Unmensch - Sönke Hansen - E-Book

Unmensch E-Book

Sönke Hansen

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Beschreibung

Mark Dorn ist berühmt für seine Grenzen überschreitenden Reportagen. Doch nachdem seine Frau und seine Tochter ihn verließen, ist er seelisch am Ende. Er ertränkt seinen Kummer in Alkohol und befindet sich am Tiefpunkt seiner Karriere. Dann die Gelegenheit: Er soll einen Serienkiller begleiten, um ihn bei seinen Taten zu filmen. Seine Opfer sind Tierquäler, Vergewaltiger und Kinderschänder. Was sich zuerst anhört, wie eine Jagd auf Menschen, die den Tod verdient haben, entpuppt sich als Achterbahn aus Gewalt, Folter und Tod. Mark könnte den Serienmörder aufhalten - doch will er das überhaupt? Wie schwer wiegt seine eigene Schuld, wenn er nicht eingreift? Plötzlich eskaliert die Reportage und die Dinge nehmen eine Wendung, die Marks Leben komplett auf den Kopf stellt. "Der Schmerz in seinem Herzen wuchs zu einer Kettensäge an, die mit einem Rattern ansprang und ihn von innen heraus zerfetzte." (Zitat) Haben Kinderschänder den Tod verdient? Sollen Vergewaltiger erfahren, wie es ist, missbraucht zu werden? Wann ist Selbstjustiz legitim und was bist du bereit, dafür aufzugeben? Für Mark Dorn ist der Preis viel höher, als er es jemals geglaubt hätte. Doch die Zweifel kommen zu spät, denn er hat ihn längst bezahlt. Ein knallharter Thriller ohne Kompromisse, brutal und schonungslos.

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Eine Veröffentlichung des Atlantis-Verlages, Stolberg Februar 2024 © 2024 Atlantis Verlag Alle Rechte vorbehalten. Titelbild und Umschlaggestaltung: Timo Kümmel Korrektorat dieser Ausgabe: André Piotrowski ISBN der E-Book-Ausgabe (EPUB): 978-3-86402-926-4 Besuchen Sie uns im Internet:www.atlantis-verlag.de
Für Keno

1 Das erste Mal

Er raste in seinem Mustang GT durch die Innenstadt. Gegenverkehr blitzte auf. Scheinwerferpaare, nur Sekundenbruchteile.

Ein Hupkonzert ertönte, das er nur am Rande wahrnahm.

Wütend trat er das Gaspedal bis zum Anschlag durch.

Wo bleibst du?

Eine Kreuzung. Es war rot. Egal.

Er schoss an den stehenden Fahrzeugen vorbei, hinein in den Gegenverkehr. Kurz bevor er mit einem Fiat kollidierte, scherte er wieder ein und jagte über die Kreuzung. Abermals schrien ihm Hupen hinterher.

Der Motor brüllte. Ein Gang höher, sein Fuß trat wiederholt aufs Pedal.

Ein Blick auf die Tachonadel. 110 km/h. Schneller.

Verdammt, wo bleibst du?

Der Mustang raste über eine Erhebung. Für einen kurzen Moment drehten die Räder durch. Als sie wieder in den Asphalt griffen, machte das Fahrzeug einen brutalen Satz nach vorne.

Er rammte den nächsten Gang rein. Tempo 130. Zu langsam.

Ein Fußgänger sprang zur Seite. An einem Zebrastreifen packte ein Mann eine Frau am Kragen und riss sie zurück. Ihre Handtasche streifte den Kotflügel.

Sein Körper verweigerte ihm hartnäckig den Cocktail aus Adrenalin und Endorphinen, den er jetzt so sehr brauchte. Er war etwas aufgeregt, mehr nicht. Was, wenn er es nicht schaffte? Welchen Sinn hatte das dann alles noch? Eher würde er sterben, als nicht zu seinem Thrill zu kommen. Es gab nichts anderes mehr. Nichts, was ihn noch berührte.

Eine weitere Kreuzung.

Er hupte nicht, er gab keine Warnung. Das würde den Spaß verderben.

Er packte das Lenkrad fester. Die Ampel leuchtete rot.

Fahrzeuge schoben sich im Feierabendverkehr dicht an dicht über die Straße. Augen auf – und mittendurch!

Komm schon, komm schon, komm schon!

Es würde nicht passen.

190 km/h.

In einem Augenblick kristalliner Klarheit sah er einen Mann mit Brille am Steuer eines Hondas sitzen. Auf dem Rücksitz zwei Kinder. In dem silbernen Mercedes davor ein Ehepaar. Die Lücke zwischen den beiden Fahrzeugen – zu klein. Viel zu klein.

Jetzt begann sein Herz zu rasen. Sein Atem stockte.

Komm schon! Wo bleibst du, verfickte Scheiße noch mal?! KOMM!

Kurzer Check. Nein, er war nicht angeschnallt.

Dann – der Zusammenprall.

Im letzten Augenblick rollte der Mercedes ein Stück nach vorne. Es hätte nicht passen dürfen, doch plötzlich war er auf der anderen Seite.

Frustriert drosselte er die Geschwindigkeit. Sein Herzschlag beruhigte sich.

Das Gefühl war nicht gekommen. Es war verflogen, bevor es wirklich da war, wie kurz vor einem Orgasmus.

Was blieb, war pure Enttäuschung.

Er schlug mit den Fäusten aufs Lenkrad ein.

Scheiße, Scheiße, Scheiße! Was soll ich bloß machen?

Er steuerte den Mustang in eine Nebenstraße, hielt in einer Parkbucht zwischen zwei Bäumen und stieg aus.

