unHeimlich oder 1000 Spritzen - Thomas Hammer - E-Book

unHeimlich oder 1000 Spritzen E-Book

Thomas Hammer

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Beschreibung

Warum unHeimlich? Einfach zu erklären. Nur Wenige wissen von meiner Krankheit, aktuell auch meine Kinder nicht. Arbeitskollegen sowieso nicht. Also eher heimlich. Und unheimlich sind die vielen Facetten der Krankheit auf jeden Fall. Häufig fragt man sich, ob man mal etwas anderes hat als einen Schub. Außerdem ist es jetzt mehr als 20 Jahre her seit dem Start der Spritzen. Ein Jahr hat 52 Wochen, jede Woche eine Spritze (dazu später) macht in Summe mehr als 1000 Spritzen.

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Vorwort

Warum unHeimlich? Einfach zu erklären. Nur Wenige wissen von meiner Krankheit, aktuell auch meine Kinder nicht. Arbeitskollegen sowieso nicht. Also eher heimlich. Und unheimlich sind die vielen Facetten der Krankheit auf jeden Fall. Häufig fragt man sich, ob man mal etwas anderes hat als einen Schub. Außerdem ist es jetzt mehr als 20 Jahre her seit dem Start der Spritzen. Ein Jahr hat 52 Wochen, jede Woche eine Spritze (dazu später) macht in Summe mehr als 1000 Spritzen. Klingt viel, oder?

Für mich.

Das Buch ist in vier Monaten neben meiner eigentlichen Arbeit im „Geheimen“ entstanden, an Flughäfen bei Dienstreisen, manchmal abends, wenn meine Frau nicht da war, oft morgens am Wochenende, wenn meine Familie noch schlief.

The dealer wants you thinking,

that it’s either black or white.

Thank God it’s not that simple

in my secret life.

Katie Melua, “In my secret life”

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Kundenbesuch

Knöpfe am Hemd

Der Vortrag

Yvonne hat Ohrenschmerzen

Kopfjucken

Musik

Italien-Urlaub

Schwere Zeit mit den Füßen

Renate geht aus

Ist es mal wieder soweit?

Gott

Flug nach Athen

Fußballspiel in Athen

Sport ist Mord

Abnehmen

Ärzte

Anruf meiner Mutter

Schönheitsoperation

Mein Vater und seine Krankheiten

Arbeit für meinen Vater

Taufe

Schnelle Fahrt

60. Geburtstag meiner Mutter

Krankheiten

Morgens mit dem Bus zur Arbeit

Wie fühlt sich MS an?

Geht es mir wirklich so schlecht?

Nebenwirkungen

Ein Weihnachten

Ein befreundetes Paar

Erstes Spritzen

Schüttelfrost

Weltuntergangsstimmung

Männer sind wehleidig

Ertragen von Schmerzen

Gedanken über den Tod

Sonntag Morgen 04.30 Uhr

Mitarbeitergespräche

Die Krankheit hat mich ruhiger gemacht

Tanzen

Gesund oder tot?

Bauchkrämpfe

Total erschöpft

Die Nachbarin hat MS

Stuhlgang

Renate liegt flach

Hautschmerzen

Yvonne verletzt sich

Bilden sich neue Nerven?

Die Haut wird dünn

Ein Traum

Mal wieder Sex

Meine Mutter hat Arthrose

Opa stirbt

Gespräche über Opa

Der Mann ohne Arme

Abends

Referenzen

1. Nachwort

2. Nachwort

Einleitung

Ich beeile mich. Die Besprechung in der Arbeit dauerte heute ein bisschen länger als geplant, es ist schon wieder kurz nach sieben abends. Meine Familie geht Donnerstag Schwimmen und kommt so gegen halb acht nach Hause. Also noch eine halbe Stunde. Ich parke meinen Wagen direkt vor der Garage neben dem Haus.

Ich sperre die Tür auf, stelle meine Tasche ab und gehe in den Keller. Dort im Kühlschrank liegen die Spritzen, für jede Woche eine. Sie sind so hinter der Schokolade versteckt, dass man sie auf den ersten Blick nicht sehen kann, wobei in der Regel kein Besucher dort hineinschaut (wer geht schon bei anderen Leuten in den Keller?). Drei Spritzen sind noch da, ich muss mal wieder zum Arzt, um ein neues Rezept zu holen. Am besten gebe ich mir die Spritze immer Mittwoch- oder Donnerstagabend, wegen der Nebenwirkungen.

