. In Städten wie Budapest oder Wien waren jüdische Unternehmer, Ärzte, Juristen und Intellektuelle prägend. Zugleich existierten virulente antisemitische Diskurse, genährt von Krisen, Nationalismen und sozialem Neid. Diese Ambivalenz – rechtliche Gleichstellung bei fortgesetzter gesellschaftlicher Grenzziehung – bildet einen wichtigen Hintergrund des Romans. Sie erklärt, warum Assimilation und Philanthropie zwar Türen öffnen, doch gesellschaftliche Anerkennung brüchig bleibt und jederzeit in offene Abwertung umschlagen kann, wenn Normen verletzt scheinen.

Geschlechterrollen und Familienstrukturen der Epoche setzten Frauen enge Grenzen. Bildungschancen waren eingeschränkt, die soziale Position hing oft von Heirat und Reputation ab. Krankheit oder Behinderung konnte eine junge Frau gesellschaftlich isolieren, da Tauglichkeit für Ehe und Repräsentation leitende Ideale waren. Entscheidungen trafen meist Väter oder Vormünder, während Ärzte als Autoritäten Hoffnung verwalteten. Zweigs Darstellung einer physisch eingeschränkten jungen Frau verweist auf diese Realitäten: Ihre Abhängigkeit von ärztlicher Expertise, familiärer Fürsorge und sozialer Gnade macht sichtbar, wie verletzlich weibliche Lebensentwürfe im Korsett der wilhelminischen und habsburgischen Geschlechterordnung waren.

Um 1900–1914 entstand eine neue Medizinlandschaft: spezialisierte Kliniken in Wien und Budapest, aufstrebende Neurologie und Orthopädie, systematisierte Physiotherapie, Elektro- und Hydrotherapie. Röntgenstrahlen wurden diagnostisch genutzt, Rehabilitationskonzepte professionalisiert, Sanatorien versprachen Genesung. Zugleich blieben therapeutische Möglichkeiten begrenzt, und zwischen seriöser Wissenschaft und Heilsversprechen verliefen fließende Grenzen. Diese Gemengelage aus Fortschritt, Autoritätsglauben und Enttäuschung rahmt das medizinische Geschehen bei Zweig: Hoffnung auf Heilung ist sozial und psychologisch aufgeladen, und fachliche Urteile erhalten fast richterlichen Charakter über Lebensperspektiven und moralische Entscheidungen.

Leisure-Kultur und Körperideale prägten das bürgerliche wie militärische Milieu. Reiten, Fechten, Ausflüge und das Ballwesen galten als Ausdruck von Haltung und Selbstdisziplin. Musik – vom Walzer bis zur Operette – strukturierte Festlichkeiten und Hofetikette in kleineren Garnisonen ebenso wie in Metropolen. In solch ritualisierten Räumen sind Nähe und Distanz exakt vermessen; eine Einladung, ein Tanz, ein Kompliment sind soziale Signale mit Folgen. Der Roman nutzt dieses kulturelle Protokoll, um zu zeigen, wie ein scheinbar beiläufiges Geschehen im Ballsaal moralische Verpflichtungen erzeugt, die sich später als Last und Prüfstein der Charakterfestigkeit erweisen.

Moderne Verkehrs- und Kommunikationsmittel verdichteten das Leben der Provinz. Ein enges Eisenbahnnetz verband Städte und Kurorte, Post, Telegraph und zunehmend auch Telefon beschleunigten Nachrichten. Die Tagespresse schuf gemeinsame Gesprächsräume, Klatsch und öffentlicher Ruf zirkulierten schneller. Wohlhabende Familien konnten Spezialisten in den Zentren aufsuchen, während lokale Gesellschaften jedes Hin und Her der Besuche registrierten. Für Zweigs Figuren bedeutet das: Bewegungen werden sichtbar, Motive werden interpretiert, und das soziale Urteil bildet sich zeitnah. Diese Infrastruktur übersetzt moralische Erwartung in permanenten Beobachtungsdruck – ein Hintergrundrauschen, das Entscheidungen lenkt.

Politisch waren die letzten Friedensjahre durch Krisen und Routine zugleich gekennzeichnet. In Ungarn spitzten sich Konflikte um Heeressprachen und Kompetenzen zu; der Reichsverband blieb jedoch bis 1914 intakt. Im Alltag vermittelte die Präsenz des Kaisers ein Gefühl der Kontinuität, auch wenn der Modernisierungsschub soziale Ungleichgewichte sichtbar machte. Diese Gleichzeitigkeit von Stabilität und latenter Destabilisierung trägt die Atmosphäre des Romans: Man lebt, als sei nichts veränderlich, und übersieht dabei, wie starre Institutionen Empathie und Urteilskraft erodieren, weil sie Loyalität zur Form höher bewerten als Verantwortung gegenüber dem konkreten Menschen.

Das Militär sollte als „Schule der Nationen“ integrieren, blieb aber rigide organisiert. Die Gemeinsame Armee operierte vorwiegend mit Deutsch als Kommandosprache, während ungarische Landwehrverbände eigenständig strukturiert waren. Offiziere wurden oft außerhalb ihrer Herkunftsregion stationiert, was lokale Spannungen und kulturelle Missverständnisse beförderte. Diese Konstellation ist für Zweig bedeutsam: Der junge Offizier, auf Anerkennung angewiesen, muss sich in einer Gesellschaft behaupten, die ihn prüft, bevor sie ihn aufnimmt. Sein moralisches Selbstverständnis gerät so unter den Druck einer Institution, die Loyalität zur Gruppe über individuelle Einsicht stellt.

Eine ausgeprägte Wohltätigkeitskultur strukturierte die Oberschichtenwelt. Wohltätige Vereine, Benefizveranstaltungen und Spenden galten als Belege von Anstand und Gemeinsinn. Hilfe wurde öffentlich inszeniert und sozial bilanziert. Pity – Mitleid – war dabei nicht nur Gefühl, sondern soziale Währung: Es stärkte das Bild der Gebenden und band die Empfangenden an Erwartungen, Dank und Konformität. Zweigs Roman macht diesen Mechanismus sichtbar, indem er zeigt, wie schwer es ist, zwischen moralischer Verpflichtung, Selbstdarstellung und echter Empathie zu unterscheiden. Aus Mitgefühl kann eine Verpflichtungsfalle werden, wenn Institution und Publikum stets mitblicken.

Das geistige Klima der Jahrhundertwende in Wien und Umgebung war von psychologischer Selbstbeobachtung geprägt. Psychoanalyse, moderne Literatur und essayistische Kultur richteten den Blick auf Motive, Triebe und die Zwiespältigkeit des Handelns. Stefan Zweig, in den Kreisen der Wiener Moderne beheimatet, entwickelte eine Erzählweise, die innere Konflikte und moralische Ambivalenzen akribisch ausleuchtet. Diese Tradition erklärt, warum Ungeduld des Herzens weniger als Gesellschaftspanorama denn als psychologisches Sittenbild wirkt: Es untersucht, wie Gefühle unter sozialen Normen deformiert werden und wie Selbsttäuschung entsteht, wenn das eigene Gewissen an äußeren Erwartungen Maß nimmt.

Zweigs eigene Biografie schärft den historischen Blick des Romans. Als jüdischer Wiener Intellektueller erlebte er Aufstieg und Glanz der Vorkriegsjahre, diente im Ersten Weltkrieg im Wiener Kriegsarchiv und wandte sich bald pazifistischen Positionen zu. In der Zwischenkriegszeit wurde er zum europäischen Bestsellerautor und Anwalt einer übernationalen Kultur. Nach der Etablierung autoritärer Regime und wachsender Judenverfolgung ging er ins Exil. Aus dieser Distanz schreibt er eine elegische, doch kritische Erinnerung an eine „versunkene Welt“, deren Selbstzufriedenheit und moralische Halbheiten er als Mitschuld am späteren Desaster markiert.

