Unpopuläre Betrachtungen - Bertrand Russell - E-Book

Unpopuläre Betrachtungen E-Book

Bertrand Russell

0,0

Beschreibung

Das "Lexikon Linker Leitfiguren" schließt den Artikel über Bertrand Russell mit der Feststellung: "Die Linke in der Bundesrepublik hat es sich wohl zu leicht mit ihm gemacht: Als Mitstreiter gegen den Rüstungswettlauf und die atomare Bedrohung, als Ankläger gegen die amerikanische Kriegsführung in Vietnam und als Vordenker antiautoritärer Erziehung war er in ihren Reihen willkommen. Sein philosophisches Werk und der Geist seiner Kritik blieben aber aus dem theoretischen Diskurs der Linken ausgeschlossen ... Er sollte für die Linke eine Provokation bleiben: als radikaler Aufklärer."In "Unpopuläre Betrachtungen" stellte Russell 1950 Essays zusammen, die "gegen den zunehmenden Dogmatismus der Rechten wie der Linken, der unserem tragischen Jahrhundert bisher seinen Stempel aufgedrückt hat, ankämpfen". Sie zeigen ihn als eben jenen radikalen Aufklärer; denn "wirkliche Philosophie handelt von Dingen, die für jeden Gebildeten von Interesse sind", unter anderem: Philosophie und Politik, Philosophie für Laien, Der Weg zum Weltstaat, Die tieferen Beweggründe der Philosophie, Die Aufgaben des Lehrers, Ideen, die der Menschheit genützt haben, Ideen, die der Menschheit geschadet haben. -- Dieser Text bezieht sich auf eine vergriffene oder nicht verfügbare Ausgabe dieses Titels.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 274

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

Bertrand Russell

 

Unpopuläre Betrachtungen

Die Originalausgabe erschien bei

George Allen & Unwin Ldt., London, unter dem Titel »UNPOPULAR ESSAYS«

 

Aus dem Englischen übertragen von

Dr. Ernst Doblhofer

Die Übersetzung der Beiträge »Philosophie und Politik»; »Der Weg zum Weltstaat»; »Zur Genealogie des Unsinns« wurden uns von der Redaktion des »Monat»,

Internationale Zeitschrift für Politik und geistiges Leben, freundlichst zur Verfügung gestellt.

 

Alle Rechte in deutscher Sprache vorbehalten

1951 by Europa Verlag AG Zürich

Neuausgabe 2009 by Europa Verlag AG Zürich

Umschlaggestaltung: Christine Paxmann text • konzept • grafik Umschlagbild: © ullstein bild

ISBN 978-3905811148

E-Book-Konvertierung: Satzweiss.com Print Web Software GmbH

Printed in Germany

 

VORWORT

 

Die meisten der folgenden Essays, die zu verschiedenen Zeiten während der letzten fünfzehn Jahre entstanden sind, wollen auf die eine oder andere Art ankämpfen gegen den zunehmenden Dogmatismus der Rechten wie der Linken, der unserem tragischen Jahrhundert bisher seinen Stempel aufgedrückt hat. Diese ernste Absicht beseelt sie auch, wenn sie ab und zu leichtfertig scheinen, denn man kann die Feierlichkeit und Würde der Hohenpriester nicht mit noch größerer Feierlichkeit und Würde erfolgreich bekämpfen.

Ein Wort zum Titel. Im Vorwort zu meinem Buche »Menschliches Wissen« habe ich erklärt, ich schriebe nicht nur für Philosophen vom Fach, und »die wirkliche Philosophie handelt von Dingen, die für jeden Gebildeten von Interesse sind«. Rezensenten zogen mich dafür zur Verantwortung, behaupteten, sie fänden einige Abschnitte meines Buches schwierig, und gaben zu verstehen, meine Worte seien geeignet gewesen, Käufer irrezuführen. Ich will mich diesem Vorwurf kein zweites Mal aussetzen und daher gestehen, dass der vorliegende Band mehrere Sätze enthält, die ungewöhnlich begriffsstutzige Kinder von zehn Jahren vielleicht ein wenig in Verwirrung bringen könnten. Aus diesem Grunde will ich nicht behaupten, die vorliegenden Essays seien populär, und wenn schon nicht populär, dann eben »unpopulär«.

Bertrand Russell.

 

PHILOSOPHIE UND POLITIK

 

Die Engländer zeichnen sich unter den Völkern des modernen Europa durch ihre hervorragenden Philosophen und ihre Verachtung für die Philosophie aus. Beides ist ein Zeichen für ihre Intelligenz. Missachtung der Philosophie wird jedoch – sofern man sie zum System entwickelt – wiederum selbst zu Philosophie – zu dem, was man in Amerika »Instrumentalismus« nennt. Ich möchte darauf hinweisen, dass schlechte Philosophie sehr gefährlich werden kann und deshalb den Grad negativen Respekts verdient, den wir etwa dem Blitz oder dem Tiger zollen. Welche positive Achtung einer »guten« Philosophie zukommen mag, will ich vorläufig dahingestellt sein lassen.

Die Beziehungen zwischen Philosophie und Politik sind in England weniger deutlich geworden als auf dem europäischen Kontinent. Empirismus ist im Allgemeinen mit Liberalismus verknüpft, doch war Hume immerhin ein Tory. Der philosophische Idealismus hat gewöhnlich auf ähnliche Weise eine Verbindung zum Konservatismus, doch war T. H. Green, ein Hauptgegner des Empirismus, politisch ein Liberaler. Auf dem Kontinent haben sich die Unterschiede klarer herausgeschält, und dort hat sich auch eine größere Bereitwilligkeit gefunden, Lehrgebäude als ein Ganzes anzuerkennen oder abzulehnen, ohne ihre Bestandteile einzeln einer kritischen Prüfung zu unterziehen.