Ich versuche nicht zu schnell zu laufen, weil ich das Gefühl habe, dass es beim Herausziehen der Spritze eher blutet, wenn ich vorher gerannt bin.

Beim Hochgehen ins Schlafzimmer gehe ich an den Familienbildern im Flur vorbei und bin ein bisschen stolz. Hier hängen acht Jahre Familiengeschichte, so alt ist meine große Tochter; und auch zwei selbstgemalte (von mir) Portraits meiner Kinder. Ich mache die Packung schon auf, nehme die Kanüle heraus und wärme die Flüssigkeit in der Spritze mit der Hand an. Wenn sie Körpertemperatur hat, ist es angenehmer beim Spritzen.

Ich ziehe mich aus, hänge meinen Anzug in den Schrank und ziehe schon mal ein Hemd an. Die Hose kann noch ausbleiben. Ich hole Pflaster und Desinfektionstücher aus einer versteckten Tasche und trage den Zeitpunkt der Injektion in ein kleines Heft ein. Letzte Woche ins linke Bein, dann wäre diese Woche wieder das rechte dran. Der linke Oberschenkel ist mir zum Spritzen lieber, da ich dort eine Stelle kenne, die nie blutet, in der Nähe eines kleinen Muttermals. Der rechte Oberschenkel ist ohnehin noch blau von der Injektion vor zwei Wochen, also noch einmal links.

Das Umziehen, die Überlegungen, das Eintragen ins Heft führen zu einer willkommenen Verzögerung. Die Spritze – Betaferon – muss in den Muskel gegeben werden, also senkrecht die Nadel bis zum Ende einführen.

Ein Arzt hat mir einmal erzählt, dass die Schmerzrezeptoren unter der Haut sitzen. Ich schätze, dass er Recht hat. Wenn die Haut mal durchstochen ist, tut es fast nicht mehr weh, außer wenn beim Zusammenbau der Spritze - ich muss die Nadel auf die Kanüle stecken und die noch vorhandene Luft vorsichtig herausdrücken - etwas Flüssigkeit die Nadel herunter läuft. Dann brennt es.

Die Spritze gebe ich mir im Sitzen, das Schlafzimmerbett hat die richtige Höhe und die Muskeln sind entspannt. Ich gebe mir Mühe. Heute geht alles problemlos, die Aktion ist nach zehn Minuten erledigt. Mittlerweile ein wöchentliches Ritual.

Um das Pflaster an der richtigen Stelle draufzukleben, muss ich in der Nähe des vermeintlichen Einstichs noch einmal drücken, bis ein bisschen Blut zum Vorschein kommt. Das Pflaster ist notwendig, damit sich der Einstich nicht entzündet (habe ich gelernt).

Das war dann Spritze Nr. 214.

Ich räume alles zusammen, ziehe meine Hose an und gehe zufrieden die Treppe wieder hinunter in Küche. Dort vergrabe ich die Spritze unter dem Hausmüll, damit sie die Kinder nicht sehen, wenn sie die Mülltonne aufmachen.

Dann hupt meine Frau draußen. Meine Familie kommt nach Hause. Mir geht es gut, ich freue mich auf sie.

Ich bin 40 Jahre alt und habe seit fünfzehn Jahren Multiple Sklerose oder kurz MS. 120.000 Menschen sollen allein in Deutschland betroffen sein. MS ist eine Autoimmunkrankheit (liest man unter Wikipedia), d. h. körpereigene Abwehrzellen greifen die eigenen Nerven (zunächst die Schutzhüllen der Nerven) an.

Da die Entzündungen im gesamten Zentralen Nervensystem auftreten können, kann MS fast jedes neurologische Symptom verursachen (wie ich selbst erfahren habe).

Seit mehr als vier Jahren gebe ich mir jede Woche eine Spritze gegen diese Krankheit. Die Wahl stand zwischen einer Injektion alle zwei Tage unter die Haut oder einer jede Woche in den Muskel, was vermutlich mehr Überwindung kostet. Da ich beruflich viel unterwegs bin, habe ich mich für letztere Variante entschieden. Mit Ausnahme von einem Kribbeln in den Füßen ab und zu (und manchmal etwas mehr) geht es mir gut, seit etwa vier Jahren.

Ich bin glücklich mit Renate verheiratet und habe zwei tolle Kinder, Yvonne und Stephanie (Steffi). Beruflich bin ich erfolgreich und habe mit 300 Mitarbeitern wohl eine Führungsposition in einem großen Unternehmen.

