Ungeheure Veränderungen in letzter Minute - Grace Paley - E-Book

Ungeheure Veränderungen in letzter Minute E-Book

Grace Paley

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Beschreibung

"Wer "Die kleinen Widrigkeiten des Lebens", den ersten Erzählungsband von Grace Paley, gelesen hat, wird sich freuen, hier einigen ihrer temperamentvollen Figuren wiederzubegegnen. Allen voran Faith, dem Alter Ego der Autorin, ihren Exmännern und Liebhabern, ihren wilden Söhnen Tonto und Richard, aber auch ihrer Nachbarin und Mietshausphilosophin Mrs. Raftery oder ihren Eltern, die inzwischen im jüdischen Altersheim leben und Faith in Gespräche über Leben und Schreiben verwickeln. Auf den Vortreppen der New Yorker Brownstones oder auf dem Spielplatz machen Frauen und Männer Politik, demonstrieren in der City Hall und im Central Park, kämpfen gegen den Atomkrieg und für Bürgerrechte; Protestsongs erklingen oder werden parodiert. Als unkonventionelle Feministin lässt Grace Paley in "Ungeheure Veränderungen in letzter Minute" Menschen jeglicher Herkunft aufeinandertreffen - in teils komischen, teils dramatischen Situationen."

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 245

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Inhalt

[Cover]

Titel

Wünsche

Schulden

Ganz einfach

Faith am Nachmittag

Die alte Leier

Leben

Come On, Ye Sons of Art

Faith im Baum

Samuel

Die Bürde des Mannes

Ungeheure Veränderungen in letzter Minute

Politik

Spielplatz, Nordostseite

Das kleine Mädchen

Gespräch mit meinem Vater

Die Einwanderergeschichte

Die Langstreckenläuferin

Interview mit Grace Paley (1978)

Leben und Werk

Glossar

Dank

Autorenporträt

Übersetzerporträt

Über das Buch

Impressum

Wünsche

Ich habe meinen Exmann auf der Straße gesehen. Ich saß auf der Treppe der neuen Bücherei.

Hallo, mein Leben, sagte ich. Da wir mal siebenundzwanzig Jahre lang verheiratet waren, fühlte ich mich dazu berechtigt.

Was?, sagte er. Welches Leben? Meins nicht.

Schon gut, sagte ich. Ich streite mich nicht, wenn die Meinungen so auseinandergehen. Ich stand auf und ging in die Bücherei, um zu sehen, was ich ihnen schuldete.

Die Bibliothekarin sagte: Genau zweiunddreißig Dollar, und die sind Sie seit achtzehn Jahren schuldig. Ich stritt es nicht ab. Ich verstehe einfach nicht, wie die Zeit vergeht. Es stimmt ja, ich hatte die Bücher und habe auch oft an sie gedacht. Außerdem ist die Bücherei nur zwei Straßen entfernt.

Mein Exmann war mir zur Buchrückgabe gefolgt. Er unterbrach die Bibliothekarin, die noch mehr zu sagen hatte. Wenn ich so zurückschaue, sagte er, schreibe ich die Zerrüttung unserer Ehe in vielerlei Hinsicht der Tatsache zu, dass du die Bertrams nie zum Essen eingeladen hast.

Gut möglich, sagte ich. Aber falls du dich erinnerst: Erst war an dem Freitag mein Vater krank, dann wurden die Kinder geboren, dann hatte ich dienstagabends immer die Versammlungen, dann fing der Krieg an. Dann kannten wir sie offenbar nicht mehr. Aber du hast recht. Ich hätte sie zum Essen einladen sollen.

Ich gab der Bibliothekarin einen Scheck über zweiunddreißig Dollar. Sie vertraute mir sofort, ließ meine Vergangenheit hinter sich und machte reinen Tisch, was die meisten städtischen und/oder staatlichen Verwaltungen nicht machen.

