Unpregnant - Der Trip unseres Lebens - Jenni Hendriks - E-Book

Unpregnant - Der Trip unseres Lebens E-Book

Jenni Hendriks

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Beschreibung

Die siebzehnjährige Veronica Clarke hätte nie gedacht, dass sie sich mal ein negatives Testergebnis wünschen würde - bis sie eines Tages auf der Schultoilette auf einen Plastikstab mit zwei deutlichen pinkfarbenen Strichen starrt. Und sie trifft eine Entscheidung, von der sie nie glaubte, dass sie sie mal erwägen müsste: für eine Abtreibung. Es gibt nur ein Problem: Die nächste Klinik dafür ist ungefähr tausend Kilometer weit weg. Mit konservativen Eltern, einem nichtsnutzigen Freund und ohne Auto, wendet sich Veronica an die einzige Person, die sie nicht verurteilen wird: Bailey Butler, ein legendäres schwarzes Schaf an der Jefferson High School - und ihre frühere beste Freundin. Was kann schon passieren? Nicht viel, außer drei Tagen mit geklauten Autos, einem verrückt gewordenem Exfreund, Außerirdischen, einer Frettchenentführung und dem Problem einer zerbrochenen Freundschaft. Unter dem sternübersäten Himmel des amerikanischen Südwestens entdecken Veronica und Bailey, dass es manchmal die wichtigste Entscheidung von allen ist, wer deine Freunde sind.

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Seitenzahl: 339

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Jenni Hendriks | Ted Caplan

Unpregnant – Der Trip unseres Lebens

Roman

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Kattrin Stier

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung]Kilometer 0Kilometer 1Kilometer 6Kilometer 51Kilometer 120Kilometer 227Kilometer 275Kilometer 307Kilometer 308Kilometer 339Kilometer 465Kilometer 529Kilometer 550Kilometer 552Kilometer 585Kilometer 828Kilometer 857Kilometer 921Kilometer 923Kilometer 924Kilometer 934Kilometer 1017Kilometer 1019Kilometer 1020Kilometer 1022,5Kilometer 1024Kilometer 1025,5Kilometer 1091Kilometer 1573Kilometer 1580Kilometer 1590Kilometer 1591Kilometer 1595Kilometer 1599Kilometer 1600Kilometer 1606Kilometer 1609Kilometer 1615Kilometer 1616Kilometer 1616Kilometer 1621Kilometer 1627Kilometer 1628Kilometer 1763Kilometer 2291Kilometer 2292Kilometer 2403Kilometer 2430Kilometer 2990Kilometer 2992Kilometer 3220Danksagung

FÜR UNSERE KINDER

Kilometer 0

Ich saß auf der eiskalten Klobrille im dritten Abteil der Mädchentoilette, presste verzweifelt die Oberschenkel zusammen und konzentrierte mich darauf, nicht zu pinkeln.

»Bist du da drin, Ronnie? Wenn wir noch rechtzeitig zur ersten Stunde kommen wollen, müssen wir uns beeilen«, sagte Emily. Nein, ich war noch lange nicht fertig. Und ein Eintrag wegen Zuspätkommens war meine geringste Sorge.

»Äh, geh doch schon mal vor … du weißt schon, Mädelsprobleme.« Wenngleich nicht die üblichen.

Ich betete im Stillen, dass Emily einen schnellen Abgang machen würde. Das zweite Glas Orangen-Guaven-Saft heute Morgen war definitiv ein Fehler gewesen. Aber er war einfach so verdammt lecker. Schließlich ging die Tür auf. Schritte hallten im Toilettenvorraum, während alle zum Unterricht eilten, und dann … Stille. Ich blieb noch eine Weile wie erstarrt sitzen und lauschte, ob auch ja keine Schülerin oder noch schlimmer, eine Lehrerin, in der Nähe war. Nur das gelegentliche Tropfen eines Wasserhahns war zu vernehmen. Alle waren in ihren Klassenzimmern. Erleichtert atmete ich auf. Und hätte dabei fast gepinkelt.