Der Kick, warum kam er nicht? Nur dieser Nervenkitzel, dem Tod direkt ins Gesicht zu blicken, konnte ihm das geben, was das Leben für ihn erträglich machte.

Er steckte sich eine Zigarette an und blickte sich um. Laternen tauchten die Straße in orangefarbenes Licht, Platanen warfen schwarze Schattenkleckse auf die Straße. Einen Block weiter stritten sich lauthals mehrere Männer.

Ein Klagelaut hallte durch die Nacht, jämmerlich und von Qual erfüllt. Direkt hinter ihm.

Von Neugier gepackt, schlenderte er auf eine von Wellblech überdachte Gasse zu, die in einen Hinterhof führte. Der Durchgang lag in völliger Dunkelheit. Wie ein kleiner Junge, der sich unbedarft in ein Abenteuer stürzt, marschierte er hinein.

Ein Karree. An der Stirnseite fünf Garagentore, rundherum die Rückseiten der mehrstöckigen Wohnhäuser. Nur wenige der Fenster waren erleuchtet. Keine Gardinen, keine Blumen. Eine trostlose Gegend.

Auf dem von Pfützen übersäten Asphalt kauerte eine Gestalt, in der hintersten Ecke zwischen Garage und Mauerwerk. Ein Kind? Daneben stand ein Mann.

Beim Näherkommen erkannte er, dass die kauernde Gestalt ein Hund war. Ein Schäferhund, wenn er sich nicht täuschte; in der Dunkelheit konnte er es schlecht erkennen. Das Tier jaulte abermals auf, als der Mann ihm in die Seite trat.

Warum wehrt sich der Hund nicht?

Als er sich näher heranschlich, sah er es: Die Beine des Tieres waren gebrochen. Sie standen in unnatürlichen Winkeln ab, aus den Bruchstellen ragten Knochen, die im Licht aus einem der Fenster im Erdgeschoss feucht schimmerten. Blut spritzte in kurzen Intervallen gegen das Garagentor.

Unter die Laute der Qual mischte sich ein Keuchen. Der Peiniger verrichtete schweigend sein Werk, sein heftiges Atmen konnte Anstrengung, aber auch Erregung sein. Oder beides.

Gab es dem Kerl einen Kick, ein Tier zu foltern? Fand er es geil?

Er hatte selbst so einiges getan, was gesellschaftlich als verwerflich galt, um den Thrill zu verspüren. Dieses Gefühl, das einem Sprengen der Ketten gleichkam, die ihm den Brustkorb zuschnürten. Schlägereien, Autorennen, Drogen. Nichts hatte ihm auf lange Sicht Erleichterung verschafft. Er erging sich sogar in Mordfantasien, aber deren Umsetzung in die Tat ging ihm zu weit. Ein Tier hatte er noch nicht gequält, wenn man von dem Verbrennen von Ameisen mittels einer Lupe und das Werfen von Silvesterkrachern auf Nachbars Katze in der Kindheit absah.

Gebannt betrachtete er die Szene. Wie Fangzähne abbrachen, als ein Stiefeltritt in der Schnauze landete. Wie der Hund quiekte. Wie blutiger Speichel durch die Nacht flog, Lebenssaft aus den gebrochenen Gliedmaßen herauspumpte. Die schwarze Pfütze, die sich ausbreitete und die Sohlen des Fremden umfloss. War es das? Tierquälerei?

Er konnte es sich beim besten Willen nicht vorstellen.

Es sah … erbärmlich aus. Wo sollte da der Spaß sein?

Andererseits – er hatte es noch nie ausprobiert.

»Darf ich auch mal?« Seine Stimme übertönte das Wimmern des Hundes.

Der Kerl zuckte zusammen. Er sprang zur Seite und wirbelte herum.

Das Gesicht eines Niemands. Eines unrasierten Niemands, mit dunkler Strickmütze, Augenringen und grimmigen Falten in den Mundwinkeln. Er kniff die Augenlider zusammen.

»Was willste?« Die Stimme war ein nasales Knurren.

Sein Blick huschte kurz zur Seite, neben den zuckenden Leib des Hundes. Dort lag ein Eisenrohr. Damit musste der Tierquäler dem Köter die Beine zerschlagen haben.

Er schnippte die Zigarette in den Hof, zog die andere Hand unauffällig aus der Tasche. Wer konnte schon wissen, was als Nächstes passieren würde? Vielleicht brauchte er beide Hände. »Ist das Ihr Hund?«

»Klar is das meiner. Kann ich mit machen, was ich will. Is vorm Gesetz ein Gegenstand so’n Tier. Also zieh ab.«

»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich auch mal zutrete?«

Der Mann zog die Augenbrauen hoch. »Was, du willst den … meinen Hund treten?«

»Wenn Sie nichts dagegen haben.«

Das Gesicht des Kerls verzog sich wieder zu einer Grimasse der Ablehnung. »Du willst mich verarschen.«

Er zuckte mit den Schultern. »Ich möchte wissen, wie es sich anfühlt, einen Hund zu treten. Ist doch nichts dabei – Sie haben es selbst gesagt. Sagen wir, ich gebe Ihnen zehn Euro für einen Tritt.«

Jetzt kam es darauf an, ob der Perverse den Haken schluckte. Wenn ja – gut. Wenn nicht, dann konnte es gleich ungemütlich werden. Aber das war auch gut. Er konnte nur gewinnen. Irgendwie komme ich heute noch zu meinem Kick. Und wenn es das Letzte ist, was ich tue.