Ich lieh mir die beiden Edith Wharton-Bücher, die ich gerade zurückgebracht hatte, noch einmal aus, denn es war sehr lange her, dass ich sie gelesen hatte, und jetzt konnte ich viel mehr damit anfangen. Es waren Das Haus der Freude und Die Kinder. Die Kinder handelt davon, wie sehr sich das Leben vor fünfzig Jahren in den Vereinigten Staaten und in New York im Laufe von siebenundzwanzig Jahren verändert hat.

An etwas Schönes erinnere ich mich allerdings, sagte mein Exmann, an das Frühstück. Ich war überrascht. Bei uns gab’s immer nur Kaffee. Dann fiel mir ein, dass es in der Rückwand unserer Kochnische ein Loch zur Nachbarwohnung gab. Dort aßen sie dauernd süß gebackenen Räucherspeck. Dadurch fühlten wir uns beim Frühstück immer richtig vornehm, doch ohne uns vollzustopfen und träge zu werden.

Das war, als wir arm waren, sagte ich.

Wann waren wir denn mal reich? fragte er.

Als unsere Verpflichtungen mit der Zeit größer wurden, da fehlte es uns doch an nichts. Du hast finanziell ausreichend für uns gesorgt, erinnerte ich ihn. Vier Wochen im Jahr sind die Kinder ins Ferienlager gefahren, mit anständigen Regenumhängen, Schlafsäcken und Stiefeln, wie alle anderen auch. Sie sahen sehr ordentlich aus. Im Winter war unsere Wohnung warm, und wir hatten hübsche rote Kissen und solche Sachen.

Ich wollte ein Segelboot, sagte er. Aber du wolltest nichts.

Sei nicht verbittert, sagte ich. Es ist nie zu spät.

Stimmt, sagte er mit großer Bitterkeit. Vielleicht kaufe ich mir ein Segelboot. Genauer gesagt, habe ich schon ein fünfeinhalb Meter langes mit Ketschtakelung angezahlt. Dieses Jahr verdiene ich gut und kann damit rechnen, dass es noch besser wird. Aber für dich – für dich ist es zu spät. Du wirst immer nur nichts wollen.

Während der ganzen siebenundzwanzig Jahre hatte er solche spitzen Bemerkungen gemacht. Wie eine Rohrreinigungsspirale wanden sie sich durch mein Ohr den Hals hinunter bis fast zum Herzen. Er aber verschwand und ließ mich an dem Gerät ersticken. Wie jetzt zum Beispiel, ich setzte mich auf die Büchereitreppe, und er ging weg.

Ich blätterte im Haus der Freude, verlor jedoch das Interesse. Der Vorwurf traf mich heftig. Natürlich stimmt es, ich habe nicht genug Wünsche und Ansprüche, die ich unbedingt durchsetzen will.

Aber manches will ich schon.

Ich will zum Beispiel ein anderer Mensch sein. Ich will die Frau sein, die diese beiden Bücher in zwei Wochen zurückbringt. Ich will die erfolgreiche Bürgerin sein, die das Schulsystem ändert und vor den Stadträten über die Probleme dieses reizenden städtischen Zentrums spricht.

Und ich hatte meinen Kindern versprochen, den Krieg zu beenden, bevor sie groß waren.

Ich wollte für immer mit einem Menschen verheiratet sein, meinem Exmann oder meinem jetzigen. Sie haben beide genug Persönlichkeit für ein ganzes Leben, was ja, wie sich herausstellt, so lang nicht ist. In einem kurzen Leben kann man nicht aus ihnen schlau werden oder ihre guten Eigenschaften ausreichend würdigen.

Heute Morgen erst habe ich aus dem Fenster geschaut, eine Weile lang die Straße beobachtet und gesehen, dass die kleinen Ahornbäume, die die Stadt ganz von selbst ein paar Jahre, bevor die Kinder geboren wurden, gepflanzt hat, jetzt in der Blüte ihres Lebens stehen.