Die Philosophie war in den meisten Kulturstaaten fast stets eine Angelegenheit, über welche die jeweiligen Machthaber eine offizielle Meinung hatten, und so ist es noch heute, mit Ausnahme der Länder, in denen eine liberale Demokratie herrscht. Die katholische Kirche ist an die Philosophie des Thomas von Aquino, das Sowjetsystem an die von Marx gebunden. Die Nationalsozialisten übernahmen den deutschen Idealismus in seinen Grundzügen, wenngleich das Maß der Kant, Fichte oder Hegel zu schuldenden Achtung im Einzelnen nicht festgelegt war. Katholiken, Kommunisten und Nationalsozialisten sind alle der Meinung, dass ihre Ansichten über Fragen der praktischen Politik unlöslich mit ihren theoretischen philosophischen Ansichten zusammenhängen. Der demokratische Liberalismus seinerseits war zur Zeit seiner ersten Erfolge mit der empirischen Philosophie verknüpft, wie sie Locke entwickelt hatte. Ich will nun diese Beziehung zwischen Philosophie und politischen Systemen in ihrer tatsächlichen Existenz betrachten und untersuchen, wie weit sie logisch stichhaltig ist und wie weit sie einer wenn nicht logischen, so doch psychologischen Zwangsläufigkeit unterliegt. Sofern eine dieser beiden Beziehungen tatsächlich besteht, kann die Philosophie eines Individuums tatsächlich in den engsten Zusammenhang mit Glück oder Unglück von weiten Teilen der Menschheit geraten.

Das Wort »Philosophie« ist in seiner Bedeutung keineswegs festgelegt. Wie das Wort »Religion« hat es eine verschiedene Bedeutung, je nachdem man es zur Beschreibung gewisser historischer Züge von Kulturen verwendet oder zur Bezeichnung einer Tendenz oder einer geistigen Haltung benutzt, die in der Gegenwart als wünschenswert erachtet wird. Soweit Philosophie an den Universitäten der westlichen demokratischen Welt als Studienfach betrieben wird, ist sie – zumindest der Absicht nach – ein Teil der wissenschaftlichen Arbeit und auf die gleiche Unabhängigkeit aus, die von den anderen Wissenschaften angestrebt wird; die Behörden verlangen von ihr nicht, zu Schlussfolgerungen zu gelangen, die der Regierung genehm sind. Viele Philosophieprofessoren würden sowohl die Zumutung von sich weisen, ihre Schüler in politischen Fragen zu beeinflussen, wie überhaupt die Ansicht, dass Philosophie in ihren Jüngern Tugenden heranbilden solle. Das kann, so würden sie sagen, ebenso wenig Angelegenheit des Philosophen wie des Physikers oder Chemikers sein. Das einzige Ziel der Universitätsausbildung sollte das Wissen sein; die sittliche Bildung junger Menschen sollte Eltern, Schullehrern und den verschiedenen Konfessionen überlassen bleiben.

Aber diese Auffassung von der Philosophie, für die ich viel Sympathie hege, ist etwas sehr Neues und selbst in der modernen Welt wenig verbreitet. Ihr steht eine völlig andere Ansicht gegenüber, die seit dem Altertum vorherrschend gewesen ist, und der die Philosophie ihre soziale und politische Bedeutung verdankt. In diesem historisch üblichen Sinne ist Philosophie aus dem Versuch einer Synthese zwischen Wissenschaft und Religion hervorgegangen, oder genauer gesagt, aus dem Versuch, eine Lehre von der Natur des Universums und der Stellung des Menschen darin mit einer praktischen Ethik zu vereinen, die lehrt, was als die beste Lebensführung zu gelten hat. Philosophie unterschied sich – zumindest nominell – von der Religion dadurch, dass sie sich auf keine Autorität oder Tradition berief; von der Wissenschaft unterschied sie sich insofern, als sie in erster Linie dem Menschen eine Anleitung zum Leben zu geben suchte. Ihre kosmologischen und ethischen Theorien waren eng miteinander verquickt: manchmal beeinflussten ethische Motive die Ansichten des Philosophen über die Natur des Universums, manchmal führten ihn seine Ansichten über den Kosmos zu ethischen Schlussfolgerungen. Bei den meisten Philosophen schlossen die moralischen Ansichten politische Konsequenzen ein; einige vertraten das System der Demokratie, andere das der Oligarchie; einige priesen die Freiheit, andere die Disziplin. Fast alle erdenklichen philosophischen Richtungen übrigens wurden schon von den Griechen entwickelt, und die Kontroversen der heutigen Zeit beschäftigten bereits die Vorsokratiker.

Das Hauptproblem von Ethik und Politik besteht darin, auf irgendeine Weise die Erfordernisse des Gemeinschaftslebens mit den Wünschen und Begierden des Individuums in Einklang zu bringen. Das wurde – sofern es überhaupt möglich war – mit Hilfe verschiedener Mittel erreicht. Wo es eine Regierung gibt, kann zur Verhinderung von anti-sozialen Handlungen derjenigen, die der Regierung nicht angehören, das Strafgesetz gebraucht werden, und das Gesetz kann durch Religion gestärkt werden, insofern die Religion lehrt, dass Ungehorsam gottlos sei. Wo es eine Geistlichkeit mit genügend starkem Einfluss gibt, um ihre Moralgesetze bei weltlichen Herrschern durchzusetzen, werden selbst die Herrscher in gewissem Ausmaß dem Recht unterworfen; es gibt hierfür eine Fülle von Beispielen im Alten Testament und in der mittelalterlichen Geschichte. Könige, die wirklich an eine göttliche Weltherrschaft und an Lohn und Strafe in einem jenseitigen Leben glauben, fühlen sich weder allmächtig noch fähig, ungestraft zu sündigen. Dieses Gefühl wird etwa von dem König in Shakespeares »Hamlet« zum Ausdruck gebracht, wenn er die Unbeugsamkeit der göttlichen Gerechtigkeit mit der Gefügigkeit irdischer Richter gegenüber der königlichen Macht vergleicht.