Die politischen Katastrophen der 1930er Jahre bilden den Entstehungshintergrund. Bücherverbrennungen, antisemitische Gesetzgebung und schließlich der „Anschluss“ Österreichs 1938 machten die Fragilität der humanistischen Zivilisation sichtbar. 1939, im Jahr des Kriegsausbruchs, erschien der Roman im Exil. Gerade deshalb lässt sich die Geschichte als Warnstück lesen: Nicht nur fanatische Gewalt, auch gutgemeinte Schwäche, Ehrfurcht vor Konventionen und der Wunsch, Konflikte zu vermeiden, können in Katastrophen münden. Zweig adressiert eine Öffentlichkeit, die noch hofft, dass besonnene Gesten genügen, und zeigt, wie fatal dieses Vertrauen sein kann.

Auch die Erzählform unterstreicht den historischen Kommentar. Ein erfahrener Offizier blickt zurück und rekonstruiert sein damaliges Versagen – eine Struktur, die an nachkriegszeitliche Debatten über Verantwortung erinnert. Erinnerung fungiert als moralischer Prozess: Der Erzähler seziert die Wechselwirkung aus persönlicher Neigung, sozialem Druck und institutionellen Erwartungen. So wird die private Geschichte in einen größeren Diskurs über Schuld, Verdrängung und späte Einsicht gestellt. Historisch resoniert das mit der mitteleuropäischen Erfahrung, in der individuelle Akte oft in größeren Apparaten gerahmt und nachträglich als „Sachzwang“ rationalisiert wurden.

Ungeduld des Herzens ist zugleich ein Schlüsseltext zum Zerfall der Habsburgermonarchie. Er zeigt, wie die höfliche Oberfläche einer multiethnischen, kultivierten Gesellschaft von inneren Härten, Hierarchien und Ängsten durchzogen war. Der Roman legt offen, dass das System Empathie zwar rhetorisch pries, faktisch aber in Rollen und Ranglisten zerlegte. So erscheint die untergehende Ordnung nicht als reine Idylle, sondern als Mechanik, die Selbsttäuschung begünstigt und die Fähigkeit zu wahrer Verantwortung schwächt. In dieser Entzauberung liegt eine leise, aber nachhaltige Kritik an jenem Europa, das seine Katastrophen mit vorbereitete.

Autorenbiografie

Inhaltsverzeichnis

Stefan Zweig (1881–1942) war ein österreichischer Schriftsteller der klassischen Moderne, dessen Novellen, Essays und Biografien internationale Verbreitung fanden. Als humanistisch geprägter Europäer beobachtete er die Umbrüche der beiden Weltkriege und thematisierte die Fragilität von Kultur, Identität und Moral. Er verband psychologische Feinzeichnung mit spannungsreicher Erzählkunst und einem eleganten, zugänglichen Stil. Seine Bücher zählten in den 1920er- und 1930er-Jahren zu den meistgelesenen deutschsprachigen Werken. Die politische Katastrophe des Nationalsozialismus, Exil und Entrechtung prägten seinen späten Weg. Postum festigte sich sein Ruf als Meister der Novelle und als herausragender Vermittler europäischer Geschichte und Kultur.

Zweig wuchs in Wien auf, studierte dort und in Berlin Philosophie und Literatur und promovierte in Wien. Früh veröffentlichte er Gedichte und Feuilletons und entwickelte eine stilistische Nähe zur Wiener Moderne, zum Symbolismus und zur psychologischen Prosa. Prägend waren seine Begegnungen und Korrespondenzen mit europäischen Intellektuellen sowie sein Austausch über Grenzen hinweg. Als Übersetzer und Essayist förderte er die Rezeption französischer und belgischer Autoren, insbesondere Émile Verhaeren, dem er ein engagiertes Porträt widmete. Zugleich wandte er sich kunsthistorischen und literarischen Charakterstudien zu, die später in essayistischen Sammelbänden wie Drei Meister (1920) ausgearbeitet wurden.

Vor dem Ersten Weltkrieg etablierte sich Zweig mit Novellen und Erzählungen, die Leidenschaften, Obsessionen und moralische Grenzsituationen ausloteten, darunter Brennendes Geheimnis (1913). Während des Krieges arbeitete er zunächst im Wiener Kriegsarchiv, wandte sich jedoch zunehmend pazifistischen Positionen zu. Sein dramatisches Gedicht Jeremias (1917) verhandelte Hoffnung, Gewissen und Widerstand des Einzelnen. In den unmittelbaren Nachkriegsjahren intensivierte er seine europaweite publizistische Tätigkeit, suchte Verständigung über Sprachen und Nationen hinweg und baute ein Netzwerk literarischer Kontakte aus. Dadurch gewann er eine Leserschaft, die ihn über den deutschsprachigen Raum hinaus als Stimme einer kosmopolitischen, versöhnungsorientierten Kultur wahrnahm.

In den 1920er-Jahren erreichte Zweig eine erste große Blüte. Mit Bänden wie Drei Meister (1920), Der Kampf mit dem Dämon (1925) und Sternstunden der Menschheit (ab 1927) verband er biografische Kunst mit erzählerischer Verdichtung historischer Momente. Parallel entstanden psychologisch akzentuierte Novellen wie Verwirrung der Gefühle (1927) und die Sammlung Amok, die Extremsituationen seelischer Erfahrung erkunden. Er reiste häufig, hielt Vorträge und pflegte eine intensive Korrespondenz, die seine Rolle als Mittler zwischen Literaturen festigte. Stilistisch suchte er Klarheit, Rhythmus und suggestive Spannung, getragen von Empathie für die Beweggründe seiner Figuren und die Kontingenz geschichtlicher Entscheidungen.

In den 1930er-Jahren wandte sich Zweig vermehrt historischen Biografien und längerer Prosa zu. Hervorgehoben werden oft Joseph Fouché (1929), Marie Antoinette (1932) und Magellan (1938), die Macht, Charakter und Schicksal in exemplarischen Lebensläufen bündeln. Mit Ungeduld des Herzens (1939) legte er seinen einzigen vollendeten Roman vor, eine Studie über Verantwortung, Selbsttäuschung und moralischen Druck. Seine biografische Methode kombinierte akribische Quellenarbeit mit erzählerischer Einfühlung, um innere Konflikte herauszuarbeiten, ohne die Faktizität preiszugeben. Der Erfolg dieser Werke festigte seinen Rang als Autor, der Geschichte für ein breites Publikum lebendig und psychologisch überzeugend vermittelt.

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurden seine Bücher in Deutschland angegriffen und aus Bibliotheken entfernt; zunehmend bedroht, verließ Zweig Mitte der 1930er-Jahre Österreich und lebte anschließend vor allem in Großbritannien, später in den Amerikas. Im Exil entstanden zentrale späte Texte: die Autobiografie Die Welt von Gestern, ein Vermächtnis europäischer Bildung und Toleranz; die Novelle Schachnovelle, ein konzentriertes Kammerspiel geistiger Bedrängnis; sowie Brasilien. Ein Land der Zukunft (1941), eine essayistische Studie über sein Gastland. Diese Werke bündeln Erinnerung, Diagnose und Hoffnung, während sie zugleich die Verheerungen von Verfolgung, Entwurzelung und Krieg nüchtern reflektieren.

