Unheilbar - Paul Heyse - E-Book

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Paul Heyse

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Neue Deutsche Rechtschreibung Paul Johann Ludwig von Heyse (15.03.1830–02.04.1914) war ein deutscher Schriftsteller, Dramatiker und Übersetzer. Neben vielen Gedichten schuf er rund 180 Novellen, acht Romane und 68 Dramen. Heyse ist bekannt für die "Breite seiner Produktion". Der einflussreiche Münchner "Dichterfürst" unterhielt zahlreiche – nicht nur literarische – Freundschaften und war auch als Gastgeber über die Grenzen seiner Münchner Heimat hinaus berühmt. 1890 glaubte Theodor Fontane, dass Heyse seiner Ära den Namen "geben würde und ein Heysesches Zeitalter" dem Goethes folgen würde. Als erster deutscher Belletristikautor erhielt Heyse 1910 den Nobelpreis für Literatur. Null Papier Verlag

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Seitenzahl: 167

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Paul Heyse

Unheilbar

 Novelle

Paul Heyse

Unheilbar

 Novelle

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected] 2. Auflage, ISBN 978-3-962811-97-6

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Unheilbar

Meran, den 6. Ok­to­ber 186∗

Seit acht Ta­gen, die ich nun hier bin, kei­ne Zei­le ge­schrie­ben! Ich war zu er­schöpft und auf­ge­regt von der lan­gen Rei­se. Wenn ich mich nie­der­setz­te und auf die wei­ßen Blät­ter starr­te, war mir’s, als blick­te ich in eine Ca­me­ra obscu­ra. Alle Bil­der, die mir un­ter­wegs ent­ge­gen ge­flo­gen wa­ren, tauch­ten ganz deut­lich und far­big wie­der auf und jag­ten sich wie im Fie­ber­trau­me, bis mir die Au­gen über­gin­gen. Un­ter­wegs fühl­te ich auch mehr als ein Mal, dass mir die Trä­nen nahe wa­ren; aber ich war nicht al­lein, und von den frem­den Her­ren, die mit­fuh­ren, be­mit­lei­det und aus­ge­fragt zu wer­den, hat­te ich wahr­lich kei­ne Lust. Hier ist’s an­ders; ich bin ein­sam und frei; ich habe es schon er­fah­ren, dass nur die Ein­sa­men frei sein kön­nen. Wa­rum schä­me ich mich denn auch jetzt noch, zu wei­nen? Ist es denn nicht trau­rig ge­nug, dass ich erst einen Blick in alle Schön­hei­ten die­ser Welt tun durf­te, seit ich weiß, dass es ein Ab­schieds­blick ist? –

Es wäre wohl bes­ser, ich ver­schlös­se die­ses Heft und lie­ße die Blät­ter leer. Wo­mit kann ich sie fül­len, als mit un­frucht­ba­ren Kla­gen? Ich hat­te es mir schön und tröst­lich ge­dacht, al­les nie­der­zu­schrei­ben, was mir in die­sem letz­ten Win­ter, den ich noch zu le­ben habe, durch den Sinn ge­hen wür­de. Ich woll­te mei­nem ge­lieb­ten Bru­der, mei­nem klei­nen Ernst, der jetzt doch noch zu jung ist, um das Le­ben und den Tod zu ver­ste­hen, an die­sem Hef­te ein Ver­mächt­nis hin­ter­las­sen, das ihm teu­er wäre, wenn er spä­ter ein­mal nach sei­ner Schwes­ter frag­te und Nie­mand da wäre, der ihm ant­wor­ten könn­te. Aber ich sehe wohl, es war ein tö­rich­ter Ge­dan­ke. Möch­te man denn in der Erin­ne­rung ei­nes teu­ren Men­schen fort­le­ben un­ter dem Bil­de der letz­ten Krank­heit? Er soll mich lie­ber ver­ges­sen, als sich die­se blas­sen Züge ein­prä­gen, die mich sel­ber er­schre­cken, so oft ich in den Spie­gel sehe.

Abends. Schwü­le, be­deck­te Luft.