»Zwanzig.«

»Wir haben einen Deal.«

Eine Stimme flüsterte in der hintersten Ecke seines Geistes, dass es widerwärtig und falsch war. Drogen und Autorennen waren auch falsch, aber nicht so sehr wie das hier. Wenn er im Rahmen einer Kneipenschlägerei einem Arschloch das Gesicht zu Brei schlug, traf er den Richtigen. Jeder hatte Dreck am Stecken, trug eine Schuld mit sich, die eine Tracht Prügel rechtfertigte.

Aber ein Hund? Ihn traf keine Schuld. Und er konnte sich nicht wehren.

Zweifel waren etwas Natürliches. Sie hielten einen von dummen Dingen ab. Er hatte gelernt, sie zu verdrängen.

Er stellte sich seitlich zu dem zuckenden Bündel aus offen liegendem Fleisch, zersplitterten Knochen und blutigem Fell. Das Tier hechelte. Sabberte Blut. Seiner Kehle entrang sich ein gepresstes Fiepen, kaum hörbar. Es war fast tot.

Er hob den Fuß. Die Sohle des italienischen Markenschuhs schwebte über dem Kopf des Hundes.

Mit aller Kraft stampfte er auf den Schädel.

Es knackte, als hätte er in einen Haufen nasser Walnüsse getreten.

»Hey!«, schrie der Besitzer. »Du hast ihn umgebracht! So haben wir nicht gewettet!« Er bückte sich und hob das Eisenrohr auf.

Es war Absicht gewesen. Er hatte das Leid des Hundes nicht mit ansehen können. Es war nicht so, dass er Mitleid empfunden hätte, aber es fühlte sich … nicht richtig an. Da gab es keinen Kick, keinen Nervenkitzel. Es war blanke Folter, ohne Sinn und Verstand. Welcher kranke Idiot quälte – einfach so – ein Tier? Als er dem Elend ein Ende bereitet hatte, empfand er kurzzeitig Genugtuung. Nicht, weil er glaubte, das Richtige getan zu haben. Sondern weil das Gefühl, wie sein Fuß in etwas Organischem, etwas Lebendigem, versank, ihn erregt hatte.

Er wandte sich dem Tierquäler zu. »Fünfzig Euro und Schwamm drüber?« Er hoffte, der Idiot würde nicht darauf eingehen.

»Ich sag dir was: Ich hau dir jetzt die Sülze aus dem Kopf und hol mir einfach alles Geld, das du dabeihast!«

Hinter der Strickmütze des Mannes sah er eine Bewegung. Das Fenster im Erdgeschoss – eine Frau mit Lockenwicklern starrte sie an.

Der Fremde packte die Stange mit beiden Händen und ging auf ihn los.

Nach unzähligen Schlägereien wusste er, dass der erste Schlag den entscheidenden Vorteil barg. Wer ihn ausführte, hatte die Möglichkeit, noch mal zuzuschlagen. Und noch mal. Häufig war der erste Treffer ein Indiz für einen möglichen Sieg.

Das Rohr flog auf ihn zu. Er bückte sich und stürmte vor, an der Waffe vorbei in den Mann hinein. Der Schweißgestank war unerträglich. Er stieß den miefenden Kerl von sich, setzte nach und schmetterte ihm die Faust ins Gesicht.

Der Tierquäler wurde zurückgeschleudert. Er hielt beide Hände vors Gesicht, zwischen den Fingern sprudelte Blut hervor. Die Stange klirrte über den Asphalt.

Die Knie des Perversen knickten für einen Moment ein, dann stieß er mit dem Rücken gegen die Hauswand unterhalb des erleuchteten Fensters. Er drückte die Beine durch und hielt sich aufrecht. Als er die Hände runternahm, erschien ein feucht schimmerndes Gesicht mit schief stehender Nase und zusammengekniffenen Augen.

Die Frau mit den Lockenwicklern grinste. Sie hielt den Daumen hoch.

Er grinste zurück. Sie war quasi ein Fan. Vermutlich war dies nicht das erste Tier, das dieser Wichser in dem Hof zu Tode geprügelt hatte. Jetzt erhielt er seine gerechte Strafe.

Er ging in die Hocke, packte das Eisenrohr mit beiden Händen und ging auf das Arschloch zu. Der Hass in dessen Augen wich nackter Angst. Die Mundwinkel wanderten nach unten, die Augenbrauen in die Höhe. »Nein, warte! War nicht so gemeint!« Während er sprach, flogen Blutstropfen von seiner Lippe.

»Klar.«

Das Herz hämmerte wie verrückt in seiner Brust, er hörte das Blut in den Ohren rauschen. Jetzt würde er endlich auf seine Kosten kommen.

Er schlug zu.

Die Eisenstange krachte seitlich gegen das linke Knie, das Bein knickte mit einem Krachen ein. Der Kerl schrie auf und krallte die Finger in den Oberschenkel. Er gab ein Wimmern von sich und glitt zu Boden.

Beide starrten auf den weißen Knochensplitter, der aus einem blutigen Riss in der Hose herausragte.

»Bitte nicht!«, wimmerte die erbärmliche Kreatur zu seinen Füßen.

Aber es fühlte sich gut an. So gut. Er spürte, wie das Feuer aufloderte. Das bekannte Kribbeln im Bauch, wie kleine Stromstöße. Er war auf dem richtigen Weg.

Er holte über die Schulter aus und schlug ein weiteres Mal zu. Das Rohr schmetterte mit einem Klong gegen das andere Knie. Dieses Mal durchschlug kein Knochen das Hosenbein, aber der Stoff schlang sich nun um ein ovales Gelenk statt um ein rundes.