Wie dem auch sei, ich beschloss, die beiden Bücher zurück in die Bücherei zu bringen. Was beweist, dass ich geeignete Schritte unternehmen kann, wenn ein Mensch daherkommt oder etwas passiert, der oder das mich aufrüttelt oder kritisiert. Man kennt mich aber eher als jemanden, der dem aus dem Wege geht.

Schulden

Heute rief mich eine Dame an. Sie sagte, sie sei im Besitz ihres Familienarchivs. Sie habe gehört, ich sei Schriftstellerin. Ob ich ihr helfen könne, über ihren Großvater zu schreiben, einen berühmten Erneuerer und Visionär des Jiddischen Theaters. Ich sagte, ich hätte schon jede kleinste Kleinigkeit, die ich über das Jiddische Theater wüsste, für eine Geschichte benutzt und keine Zeit, mir noch mehr darüber anzuhören und dann darüber zu schreiben. Ich bräuchte nämlich viel Zeit, um vom Wissen zum Erzählen zu kommen. Die Frau bot mir eine Erfolgsbeteiligung an, aber das ist mir zu unnatürlich. Das würde das Leben ihres Großvaters niemals schneller in Literatur befördern, wie ich sie schreibe.

Am nächsten Tag trank ich mit meiner Freundin Lucia einen Kaffee, und wir redeten über die Frau. Lucia meinte, es sei wahrscheinlich schwer, ein Familienarchiv, ja selbst Geschichten über bedeutende Großeltern oder Onkel zu besitzen, wenn man sechzig oder siebzig sei und keinen Schriftsteller in der Familie habe und die Kinder vollauf damit beschäftigt seien, ihr eigenes Leben zu leben. Es sei doch schade, das ganze Erbe zu verlieren, nur weil man selbst irgendwann stirbt, sagte sie. Ich sagte, ja, das verstünde ich. Wir tranken noch einen Kaffee, dann ging ich nach Hause.

Ich dachte über unser Gespräch nach. Eigentlich schuldete ich der Dame, die angerufen hatte, nichts. Aber meiner eigenen Familie und den Familien meiner Freunde und Freundinnen womöglich doch etwas. Und zwar das: ihre Geschichten so einfach wie möglich zu erzählen, um sozusagen ein paar Leben zu retten.

Weil es Lucias Idee war, gehört die erste Geschichte ihr. Ich erzähle sie, damit sich ein paar Leute an Lucias Großmutter und an ihre Mutter erinnern, die in dieser Geschichte acht oder neun ist.

Die Großmutter hieß Maria. Die Mutter Anna. Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts lebten sie in der Mott Street in Manhattan. Maria war mit einem Mann namens Michael verheiratet. Er hatte hart gearbeitet, aber unglückliche Umstände und schreckliche Erinnerungen brachten ihn ins Hospital für Geisteskranke auf Welfare Island.

Jeden Morgen machte Anna den weiten Weg mit Straßenbahn, U-Bahn und wieder Straßenbahn, um ihm sein warmes Essen zu bringen. Die Krankenhauskost vertrug er nicht. Wenn Anna aus den steinernen Straßen Manhattans über die Brücke nach Welfare Island fuhr, war sie immer überrascht, wie ländlich es dort war. Sie spielte lange am grünen Ufer des Flusses, pflückte wilde Blumen auf den Wiesen und ging dann hoch zur Männerstation.

Als sie eines Nachmittags wie üblich vorbeikam, fühlte sich Michael sehr schwach und bat sie, sich gegen seinen Rücken zu lehnen und ihn zu stützen, während er sich zum Essen auf die Bettkante setzte. Und so geschah es, dass er in ihren dünnen kleinen Armen zu liegen kam, als er zurückfiel und starb. Er war sehr schwer. Sie hielt ihn ein, zwei Minuten lang und ließ ihn dann aufs Bett fallen. Sie sagte einem Pfleger Bescheid und ging nach Hause. Sie weinte nicht, weil sie ihn nie gemocht hatte. Sie sprach zuerst mit einer Nachbarin, und gemeinsam erzählten sie es der Mutter.