Ich habe ein paar Stun­den lang am Fens­ter ge­ses­sen. Man sieht da weit in das schö­ne Etsch­land hin­aus, über die Stadt­mau­er, die Al­lee mit den breitäs­ti­gen Pap­peln, die auf dem Stein­dam­me längs der rau­schen­den Pas­ser ste­hen, in die Nie­de­rung hin­ein, wo die Her­den zwi­schen den hun­dert klei­nen Bä­chen wei­den, bis zu den fer­nen Ber­gen. Die Luft war ganz still; ich konn­te so­gar ein­zel­ne Stim­men von den Spa­zier­gän­gern auf der Was­ser­mau­er un­ter­schei­den; oder schi­en mir’s nur so? Die Kin­der mei­nes Wirts, des Schnei­ders, sa­hen neu­gie­rig zur Tür her­ein, bis ich ih­nen das Letz­te von mei­ner Rei­se-Scho­ko­la­de gab. Wie glück­lich sie da­mit zur Mut­ter hin­aus­lie­fen! Ich bin dann ganz hei­ter und still ge­wor­den und habe mir’s über­legt, dass ich Un­recht täte, mich vor mei­nen Selbst­ge­sprä­chen zu fürch­ten. Mö­gen die­se Blät­ter doch im­mer­hin ein Te­sta­ment sein – müs­sen sie dar­um schon Trau­er tra­gen? Bin ich nicht von Hau­se, wo ich wie mit hun­dert Ban­den ein­ge­schnürt war, mit herz­haf­tem Ent­schlus­se fort­ge­gan­gen, noch ein­mal des Le­bens und der Frei­heit froh zu wer­den, und soll­te mir jetzt das Zeug­nis ge­ben, dass ich nicht ver­dien­te, frei zu sein? Frei­lich, ich weiß, es ist ein kur­z­es Glück. Aber um so fes­ter muss ich es hal­ten und mir’s nicht durch Schwä­che und Ver­sin­ken in Selbst­be­mit­lei­dung ver­küm­mern. – –

Die Wir­tin hat mir er­zählt, dass heu­te früh ein Me­ra­ner Bür­ger in den bes­ten Jah­ren, der nie eine Krank­heit ge­habt, plötz­lich ge­stor­ben sei. Alle hät­ten ihm im­mer ein lan­ges Le­ben zu­ge­traut, und er selbst sich wohl auch. Bin ich nicht zu be­nei­den, wenn ich mich mit ihm ver­glei­che? Er wird eben auch, wie die meis­ten Men­schen, in Mühe und Ar­beit hin­ge­lebt und ge­dacht ha­ben, die Zeit, um aus­zu­ru­hen und sein bi­schen Le­ben auch zu ge­nie­ßen, wer­de end­lich ein­mal kom­men, wenn ge­nug er ge­schafft und er­wor­ben hät­te. Er hat sein Ziel nicht ge­kannt; ich ken­ne das mei­ni­ge; das ist der Un­ter­schied. Ist er nicht zu mei­nen Guns­ten? Ist es nicht noch lan­ge ge­nug bis zum Früh­ling, und wür­de ich die­se Gna­den­frist aus­kos­ten, wie ich jetzt tue, wenn ich sie nicht kenn­te? O es ist in Wahr­heit eine Gna­de, vom Tode nicht über­rascht und über­fal­len zu wer­den, ihn lang­sam kom­men zu se­hen, dass man, Auge in Auge mit ihm, erst noch le­ben ler­nen kann! Ich kann es un­serm Arzt, mei­nem lie­ben, vä­ter­li­chen Freun­de, nie ge­nug dan­ken, dass er mir die Wahr­heit nicht ver­schwieg. Er hat da­durch das Wort, das er mei­ner ster­ben­den Mut­ter gab, mir im­mer ein Freund zu sein, reich­lich ein­ge­löst.

Die Nacht ist nun her­ein­ge­bro­chen; ich kann kaum mehr se­hen, was ich schrei­be. Habe ich mein Le­ben lang je­mals einen so tie­fen Frie­den, um mich und in mir, ge­nos­sen, wie hier in die­sem schö­nen, blü­hen­den, re­ben­be­kränz­ten Vor­hof des Gra­bes? Nur einen Hauch da­von in dei­ne ge­press­te, kum­mer­vol­le See­le, mein ar­mer Va­ter! Gute Nacht! Und gute Nacht, mein klei­ner Ernst! Wer wird dich heu­te zu Bet­te ge­bracht und dich mit Mär­chen in Schlaf ge­plau­dert ha­ben?

Am 6. Nach­mit­tags.