Dem Tierquäler raubte es den Atem. Mit weit aufgerissenen Augen und offen stehendem Mund starrte er auf seine Beine. Sein Gesicht hatte die Farbe von Kreide angenommen.

»Wie fühlt sich das an, du Wurm?«

Doch der Mann reagierte nicht, seine Augen hafteten auf seinen Verletzungen.

Das Rohr locker neben sich haltend, ging er vor dem Kerl in die Hocke, packte das schmutzige Kinn und drehte die Visage in seine Richtung. Bartstoppeln stachen ihm in die Fingerkuppen. »Sieh mich an.«

Der Wichser tat wie ihm befohlen. In seinem Blick flackerte Todesangst.

»Ich will wissen, wie sich das anfühlt. Besser, du antwortest mir.« Um der Drohung das nötige Gewicht zu verleihen, schob er die Spitze des Rohrs zwischen die Beine des Widerlings und drückte zu.

»Aufhören!«, heulte der Kerl schließlich mit der Stimme eines kleinen Mädchens.

Wut wallte in ihm auf. Er knirschte mit den Zähnen, packte das Gesicht des Perversen fester und drückte ihn gegen die Mauer. Er grub die Finger in die unrasierte Haut. »Was glaubst du, wie sich der Hund gefühlt hat, hm? Kannst du dir mit deinem beschränkten Geist auch nur ansatzweise vorstellen, was er erleiden musste?«

Der Mann presste Augenlider und Lippen fest zusammen. Als wollte er sich der Realität entziehen.

Er drückte fester mit der Stange zu. Spürte, wie das Metall an etwas Weichem vorbeirutschte. Vermutlich hatte er gerade einen Hoden zur Seite geschoben, die Spitze musste sich jetzt direkt in die Peniswurzel bohren.»Ob du dir das vorstellen kannst, will ich wissen!«

Rotz lief dem Mann aus der Nase, Tränen aus den geschlossenen Augen. Er zitterte. Aber er gab keine Antwort. Die Angst lähmte ihn.

Er konnte nicht anders – er musste grinsen. Das war besser als Autorennen oder Schlägereien. Das hier war die pure Essenz der Macht. In diesem Moment war er Gott. Entschied über Schmerz und Erlösung, über Leben und Tod.

Er zog die Stange zwischen den Beinen hervor und richtete sich auf.

»Was hast du gemacht, nachdem du dem Hund die Beine gebrochen hast? Du hast ihn getreten, richtig? Immer und immer wieder. Zuerst in den Körper, gegen Ende auf die Schnauze.« Er stieß ein irres Gelächter aus. »Dann wollen wir mal.«

Die Stange lehnte er gegen das Garagentor, dann ging er ein paar Schritte zurück. Wie bei einem Elfmeterschießen nahm er Anlauf und trat kräftig zu. Sein Schuh preschte in den Leib und riss den Wichser aus der Starre. Ein klägliches Jammern hallte durch den Hof, den Schmerzenslauten des Hundes nicht unähnlich. Der Tierquäler hob abwehrend die Arme, doch da durchbrach ein Tritt seine Deckung, der nächste zerbrach mehrere Rippen. Das mehrfache Knacken war trotz der Schreie gut zu hören.

Er trat immer und immer wieder zu.

Der Kerl kauerte auf dem Boden, krümmte sich wie ein Fötus zusammen. Schleim und Blut schossen unaufhörlich aus seiner Nase.

Scheiße, war das geil! Wieso war er vorher nie auf die Idee gekommen? Dieses Gemisch aus Macht und Rache verschaffte ihm eine Genugtuung, wie er sie noch nie verspürt hatte. Sein Atem ging stoßweise, er zitterte vor Glück. Es fühlte sich an, als würde er schweben, nein, fliegen!

Über ihm erscholl eine männliche Stimme: »Was ist da los?«

Woanders rief jemand: »Ruhe da unten! Hier versuchen anständige Menschen zu schlafen!«

Die Frau am Fenster hatte die flache Hand auf den Mund gepresst. Ihre Augen waren kreisrund aufgerissen.

Er zog zu viel Aufmerksamkeit auf sich.

Zeit für das Finale.

Der Tierquäler war nur noch ein zuckendes Bündel, das direkt neben dem Haufen lag, der mal ein Hund gewesen war. Seine Gliedmaßen waren unnatürlich verbogen.

Er schritt an den Kopf heran. Dann hob er den Fuß und trat kräftig zu.

Der Kerl reagierte nicht einmal. Sein Schädel hatte jetzt eine Delle, Blut strömte aus einem Ohr. Er trat noch mal zu. Das Haupt verformte sich, zog sich in die Länge. Doch noch war es intakt.

Er sprang in die Höhe und landete mit beiden Füßen gleichzeitig auf dem Kopf. Dieses Mal knackte und knirschte es. Er spürte, wie der Knochen nachgab.

Als er zurücktrat, bewunderte er sein Werk. Knochensplitter hatten Gesichts- und Kopfhaut zerfetzt, eine matschige Suppe ergoss sich aus den Rissen. Zwischen den Haaren lugten Teile des Gehirns heraus.

Das Gefühl raubte ihm schier den Atem. Er lachte.

Ohne einen Blick zurückzuwerfen, lief er zur Straße. Immer noch lachend, riss er die Fahrertür des Mustangs auf, warf sich auf den Ledersitz und schlug sie wieder zu.

Hätte er das Fahrzeug besser stehen lassen und zu Fuß flüchten sollen? Nein, das wäre keine gute Idee gewesen. Der Polizei, die ohne Frage gleich anrücken würde, wäre der Mustang direkt aufgefallen. Ein kurzer Check, und sie würden wissen, dass der Wagen ihm gehörte.