Der Hauptteil der Geschichte kommt aber erst jetzt:

Der Mann Michael war gar nicht Annas Vater. Ihr Vater war gestorben, als sie klein war. Maria hatte mit den anderen kleinen Kindern so gut wie möglich versucht, durch die schweren Zeiten zu kommen. Sie zog zu verschiedenen, beinah verwandten Familien im Viertel und half im Haushalt. Sie arbeitete fleißig und wurde allmählich bekannt für ihr feines selbst gebackenes Brot. Eine Weile lang lebte sie bei einer guten Freundin und backte fantastisches Brot. Aber bald sagte der Mann des Hauses: »Marias Brot schmeckt sehr gut. Warum lernst du nicht, so zu backen?« Und er bewunderte Maria sicher auch noch in anderer Hinsicht. Da bat die Frau Maria wohlweislich, sie möge sich bitte ein anderes Zuhause suchen.

Beim Straßenfest im Frühjahr lernte Maria einen Mann mit Namen Michael kennen, einen Verwandten von Freunden. Sie konnten nicht heiraten, weil er eine Frau in Italien hatte. Um mit ihm leben zu können, legte Maria ihrem vernunftbetonten Kopf folgende Fakten vor:

1. Der Mann war groß und hatte eine auffällige Narbe auf der Schulter. Ihr Mann war ungewöhnlich groß gewesen und hatte eine Narbe auf der Schulter gehabt.

2. Der Mann hatte rote Haare. Ihr verstorbener Mann hatte rote Haare gehabt.

3. Der Mann war Schneider. Ihr Mann war Schneider gewesen.

4. Der Mann hieß Michael. Ihr Mann hatte Michael geheißen.

Nachdem Maria ihren Verstand auf diese Weise überzeugt hatte, brauchte sie in einer wichtigen Zeit ihres Lebens nicht allein zu leben, hatte einen Vater, der gut für die Charakterbildung der Kinder war, einen Mann im Bett zum Wohlfühlen sowie einen Ehemann, dem sie dienen konnte. Trotz alledem und obwohl er in ihren Armen starb, mochte Anna, das Kind, ihn überhaupt nicht. Das war schade, denn er nannte sie immer »meine Kleine«. Bei ihren täglichen Besuchen hatte er stets im Flur oder auf der Kante seines weißen Betts auf sie gewartet, und sie hatte stets gerufen: »Hallo, Zio, hier ist dein Essen. Mama schickt es. Jetzt muss ich gehen.«

Ganz einfach

Sie würden mich sicher gern kennenlernen. Ich war eine Frau, die ihre Jugend ausgekostet hat. Ja, in den goldenen Jahren war ich nicht wie so manch andere. An mir flog die Zeit nicht vorbei wie ein flüchtiger Traum. Ich habe mich nicht nur samstagabends, sondern auch dienstags und mittwochs bestens amüsiert.

Hat es mir geschadet? Von wegen, wir hatten es so gut, wie es in diesem Land nur möglich ist: Autos, im Sommer was gemietet in Jersey, Fernsehen sofort, als es aufkam, für die Küche nur das Tollste. Beschwerden, mit denen ich den Boss behelligen müsste, habe ich nicht.

Trotzdem ist es wie ein langes, hoffnungsloses Heimweh, die Sehnsucht nach den Jugendjahren. Für mich sind sie wie mein Zuhause, das ich für immer verlassen habe, und die ganze Zeit seitdem habe ich in großen Freuden, aber in einer fremden Stadt gelebt. Na gut. Lebt wohl, ihr Jahre, an die ich mich gern erinnere.

Aber deshalb habe ich Verständnis für Ginny, die junge Frau unten, und ihre Kinder. Sie sind mickrig und unterentwickelt. Keine Sonne, kein Rindfleisch. Bloß Nudeln, Bohnen, Kohl. Da wusste es ja meine Mutter schon besser, und die war gerade erst vom Schiff runtergekommen.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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