Soweit Philosophen sich mit dem Problem der Erhaltung des Sozialgefüges befasst haben, strebten sie nach Lösungen, die weniger offenkundig von Dogmen abhingen als diejenigen, die ihrerseits die offiziellen Religionen anzubieten hatten. Die meisten Philosophien sind die Reaktion auf einen Skeptizismus gewesen; sie sind in Epochen entstanden, in denen die Autorität allein nicht mehr zur Erzielung des für die Gemeinschaft notwendigen Minimums an Glauben ausreichte, so dass zur Erreichung dieses Resultats neue Argumente gefunden werden mussten, die wenigstens ihrem äußeren Anschein nach vernunftgemäß waren. Dieser Beweggrund hat zu einer tiefen Unaufrichtigkeit geführt, mit der die meisten Philosophien sowohl des Altertums wie der Neuzeit behaftet sind. Eine oft nur unbewusste Furcht, dass klares Denken zu Anarchie führen könnte, hat oft die Philosophen bewogen, sich in die Nebelwolken trügerischer und dunkler Behauptungen zu hüllen.

Selbstverständlich hat es Ausnahmen gegeben; die bemerkenswertesten sind Protagoras im Altertum und Hume in der Neuzeit. Beide waren auf Grund ihres Skeptizismus politisch konservativ. Protagoras war sich nicht klar, ob die Götter existierten, aber er hielt daran fest, dass sie auf jeden Fall verehrt werden sollten. Nach seiner Auffassung hatte die Philosophie nichts Erbauliches zu lehren, und musste man sich, wenn man die Moral erhalten wollte, auf die Gedankenlosigkeit der großen Masse und ihre Bereitschaft verlassen, zu glauben, was man sie gelehrt hatte. Deswegen durfte nichts getan werden, was die volkstümliche Kraft der Tradition zu schwächen geeignet war.

Bis zu einem gewissen Grade kann das gleiche von Hume gesagt werden. Nach dem er seine skeptischen Gedankengänge entwickelt hatte, die, wie er selbst zugibt, keinem Menschen als Leitfaden für seine Lebensführung dienen könnten, ging er zu einem praktischen Ratschlag über, der jedermann davon abgehalten hätte, ihn überhaupt zu lesen. »Nur Nachlässigkeit und Unaufmerksamkeit«, sagt er, »können uns helfen. Aus diesem Grunde baue ich ganz auf diese Eigenschaften.« Er legt damit nicht die Gründe dar, aus denen er selbst ein Konservativer war; aber es ist klar, dass »Nachlässigkeit und Unaufmerksamkeit« zwar zur Ergebung in den status quo führen, aber keinen Menschen ohne die Hilfe anderer Gründe zur Unterstützung irgendeines Reformplanes bewegen können.

Obgleich Hobbes weniger skeptisch als Hume war, teilte er doch mit diesem die Überzeugung, dass die Regierung nicht göttlichen Ursprungs sei und so wurde auch er durch seinen Unglauben zum Anwalt einer extrem konservativen Einstellung.

Die »Antwort« auf Protagoras gab Plato, auf Hume erwiderten Kant und Hegel. In beiden Fällen atmete die philosophische Welt erleichtert auf und verzichtete auf eine allzu eingehende Untersuchung der logischen Richtigkeit dieser Antworten, die jedes Mal sowohl politische wie theoretische Konsequenzen nach sich zogen. Bei der »Antwort« auf Hume war es jedoch nicht der liberale Kant, sondern der reaktionäre Hegel, der die politischen Folgerungen zog.

Grundsätzliche Skeptiker aber wie Protagoras oder Hume sind niemals einflussreich gewesen und dienten hauptsächlich als Schreckgespenster, mit denen die Reaktionäre das Volk in einen irrationalen Dogmatismus scheuchen konnten. Die wirklich mächtigen Gegner, mit denen Plato und Hegel kämpfen mussten, waren nicht die Skeptiker, sondern die Empiristen, in dem einen Falle Demokrit, im andern Locke. Bei beiden war der Empirismus mit Demokratie und einer mehr oder weniger utilitaristischen Ethik verknüpft. In beiden Fällen gelang es der neuen Philosophie, sich vornehmer und tiefgründiger darzustellen als die Philosophie des alltäglichen commonsense, die sie beiseite drängte. In beiden Fällen machte sich die neue Philosophie im Namen alles Erhabenen zum Vorkämpfer von Ungerechtigkeit, Grausamkeit und Reaktion. Im Falle Hegels ist dies allmählich mehr oder weniger erkannt worden, im Falle Platos ist es noch heute unklar geblieben.

Plato äußerte – laut Diogenes Laertius – die Ansicht, dass alle Werke von Demokrit verbrannt werden müssten. Sein Wunsch ging insofern in Erfüllung, als keine der Schriften Demokrits erhalten blieb; er selbst erwähnte ihn in seinen Dialogen mit keinem Wort. Aristoteles berichtet einiges von seinen Lehren, Epikur popularisierte ihn, und schließlich fasste Lukrez die Lehre Epikurs in Verse. Dem ungeachtet kann nicht genug getan werden, um Platos verhassten Feind zu interpretieren und richtig zu beurteilen.