Besser, er verlor keine Zeit und suchte schnell das Weite.

Mit zitternden Händen drehte er den Zündschlüssel herum und preschte aus der Parkbucht. Erst eine Straße weiter schaltete er das Licht ein.

2 Brennerei

Das Telefon klingelte.

Mark hatte keine Lust dranzugehen. Er hatte keine Lust auf gar nichts. Er saß auf dem Sofa, lehnte sich vor und griff nach der Schachtel Zigaretten. Das Telefon schrillte und schrillte.

Wer konnte das schon sein? Irgend so ein Bürofatzke, der ihm mal wieder einen neuen Werbeclip für seine Videos andrehen wollte. Eine Vorzimmerdame von irgendeinem Herrn Oberwichtig, die um einen Termin bat, weil ihr Boss die Rechte einer seiner Reportagen kaufen wollte. Eine Interviewanfrage?

Fickt euch alle, ihr verfluchten Heuchler!

Jahrelang hatten sie nichts von ihm wissen wollen. Also hatte er einen Kredit für Videoequipment aufgenommen, Reportagen über Pinguin-Zuwachs im Neuwieder Zoo und den Abbau von Arbeitsplätzen irgendeines beliebigen Scheißunternehmens den Rücken gekehrt und sein eigenes Ding gemacht.

Jetzt war Mark Dorn, der Extremjournalist, ein gefragter Mann.

Er steckte sich die Zigarette an und inhalierte den Qualm tief.

Wie lange hatte man nichts mehr von ihm gehört? Ein halbes Jahr? Mindestens. Der Insiderbericht über die Teufelssekte war ein durchschlagender Erfolg gewesen, aber danach …? Mark hatte nicht einmal den Ansatz einer Idee für etwas Neues. Keine haarsträubende Story, bei der er sich mit gewohnter Waghalsigkeit in Lebensgefahr begab. Keine Verrücktheit, die der Öffentlichkeit die Schattenseiten des Lebens zeigte.

Mark goss den letzten Schluck Chivas ins Glas. Die leere Flasche ließ er achtlos auf den Teppich fallen. Er lehnte sich zurück und starrte auf den Bildschirm.

Der riesige Monitor, der einen Großteil der Wohnzimmerwand einnahm, diente ihm nicht nur als Fernseher, er war auch sein Arbeitsgerät. Darunter summte die Lüftung eines Hochleistungs-PCs. Seine Kommandozentrale. Hier schrieb er seine Storys und schnitt seine Videos. Pflegte seinen Blog und seinen YouTube-Channel. Wirbelte in sozialen Netzwerken herum, streifte durchs Dark Web, recherchierte.

Aber Mark arbeitete nicht mehr. Er saß nur da und starrte auf die vorbeiziehenden Sendungen, unterbrochen von ewig langen Werbespots.

Er wusste nicht, wie lange er schon hier saß. Ein halbes Jahr? Es war ihm egal.

Das Einzige, was zählte, war das Fließen des Alkohols, der ihn betäubte. Whisky war ein gutes Anästhetikum.

Er nahm einen kräftigen Schluck. Das Brennen im Hals registrierte er nicht mehr.

Mark schüttelte den Kopf. Was hatte er denn erwartet? Der Punkt, an dem er sich befand, war das Ende eines aufregenden Weges. Nina hatte ihn gewarnt. Oh, das hatte sie. Hätte er nur auf seine Frau gehört!

Er hatte die Ziellinie überschritten und alles verloren: seine Frau, seine Tochter, seinen Mut.

Zurück blieben ein fauliger Geschmack auf der Zunge und das Gefühl, mit Mitte dreißig steinalt zu sein.

Er schloss die Augen. Einzelne Stationen seiner Karriere zogen an ihm vorbei.

Er hatte in seiner Jugend alles ausprobiert. Die Wissbegier, oder vielmehr die Sucht nach Wissen, hatte ihn alle Vorsicht vergessen lassen. Ob Skateboarden, Bungee-Jumping, Käfigtauchen mit Haien oder Fallschirmspringen, er hatte nicht Nein sagen können. Auch nicht zu Drogen, nicht einmal zu Heroin. Das war eine seiner heftigeren Reportagen gewesen: Heroin intravenös im Selbstversuch.

Sogar gestohlen hatte er, nur um zu wissen, wie sich das anfühlte. Er war illegale Autorennen gefahren, hatte sich sexuell ausgetobt – das war alles vor Nina gewesen. Das war lange her. So lange, dass es sich anfühlte, als wären es die Erinnerungen eines anderen. Es war so viel passiert – zu viel für ein Leben.

Später, als er sich bereits als Reporter bezeichnete, hatte er sich mit der Russenmafia angelegt. Mit einem Kinderpornoring. Sein Durchbruch kam mit der Reportage über eine Videofirma, die Filme vertrieb, auf denen echte Vergewaltigungen, Folterungen und Morde zu sehen waren. Dabei hatte er Dinge gesehen, gehört und gerochen, die ihn für immer veränderten.

Danach war er ein gefragter Mann geworden. Und er hatte immer extremer werden müssen. Die Gefahr konnte nicht groß genug sein. Bis er es übertrieb.

Nina hatte ihn gewarnt. Er hatte aus Gewohnheit weggehört. Als seine Familie ins Visier der Teufelssekte geraten war, in die er sich eingeschlichen hatte, war er von ihr, Nina, vor die Wahl gestellt worden: Job oder Familie.