Mei­ne Frau Meis­te­rin hat heu­te, als sie mir das Es­sen brach­te, mir eif­rig zu­ge­re­det, nicht im­mer im Zim­mer zu sit­zen, es sei so schön auf der Was­ser­mau­er, man sehe da so vie­le Leu­te, ich müs­se mich doch zer­streu­en. Ich konn­te der gu­ten See­le nicht be­greif­lich ma­chen, dass es mir lie­ber sei, mich zu sam­meln, als mich zu zer­streu­en, dass ich nach frem­den Men­schen gar kein Ver­lan­gen trü­ge.

Nur dass ich noch zu schwach und müde sei von der Rei­se und die zwei stei­len Trep­pen mir be­schwer­lich fal­len, hat ihr end­lich ein­ge­leuch­tet.

Nun sitz’ ich wie­der und schrei­be. Die Sti­cke­rei habe ich weg­le­gen müs­sen; sie greift mir jetzt die Brust an; auch das klei­ne Töch­ter­chen des Wir­tes, dem ich täg­lich Un­ter­richt in Hand­ar­bei­ten ge­ben will, muss­te ich wie­der weg­schi­cken. Es liegt mir auch ein Zwei­fel im Sinn, der mich erst heu­te beim Auf­wa­chen, da aber ganz hef­tig und heiß über­lief, und mit dem ich erst ins Rei­ne kom­men muss.

Selt­sam, dass er mir nicht frü­her be­geg­net ist. Ich war so völ­lig über­zeugt, das Rech­te zu tun. Ich wuss­te so deut­lich, dass ich Nie­mand zu Hau­se feh­len wür­de, dass mein Va­ter je­den un­gü­ti­gen Stief­mut­ter­blick, der mir galt, schwer emp­fand, dass ich auch für Ernst über­flüs­sig war, seit die Mut­ter dar­auf be­stan­den hat, ihn trotz sei­ner Ju­gend in die Pen­si­on zu tun, nur um ihn nicht mehr zu se­hen und für ihn sor­gen zu müs­sen. Der Va­ter wein­te, als er mich zum letz­ten Mal an sich drück­te. Aber es er­leich­ter­te ihm doch das Herz, mich fort­rei­sen zu se­hen. Er gönnt mir das Bes­te; und was kann er für mich tun? – Nun ist es mir den­noch auf ein­mal nahe ge­tre­ten, ob ich nicht noch an­de­re Pf­lich­ten zu­rück­ge­las­sen habe, ob ein Mensch, so lan­ge er nicht ganz un­fä­hig ist, die Hän­de in den Schoß le­gen und einen win­ter­lan­gen Fei­er­abend ge­nie­ßen darf? – Erst seit ich mich glück­lich füh­le, seit al­ler Staub und Druck des kah­len klein­städ­ti­schen All­tags­le­bens von mir ab­ge­fal­len ist, frag’ ich mich, welch ein Recht ich habe, glück­li­cher zu sein, als die Tau­sen­de, die dem Tode nicht fer­ner sind, als ich, und doch bis auf den letz­ten Bluts­trop­fen kämp­fen müs­sen! Und ich schlie­ße hier einen selbst­süch­ti­gen Waf­fen­still­stand mit dem Fein­de und feie­re ein Fest, als hat­te ich den größ­ten Sieg da­von ge­tra­gen? –

Am 8. Ok­to­ber.

Die Ant­wort, die ich mir da­mals schul­dig blieb, weil mein ar­mer Kopf sich nicht Rats wuss­te, ist mir nun zu Teil ge­wor­den. Ich bin von mei­nem ers­ten Aus­gan­ge so zer­bro­chen und aus­ge­löscht nach Hau­se ge­kom­men, als hät­te ich einen har­ten Ar­beits­tag in Ket­ten hin­ter mir. Nein, ich tau­ge nur noch für das Gna­den­brot, und wenn es mir sü­ßer schmeckt als Man­chem, wird mir’s ja wohl kein Vor­wurf sein. Ich bin auch ge­nüg­sa­mer als Man­cher.

Und wenn ich Nie­mand mehr nüt­ze, wem fal­le ich denn zur Last? Mein klei­nes müt­ter­li­ches Erbe, auch wenn ich es nicht an­grif­fe, um es für Ernst auf­zu­he­ben, könn­te es ihm die Pf­licht er­spa­ren, sich mit ei­ge­ner Ar­beit durchs Le­ben zu hel­fen? Es wird auch noch da­von üb­rig blei­ben, denn wie ich heu­te er­fah­ren habe, ist der Rest mei­ner Kräf­te arm­se­li­ger, als ich dach­te. Wer weiß, wie kurz mein Win­ter im Sü­den sein wird.