Demokrit ist, gemeinsam mit Leukipp hauptsächlich als Begründer des Atomismus bekannt, für den er trotz der Einwände der Metaphysiker eintrat – Einwände, die von ihren Nachfolgern bis zu Descartes und Leibniz wiederholt wurden. Sein Atomismus war indessen nur ein Teil seiner allgemeinen Philosophie. Er war ein Materialist, Determinist, Freidenker und Utilitarist, dem alle heftigen Leidenschaften zuwider waren, und er glaubte an die Evolution sowohl in kosmischer wie in biologischer Hinsicht.

Wie die ihm geistesverwandten Männer des achtzehnten Jahrhunderts war Demokrit ein glühender Demokrat. »Armut in einer Demokratie«, sagt er, »ist dem so genannten Wohlstand unter Despoten genau so vorzuziehen wie Freiheit der Sklaverei.« Er war ein Zeitgenosse von Sokrates und Protagoras und ein Landsmann des letzteren; der Schwerpunkt seiner Wirksamkeit lag in den ersten Jahren des Peloponnesischen Krieges. In diesem Kriege gipfelte der Streit zwischen Demokratie und Oligarchie, der die ganze hellenische Welt erfüllte. Sparta vertrat die Oligarchie; ebenso auch Platos Freunde und Familie, die so gewissermaßen zu »Quislingen« wurden. Man nimmt an, dass ihr Verrat zur Niederlage Athens wesentlich beigetragen hat. Gleich nach dieser Niederlage begab sich Plato daran, das Lob der Sieger anzustimmen, indem er das Bild eines utopischen Staates entwarf, dessen Hauptzüge der Verfassung Spartas entsprachen. Seine künstlerische Geschicklichkeit war jedoch so groß, dass die Liberalen seine reaktionären Tendenzen nie bemerkten, bis seine Jünger Lenin und Hitler endlich eine praktische Auslegung seiner reaktionären Theorien lieferten.

Dass Platos »Staat« in politischer Hinsicht von anständigen Menschen bewundert worden ist, stellt vielleicht das erstaunlichste Beispiel von literarischem Snobismus in der ganzen Weltgeschichte dar. Betrachten wir einmal einige Punkte dieser totalitären Kampfschrift. Das Hauptziel der Erziehung, der alles andere untergeordnet wird ist die Heranbildung von mutigen Kriegern. Zu diesem Zwecke soll schon eine strenge Zensur über die Geschichten ausgeübt werden, die Mütter und Ammen den Kindern erzählen; Homer darf nicht gelesen werden, weil dieser dekadente Verseschmied seine Helden weinen und seine Götter lachen ließ; die Aufführung von Dramen ist zu verbieten, weil Schurken und Frauen darin vorkommen; Musik ist nur in bestimmter Form, und zwar in der von Nationalhymnen und Märschen gestattet. Die Regierung soll in den Händen einer kleinen Oligarchie liegen, die Lug und Trug anzuwenden hat – Betrügerei bei der eugenischen Auswahl, ausgeklügelte Lügen bei dem Versuch, die Bevölkerung von dem biologischen Unterschied zwischen den höheren und niederen Klassen zu überzeugen. Schließlich sollen in weitem Ausmaß alle Kinder umgebracht werden, die nicht im Rahmen dieser amtlichen Gaunereien zur Welt gekommen sind. Dazu wird uns gesagt, dass es nicht darauf ankomme, ob die Mitglieder dieser Gemeinschaft glücklich seien, denn Vortrefflichkeit herrsche im Ganzen, nicht im Einzelnen.

Dieses System gewinnt seine Überzeugungskraft aus der engen Verbindung, die aristokratische Vorurteile und eine »göttliche Philosophie« miteinander eingehen; ohne die letztere läge ihr abstoßender Charakter offen zutage. Mit Hilfe von schönen Redensarten über das Gute und das Unveränderliche wird den Menschen eingeredet, dass es ihre Aufgabe sei, den status quo zu bewahren, so wie es im idealen Himmelsstaat geschieht. Für jeden Menschen mit starken politischen Überzeugungen – und die Griechen hatten erstaunlich heftige politische Leidenschaften – sind die »Guten« selbstverständlich die Anhänger der eigenen Partei: wenn diese also ihre angestrebte Regierungsform durchgesetzt haben, ist nach Plato keine weitere Veränderung mehr nötig. Indem Plato jedoch seine Gedanken hinter einer metaphysischen Nebelbank verbarg, verlieh er ihnen eine so unpersönliche und neutrale Form, dass die Welt jahrhundertelang getäuscht wurde.

Das Ideal einer statischen Vollkommenheit, das Plato von Parmenides übernahm und in seiner Ideenlehre verkörpert, kann, wie heute allgemein erkannt wird; nicht auf menschliche Angelegenheiten übertragen werden. Der Mensch ist ein höchst rastloses Tier und nicht, wie die Boa constrictor, zufrieden, wenn er einmal im Monat eine reichliche Mahlzeit erhält und den Rest der Zeit schlafen kann. Um glücklich zu sein, braucht der Mensch nicht nur diese oder jene Genüsse, sondern Hoffnungen, Aussichten und Veränderungen. Hobbes sagt: »Glück besteht darin, Erfolg zu haben, nicht: Erfolg gehabt zu haben.« Bei den modernen Philosophen ist das Ideal einer endlosen und unveränderlichen Glückseligkeit dem der Evolution gewichen, wobei ein gesetzmäßiger Fortschritt auf ein Ziel angenommen wird, das niemals ganz erreicht wird oder jedenfalls zur Zeit noch nicht erreicht worden ist. Dieser Wechsel in der Betrachtungsweise ist nur ein Teil des seit Galilei begonnenen allgemeinen Prozesses der Ersetzung statischer Elemente durch dynamische, ein Prozess, der alles moderne Denken, das politische wie das wissenschaftliche, in wachsendem Maße beeinflusst hat.