Da war es bereits zu spät gewesen. Das Mädchen hatte ihm das Genick gebrochen. Er hatte es unbedingt retten wollen.

Am Ende hatte er alles verloren.

Er hatte Frau und Tochter seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen. Und er hatte keine Ahnung, wo sie jetzt lebten. Vielleicht hätte er es herausfinden können. Aber er brachte es nicht übers Herz. Noch nicht.

Was hält dich ab, du Feigling? Du hast dich nie gefürchtet. Von Fallschirmspringen bis hin zur Gründung einer Familie hast du jedes Abenteuer in Angriff genommen. Ausgerechnet bei Letzterem scheiterst du?

Er trank das Glas in einem Zug aus, legte den Kopf ins Kissen und stieß die Luft aus.

Jeder Idiot kriegt das hin. Die Dämlichen. Die Ängstlichen. Wirklich jeder. Nur du nicht. Was bist du nur für ein Verlierer?

Noch während er nach der Schachtel Zigaretten neben ihm auf dem Polster griff, fielen seine Augen zu.

Mark fuhr hoch. Er schnappte nach Luft.

Sein Herz pochte und er wusste, dass er aus einem Albtraum erwacht war. An den Inhalt konnte er sich nicht mehr erinnern, aber sein Shirt war feucht vom Schweiß und seine Hände zitterten.

Er streckte die Hand nach der Flasche Chivas aus – und griff in die Luft. Sie lag auf dem Teppich, leer.

Routiniert wanderte seine Hand über die Sofalehne. Auch hier griff er wieder ins Leere. War sein gesamter Vorrat aufgebraucht? Scheiße!

Nur am Rande registrierte er die Werbung für Telefonsex im Fernseher. Er packte die Fernbedienung, die einer halbautomatischen Pistole – einer Glock 17 – nachempfunden war, und minimierte über den Hahn das Fenster.

Die Desktop-Oberfläche erschien. Das Hintergrundbild schnitt ihm wie ein Skalpell ins Herz: Nina und seine Tochter Julie lächelten ihn an.

Seine Frau – blond, schlank und bildhübsch – strahlte über das ganze Gesicht, im Mundwinkel ein Klecks des Softeises, das sie in der Hand hielt. Mit der anderen drückte sie Julie an sich, die ebenfalls über das ganze Gesicht strahlte. Sie hatte Ninas Augen, aber seine Gesichtszüge und eine Stupsnase, die ganz ihr gehörte. Über ihre linke Gesichtshälfte zogen sich türkis- und pinkfarbene Linien, die sich kunstvoll ineinanderschlängelten, dazwischen glitzerten vereinzelt Glassteine im Sonnenschein. Das Werk eines Gesichtsmalers. Im Hintergrund sah man den Looping einer Achterbahn. Das Bild war im Phantasialand geschossen worden, direkt nach Julies erster Achterbahnfahrt. Ihre Augen glommen fiebrig – das Adrenalin schoss noch durch ihren jungen Körper, kitzelte ihren Geist und ließ sie glücklich kichern.

Er schluckte den Klumpen im Hals hinunter und blickte auf die Uhr rechts unten auf dem Bildschirm. Es war kurz vor Mitternacht. Samstag.

So blieb nur eine Möglichkeit, um an Nachschub zu kommen. Auch wenn er nicht die geringste Lust verspürte, die Bude zu verlassen.

Mark wankte ins Schlafzimmer, öffnete den Schrank und holte ein frisches Shirt heraus. Dann schleppte er sich ins Badezimmer und warf einen Blick in den Spiegel, sah sich aber nur verschwommen.

Er zog sein altes Shirt aus, warf den klammen Stoff in die Badewanne und zog das neue an. Nachdem er gepinkelt hatte, wusch er sich Hände und Gesicht. Ein weiterer Blick in den Spiegel. Ein wenig schärfer dieses Mal.

Er sah aus, als wäre er für einen Horrorfilm geschminkt. Die grauen Augen blinzelten ihn träge an, blutunterlaufen und in die Höhlen eingesunken. Das schulterlange Haar stand in Strähnen vom Kopf ab. Er befeuchtete die Hände und strich es glatt.

Zum Rasieren konnte er sich nicht überwinden. Wer ihn kannte, wusste, dass er das ohnehin nur einmal in der Woche tat und ständig mit einem Bartansatz herumlief.

Nina hatte das immer gefallen. Sie fand, es mache ihn verwegener, als er ohnehin schon aussah. Julie hingegen hasste es, wenn ihr Papa beim Kuscheln kratzte.

Er rückte den Piercingring in der linken Unterlippe zurecht, sprühte sich mit Paco Rabanne ein und verließ das Bad.

Im Flur warf er sich seine Lederjacke über. Als er die Haustür öffnen wollte, erklang ein kläglicher Laut hinter ihm.

Conan.

Der Kater saß mitten im Flur. Eine wuschelige, neun Kilo schwere Anklage: Du hast vergessen, mich zu füttern.

»Okay, du hast ja recht.«

Er ging in die Küche und schaufelte eine komplette Dose Katzenfutter in Conans Napf.

»Wir wollen ja nicht, dass unser kleiner Barbar vom Fleisch fällt.«

Während sich der Kater über das Essen hermachte, tätschelte Mark dessen Seite, als wäre er ein Hund. »Lass es dir schmecken, Kumpel.«

Als er die Treppe nach unten polterte, musste er sich an der Wand abstützen. Der Gang verschwamm vor seinen Augen.

Unten riss er die Haustür auf. Die Straße glänzte nass und der Bürgersteig war von Pfützen übersät. Autos rauschten vorbei, ohne dass er sie wahrnahm.