Ich wer­de nicht oft un­ter die Pap­peln hin­aus­ge­hen. Es war mir nicht wohl un­ter den ar­men, schlei­chen­den, hüs­teln­den, ge­putz­ten Men­schen, die mit ih­ren Trau­ben­körb­chen am Arm her­um­schwank­ten und mit je­der Bee­re be­gie­rig einen Trop­fen Hoff­nung ein­so­gen. Die aber, de­nen die Hoff­nungs­lo­sig­keit auf dem Ge­sich­te stand, fühl­te ich mir noch frem­der. Es mag wohl­tu­end sein, mit Lei­dens­ge­fähr­ten zu ver­keh­ren. Aber wenn das glei­che Schick­sal un­glei­che Ge­sin­nun­gen er­zeugt, so trennt das, was ver­ei­nen soll­te, und man fühlt den Ab­stand der Ge­mü­ter um so deut­li­cher. Kei­nen habe ich ge­se­hen, dem ich mich ge­traut hät­te von mei­ner fest­li­chen und dank­ba­ren Stim­mung ein Wort zu sa­gen. Sie hät­ten mich für eine Über­spann­te, vom Fie­ber Ver­stör­te, oder für eine Heuch­le­rin ge­hal­ten.

Und kann ich es ih­nen übel neh­men? Es ist mög­lich, dass auch ich den Tod mehr fürch­te­te, wenn ich das Le­ben mehr lieb­te. Wa­rum war das mei­ne nicht lie­bens­wür­di­ger?

Es kön­nen sich auch wohl nur We­ni­ge vor­stel­len, in welch er­ha­be­ner Grö­ße und Stil­le die­se Na­tur auf eine arme See­le wirkt, die zwei­und­zwan­zig Jah­re nicht den Fuß aus den Mau­ern ei­ner kah­len, en­gen, spieß­bür­ger­li­chen klei­nen Stadt ge­setzt hat. Man reist so viel heut­zu­ta­ge. Auch ich wäre wohl frü­her aus un­se­rer trau­ri­gen Ein­öde her­aus­ge­kom­men, ohne die lan­ge Krank­heit der Mut­ter und dann, als sie ge­stor­ben war, mei­ne Mut­ter­pflich­ten ge­gen den Klei­nen. Nun ist mir die­ses wun­der­vol­le Tal schon wie ein Jen­seits, ein wah­rer Gar­ten Got­tes, und die ers­ten Atem­zü­ge dar­in wa­ren so be­rau­schend, als trü­gen schon Flü­gel mei­ne See­le über den Bo­den hin. Dass sie mei­nem Kör­per nicht bes­ser hal­fen, als ich wie­der die enge, stei­le Trep­pe hin­auf­sch­lich, war frei­lich schlimm. Aber ich habe ja auch un­ten nichts zu su­chen. Je­der Blick aus dem Fens­ter ist schon wie ein Aus­flug ins Pa­ra­dies.

Mei­ne Wir­te sind sehr arm, der Mann ar­bei­tet bis in die Nacht hin­ein, die Frau hat alle Hän­de voll mit den vie­len Kin­dern zu tun, im Hau­se sieht es düs­ter und un­freund­lich aus. Wie ich zu­erst mit dem Ho­tel-Die­ner, der mir die­se Woh­nung nach­wies – wahr­schein­lich weil er aus mei­nem ein­fa­chen An­zu­ge auf mei­ne Kas­se schloss – die lan­gen, dunklen Gän­ge und trü­ben Höfe durch­schritt und die bau­fäl­li­ge Stie­ge hin­auf­klet­ter­te, über die Flu­re, auf de­nen ver­staub­ter Haus­rat: alte Spinn­rä­der, Bett­stücke, Ge­schirr und Mais-Vor­rä­te, bunt durch ein­an­der liegt und die Spin­nen jah­re­lang un­ge­stört ihre dich­ten Ge­we­be wir­ken, wur­de mir die Brust zu­ge­schnürt, und das Herz klopf­te mir so stark, dass ich auf je­der drit­ten Stu­fe still ste­hen muss­te. Aber der ers­te Blick in mein nied­ri­ges Zim­mer­chen, und vollends aus dem Fens­ter, ver­söhn­te mich rasch mit dem Ge­dan­ken, dass die­ses mei­ne letz­te Woh­nung auf Er­den sein soll­te. Der alt­mo­di­sche Schreib-Se­kre­tär mit den Mes­sing­grif­fen sieht ganz so aus, als wäre er ein Zwil­lings­bru­der von je­nem, der im Zim­mer mei­ner lie­ben Mut­ter stand, und der Lehn­stuhl ist ge­ra­de so braun und hoch und schwer, wie der ihre war. Ein paar schlech­te Bil­der, die mich stör­ten, habe ich gleich weg­ge­nom­men, und die der El­tern da­für hin­ge­hängt. Nun ist mir’s, als wäre ich schon jah­re­lang hier zu Hau­se.