Veränderung bedeutet nicht notwendigerweise Fortschritt. »Veränderung« ist etwas Wissenschaftliches, »Fortschritt« etwas Ethisches; Veränderungen sind unbestreitbar, während der Fortschritt eine Ansichtssache ist. Wir wollen zunächst die Veränderung behandeln, die sich im Reich der Wissenschaft kundtut.

Bis zur Zeit Galileis folgten die Astronomen Aristoteles und hielten alles am Himmel, vom Mond angefangen, für unbeweglich und unvergänglich. Seit Laplace hat kein Astronom von Ruf diese Ansicht mehr vertreten. Wir glauben jetzt, dass Spiralnebel, Fixsterne und Planeten sich alle allmählich entwickelt haben. Einige Gestirne wie der Sirius sind »tot«. Sie haben zu irgendeiner Zeit eine Katastrophe durchgemacht, welche die Stärke ihrer Licht- und Wärmeausstrahlung ungeheuer verringert hat. Unser eigener Planet, dem die Philosophen als seine Bewohner ein ganz unverhältnismäßig großes Interesse entgegenbringen, war einst zu heiß, um Leben auf seiner Oberfläche zu ermöglichen, und wird einmal zu kalt dazu sein. Nachdem die Erde viele Epochen hindurch harmlose Krebstiere und Schmetterlinge erzeugt hatte, trat die Entwicklung in den Abschnitt, der einen Nero, einen Dschingis Khan und einen Hitler hervorbrachte. Doch ist auch dies nur ein kurzer böser Traum: es wird eine Zeit kommen, in der die Erde von neuem keinerlei Leben mehr beherbergen wird, und der Friede wird wiederkehren.

Dieses sinnlose Hin und Her, das uns die Naturwissenschaft allein zu bieten hat, konnte die Philosophen nicht befriedigen. Sie haben sich vorgenommen, eine Formel des Fortschritts zu entdecken, mit der sie beweisen können, dass die Welt sich allmählich immer mehr nach ihrem Geschmack gestaltet. Das Rezept für eine solche Philosophie ist einfach. Der Philosoph entscheidet zunächst, welche Züge der bestehenden Welt ihm gefallen und welche Züge ihm Unbehagen bereiten. Dann sucht er sich an Hand einer sorgsamen Auswahl von Tatsachen zu beweisen, das Universum werde von einem allgemeinen Gesetz regiert, das eine Zunahme des nach seiner Auffassung Angenehmen und eine Abnahme des nach seiner Auffassung Unerfreulichen herbeiführt. Hat er dann solchermaßen sein Fortschrittsgesetz formuliert, wendet er sich mit dem Bemerken an die Öffentlichkeit: »Es ist Bestimmung, dass die Welt sich nach meiner Vorhersage entwickelt; wer rechtbehalten und nicht auf der falschen Seite einen fruchtlosen Kampf gegen das Unvermeidliche führen will, möge sich mir anschließen.« Wer ihm darin widerspricht, wird als unphilosophisch, unwissenschaftlich und altmodisch abgetan, während seine Meinungsgefährten sich ihres Sieges gewiss fühlen, da ja das Universum auf ihrer Seite steht. Obendrein galten die Sieger in diesem Wettstreit aus einigermaßen dunklen Gründen zugleich als im Besitz der Tugend.

Dieser Standpunkt ist zum ersten Mal voll und ganz von Hegel eingenommen worden. Seine Philosophie ist etwas so Seltsames, dass man kaum erwarten konnte, dass er vernünftige Menschen dazu überreden würde. Doch nichtsdestoweniger fand er Anhänger. Er drückte sich so dunkel und verschwommen aus, dass man seine Lehre unbedingt für sehr tiefgründig haken musste. Dabei kann sie in wenigen kurzen und klaren Sätzen dargestellt werden, wobei allerdings ihre Absurdität offenkundig wird. Das Folgende ist, obwohl Hegelianer es natürlich behaupten werden, keineswegs eine Karikatur.