Ein paar Schritte weiter zog er eine Glastür auf. Ihm schlug ein Gestank entgegen, der ihm den Atem raubte: tonnenschwere Luft, durchmischt mit dem Odeur von schalem Bier und Zigarettenqualm.

Die Brennerei war wie ein zweites Zuhause. Seine Wohnung lag direkt über der Kneipe. Die Inhaberin Lori Nilsen lebte wiederum über seiner Wohnung im Dachgeschoss.

Sämtliche Tische waren besetzt. Fast jeder hielt ein Bierglas in der Hand oder hatte eines vor sich stehen. Schnäpse wurden gekippt. Eine Gruppe junger Männer hatte es offensichtlich bereits übertrieben, denn sie johlten und grölten mit schiefen Stimmen und alberten rum wie kleine Kinder.

Im Hintergrund lief Sweet Home Alabama von Kid Rock. Obwohl die Musik es kaum schaffte, sich gegen die Geräuschkulisse durchzusetzen, sangen einige mit.

Der Tresen befand sich zur Rechten und zog sich in den Raum hinein. Es war ein wahres Monstrum aus massivem Holz, die Regale an der Wand dahinter vollgestopft mit Schnapsflaschen.

Der einzige freie Platz war ein Barhocker an der hinteren Ecke des Tresens. Daneben hockte ein Anzugträger mit blondem Scheitel, der anscheinend alleine hier war.

Mark fand das merkwürdig. Der Typ passte mit seinem Anzug hier so gut rein wie er selbst in ein Gourmetrestaurant. Er wirkte wie ein Fremdkörper. Er saß völlig alleine am Tresen und schlürfte ein Weizenbier. Dabei lächelte er fröhlich vor sich hin.

»Ist hier noch frei?«, rief Mark ihm zu.

Der Typ zog eine Augenbraue hoch, grinste breit und nickte. Markante Gesichtszüge, frisch rasiert. Eiskalte Augen von einem satten Blau. Kontaktlinsen?

Mark schob sich auf den Hocker und kramte seine Zigaretten aus der Jacke. Er bot dem Fremden eine an, doch der schüttelte den Kopf.

»Hi, Mark! Was darf’s sein?« Lori klimperte mit ihren langen Wimpern.

»Ein Bier und ein Chivas.«

»Kommt sofort.« Sie wandte sich ab und griff nach der Flasche Whisky im Regal. Mark starrte ihr ungeniert auf den Hintern.

Er würde nicht so weit gehen, sie dick zu nennen, aber ihre kräftigen Oberarme und die kleinen Rollen, die sich über den Nietengürtel drückten, spotteten jedem Modetrend. Was sie so attraktiv machte, war die Tatsache, dass sie sich offensichtlich in ihrer Haut wohlfühlte.

Der weite Ausschnitt ihres hautengen schwarzen Shirts war ein phänomenaler Blickfang. Die tätowierten Oberarme lagen frei. Bei der Arbeit trug sie die schwarze Lockenmähne stets zusammengebunden zu einem Pferdeschwanz, der ihr bis zu den Hüften reichte.

Sie wirbelte herum und knallte ihm einen dreifachen Chivas und ein großes Glas Beck’s vor die Nase. »Ich schreib’s auf deinen Deckel.« Ihre Stimme erinnerte ihn immer an Bonnie Tyler.

»Danke, Lori.« Er zwinkerte ihr zu, sie wandte sich ab.

»Das geht auf mich«, rief der fremde Anzugträger neben ihm.

Lori warf ihm einen knappen Blick zu und nickte zur Bestätigung.

Nanu? Mark drehte sich auf dem Hocker dem Kerl zu. »Danke. Wie komme ich zu der Ehre?«

Der Mann reichte ihm die Hand. Gepflegt. Manikürt, wenn ich mich nicht täusche.

»Gerrit. Ich bin gerade in Geberlaune.« Sein Grinsen offenbarte ebenmäßige, weiße Zähne.

»Da komme ich ja genau richtig. Ich heiße Mark.«

Gerrit nickte. »Bist du öfter hier?«

»Eigentlich jedes Wochenende.« Das stimmte nicht ganz. Meistens kam er nur hierher, wenn der Alkohol zur Neige ging, oder unter der Woche, um ein Schwätzchen mit Lori zu halten oder sich mit seinem besten Freund Kim zu treffen. Aber das musste er dem Kerl ja nicht auf die Nase binden. Auch nicht, dass Lori sich partout weigerte, ihm Flaschen zu verkaufen, die er mit in seine Wohnung nehmen konnte. Sie war der Meinung, dass er sich irgendwann totsaufen würde, und sie wollte nicht die Schuld daran tragen. In der Kneipe hätte sie ihn besser im Blick.

»Aber dich habe ich hier noch nie gesehen.«

»Ich bin zum ersten Mal hier. Normalerweise verkehre ich in anderen Kreisen, wie du dir vielleicht denken kannst.« Wieder das breite Grinsen. »Aber heute war mir mal nach Feiern zumute.«

Mark steckte sich eine Zigarette an. Wie durch Zauberhand klapperte ein Aschenbecher auf den Tresen. Lori war einfach überall.