Zweig starb 1942 im brasilianischen Petrópolis durch Suizid, vor dem Hintergrund von Exil, Krieg und der Zerstörung jener europäischen Öffentlichkeit, der er sich verpflichtet fühlte. Sein Werk blieb jedoch präsent und gewann seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts neue Leserschaften. Wiederauflagen und Übersetzungen machten Novellen wie Schachnovelle sowie die Erinnerungen Die Welt von Gestern zu Referenztexten über Gewissen, Humanität und den Verlust einer Epoche. Als stilistisch klarer, psychologisch genauer Erzähler und als Biograf, der Geschichte mit Empathie vermittelt, wirkt er fort. Seine Stimme prägt Debatten über Europa, Kosmopolitismus und moralische Verantwortlichkeit.

Ungeduld des Herzens. Roman

Hauptinhaltsverzeichnis
Cover
Titelblatt
Text

»Wer da hat, dem wird gegeben«, dieses Wort aus dem Buche der Weisheit darf jeder Schriftsteller getrost in dem Sinne bekräftigen: »Wer viel erzählt hat, dem wird erzählt.« Nichts Irrtümlicheres als die allzu umgängliche Vorstellung, in dem Dichter arbeite ununterbrochen die Phantasie, er erfinde aus einem unerschöpflichen Vorrat pausenlos Begebnisse und Geschichten. In Wahrheit braucht er nur, statt zu erfinden, sich von Gestalten und Geschehnissen finden zu lassen, die ihn, sofern er sich die gesteigerte Fähigkeit des Schauens und Lauschens bewahrt hat, unausgesetzt als ihren Wiedererzähler suchen; wer oftmals Schicksale zu deuten versuchte, dem berichten viele ihr Schicksal.

Auch dieses Begebnis ist mir beinahe zur Gänze in der hier wiedergegebenen Form anvertraut worden und zwar auf völlig unvermutete Art. Das letzte Mal in Wien suchte ich abends, von allerhand Besorgungen abgemüdet, ein vorstädtisches Restaurant auf, von dem ich vermutete, es sei längst aus der Mode geraten und wenig frequentiert. Doch kaum eingetreten, wurde ich meines Irrtums ärgerlich gewahr. Gleich von dem ersten Tisch stand mit allen Zeichen ehrlicher, von mir freilich nicht ebenso stürmisch erwiderter Freude ein Bekannter auf und lud mich ein, bei ihm Platz zu nehmen. Es wäre unwahrhaftig, zu behaupten, daß jener beflissene Herr an sich ein unebener oder unangenehmer Mensch gewesen wäre; er gehörte nur zu jener Sorte zwanghaft geselliger Naturen, die in ebenso emsiger Weise, wie Kinder Briefmarken, Bekanntschaften sammeln und deshalb auf jedes Exemplar ihrer Kollektion in besonderer Weise stolz sind. Für diesen gutmütigen Sonderling – im Nebenberuf ein vielwissender und tüchtiger Archivar – beschränkte sich der ganze Lebenssinn auf die bescheidene Genugtuung, bei jedem Namen, der ab und zu in einer Zeitung zu lesen war, mit eitler Selbstverständlichkeit hinzufügen zu können: »Ein guter Freund von mir« oder »Ach, den habe ich erst gestern getroffen« oder »Mein Freund A hat mir gesagt und mein Freund B hat gemeint«, und so unentwegt das ganze Alphabet entlang. Verläßlich klatschte er bei den Premieren seiner Freunde, telephonierte jede Schauspielerin am nächsten Morgen glückwünschend an, er vergaß keinen Geburtstag, verschwieg unerfreuliche Zeitungsnotizen und schickte einem die lobenden aus herzlicher Anteilnahme zu. Kein unebener Mensch also, weil ehrlich beflissen und schon beglückt, wenn man ihn einmal um eine kleine Gefälligkeit ersuchte oder gar das Raritätenkabinett seiner Bekanntschaften um ein neues Objekt vermehrte.

Aber es tut nicht not, Freund »Adabei[1]« – unter diesem heiteren Spottwort faßt man in Wien jene Spielart gutmütiger Parasiten innerhalb der buntscheckigen Gruppe der Snobs für gewöhnlich zusammen – näher zu beschreiben, denn jeder kennt sie und weiß, daß man sich ihrer rührenden Unschädlichkeit ohne Roheit nicht erwehren kann. So setzte ich mich resigniert zu ihm, und eine Viertelstunde lief schwatzhaft dahin, als ein Herr in das Lokal eintrat, hochgewachsen und auffällig durch sein frischfarbiges, jugendliches Gesicht mit einem pikanten Grau an den Schläfen; eine gewisse Aufrechtheit im Gang verriet ihn sofort als ehemaligen Militär. Eifrig zuckte mein Nachbar mit der für ihn typischen Beflissenheit grüßend auf, welchen Impetus jedoch jener Herr eher gleichgültig als höflich erwiderte, und noch hatte der neue Gast nicht recht bei dem eilig zudrängenden Kellner bestellt, als mein Freund Adabei bereits an mich heranrückte und mir leise zuflüsterte: »Wissen Sie, wer das ist?« Da ich seinen Sammelstolz, jedes halbwegs interessante Exemplar seiner Kollektion rühmend zur Schau zu stellen, längst kannte und überlange Explikationen fürchtete, äußerte ich bloß ein recht uninteressiertes »Nein« und zerlegte weiter meine Sachertorte. Diese meine Indolenz aber machte den Namenskuppler nur noch aufgeregter, und die Hand vorsichtig vorhaltend, hauchte er mir leise zu: »Das ist doch der Hofmiller von der Generalintendanz – Sie wissen doch – der im Krieg den Maria Theresienorden bekommen hat.« Weil nun dieses Faktum mich nicht in der erhofften Weise zu erschüttern schien, begann er mit der Begeisterung eines patriotischen Lesebuchs auszupacken, was dieser Rittmeister Hofmiller im Krieg Großartiges geleistet hätte, zuerst bei der Kavallerie, dann bei jenem Erkundungsflug über die Piave, wo er allein drei Flugzeuge abgeschossen hätte, schließlich bei der Maschinengewehrkompagnie, wo er drei Tage einen Frontabschnitt besetzt und gehalten hätte – all das mit vielen Einzelheiten (die ich hier überschlage) und immer dazwischen sein maßloses Erstaunen bekundend, daß ich von diesem Prachtmenschen nie gehört hatte, den doch Kaiser Karl in Person mit der seltensten Dekoration der österreichischen Armee ausgezeichnet habe.

Unwillkürlich ließ ich mich verleiten, zum andern Tisch hinüberzuschauen, um einmal einen historisch abgestempelten Helden aus Zweimeterdistanz zu sehen. Aber da stieß ich auf einen harten, verärgerten Blick, der etwa sagen wollte: Hat der Kerl dir etwas von mir vorgeflunkert? An mir gibt’s nichts anzugaffen! Gleichzeitig rückte jener Herr mit einer unverkennbar unfreundlichen Bewegung den Sessel zur Seite und schob uns energisch den Rücken zu. Etwas beschämt nahm ich meinen Blick zurück und vermied von nun an, auch nur die Decke jenes Tischs neugierig anzustreifen. Bald darauf verabschiedete ich mich von meinem braven Schwätzer, beim Hinausgehen jedoch schon bemerkend, daß er sich sofort zu seinem Helden hinübertransferierte, wahrscheinlich um einen ebenso eifrigen Bericht über mich zu erstatten wie zu mir über jenen.