Hegels Philosophie lässt sich folgendermaßen umreißen: Die wirkliche Wirklichkeit ist zeitlos, wie bei Parmenides und Plato, aber es gibt außerdem eine in Erscheinung tretende Wirklichkeit, die sich in der Alltagswelt in Raum und Zeit realisiert. Das Wesen der Wirklichkeit aber kann allein durch die Logik bestimmt werden, denn es gibt nur eine Art von möglicher Wirklichkeit, die nicht in sich selbst widersprüchlich ist. Diese heißt die »absolute Idee«, Hegel gibt von ihr folgende Definition: Die absolute Idee als höchste Einheit der subjektiven und der objektiven Idee ist der Begriff der Idee – ein Begriff, dessen Objekt die Idee als solche ist, und für den das Objektive Idee ist – ein Objekt, das alle verschiedenen Merkmale in seiner Einheit einschließt. Es widerstrebt mir, die strahlende Klarheit einer solchen Definition durch einen Kommentar zu verderben, aber tatsächlich könnte man dasselbe mit den Worten ausdrücken: »Die absolute Idee ist reines Denken über reines Denken.« Hegel hat sich selbst bereits hinreichend bewiesen, dass das Denken nur über das Denken nachdenken kann, weil es gar nichts anderes gibt, worüber man nachdenken könnte. Manche Leute werden das vielleicht etwas langweilig finden und sagen: »Ich denke lieber über Kap Horn oder den Südpol oder Mount Everest oder den großen Andromeda-Nebel nach; ich befasse mich mit den Zeiten, in denen die Erdrinde sich abkühlte, während das Meer vor Hitze kochte und Vulkane über Nacht aufbrachen und wieder verschwanden. Ich halte den Vorschlag, meinen Verstand allein mit den nächtlichen Elaboraten wortspinnender Professoren anzufüllen, für eine unerträgliche Zumutung und bin der Meinung, dass es wirklich nicht der Mühe wert war, durch diesen Wortschwall hindurchzuwaten, wenn weiter nichts der Lohn dafür ist.« Mit diesen Worten würden sie der Philosophie Lebewohl sagen und glücklich weiterleben, bis sie gestorben sind. Doch wir würden Hegel Unrecht tun – und das möge Gott verhüten -, wenn wir diesen Leuten zustimmten. Denn Hegel würde uns darauf hinweisen, dass das Absolute, wie der Gott des Aristoteles, niemals über etwas anderes als sich selbst nachdenkt, weil es weiß, dass alles andere Illusion ist, dass wir jedoch, die wir als Sklaven des zeitlichen Prozesses in einer Welt der Phänomene zu leben gezwungen sind, die wir nur die einzelnen Teile sehen und das Ganze höchstens in Augenblicken mystischer Schau vage erahnen können – dass wir als illusionäre Produkte der Illusion so zu denken gezwungen sind, als ob Kap Horn tatsächlich für sich bestünde und nicht nur als Idee im göttlichen Geist. Wenn wir an Kap Horn denken, geschieht in Wirklichkeit nichts anderes, als dass das Absolute sich eines Kap Horn-Gedankens bewusst wird. Es hat wirklich solch einen Gedanken, oder besser solch einen Aspekt jenes einen Gedankens, den es zeitlos denkt und ist, und dieses ist die einzige Wirklichkeit, die Kap Horn zukommt. Da wir aber solche Höhen nicht erreichen können, tun wir am besten, an das Kap in der allgemein üblichen geographischen Weise zu denken.

Aber was hat das alles – wird hier jemand einwenden – eigentlich mit Politik zu tun? Auf den ersten Blick vielleicht nicht viel. Für Hegel dagegen ist der Zusammenhang ganz deutlich. Aus seiner Metaphysik folgt ohne weiteres, dass wahre Freiheit im Gehorsam gegenüber einer beliebigen Autorität besteht, dass Redefreiheit ein

übel und die absolute Monarchie etwas Gutes ist, dass der preußische Staat zu seinen Lebzeiten der beste aller bestehenden Staaten war, dass Krieg gut ist und eine internationale Organisation zur friedlichen Bereinigung von Streitigkeiten ein Unglück wäre.

Vielleicht werden einige meiner Leser nicht sofort einsehen, wie solche Folgerungen zustande kommen. Deswegen möchte ich mit einigen Worten auf die Zusammenhänge eingehen.

Obwohl die Zeit etwas Unwirkliches ist, hat die Folge von Erscheinungen, aus der sich die Geschichte zusammensetzt, doch eine merkwürdige Beziehung zur Wirklichkeit Hegel entdeckte das Wesen der Wirklichkeit durch einen rein logischen Prozess, den er »dialektisch« nannte und der in der Entdeckung von Gegensätzen in abstrakten Ideen besteht und ihrer Angleichung, indem man sie konkretisiert. Jede dieser abstrakten Ideen wird als Entwicklungsstufe der »Idee» aufgefasst, deren höchste Stufe die »absolute Idee« ist.

Seltsamerweise wiederholt nun der zeitliche Prozess der Geschichte aus einem Grund, über den sich Hegel niemals ausgelassen hat, die logische Entwicklung der Dialektik. Man könnte – da die Metaphysik auf die gesamte Realität angewendet zu werden beansprucht – annehmen, dass der zeitliche Prozess, der ihr parallel läuft, kosmisches Ausmaß hätte, aber nichts von alledem! Er ist lediglich an unseren Planeten gebunden, beschränkt sich auf die überlieferte Geschichte und (so unglaublich es klingen mag) ausgerechnet nur soweit sie Hegel bekannt war. Verschiedene Völker haben zu verschiedenen Zeitpunkten die Stadien der Idee verkörpert, die der dialektische Prozess zu jener Zeit erreicht hatte. Von China wusste Hegel nur, dass es existierte, deswegen verkörperte China die Kategorie des bloßen Daseins. Von Indien wusste er nur, dass die Buddhisten an das Nirwana glauben, deshalb stellte Indien die Kategorie des Nichts dar. Die Griechen und Römer hatten auf der Liste der Kategorien schon bessere Plätze, aber alle späteren Stufen blieben den Deutschen vorbehalten, die seit dem Niedergang Roms die einzigen Bannerträger der »Idee« gewesen waren und 1830 die »absolute Idee« fast vollständig verwirklicht hatten.

Für jeden, der noch die Hoffnung nährt, dass der Mensch ein mehr oder weniger vernünftiges Wesen ist, muss der Erfolg dieses Unsinns erstaunlich sein. Zu seinen Lebzeiten wurde Hegels System von fast allen akademisch gebildeten jungen Deutschen anerkannt, was vielleicht durch die Tatsache zu erklären ist, dass es dem deutschen Selbstbewusstsein sehr schmeichelte. Überraschender schon ist sein Erfolg außerhalb Deutschlands. In meiner Jugend waren die meisten Philosophie-Professoren an englischen und amerikanischen Universitäten Hegelianer, so dass ich, ehe ich selber Hegel las, wirklich annahm, es müsse etwas Wahres an seinem System sein; doch wurde ich alsbald durch die Feststellung kuriert, dass alles, was er über die Philosophie der Mathematik gesagt hat, barer Unsinn war.