»Du sitzt hier ganz alleine, schlürfst Weizenbier und nennst das Feiern?«

Gerrits Lächeln erlosch. »Wenn man so selten wie ich in eine Kneipe geht, hat man leichte Kontaktschwierigkeiten.« Er warf einen Blick in den Raum. »Ich sitze hier schon seit Stunden, aber es ist niemand da, der sich für Aktienkurse oder Webdesign interessiert.« Er nahm einen kräftigen Schluck Bier. »Nun – jetzt habe ich die Lampen brennen und einen sympathischen Gesprächspartner. Der Abend kann beginnen.«

Lori bediente gerade ein Pärchen neben Mark. »Lori, mach uns mal ein Tablett!«

Sie reichte dem Mann und seiner Begleitung zwei Longdrinks. Dann kramte sie ein Servierbrett unter dem Tresen hervor und positionierte kleine Gläser darauf.

»Tablett?«, fragte Gerrit.

»Du wolltest feiern. Jetzt feiern wir.«

Gerrit zögerte kurz, dann sagte er: »Ich bin dabei.«

»Hast auch keine Wahl mehr. Was gibt es überhaupt zu feiern?«

Der Fremde trank den Rest Bier in einem Zug aus. Beim Schlucken warf er ihm einen merkwürdigen Seitenblick zu, den Mark nicht deuten konnte. Er tippte ins Blaue hinein: »Ein Glückstreffer an der Börse?«

Gerrit schmatze, als hätte er ein leckeres Stück Filetsteak gegessen. »Nein, das mache ich nur nebenbei. Ich bin Webdesigner.«

»Ein Auftrag von Bill Gates, das neue Windows zu gestalten?«

Gerrit schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Dein letztes Projekt hat einen Preis gewonnen?«

»Wieder falsch.«

»Du hast dich verliebt?«

»Nein.«

Lori schob das Tablett zu ihnen hinüber. Acht Gläser, jeweils paarweise mit unterschiedlichem Schnaps gefüllt.

Mark nahm einen Sambuca, Gerrit tat es ihm gleich. »Du bist schwul, hattest heute dein Coming-out und niemand fand es schlimm?«

Jetzt lachte Gerrit schallend. »Nein, wirklich nicht.«

Gleichzeitig kippten sie den Sambuca.

»Das wird härter, als ich dachte. Hast du geerbt?«

Er schüttelte den Kopf, sie tranken einen Genever.

»Du bist auf den Hund gekommen?«

Gerrit schaute ihn fragend an. Sein blasser Teint hatte eine leicht rosige Färbung angenommen.

»Ich meine: Dir ist heute ein Tier zugelaufen.«

Gerrit warf den Kopf in den Nacken, ein Doppelkorn verschwand in seinem Schlund. Mark kippte nach.

»Oh Mann! Wenn ich nicht bald einen Treffer lande, bin ich zu voll zum Raten. Aber du hattest heute eine Erleuchtung, richtig?«

Gerrit nickte. »Warm.«

»Ein einschneidendes Erlebnis?«

»So könnte man es nennen, ja.«

»Das dein Leben nachhaltig beeinflusst?«

»Goldrichtig.«

»Was war es?«

Plötzlich wirkte das Lächeln dieses Kerls falsch. Obwohl sich die Mimik nicht verändert hatte, wusste Mark instinktiv, dass es jetzt Fassade war. Er war auf etwas gestoßen, das Gerrit ihm nicht verraten wollte.

»Was Illegales? Du hast zum ersten Mal Drogen probiert?«

Gerrit schnappte sich ein Glas Ramazotti.

»Verdammt!« Mark stürzte das widerliche Zeug hinunter. Lori wusste genau, dass er fand, Ramazotti würde nach Kotze schmecken. »Was denn?«

Der Blick des blonden Schönlings verlor sich im Spirituosenregal. Er wirkte, als sähe er in eine Parallelwelt hinter den Flaschen, voller nackter Frauen, Bächen aus Alkohol und einem unerschöpflichen Vorrat an euphorisierenden Drogen, und Mark war sich nicht sicher, ob es am Alkohol lag oder an der Erinnerung an jenes Ereignis, das sie gerade begossen. Wahrscheinlich eine Mischung aus beidem.

»Hör mal, Gerrit.« Oh, er nuschelte bereits. Die Zunge lag wie ein Fremdkörper im Mund. »Wenn wir schon etwas feiern, dann will ich auch wissen, was es ist.«

Gerrit drehte sich nun auf dem Hocker zu ihm hin. Sein Blick war glasig, ein eisiges Lächeln umspielte seine Lippen. Es hatte so gar nichts zu tun mit dem gut gelaunten Grinsen zuvor.

Plötzlich schlugen Marks Instinkte Alarm. In seinem Hinterkopf schrillte es, ein Kribbeln wanderte einem Stromstoß gleich den Nacken hinauf. Dieser Gerrit war gefährlich. Ein Raubtier.

»Es war besser als Sex«, sagte er so leise, dass Mark Schwierigkeiten hatte, ihn zu verstehen. »Besser als all die Drogen, die ich schon probiert habe. Und viel besser als irgendein beruflicher Erfolg. Sämtliche Glücksmomente, die ich in meinem Leben bisher hatte, wirken dagegen trivial, wie eine billige Kopie dessen, was ich heute Abend erlebt habe. Es war das großartigste Ereignis überhaupt. Eine Katharsis.« Er spie das Wort geradezu aus. »Ein Befreiungsschlag für meine Seele. Alles hat sich verändert. Nichts ist mehr so, wie es mal war. Von jetzt an wird alles viel besser für mich.«

Mark erkannte Wahnsinn, wenn er ihn sah. Die Opfer der Satanssekte, in deren Reihen er sich monatelang bewegt hatte, boten ein ähnliches Bild: Augen, die einem direkt in die Seele starrten und doch so wirkten, als wären sie kein Teil dieser Welt. Gerrit zeigte hier eine Facette, die ihn zutiefst beunruhigte.