In der Ecke, auf ei­ner Kon­so­le von schwar­zem Holz, ist ein Kru­zi­fix an­ge­bracht. Es gibt mir oft zu den­ken, ob­wohl ich nicht da­mit groß ge­wor­den bin. – –

Nun habe ich auch mei­ne Bü­cher be­kom­men, die mir der Va­ter nach­ge­schickt hat, nun fehlt mir nichts mehr. Er hat auch dazu ge­schrie­ben, ganz wie ich’s er­war­te­te. Den Zug, sich ins Unab­än­der­li­che zu fü­gen, ohne sich zu sper­ren, habe ich von ihm. Von Ernst sechs Zei­len, er ist höchst ver­gnügt in der Pen­si­on mit sei­nen neu­en Ka­me­ra­den. Von der Mut­ter auch einen Gruß; we­nigs­tens steht er im Brief. Der Va­ter wird ihn wohl ohne zu fra­gen hin­zu­ge­fügt ha­ben.

Nun will ich nach Hau­se schrei­ben; wie viel lie­ber tät’ ich es, wenn ich wüss­te, dass die Brie­fe nur in Va­ters Hän­de kämen!

Am 10. Abends.

Was es doch für selt­sa­me Men­schen gibt! Vor ei­ner Stun­de, als ich le­send und an nichts Ar­ges den­kend am Fens­ter sit­ze und mich an der mil­den Abend­luft er­qui­cke – denn die Son­ne geht schon um 5 Uhr hin­ter den ho­hen Mar­lin­ger Berg, und dann ist es noch vie­le Stun­den som­mer­lich warm, und die ört­li­chen Berg­häup­ter ste­hen noch lan­ge im Lich­te – klopft es an mei­ner Tür, was mich im­mer er­schreckt, da es so sel­ten ge­schieht, und eine klei­ne, kor­pu­len­te, mir völ­lig un­be­kann­te Dame tritt her­ein, die sich ganz un­be­fan­gen mir vor­stellt und aufs Herz­lichs­te ihr Ver­lan­gen, mich ken­nen zu ler­nen, an den Tag legt. Sie habe mich auf der Was­ser­mau­er, die ich seit je­nem ers­ten Male noch nicht wie­der be­tre­ten, ge­se­hen und ein großes Tend­re1 für mich ge­fasst, da ich of­fen­bar sehr krank und so al­lein in der Welt zu ste­hen schie­ne, und sich gleich vor­ge­nom­men, das nächs­te Mal mich an­zu­re­den, in der Hoff­nung, mir viel­leicht in ir­gend et­was nütz­lich zu sein. »Denn wis­sen Sie, lie­bes Kind«, sag­te sie, »ich selbst, wie Sie mich da se­hen, bin nun neun­und­fünf­zig Jah­re alt, aber nie einen Tag lang krank ge­we­sen, au­ßer im Kind­bett. Mei­ne zwei Söh­ne und drei Töch­ter sind auch alle, Gott sei Dank, kern­ge­sun­de Men­schen, alle schon ver­sorgt und ver­hei­ra­tet. Nun aber habe ich von früh an eine wah­re Pas­si­on ge­habt, ar­men Men­schen, die nicht so gut dar­an sind, wie ich, zu hel­fen, Kran­ke zu pfle­gen, Ster­ben­den die letz­ten Lie­bes­diens­te zu er­wei­sen. Mein se­li­ger Mann nann­te mich im­mer die pri­vi­le­gier­te Le­bens­ret­te­rin; denn eine bes­se­re Wär­te­rin kön­nen Sie sich nicht den­ken. Ich bin noch aus ei­ner Ge­ne­ra­ti­on, wo man gar nicht wuss­te, was Ner­ven sind; da ver­schlägt es mir gar nichts, zehn Näch­te hin­ter ein­an­der kein Auge zu­zu­tun; selbst Ope­ra­tio­nen kann ich mit an­se­hen, ohne jede An­wand­lung von Schwä­che. Eben jetzt habe ich eine Freun­din hie­her be­glei­tet, die es schwer­lich lan­ge mehr ma­chen wird. Wenn die Ärms­te er­löst sein wird, habe ich noch mehr freie Zeit, als jetzt, wo sie mich auch schon im­mer mit Ge­walt nö­tigt, sie al­lein zu las­sen, um mir Be­we­gung zu ma­chen. Soll­ten Sie also ir­gend eine Stüt­ze, einen Rat, eine Hil­fe be­dür­fen, mein lie­bes Kind, so wen­den Sie sich an Nie­mand an­ders, als an mich, das müs­sen Sie mir gleich aufs Fei­er­lichs­te ver­spre­chen. Dass ich im Üb­ri­gen nicht zu­ge­ben wer­de, dass Sie ihre Tage so wie bis­her mut­ter­see­len­al­lein hin­brin­gen, ver­steht sich von selbst. Ich wer­de oft kom­men, ich ma­che kei­ne Um­stän­de mit mei­nen Freun­den, und Sie müs­sen mir’s schon zu Gute hal­ten, wenn ich Sie et­was ty­ran­ni­sie­re, es ge­schieht Al­les zu Ihrem Bes­ten. Denn auf Ner­ven­lei­den ver­ste­he ich mich, wie der bes­te Arzt; die wol­len Zer­streu­ung, Luft, An­re­gung. Apro­pos, wen von den hie­si­gen Ärz­ten ha­ben Sie kon­sul­tiert?«