Das war alles. Ein Blick hin und her, und ich hätte gewiß diese flüchtige Begegnung vergessen, doch der Zufall wollte, daß ich bereits am nächsten Tage, in einer kleinen Gesellschaft mich neuerdings diesem ablehnenden Herrn gegenübersah, der übrigens im abendlichen Smoking noch auffallender und eleganter wirkte als gestern in dem mehr sportlichen Homespun. Wir hatten beide Mühe, ein kleines Lächeln zu verbergen, jenes ominöse Lächeln zwischen zwei Menschen, die inmitten einer größeren Gruppe ein wohlgehütetes Geheimnis gemeinsam haben. Er erkannte mich genau wie ich ihn, und wahrscheinlich erregten oder amüsierten wir uns auch in gleicher Weise über den erfolglosen Kuppler von gestern. Zunächst vermieden wir, miteinander zu sprechen, was sich schon deswegen als aussichtslos erwiesen hätte, weil rings um uns eine aufgeregte Diskussion im Gange war.

Der Gegenstand jener Diskussion ist im voraus verraten, wenn ich erwähne, daß sie im Jahre 1938 stattfand. Spätere Chronisten unserer Zeit werden einmal feststellen, daß im Jahre 1938 fast jedes Gespräch in jedem Lande unseres verstörten Europa von den Mutmaßungen über Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit eines neuen Weltkrieges beherrscht war. Unvermeidlich faszinierte das Thema jedes Zusammensein, und man hatte manchmal das Gefühl, es seien gar nicht die Menschen, die in Vermutungen und Hoffnungen ihre Angst abreagierten, sondern gleichsam die Atmosphäre selbst, die erregte und mit geheimen Spannungen beladene Zeitluft, die sich ausschwingen wollte im Wort.

Der Hausherr führte das Gespräch an, Rechtsanwalt von Beruf und rechthaberisch dem Charakter nach; er bewies mit den üblichen Argumenten den üblichen Unsinn, die neue Generation wisse um den Krieg und würde in einen neuen nicht mehr so unvorbereitet hineintappen wie in den letzten. Schon bei der Mobilisierung würden die Gewehre nach rückwärts losgehen, und insbesondere die alten Frontsoldaten wie er hätten nicht vergessen, was sie erwarte. Die flunkernde Sicherheit, mit der er in einer Stunde, wo in zehntausenden und hunderttausenden Fabriken Sprengstoffe und Giftgase erzeugt wurden, die Möglichkeit eines Krieges ebenso lässig wegstreifte wie mit einem leichten Klaps des Zeigefingers die Asche seiner Zigarette, ärgerte mich. Man solle nicht immer glauben, was man wahrhaben wolle, antwortete ich recht entschieden. Die Ämter und Militärorganisationen, die den Kriegsapparat dirigierten, hätten gleichfalls nicht geschlafen, und während wir uns mit Utopien beduselten, die Friedenszeit reichlich benützt, um die Massen schon im voraus durchzuorganisieren und gewissermaßen schußfertig in die Hand zu bekommen. Bereits jetzt, mitten im Frieden, sei die allgemeine Servilität dank der Vervollkommnung der Propaganda in unglaublichen Proportionen gewachsen, und man möge der Tatsache nur klar ins Auge sehen, daß von der Sekunde an, wo das Radio die Meldung der Mobilisierung in die Stuben werfen würde, nirgends Widerstand zu erwarten sei. Das Staubkorn Mensch zähle heute als Wille überhaupt nicht mehr mit.

Natürlich hatte ich alle gegen mich, denn in bewährter Praxis sucht sich der Selbstbetäubungstrieb im Menschen innerlich bewußter Gefahren am liebsten dadurch zu entledigen, daß er sie als null und nichtig erklärt, und schon gar mußte eine solche Warnung vor billigem Optimismus unwillkommen wirken angesichts eines im Nebenzimmer bereits splendid aufgedeckten Soupers.

Unerwarteterweise trat nun der Maria Theresienritter als Sekundant mir zur Seite, gerade er, in dem mein falscher Instinkt einen Gegner vermutet hatte. Ja, es sei blanker Unsinn, erklärte er heftig, das Wollen oder Nichtwollen des Menschenmaterials heutzutage noch einkalkulieren zu wollen, denn im nächsten Kriege sei die eigentliche Leistung den Maschinen zugeteilt und die Menschen nur mehr zu einer Art Bestandteil derselben degradiert. Schon im letzten Kriege sei er nicht vielen im Feld begegnet, die den Krieg klar bejaht oder klar verneint hätten. Die meisten seien hineingerollt wie eine Staubwolke mit dem Wind und hätten dann im großen Wirbel einfach dringesteckt, jeder einzelne willenlos herumgeschüttelt wie eine Erbse im großen Sack. In summa seien vielleicht sogar mehr Menschen in den Krieg hineingeflüchtet als aus ihm herausgeflüchtet.

Ich hörte überrascht zu, interessiert vor allem durch die Heftigkeit, mit der er jetzt weitersprach. »Geben wir uns keiner Täuschung hin. Wenn man heute in irgendeinem Land für einen völlig exotischen Krieg, für einen Krieg in Polynesien oder in einem Winkel Afrikas, die Werbetrommel aufstellte, würden Tausende und Hunderttausende zulaufen, ohne recht zu wissen warum, vielleicht nur aus Lust an dem Weglaufen vor sich selbst oder aus unerfreulichen Verhältnissen. Den faktischen Widerstand gegen einen Krieg kann ich aber kaum höher als null bewerten. Widerstand eines Einzelnen gegen eine Organisation erfordert immer einen viel höheren Mut als das bloße Sichmitreißen-lassen, nämlich Individualmut, und diese Spezies stirbt in unseren Zeiten fortschreitender Organisation und Mechanisierung aus. Ich bin im Krieg fast ausschließlich dem Phänomen des Massenmuts, des Muts innerhalb von Reih und Glied, begegnet, und wer diesen Begriff näher unter die Lupe nimmt, entdeckt ganz seltsame Komponenten: viel Eitelkeit, viel Leichtsinn und sogar Langeweile, vor allem aber viel Furcht – jawohl, Furcht vor dem Zurückbleiben, Furcht vor dem Verspottetwerden, Furcht vor dem Alleinhandeln und Furcht vor allem, sich in Opposition zu setzen zu dem Massenelan der andern; die meisten von jenen, die im Feld als die Tapfersten galten, habe ich persönlich und in Zivil dann als recht fragwürdige Helden gekannt. – Bitte«, sagte er, höflich zu dem Gastgeber gewandt, der ein schiefes Gesicht schnitt, »ich nehme mich selber keineswegs aus.«

Die Art, wie er sprach, gefiel mir, und ich hatte Lust, auf ihn zuzugehen, aber da rief die Hausdame schon zum Abendessen, und weit voneinander placiert, kamen wir nicht mehr ins Gespräch. Erst bei dem allgemeinen Aufbruch gerieten wir bei der Garderobe zusammen.