Von meiner Krankheit wissen – wenn man von meinen Geschwistern, zu denen ich kaum Kontakt habe – absieht, nur meine Frau und meine Eltern. Meiner Frau habe ich gesagt, dass sie niemandem etwas sagen soll, auch nicht ihrer Familie. Meine Eltern würden dies ohnehin nicht tun.

Bisher funktioniert es, das glaube ich jedenfalls. Meine Beschwerden konnte ich bisher immer gut verbergen, hin und wieder auch vor meiner Frau. Oft hat es Überwindung gekostet, aber doch immer geklappt.

Dies ist sicher kein Plädoyer für Geheimniskrämerei, es wird aber viele Menschen geben, die mir ihren Krankheiten oder auch Behinderungen nicht an die Öffentlichkeit gehen, so lange sie es noch verbergen können.

Ich habe das Buch von Michael Dorner „Mein Dämon ist ein Stubenhocker“ gelesen. Das Buch hat mir gut gefallen und ich habe es an zwei Tagen durchgelesen. Auch Maximilian Dorner hat MS und analysiert sehr treffend das Behindertsein. Er musste sich seinem Umfeld gegenüber offenbaren, da die Krankheit bereits zu offensichtlich war.

Was ist aber mit denen, die noch nicht ganz so krank oder behindert sind, deren Symptome sich mit Anstrengung (ob klein oder groß) noch verbergen lassen?

Ich glaube, dass es viele Menschen gibt, die ihre Leiden und Krankheiten zunächst verstecken oder auch ignorieren. Dann ist man natürlich mit seinen Gedanken allein und man fängt an, über Dinge nachzudenken.

Ich habe die Dinge, die ich erlebt habe, einmal aufgeschrieben, weil sie mir wichtig erscheinen. Alle, ich nenne sie mal Episoden, sind in der Gegenwart geschrieben. Diejenigen aus der Zeit, in der die Krankheit (sehr) präsent war (schwere Zeit), sind in Normalschrift geschrieben, diejenigen aus der guten Zeit mit den wenigen Symptomen, kursiv. Dabei habe ich mich nicht an eine bestimmte Reihenfolge gehalten, sondern die Dinge so aufgeschrieben, wie sie mir in den Sinn gekommen sind.

Über die Anfänge der Krankheit habe ich nichts geschrieben, da ich erst viel später gemerkt habe, was sie bedeutet. Als mir der Arzt vor mehr als zehn Jahren erklärte, dass ich nicht entsetzt sein soll, weil ich MS habe, konnte ich dies noch gar nicht einsortieren. Als die Diagnose kam, war das Kribbeln in den Füßen und Beinen schon fast wieder weg und das normale Leben ging weiter.

Kundenbesuch

Mein Chef und ich müssen heute gemeinsam einen Kunden besuchen. Ich bin gerne mit meinem Chef unterwegs. Er ist etwa zehn Jahre älter als ich und im Grunde ein richtig guter Vertriebsmann. Ich wollte mich schon immer mit ihm duzen, aber irgendwie ist es noch nicht dazu gekommen. Ich frage nicht, weil er zehn Jahre älter ist, er vermutlich nicht, weil ich promoviert bin. Vielleicht ergibt es sich noch irgendwann.

Unser Termin ist um zwei Uhr, wir sind etwas früher mit der Bahn angereist und haben noch Zeit für ein Mittagessen. Das Lokal liegt gegenüber der Zentrale des Kunden. Es ist kein sonderlich schönes Gebäude und das Lokal eher ein langer Schlauch, das Ambiente aber rustikal.

Wir gehen nach hinten durch. Ich setze mich an den Tisch auf der Gangseite, da kann man leichter einmal aufstehen. Gerade wenn ich viel trinke, muss ich häufiger einmal auf die Toilette. Mein Chef setzt sich gegenüber unter das Fenster.

Meine Füße, insbesondere mein Linker kribbeln schon seit ein paar Wochen, wenn ich sie bewege. Also besser stillsitzen. Wir haben etwas zu essen bestellt, um die Zeit zu überbrücken, ich nur einen Salat. Auf meine „Linie“ muss ich allerdings nicht achten, da ich schlank (Renate würde dünn sagen) bin.

Nachdem der Ober das Essen gebracht hat, fange ich an mit der Gabel zu hantieren. Komisch. Die Gabel klebt irgendwie in der rechten Hand und lässt sich nicht richtig drehen. Ich überlege, ob die Gabel vielleicht magnetisch ist, aber wie soll das funktionieren? Ich schaue mir die Gabel einmal genau an. Es ist nichts zu erkennen. Ich komme mir ein bisschen unbeholfen vor, wie ich so mit der Gabel spiele. Ich frage mich, ob mein Chef merkt, dass ich mich mit der Gabel beschäftige, kann an seiner Reaktion aber nichts erkennen.