Ich er­wi­der­te, dass ich mich an kei­nen Arzt ge­wen­det hät­te, es auch nicht Wil­lens sei, da ich ge­nau wis­se, dass ich un­heil­bar sei. Als sie un­gläu­big den Kopf schüt­tel­te, hol­te ich das Blatt Pa­pier aus mei­ner Map­pe, auf dem un­ser Arzt mir wie auf ei­ner Land­kar­te auf­ge­zeich­net hat, wie weit die Zer­stö­rung in mei­ner Lun­ge schon um sich ge­grif­fen habe. Sie be­trach­te­te es ganz sach­ver­stän­dig. Lie­bes Kind, sag­te sie, das ist Al­les dum­mes Zeug; ich ken­ne die Ärz­te, je mehr sie sa­gen, je we­ni­ger wis­sen sie. Ich möch­te eine Wet­te ma­chen, dass es ganz an­ders in Ih­nen aus­sieht, als auf die­sem Stück Pa­pier.

Ich sag­te ihr, dass ich ja alle Hoff­nung habe, hier­über klar zu wer­den, wenn ich auch für die Wet­te dan­ken müs­se, da ich sie doch lei­der nicht bei le­ben­di­gem Lei­be ge­win­nen kön­ne. Sie hör­te nur halb zu, wenn ich sprach, fuhr aber eif­rig fort, mit ei­ner so kraft­vol­len Stim­me, dass sie mir durch Mark und Bein drang, mir alle mög­li­chen Krank­heits-Ge­schich­ten, die sie er­lebt und die ge­gen die Un­fehl­bar­keit der Ärz­te zeu­gen soll­ten, mit De­tails zu er­zäh­len, von de­nen mir end­lich wirk­lich übel ward. Ich hat­te noch so viel Mut und Be­sin­nung, sie um Scho­nung zu bit­ten. Da stand sie end­lich auf, mach­te beim Ab­schie­de eine Be­we­gung, als wenn sie mich küs­sen woll­te, schi­en of­fen­bar be­frem­det, als ich steif und förm­lich ihr nur die Fin­ger­spit­zen gab, und rausch­te mit stür­mi­scher Eile und der Ver­si­che­rung, bald wie­der­zu­kom­men, zur Tür hin­aus.