»Ich glaube«, lächelte er mir zu, »unser gemeinsamer Protektor hat uns indirekt schon vorgestellt.«

Ich lächelte gleichfalls. »Und gründlich dazu.«

»Er hat wahrscheinlich dick aufgetragen, was für ein Achilles ich bin, und sich meinen Orden ausgiebig über die Weste gehängt?«

»So ungefähr.«

»Ja, auf den ist er verflucht stolz – ähnlich wie auf Ihre Bücher.«

»Komischer Kauz! Aber es gibt üblere. Übrigens – wenn’s Ihnen recht ist, könnten wir noch ein Stück zusammen gehen.«

Wir gingen. Er wandte sich mit einem Mal zu mir zu:

»Glauben Sie mir, ich mache wirklich keine Phrasen, wenn ich sage, daß ich jahrelang unter nichts mehr gelitten habe als unter diesem für meinen Geschmack allzu auffälligen Maria Theresienorden. Das heißt, um ehrlich zu sein – als ich ihn damals im Feld draußen umgehängt kriegte, ging mir’s natürlich zunächst durch und durch. Schließlich ist man zum Soldaten auferzogen worden und hat in der Kadettenschule von diesem Orden wie von einer Legende gehört, von diesem einen Orden, der vielleicht nur auf ein Dutzend in jedem Kriege fällt, also tatsächlich so wie ein Stern vom Himmel herunter. Ja, für einen Burschen von achtundzwanzig Jahren bedeutet so etwas schon allerhand. Man steht mit einem Mal vor der ganzen Front, alles staunt auf, wie einem plötzlich etwas an der Brust blitzt wie eine kleine Sonne, und der Kaiser, die unnahbare Majestät, schüttelt einem beglückwünschend die Hand. Aber sehen Sie: diese Auszeichnung hatte doch nur Sinn und Gültigkeit in unserer militärischen Welt, und als der Krieg zu Ende war, schien’s mir lächerlich, noch ein ganzes Leben lang als abgestempelter Held herumzugehen, weil man einmal wirklich zwanzig Minuten couragiert gehandelt hat – wahrscheinlich nicht couragierter als zehntausend andere, denen man nur das Glück voraus hatte, bemerkt zu werden, und das vielleicht noch erstaunlichere, lebendig zurückzukommen. Schon nach einem Jahr, wenn überall die Leute hinstarrten auf das kleine Stückchen Metall und den Blick dann ehrfürchtig zu mir heraufklettern ließen, wurde es mir gründlich über, als ambulantes Monument herumzustiefeln, und der Ärger über diese ewige Auffälligkeit war auch einer der entscheidenden Gründe, weshalb ich nach Kriegsende so bald ins Zivil hinübergewechselt habe.«

Er ging etwas heftiger.

»Einer der Gründe, sagte ich, aber der Hauptgrund war ein privater, der Ihnen vielleicht noch verständlicher sein wird. Der Hauptgrund war, daß ich selbst meine Berechtigung und jedenfalls mein Heldentum gründlich anzweifelte; ich wußte doch besser als die fremden Gaffer, daß hinter diesem Orden jemand steckte, der nichts weniger als ein Held und sogar ein entschiedener Nichtheld war – einer von denen, die in den Krieg nur deshalb so wild hineingerannt sind, weil sie sich aus einer verzweifelten Situation retten wollten. Deserteure eher vor der eigenen Verantwortung als Helden ihres Pflichtgefühls. Ich weiß nicht, wie das bei euch ist – mir wenigstens erscheint das Leben mit Nimbus und Heiligenschein unnatürlich und unerträglich, und ich fühlte mich redlich erleichtert, meine Heldenbiographie nicht mehr auf der Uniform spazierenführen zu müssen. Noch jetzt ärgert’s mich, wenn jemand meine alte Glorie ausgräbt, und warum soll ich’s Ihnen nicht gestehen, daß ich gestern knapp auf dem Sprung war, an Ihren Tisch hinüberzugehen und den Schwätzer anzufahren, er solle mit jemand anderem protzen als gerade mit mir. Den ganzen Abend hat mich Ihr respektvoller Blick noch gewurmt, und am liebsten hätte ich, um diesen Schwätzer zu dementieren, Sie genötigt, anzuhören, auf welchen krummen Wegen ich eigentlich zu meiner ganzen Heldenhaftigkeit gekommen bin – es war schon eine recht sonderbare Geschichte, und immerhin könnte sie dartun, daß Mut oft nichts anderes ist als eine umgedrehte Schwäche. Übrigens – ich hätte kein Bedenken, sie Ihnen noch jetzt kerzengrad zu erzählen. Was ein Vierteljahrhundert in einem Menschen zurückliegt, geht nicht mehr ihn an, sondern längst einen andern. Hätten Sie Zeit? Und langweilt Sie’s nicht?«

Selbstverständlich hatte ich Zeit; wir gingen noch lange auf und nieder in den schon verlassenen Straßen und waren noch in den folgenden Tagen ausgiebig zusammen. In seinem Bericht habe ich nur weniges verändert, vielleicht Ulanen gesagt statt Husaren, die Garnisonen, um sie unkenntlich zu machen, ein wenig auf der Landkarte herumgeschoben und vorsorglich alle richtigen Namen wegschraffiert. Aber nirgends habe ich Wesentliches hinzuerfunden, und nicht ich, sondern der Erzähler beginnt jetzt zu erzählen.

»Es gibt eben zweierlei Mitleid. Das eine, das schwachmütige und sentimentale, das eigentlich nur Ungeduld des Herzens ist, sich möglichst schnell freizumachen von der peinlichen Ergriffenheit vor einem fremden Unglück, jenes Mitleid, das gar nicht Mit-leiden ist, sondern nur instinktive Abwehr des fremden Leidens von der eigenen Seele. Und das andere, das einzig zählt – das unsentimentale, aber schöpferische Mitleid, das weiß, was es will, und entschlossen ist, geduldig und mitduldend alles durchzustehen bis zum Letzten seiner Kraft und noch über dies Letzte hinaus.«

Die ganze Sache begann mit einer Ungeschicklichkeit, einer völlig unverschuldeten Tölpelei, einer »gaffe[2]«, wie die Franzosen sagen. Dann kam der Versuch, meine Dummheit wieder einzurenken; aber wenn man allzu hastig ein Rad in einem Uhrwerk reparieren will, verdirbt man meist das ganze Getriebe. Selbst heute, nach Jahren, vermag ich nicht abzugrenzen, wo mein pures Ungeschick endete und meine eigene Schuld begann[1q]. Vermutlich werde ich es niemals wissen.

Ich war damals fünfundzwanzig Jahre alt und aktiver Leutnant bei den x…er Ulanen[3]. Daß ich jemals sonderliche Passion oder innere Berufung für den Offiziersstand empfunden hätte, darf ich nicht behaupten. Aber wenn in einer altösterreichischen Beamtenfamilie zwei Mädel und vier immer hungrige Buben um einen schmalgedeckten Tisch sitzen, so fragt man nicht lange nach ihren Neigungen, sondern schiebt sie frühzeitig in den Backofen des Berufs, damit sie den Hausstand nicht allzulange belasten. Meinen Bruder Ulrich, der sich schon in der Volksschule die Augen mit vielem Lernen verdarb, steckte man ins Priesterseminar, mich dirigierte man um meiner festen Knochen willen in die Militärschule: von dort aus spult sich der Lebensfaden mechanisch fort, man braucht ihn nicht weiter zu ölen. Der Staat sorgt für alles. In wenigen Jahren schneidert er kostenlos, nach vorgezeichnetem ärarischem Muster, aus einem halbwüchsigen, blassen Buben einen flaumbärtigen Fähnrich und liefert ihn gebrauchsfertig an die Armee. Eines Tages, zu Kaisers Geburtstag, noch nicht achtzehn Jahre alt, war ich ausgemustert und kurz darauf mir der erste Stern an den Kragen gesprungen; damit war die erste Etappe erreicht, und nun konnte der Turnus des Avancements in gebührenden Pausen mechanisch sich weiterhaspeln bis zu Pensionierung und Gicht. Auch just bei der Kavallerie, dieser leider recht kostspieligen Truppe, zu dienen, war keineswegs mein persönlicher Wunsch gewesen, sondern die Marotte meiner Tante Daisy, die den älteren Bruder meines Vaters in zweiter Ehe geheiratet hatte, als er vom Finanzministerium zu einer einträglicheren Bankpräsidentschaft übergegangen war. Reich und snobistisch zugleich, wollte sie es nicht dulden, daß irgend einer aus der Verwandtschaft, der gleichfalls Hofmiller hieß, die Familie »verschandeln« sollte, indem er bei der Infanterie diente; und da sie sich diese Marotte hundert Kronen Zuschuß im Monat kosten ließ, mußte ich bei allen Gelegenheiten vor ihr noch submissest dankbar tun. Ob es mir selber zusagte, bei der Kavallerie oder überhaupt aktiv zu dienen, darüber hätte nie jemand nachgedacht, ich selber am wenigsten. Saß ich im Sattel, dann war mir wohl, und ich dachte nicht weit über den Pferdehals hinaus.