Ich mache weiter Smalltalk. Soll ich vielleicht den Salat mit Messer und Gabel essen und die Gabel in die linke Hand nehmen? Mir gelingt es, die Gabel so in der Hand zu platzieren, dass ich essen kann. Ich konzentriere mich nicht mehr auf das Gespräch sondern auf den Essvorgang. Ich glaube, mir steht ein bisschen Schweiß auf der Stirn, und ich beginne zu realisieren, was gerade passiert ist. Die Krankheit ist in den Händen angekommen. Ich hatte geglaubt, dass das nicht passieren wird. Bisher waren es immer nur die Füße und die Augen. Panik? Ja. Wie schlimm wird es? Wird es so schlimm wie in den Füßen? Bitte nicht. Aber ich weiß ja, dass es langsam schlimmer wird. Für jetzt muss ich nur zu Ende essen.

Die Besprechung mit dem Kunden geht dann später auch vorbei, ich fahre zusammen mit meinem Chef wieder mit der Bahn zurück. Abends zu Hause ist alles wie immer.

Nachdem Yvonne im Bett ist, hole ich noch schnell das Bügelbrett aus dem Keller. Wir haben eine gute Arbeitsteilung zu Hause. Im Grunde übernehme ich nur das Bügeln, den Rest macht Renate. Ich möchte Renate diese letzte Hausarbeit nicht auch noch aufbürden.

Es dauert eine halbe Stunde, dabei spüre ich deutlich die Probleme mit den Händen. Es ist aber noch nicht so schlimm, dass ich mich verbrennen würde. Ich finde, es sieht flüssig aus. Renate stutzt nicht, als sie mich dabei sieht.

Anschließend setzen Renate und ich uns auf die Terrasse und ich erzähle von der Besprechung mit dem Kunden. Mehr gibt es erst einmal nicht zu berichten.

Knöpfe am Hemd

Das mit den Händen hat sich verschlimmert, jeden Tag ein bisschen mehr. Beide Hände sind betroffen. Renate weiß inzwischen Bescheid. Ich weiß nicht mehr, wann ich es ihr erzählt habe und ob sie es vorher gemerkt hat, und ich dann etwas sagen musste. So ist es meistens. Erst wenn es sich kaum noch vor Renate verbergen lässt, rücke ich mit der Wahrheit heraus.

Am schlimmsten sind heute die Knöpfe am Hemd. In der Arbeit trage ich einen Anzug (oder mindestens Sakko) mit Hemd und Krawatte. Zu Beginn der Symptome an den Händen hatte ich morgens immer ein bisschen mehr Zeit für das Zumachen der Knöpfe gebraucht, das geht jetzt nicht mehr. Bis auf die obersten zwei mache ich die Knöpfe am Hemd nun immer schon am Vorabend zu und hänge die Hemden wieder auf den Kleiderbügel. Die Krawatte bleibt meistens gebunden im Schrank hängen. Drei bis vier sind immer gebunden, man kann ja nicht immer dieselbe Krawatte tragen. Wenn ich sie dann nach einer Woche entknote, sehen sie ziemlich zerknautscht aus.

Ich stehe im Badezimmer, es ist warm, wir haben Fußbodenheizung. Vielleicht etwas ungelenk ziehe ich das Hemd über den Kopf. Drei offene Knöpfe wären besser, aber auch mehr Arbeit morgens. Renate hatte mir angeboten, dass ich sie wecken kann und sie mir dann hilft. Das will ich aber nicht. Ich werde doch meine Knöpfe alleine zumachen können. Ich bin doch nicht behindert, oder?

Ich schaue in den Spiegel und finde mit der rechten Hand den ersten Knopf. Ich kann ihn schon seit Tagen nicht mehr spüren. Die Hände fühlen sich an wie in einem viel zu engen Handschuh, total verspannt.

Es ist erstaunlich, was unsere Finderspitzen tatsächlich erfühlen können und wie empfindlich sie sind (wenn alles in Ordnung ist). In einem Technikmuseum hatte ich einmal die Gelegenheit, über zwei Metallklötze, die eng aneinandergeschoben einen Höhenunterschied von nur einem Hundertstel Millimeter hatten, zu streichen. Man spürt deutlich, dass eine Kante existiert.