Ich muss­te eine hal­be Stun­de die Au­gen schlie­ßen und still mein Blut wie­der eb­ben las­sen, als sie fort war. Aber ein schar­fer Ge­ruch von Es­sig-Äther, der sie um­gab und den sie mir als sehr ner­ven­stil­lend an­ge­prie­sen hat­te, ist noch jetzt im Zim­mer, und im­mer muss ich die kalt zu­trau­li­chen Au­gen und die re­so­lu­te un­be­weg­li­che Mie­ne der Men­schen­freund­lich­keit in dem großen run­den Ge­sich­te vor mir se­hen, und nur der Ge­dan­ke, dass ich we­nigs­tens heu­te vor ei­nem neu­en Über­fall si­cher bin, ist mir ein Trost. Aber um das Tête-à-tête mit mei­nem Schick­sa­le, das mir die­sen Ort so heim­lich mach­te, bin ich ge­bracht; ich müss­te denn noch deut­li­cher wer­den, was ich selbst im Fal­le ei­ner Not­wehr kaum übers Herz bräch­te.

Was ist doch der An­teil der Men­schen! Die We­ni­gen, die uns lie­ben, tun uns, wenn wir lei­den, mit ih­rem Mit­ge­fühl weh, weil wir se­hen, dass wir sie trau­rig ma­chen; die uns nicht lie­ben, kön­nen die uns mit ir­gend et­was wohl tun? »Nur Bett­ler wis­sen, wie Bett­lern zu Mute ist«, habe ich ein­mal im Les­sing ge­le­sen. Aber kön­nen Bett­ler ein­an­der Al­mo­sen ge­ben?

Am an­de­ren Mor­gen.

Schlecht ge­schla­fen! Ich bin des Ge­sprächs mit Men­schen so ent­wöhnt, dass ich im­mer die har­te, hel­le Stim­me der barm­her­zi­gen Dame hö­ren und mich im Traum aufs Hef­tigs­te mit ihr zan­ken muss­te, bis sie mir zu­letzt so­gar ihre blon­de Haar­tour mit den drei dün­nen Löck­chen auf je­der Sei­te ins Ge­sicht warf, dass ich ganz ent­setzt und in Schweiß ge­ba­det auf­wach­te. Nun muss ich frei­lich dar­über la­chen. Was habe ich ihr für un­höf­li­che Din­ge ge­sagt, un­ter An­de­rem so­gar, dass ich ihr mei­ne Lun­ge in Spi­ri­tus ver­ma­chen wür­de! Ist man doch un­ge­zo­gen im Trau­me!

Nun bin ich ei­lig in die Klei­der ge­fah­ren und habe die größ­te Angst, dass sie mich wie­der über­fal­len möch­te. Mein ar­mes, fried­li­ches, klei­nes Ster­be­win­kel­chen, dass es mir so ver­stört wer­den muss­te, dass ich auch hier kei­ne Ruhe ha­ben soll! Ich muss wirk­lich aus­ge­hen, um zu se­hen, ob ich drau­ßen ir­gend­wo einen si­che­ren Ver­steck aus­fin­dig ma­chen kann.

Am Nach­mit­tage.

Ich habe große Din­ge hin­ter mir, einen ho­hen Berg, ein Aben­teu­er mit ei­nem wil­den Mann, einen be­rau­schen­den Trunk Na­tur und Ein­sam­keit. Ob­wohl ich nun so müde bin, dass ich den Arm je­des Mal, wenn ich die Fe­der ein­tau­che, mit ei­nem be­son­de­ren An­lau­fe mei­nes Wil­lens auf­he­ben muss, bin ich doch in­ner­lich neu ge­stärkt und habe die schlech­te Nacht ver­wun­den und ge­trau­te mir jetzt, es mit ei­ner gan­zen Kaf­fee-Ge­sell­schaft barm­her­zi­ger Schwes­tern in blon­den Haar­tou­ren auf­zu­neh­men.

Wie schön mein Grab ist, wie wun­der­ba­re Son­nen­strah­len dar­auf her­nie­der­flie­ßen, habe ich längst zu wis­sen ge­meint, und erst heu­te sind mir die Schup­pen recht von den Au­gen ge­fal­len. Ich glau­be im Ernst, was wir im Nor­den Son­nen­schein nen­nen, ist nur eine Imi­ta­ti­on, eine bil­li­ge­re Mi­schung von Licht und Luft, so eine Art Gold­bron­ze im Ver­gleich mit dem ech­ten, so­li­den, un­be­zahl­ba­ren Gol­de, das hier ver­schwen­det wird.