Am seltsamsten war seine Wirkung auf Marx, der einige seiner verrücktesten Grundsätze übernahm, insbesondere den Glauben, dass Geschichte sich nach einem logischen Plan entwickle und sich wie der reinste abstrakte Dialektiker darum bemühe, innere Widersprüche zu vermeiden. Auf einem großen Teil der Erdoberfläche wird man heute liquidiert, wenn man dieses Dogma in Zweifel zieht, und westliche Wissenschaftler, die politisch mit Russland sympathisieren, pflegen diese Sympathie durch einen Gebrauch des Begriffs der Kontradiktion zum Ausdruck zu bringen, den kein ordentlicher Logiker billigen kann.

Wenn wir bei einem Mann wie Hegel den Zusammenhängen zwischen Politik und Metaphysik nachgehen, müssen wir uns mit einigen sehr allgemeinen Zügen seines praktischen Programms zufrieden geben. Dass Hegel Preußen glorifizierte, war gewissermaßen ein Zufall; in seinen jüngeren Jahren hatte er Napoleon glühend verehrt, und erst mit seiner Anstellung als preußischer Staatsbeamter wurde er zum deutschen Patrioten. Noch in der letzten Fassung seiner »Philosophie der Geschichte« bezeichnet er Alexander, Cäsar und Napoleon als Männer, die auf Grund ihrer Größe berechtigt seien, sich von den Verpflichtungen der Moralgesetze ausgenommen zu fühlen. Wenn ihn seine Philosophie zu einem Bewunderer Deutschlands machte, so nicht, weil es im Gegensatz zu Frankreich stand, sondern weil es in seinen Augen Ordnung, Systematik, Reibungslosigkeit und Wirksamkeit der obrigkeitlichen Kontrolle verkörperte. Seine Vergottung des Staates wäre, wenn es sich um das despotische Regime Napoleons gehandelt hätte, ebenso abstoßend gewesen. Seiner eigenen Ansicht nach wusste er, woran es der Welt fehlte, obgleich es die meisten Menschen nicht wussten: eine starke Regierung kann, was eine Demokratie niemals fertig bringt, die Menschen zwingen, für das allgemeine Beste zu handeln. Heraklit, dem Hegel zutiefst verpflichtet war, hat einmal gesagt: »Alles Vieh wird mit Schlägen auf die Weide getrieben.« Lasst uns also auf jeden Fall für die Schläge sorgen; ob sie zur Weide führen, ist nicht so wichtig, ausgenommen natürlich für die Tiere selbst.

Es ist klar, dass ein autokratisches System, so wie es von Hegel oder den heutigen Schülern von Marx befürwortet wird, theoretisch nur auf der Basis eines unbestreitbaren Dogmas zu rechtfertigen ist. Wenn man zu wissen meint, welche Zwecke das Universum in Bezug auf das menschliche Leben verfolgt, was mit Sicherheit geschehen wird und was für die Menschen gut ist, selbst wenn sie selbst anderer Meinung sind; wenn man wie Hegel sagen kann, dass die eigene Geschichtstheorie als ein Ergebnis nur einem selbst bekannt sei, weil man das ganze Feld durchmessen habe – dann wird man auch davon überzeugt sein, dass kein Grad des Zwanges zu groß ist, wenn er zum rechten Ziele führt.

Die einzige Philosophie, die in ihrer ganzen geistigen Haltung eine theoretische Rechtfertigung der Demokratie bietet, ist der Empirismus. Locke, der in der Philosophie der Neuzeit als Begründer des Empirismus gelten kann, macht uns deutlich, wie eng diese Lehre mit seinen Ansichten über Freiheit und Toleranz und seiner Opposition gegen die absolute Monarchie verknüpft ist. Er wurde nie müde, die Ungewissheit des größten Teiles unseres Wissens zu betonen, doch nicht aus dem Skeptizismus eines Hume, sondern um die Menschen darauf aufmerksam zu machen, dass sie Unrecht haben könnten und dass sie diese Möglichkeit im Umgang mit anderen, deren Ansichten mit ihren eigenen nicht übereinstimmen, immer in Rechnung stellen sollten. Er hatte die üblen Folgen beobachtet, die sowohl aus dem »Enthusiasmus« der Presbyterianer wie aus dem Dogma vom göttlichen Recht der Könige entstanden waren; beiden stellte er eine politische Lehre gegenüber, die sich aus lauter einzelnen zusammengeflickten Bestandteilen zusammensetzte und sich in jedem einzelnen Punkt durch ihren Erfolg in der Praxis bewähren sollte.

Der politische Liberalismus – im weitesten Sinne des Wortes —ist ein Ergebnis des Handels. Das erste Beispiel dafür boten die ionischen Städte in Kleinasien, die vom Handel mit Ägypten und Lydien lebten. Als sich Athen zur Zeit des Perikles in eine Handelsstadt verwandelte, wurden die Athener zu Liberalen. Nach einer langen Pause lebten dann liberale Ideen in den lombardischen Städten des Mittelalters wieder auf und herrschten in Italien vor, bis sie im sechzehnten Jahrhundert von den Spaniern ausgetilgt wurden. Die Rückeroberung Hollands oder die Niederwerfung Englands misslang jedoch den Spaniern, und gerade diese Länder wurden im siebzehnten Jahrhundert zugleich zu Hochburgen des Liberalismus und zu führenden Handelsstaaten. Heute ist diese Rolle den Vereinigten Staaten von Nordamerika zugefallen.