In jenem November 1913 muß irgend ein Erlaß aus einer Kanzlei in die andere hinübergerutscht sein, denn surr – auf einmal war unsere Eskadron aus Jaroslau in eine andere kleine Garnison an der ungarischen Grenze versetzt worden. Es ist gleichgültig, ob ich das Städtchen beim richtigen Namen nenne oder nicht, denn zwei Uniformknöpfe am selben Rock können einander nicht ähnlicher sein als eine österreichische Provinzgarnison der andern. Da und dort dieselben ärarischen Ubikationen: eine Kaserne, ein Reitplatz, ein Exerzierplatz, ein Offizierskasino, dazu drei Hotels, zwei Kaffeehäuser, eine Konditorei, eine Weinstube, ein schäbiges Variété mit abgetakelten Soubretten, die sich im Nebenamt liebevollst zwischen Offizieren und Einjährigen aufteilen. Überall bedeutet Kommißdienst dieselbe geschäftig leere Monotonie, Stunde für Stunde eingeteilt nach dem stahlstarren, jahrhundertealten Reglement, und auch die Freizeit sieht nicht viel abwechslungsreicher aus. In der Offiziersmesse dieselben Gesichter, dieselben Gespräche, im Kaffeehaus dieselben Kartenpartien und das gleiche Billard. Manchmal wundert man sich, daß es dem lieben Gott beliebt, wenigstens einen anderen Himmel und eine andere Landschaft um die sechs-oder achthundert Dächer eines solchen Städtchens zu stellen.

Einen Vorteil allerdings bot meine neue Garnison gegenüber der früheren galizischen: sie war Schnellzugsstation und lag einerseits nahe bei Wien, andererseits nicht allzuweit von Budapest. Wer Geld hatte – und bei der Kavallerie dienen immer allerhand reiche Burschen, nicht zuletzt auch die Freiwilligen, teils Hochadel, teils Fabrikantensöhne – der konnte, wenn er rechtzeitig abpaschte, mit dem Fünfuhrzug nach Wien fahren und mit dem Nachtzug um halb drei Uhr wieder zurück sein. Zeit genug also, um ins Theater zu gehen, auf der Ringstraße zu bummeln, den Kavalier zu spielen und sich gelegentliche Abenteuer zu suchen; einige der Beneidetsten hielten sich dort sogar eine ständige Wohnung oder ein Absteigequartier. Leider lagen derlei auffrischende Eskapaden jenseits meines Monatsetats. Als Unterhaltung blieb einzig das Kaffeehaus oder die Konditorei, und dort verlegte ich mich, da mir die Kartenpartien meist zu hoch ins Geld gingen, auf das Billard oder spielte das noch billigere Schach.

So saß ich auch diesmal eines Nachmittags, es muß Mitte Mai 1914 gewesen sein, mit einem gelegentlichen Partner, dem Apotheker zum Goldenen Engel, der gleichzeitig Vizebürgermeister unseres Garnisonsstädtchens war, in der Konditorei. Wir hatten unsere üblichen drei Partien längt zu Ende gespielt, und man redete nur aus Trägheit, sich aufzurappeln – wohin denn in diesem langweiligen Nest? – noch so hin und her, aber das Gespräch qualmte schon schläfrig wie eine abgebrannte Zigarette. Da geht mit einem Mal die Tür auf, und ein wehender Glockenrock schwingt mit einem Büschel frischer Luft ein hübsches Mädel herein: braune, mandelförmige Augen, dunkler Teint, famos gekleidet, gar nicht Provinz, und vor allem ein neues Gesicht in diesem gottsjämmerlichen Einerlei. Leider schenkt die smarte Nymphe uns respektvoll Aufstaunenden keinen Blick; scharf und rassig, mit sportlich festem Schritt quert sie an den neun kleinen Marmortischchen des Lokals vorbei geradewegs auf das Verkaufspult zu, um dort gleich en gros ein ganzes Dutzend Kuchen, Torten und Schnäpse zu bestellen. Mir fällt sofort auf, wie devotissime sich der Herr Kuchenbäcker vor ihr verneigt – nie habe ich die Rückennaht seines Schwalbenrocks so straff hinabgespannt gesehen. Sogar seine Frau, die üppig-grobschlächtige Provinzvenus, die sich sonst von allen Offizieren nachlässigst hofieren läßt (oft bleibt man ja bis Monatsende allerhand Kleinigkeiten schuldig), erhebt sich von ihrem Sitz an der Kasse und zergeht beinahe in pflaumenweicher Höflichkeit. Das hübsche Mädel knabbert, während der Kuchenbäcker die Bestellung ins Kundenbuch notiert, achtlos ein paar Pralinés an und macht ein bißchen Konversation mit Frau Großmaier; für uns aber, die wir vielleicht ungebührlich eifrig die Hälse recken, fällt nicht einmal ein Augenblink ab. Natürlich beschwert sich die junge Dame nicht mit einem einzigen Päckchen die hübsche Hand; es wird ihr alles, wie Frau Großmaier submissest versichert, zuverlässig geschickt. Und sie denkt auch nicht im mindesten daran, wie wir gewöhnlichen Sterblichen an der stählernen Automatenkasse bar zu bezahlen. Sofort wissen wir alle: extrafeine, vornehme Kundschaft!

Wie sie sich jetzt nach erledigter Bestellung zum Gehen wendet, springt Herr Großmaier hastig vor, um ihr die Tür zu öffnen. Auch mein Herr Apotheker erhebt sich von seinem Sitze, um sich von der Vorbeischwebenden respektvollst zu empfehlen. Sie dankt mit souveräner Freundlichkeit – Donnerwetter, was für samtene, rehbraune Augen! – und ich kann kaum erwarten, bis sie, überzuckert von vielen Komplimenten, den Laden verlassen hat, um neugierigst meinen Partner nach diesem Hecht im Karpfenteich zu fragen.

»Ach, die kennen Sie nicht? Das ist doch die Nichte von …« – nun, ich werde ihn Herrn von Kekesfalva nennen, der Name lautete in Wirklichkeit anders – »Kekesfalva – Sie kennen doch die Kekesfalvas?«

Kekesfalva: wie eine Tausendkronennote wirft er den Namen hin und blickt mich an, als erwarte er als selbstverständliches Echo ein ehrfurchtsvolles »Ach so! Natürlich!« Aber ich frisch transferierter Leuntnant, gerade erst vor ein paar Monaten in die neue Garnison geschneit, ich Ahnungsloser weiß nichts von diesem sehr geheimnisvollen Gott und bitte höflichst um weitere Erläuterung, die mir Herr Apotheker auch mit dem ganzen Wohlbehagen provinziellen Stolzes erteilt – selbstredend viel geschwätziger und ausführlicher, als ich sie hier wiedergebe.