Die Gründe für die Verknüpfung von Handel und Liberalismus liegen auf der Hand. Der Handel bringt die Menschen mit bodenständigen Lebensformen in Berührung, die sich von ihren eigenen unterscheiden, und zerstört dadurch den Dogmatismus, der allen Sesshaften eigen ist. Das Verhältnis zwischen Käufer und Verkäufer ist das einer Verhandlung zwischen zwei freien Partnern; und es ist höchst vorteilhaft, wenn der Käufer oder Verkäufer in der Lage ist, sich in die Lage des anderen Partners hineinzuversetzen. Es gibt natürlich auch einen imperialistischen Handel, bei dem der andere mit vorgehaltener Pistole zum Kaufen gezwungen wird; aber durch ihn entstehen keine liberalen Philosophien, wie sie am besten in Handelsstädten geblüht haben, die bei allem Wohlstand in militärischer Hinsicht ziemlich bedeutungslos waren. In der Gegenwart haben die kleinen Länder wie die Schweiz, Holland und die skandinavischen Staaten die größte Ähnlichkeit mit den Handelsstaaten des Altertums und des Mittelalters.

Das liberale Glaubensbekenntnis äußert sich in der Praxis im Prinzip des Leben-und-leben-Lassens, als Toleranz und Freiheit, soweit die öffentliche Ordnung es zulässt, als Mäßigung und Meidung von Fanatismus in politischen Programmen. Selbst die Demokratie hört auf, liberal zu sein, wenn sie fanatisch wird, wie in der Französischen Revolution bei den Schülern Rousseaus; ein fanatischer Glaube an die Demokratie hebt sie tatsächlich auf, wie sich in England unter Cromwell und in Frankreich unter Robespierre gezeigt hat. Der echte Liberale sagt nicht: »Dies ist die Wahrheit«, sondern: »Ich neige zu der Ansicht, dass unter den gegenwärtigen Umständen diese Meinung wahrscheinlich die beste ist«, und wird darum auch nur in diesem begrenzten und undogmatischen Sinn die Demokratie befürworten.

Was hat nun die theoretische Philosophie über die Richtigkeit der liberalen Anschauungsweise zu sagen? Das Wesen der liberalen Anschauungsweise liegt nicht so sehr in den Meinungen, die vertreten werden, als in der Art und Weise, wie sie vertreten werden; nicht dogmatisch, sondern mit dem Bewusstsein, dass neues Beweismaterial jederzeit zu ihrer Aufgabe führen kann. Im Grunde ist dies die eigentlich wissenschaftliche Art, eine These zu vertreten, im Gegensatz etwa zur Theologie. Die Entscheidungen des Konzils von Nicäa sind auch heute noch verbindlich, in der Wissenschaft aber haben die im vierten Jahrhundert vertretenen Ansichten keinerlei Gewicht mehr. In der Sowjetunion werden die Aussprüche von Marx über den dialektischen Materialismus so kritiklos hingenommen, dass die Biologen ihre Ansichten über die besten Ackerbaumethoden davon abhängig machen, während man in der übrigen Welt annimmt, dass zur Behandlung solcher Probleme das Experiment die richtige Methode ist. Die Wissenschaft ist empirisch, experimentell und undogmatisch; jedes unveränderliche Dogma ist unwissenschaftlich. Dementsprechend ist die wissenschaftliche Betrachtungsweise das geistige Gegenstück des Liberalismus im praktischen Bereich.

Locke, der die empiristische Wissenstheorie zuerst im einzelnen entwickelte, hat gleichfalls religiöse Toleranz gelehrt und die Beteiligung des Volkes an den Regierungsinstitutionen sowie eine Begrenzung der Regierungsmacht durch ein System der gegenseitigen Kontrollen gefordert. Von seinen Lehren waren nur wenige neu, aber er entwickelte sie in gewichtiger Weise gerade zu dem Zeitpunkt, als die englische Regierung sie anzuerkennen bereit war. Wie seine Zeitgenossen im Jahre 1688 war er nur mit Zurückhaltung Revolutionär und verabscheute die Anarchie nicht weniger als den Despotismus. Sowohl im Geistigen wie im Praktischen trat er für Ordnung ohne Autorität ein, was man als Motto der Wissenschaft wie des Liberalismus bezeichnen könnte. Diese Ordnung beruht auf Zustimmung oder Übereinstimmung. Auf geistigem Gebiet bedeutet sie die Anerkennung von Beweismaßstäben, die unter Fachleuten – nach entsprechender Diskussion – zu irgendeiner Form der Übereinstimmung führen. Auf praktischem Gebiet bedeutet sie, dass man sich dem Willen der Mehrheit fügt, nachdem alle Parteien eine Möglichkeit zur Äußerung ihrer Ansicht gehabt haben.

Unter beiden Gesichtspunkten fiel Lockes Wirken in eine sehr günstige Zeit. Der große Streit zwischen dem ptolemäischen und dem kopernikanischen System war entschieden, und wissenschaftliche Fragen konnten nicht länger durch Berufung auf Aristoteles gelöst werden. Newtons Triumphe schienen einen schrankenlosen wissenschaftlichen Optimismus zu rechtfertigen. Politisch hatten anderthalb Jahrhunderte von Religionskriegen kaum eine Veränderung im Machtverhältnis zwischen Katholiken und Protestanten bewirkt. Aufgeklärte Geister hatten begonnen, theologische Kontroversen als so absurd zu betrachten, wie sie bei Swift im Krieg zwischen Dick-Endern und Dünn-Endern karikiert worden waren. Extreme protestantische Sekten hatten, indem sie sich auf innere Erleuchtung beriefen, die so genannte Offenbarung zu einer Kraft der Anarchie gemacht. Herrliche Unternehmungen auf wissenschaftlichem wie auf kommerziellem Gebiet lockten energische Männer von unfruchtbaren Disputationen weg. Glücklicherweise folgten sie dieser Lockung, und zwei Jahrhunderte eines beispiellosen Fortschritts waren das Ergebnis.