Kekesfalva, erklärt er mir, sei der reichste Mann im ganzen Umkreis. Einfach alles gehöre ihm, nicht nur das Schloß Kekesfalva – »Sie müssen’s doch kennen, man sieht’s vom Exerzierplatz aus, links von der Chaussee das gelbe Schloß mit dem flachen Turm und dem großen, alten Park« – sondern auch die große Zuckerfabrik an der Straße nach R. und das Sägewerk in Bruck und dann in M. das Gestüt; all das gehöre ihm und dazu sechs oder sieben Häuser in Budapest und Wien. »Ja, das möchte man nicht glauben, daß es bei uns solche steinreiche Leute gibt, und zu leben weiß der wie ein richtiger Magnat. Im Winter im kleinen Wiener Palais in der Jacquingasse, den Sommer in Kurorten; hier führt er grade nur im Frühjahr ein paar Monate Haus, aber, Herrgott noch einmal, was für ein Haus! Quartette aus Wien, Champagner und französische Weine, das Erste vom Ersten, das Beste vom Besten!« Nun, wenn er mir damit gefällig sein könne, werde er mich gerne dort einführen, denn – große Geste der Genugtuung – er sei mit Herrn von Kekesfalva befreundet, habe in früheren Jahren oft geschäftlich mit ihm zu tun gehabt und wisse, daß er Offiziere immer gern bei sich sehe; nur ein Wort koste es ihn, und ich sei eingeladen.

Nun, warum nicht? Man erstickt ja in dem mulmigen Krebsteich einer solchen Provinzgarnison. Man kennt vom Sehen schon alle Frauen auf dem Korso und von jeder den Sommerhut und den Winterhut und das noble und das gewöhnliche Kleid, es bleibt immer dasselbe. Und den Hund kennt man und das Dienstmädchen und die Kinder vom Anschauen und Wegschauen. Man kennt alle Künste der dicken böhmischen Köchin im Kasino, und der Gaumen wird einem allmählich flau beim Anblick der ewig gleichen Speisekarte im Gasthaus. Man kennt jeden Namen, jedes Schild, jedes Plakat in jeder Gasse auswendig und jedes Geschäft in jedem Haus und in jedem Geschäft jede Auslage. Man weiß schon beinahe so exakt wie der Oberkellner Eugen, um welche Stunde der Herr Bezirksrichter im Kaffeehaus erscheint und daß er an der Fensterecke links Platz nehmen wird und Schlag vier Uhr dreißig eine Melange bestellt, während der Herr Notar wiederum genau zehn Minuten später kommt, vier Uhr vierzig, und dafür – holde Abwechslung – wegen seines schwachen Magens ein Glas Tee mit Zitrone trinkt und zur ewig gleichen Virginia dieselben Witze erzählt. Ach, man kennt alle Gesichter, alle Uniformen, alle Pferde, alle Kutscher, alle Bettler im ganzen Umkreis, man kennt sich selber zum Überdruß. Warum nicht einmal aus der Tretmühle ausbrechen? Und dann, dieses hübsche Mädel, diese rehbraunen Augen! Ich erkläre also meinem Gönner mit gespielter Gleichgültigkeit (nur sich nicht zu happig zeigen vor dem eitlen Pillendreher!), gewiß, es würde mir ein Vergnügen sein, die Bekanntschaft der Familie Kekesfalva zu machen.

Tatsächlich – siehe da, der wackere Apotheker hat nicht geflunkert! – schon zwei Tage später bringt er mir, ganz aufgeplustert vor Stolz, mit gönnerischer Gebärde eine gedruckte Karte ins Kaffeehaus, in die mein Name kalligraphisch eingefügt ist, und diese Einladungskarte besagt, daß Herr Lajos von Kekesfalva Herrn Leutnant Anton Hofmiller für Mittwoch nächster Woche acht Uhr abends zum Diner bitte. Gott sei Dank, auch unsereiner ist nicht auf der Brennsuppe hergeschwommen und weiß, wie man sich in solchem Falle benimmt. Gleich Sonntag vormittag haue ich mich in meine beste Kluft, weiße Handschuhe und Lackschuhe, unerbittlich rasiert, einen Tropfen Eau de Cologne in den Schnurrbart, und fahre hinaus, Antrittsbesuch zu machen. Der Diener – alt, diskret, gute Livree – nimmt meine Karte und murmelt entschuldigend, die Herrschaften würden auf das höchste bedauern, Herrn Leutnant versäumt zu haben, aber sie seien in der Kirche. Um so besser, denke ich mir, Antrittsvisiten sind immer das Grausigste im Dienst und außer Dienst. Jedenfalls, ich habe meine Pflicht getan. Mittwoch abend gehst du hin und hoffentlich wird’s nett. Erledigt, denke ich, Angelegenheit Kekesfalva bis Mittwoch. Aber redlich erfreut finde ich zwei Tage später, Dienstag also, eine eingebogene Visitenkarte von Herrn von Kekesfalva in meiner Bude abgegeben. Tadellos, denke ich mir, die Leute haben Manieren. Gleich zwei Tage nach der Antrittsvisite mir, dem kleinen Offizier, einen Gegenbesuch – mehr Höflichkeit und Respekt kann ein General sich nicht wünschen. Und mit einem wirklich guten Vorgefühl freue ich mich jetzt auf den Mittwochabend.

Aber gleich anfangs fährt ein Schabernack dazwischen – man sollte eigentlich abergläubisch sein und auf kleine Zeichen mehr achten. Mittwoch halb acht Uhr abends, ich bin schon fix und fertig, die beste Uniform, neue Handschuhe, Lackschuhe, die Hose scharf wie eine Rasierschneide gebügelt, und mein Bursche legt mir gerade noch die Falten des Mantels zurecht und revidiert, ob alles klappt (ich brauche immer meinen Burschen dazu, denn ich habe nur einen kleinen Handspiegel in meiner schlecht beleuchteten Bude), da poltert’s an die Tür: eine Ordonnanz. Der Offizier vom Dienst, mein Freund, der Rittmeister Graf Steinhübel, läßt mich bitten, ich solle zu ihm hinüber in den Mannschaftsraum. Zwei Ulanen, sternhagelbesoffen wahrscheinlich, haben miteinander krawalliert, schließlich hat der eine den andern mit dem Karabiner über den Kopf geschlagen. Und nun liegt der Tolpatsch da, blutend, ohnmächtig und mit offenem Mund. Man weiß nicht, ob sein Schädel überhaupt noch ganz ist oder nicht. Der Regimentsarzt aber ist auf Urlaub nach Wien abgeschwommen, der Oberst nicht zu finden; so hat in seiner Not der gute Steinhübel, verflucht, gerade mich herangetrommelt, daß ich ihm beispringe, indes er sich um den Blutenden bemüht, und ich muß jetzt Protokoll aufnehmen und nach allen Seiten Ordonnanzen schicken, damit man im Kaffeehaus oder sonstwo rasch einen Zivilarzt auftreibt. Unter all dem wird es dreiviertel acht. Ich sehe schon, vor einer Viertel-oder einer halben Stunde kann ich keinesfalls loskommen. Verdammt, justament heute muß eine solche Sauerei passieren, justament heute, wo ich eingeladen bin! Immer ungeduldiger sehe ich auf die Uhr; unmöglich pünktlich zurechtzukommen, wenn ich hier auch nur noch fünf Minuten herummurksen muß. Aber Dienst, so ist’s uns ja bis in die Knochen gebleut, geht über jede private Verpflichtung. Ich darf nicht auskneifen, so tue ich das einzig Mögliche in dieser vertrackten Situation – das heißt, ich schicke meinen Burschen mit einem Fiaker[4] (vier Kronen kostet mich der Spaß) zu den Kekesfalva hinaus, ich ließe um Entschuldigung bitten, falls ich mich verspäten sollte, aber ein unvermuteter dienstlicher Vorfall, und so weiter und so weiter. Glücklicherweise dauert der Rummel in der Kaserne nicht allzu lange, denn der Oberst erscheint in Person mit einem rasch aufgefundenen Arzt, und nun darf ich mich unauffällig drücken.

Aber neues Pech: gerade heute steht am Rathausplatz kein Fiaker, ich muß warten, bis man ein achthufiges Gefährt herantelephoniert. So wird’s unvermeidlich, daß, wie ich schließlich bei Kekesfalvas in der großen Hall lande, der lange Zeiger an der Wanduhr schon vertikal herunterhängt, genau halb neun statt acht Uhr, und ich sehe, die Mäntel in der Garderobe bauschen sich bereits dick übereinander. Auch an dem etwas befangenen Gesicht des Dieners merke ich, daß ich reichlich verspätet anrücke – unangenehm, unangenehm, so etwas gerade bei einem ersten Besuch!

Immerhin, der Diener – diesmal weiße Handschuhe, Frack, steifes Hemd und Gesicht – beruhigt mich, mein Bursche habe vor einer halben Stunde meine Botschaft überbracht, und führt mich in den Salon, vierfenstrig, rotseiden ausgespannt, glühend mit kristallenen Leuchtern, fabelhaft elegant, ich habe nie etwas Nobleres gesehen. Aber leider erweist er sich zu meiner Beschämung als völlig verlassen, und von nebenan höre ich deutlich munteres Tellerklirren – ärgerlich, ärgerlich, ich dachte mir’s gleich, sie sitzen schon bei Tisch!

Nun, ich raffe mich zusammen, und sobald der Diener vor mir die Schiebetür auftut, trete ich bis an die Schwelle des Speisezimmers, klappe die Hacken scharf zusammen und verbeuge mich. Alles blickt auf, zwanzig, vierzig Augen, lauter fremde Augen, mustern den Spätling, der sich nicht sehr selbstbewußt vom Türstock rahmen läßt. Sofort erhebt sich ein älterer Herr, der Hausherr zweifellos, tritt, die Serviette rasch abstreifend, mir entgegen und bietet mir einladend die Hand. Gar nicht, wie ich ihn mir vorgestellt habe, gar nicht wie ein Landedelmann magyarisch-schnurrbärtig, vollbäckig, feist und rötlich vom guten Wein, sieht dieser Herr von Kekesfalva aus. Hinter goldener Brille schwimmen ein bißchen müde Augen über grauen Tränensäcken, die Schultern scheinen etwas vorgeneigt, die Stimme klingt flüstrig und ein wenig vom Hüsteln gehemmt: für einen Gelehrten könnte man ihn eher halten, mit diesem schmalen zarten Gesicht, das in einem dünnen weißen Spitzbärtchen endet. Ungemein beschwichtigend wirkt die besondere Artigkeit des alten Herrn auf meine Unsicherheit: nein, nein, an ihm sei es, sich zu entschuldigen, fällt er mir gleich ins Wort. Er wisse genau, was im Dienst alles passieren könne, und es sei eine besondere Freundlichkeit meinerseits gewesen, ihn eigens zu verständigen; nur weil man meines Eintreffens nicht sicher gewesen sei, hätte man schon mit dem Diner begonnen. Aber nun solle ich unverweilt Platz nehmen. Er werde mich dann später mit all den Herrschaften einzeln bekannt machen. Nur hier – dabei geleitet er mich an den Tisch – seine Tochter. Ein halbwüchsiges Mädchen, zart, blaß, fragil wie er selbst, blickt aus einem Gespräch auf, zwei graue Augen streifen mich schüchtern. Aber ich sehe bloß wie im Flug das schmale, nervöse Gesicht, verbeuge mich erst vor ihr, dann korporativ rechts und links gegen die andern, die offenbar froh sind, Gabel und Messer nicht weglegen zu müssen, um durch umständliche Vorstellungszeremonien gestört zu werden.

Die ersten zwei, drei Minuten fühle ich mich noch herzlich unbehaglich. Niemand vom Regiment ist da, kein Kamerad, kein Bekannter, und nicht einmal jemand von den Honoratioren des Städtchens – ausschließlich fremde, stockfremde Menschen. Hauptsächlich scheinen es Gutsbesitzer aus der Umgebung zu sein mit ihren Frauen und Töchtern oder Staatsbeamte. Aber nur Zivil, Zivil, keine andere Uniform als die meine! Mein Gott, wie soll ich ungeschickter, scheuer Mensch mit diesen unbekannten Leuten Konversation machen? Glücklicherweise hatte man mich gut placiert. Neben mir sitzt das braune, übermütige Wesen, die hübsche Nichte, die damals meinen bewundernden Aufblick in der Konditorei doch bemerkt zu haben scheint, denn sie lächelt mir freundlich wie einem alten Bekannten zu. Sie hat Augen wie Kaffeebohnen, und wirklich, es knistert, wenn sie lacht, wie Bohnen beim Rösten. Sie hat entzückende, kleine, durchleuchtende Ohren unter dem dichten schwarzen Haar: wie rosa Zyklamen mitten im Moos, denke ich. Sie hat nackte Arme, weich und glatt; wie geschälte Pfirsiche müssen sie sich anfühlen.

Es tut wohl, neben einem so hübschen Mädchen zu sitzen, und daß sie mit einem vokalischen ungarischen Akzent spricht, macht mich beinahe verliebt. Es tut wohl, in einem so funkelnd hellen Raum an einem so vornehm gedeckten Tisch zu tafeln, hinter sich livrierte Diener, vor sich die schönsten Speisen. Auch meine Nachbarin zur Linken, die wieder mit leicht polnischem Tonfall redet, scheint mir, wenn auch schon etwas massiv, eigentlich appetissant. Oder macht das nur der Wein, der goldhelle, dann wieder blutdunkle und jetzt champagnerperlende Wein, den von rückwärts her die Diener mit ihren weißen Handschuhen aus silbernen Karaffen und breitbäuchigen Flaschen geradezu verschwenderisch einschenken? Wahrhaftig, der wackere Apotheker hat nicht geflunkert. Bei Kekesfalvas geht es zu wie bei Hof. Ich habe noch nie so gut gegessen, nie mir überhaupt träumen lassen, daß man so gut, so nobel, so üppig essen kann. Immer köstlichere und kostbarere Gerichte schweben auf unerschöpflichen Schüsseln heran; blaßblaue Fische, von Lattich gekrönt, mit Hummerscheiben umrahmt, schwimmen in goldenen Saucen, Kapaune reiten auf breiten Sätteln von geschichtetem Reis, Puddinge flammen in blaubrennendem Rum, Eisbomben quellen farbig und süß auseinander, Früchte, die um die halbe Welt gereist sein müssen, küssen einander in silbernen Körben. Es nimmt kein Ende, kein Ende und zum Schluß noch ein wahrer Regenbogen von Schnäpsen, grün, rot, weiß, gelb, und spargeldicke Zigarren zu einem köstlichen Kaffee!

Ein herrliches, ein zauberisches Haus – gesegnet sei er, der gute Apotheker! – ein heller, ein glücklicher, ein klingender Abend! Ich weiß nicht, fühle ich mich nur deshalb so aufgelockert und frei, weil rechts und links und gegenüber nun auch die andern glitzernde Augen und laute Stimmen bekommen haben, weil sie gleichfalls alles Nobeltun vergessen, munter drauflos und durcheinander reden – jedenfalls, meine sonstige Befangenheit ist weg. Ich plaudere ohne die geringste Hemmung, ich hofiere beiden Nachbarinnen zugleich, ich trinke, lache, blicke übermütig und leicht, und wenn es nicht immer Zufall ist, daß ich ab und zu mit der Hand an die schönen, nackten Arme Ilonas (so heißt die knusprige Nichte) streife, so scheint sie dies leise Angleiten und Ausgleiten keineswegs krummzunehmen, auch sie entspannt, beschwingt, gelockert wie wir alle von diesem üppigen Fest.