Jetzt war es an der Zeit herauszufinden, ob mein Albtraum vorbei war oder gerade erst anfing. Langsam öffnete ich den Reißverschluss an der Außentasche meines Rucksacks und zuckte zusammen, als das Geräusch von den gekachelten Wänden widerhallte. Obwohl ich jetzt alleine war, wurde ich das Gefühl nicht los, dass jemand merken könnte, was ich vorhatte. Ich kramte in der Tiefe der Tasche herum und ertastete schließlich ganz unten auf dem Boden neben den Kugelschreibern und abgebrochenen Bleistiften das, was ich dort versteckt hatte. Ich setzte mich wieder und musterte das Objekt in meiner Hand. Es fühlte sich schwerer an, als ich es in Erinnerung hatte.

Die Anleitung hatte ich mir abends schon durchgelesen. Und dann noch einmal nach dem Aufwachen. Und noch einmal nach dem Frühstück. Ich war wirklich eine Musterschülerin. Aber jetzt, im entscheidenden Moment, schnürte sich mir doch die Kehle zu und ich hatte Angst. Was wäre, wenn ich den Stick verfehlte? Was wäre, wenn ich es falsch machte? Ich hatte nur diesen einen und konnte mir keine Fehler erlauben. Ich holte tief Luft. Verdammt nochmal! Mein Notendurchschnitt war spitze, ich war sogar Mitglied in der National Honor Society und würde im Herbst zum Studium an die Brown University nach Rhode Island gehen. Da würde ich es doch wohl schaffen, auf einen Stick zu pinkeln!

Ich riss die kräftige Folie auf und zog den Schwangerschaftstest heraus. Das kleine Plastikfenster starrte mich mit leerem Auge an, als wartete es nur darauf, mir mein Schicksal vorherzusagen. Ich versuchte, den Gedanken an das zu verdrängen, was ich da tat, während ich mir das Ding zwischen die Beine hielt und pinkelte.

Im ersten Augenblick ließ ich mich von dem Wohlgefühl einer sich rasch leerenden Blase hinreißen, doch dann schlug die Panik wieder zu. Ich hatte etwas vergessen. In der Anleitung hieß es, man sollte erst ein klein wenig pinkeln und dann den Teststick in den Strahl halten. Ob das wohl das Ergebnis ungültig machen würde? Ich schaute nach unten, ob der Test richtig funktionierte. Die faserige Spitze war durchtränkt und das kleine Plastikfenster färbte sich hellgrau. War das richtig so? Oder bedeutete das, dass ich es kaputt gemacht hatte? Sollte ich aufhören zu pinkeln?

Nach und nach tauchte in dem Fenster eine dünne pinkfarbene Linie auf. Mir sackte der Magen in die Kniekehlen, bis mir wieder einfiel, dass in dem Beipackzettel von einer Kontrolllinie die Rede gewesen war. Erst wenn zwei Linien erschienen, wäre das ein Zeichen für eine Schwangerschaft. Die Linie bedeutete also hoffentlich, dass alles funktionierte. Vor allem, weil ich jetzt nicht noch mehr pinkeln konnte. Sorgfältig achtete ich darauf, den Test laut Anleitung so flach wie möglich zu halten, während ich ihn zwischen meinen Beinen hervorzog. Drei Minuten. In drei Minuten würde ich das Ergebnis ablesen können. Das würden die längsten drei Minuten meines Lebens werden.

Ich schaute überall hin, nur nicht auf das kleine Fenster. Ich bin nicht der Typ, der sich permanent das Make-up richten muss oder verbotenes Zeug raucht, und deswegen war das Mädchenklo nicht gerade ein Ort, an dem ich in den letzten vier Jahren viel Zeit verbracht hatte. Und die fünfundvierzig Sekunden, die ich nun auf die Trennwand zwischen den Abteilen starrte, reichten aus, um mir zu zeigen, dass ich nicht viel verpasst hatte. Die einzige Ablenkung war eine immerhin mäßig amüsante Karikatur unserer Schulleiterin und mehrere dringende Warnungen vor den verseuchten Genitalien der Fußballmannschaft – wenig überraschend. Ich wagte einen raschen Blick auf den Test. Immer noch nur eine Linie.

Hoffnung breitete sich explosionsartig in meiner Brust aus. Vielleicht kamen meine Tage nur verspätet. So wie damals, als ich dachte, ich hätte den zweiten Aufsatz in meiner Englischprüfung verhauen. Dabei hatte ich am Ende sogar noch die volle Punktzahl bekommen, auch wenn ich die thematischen Ähnlichkeiten zwischen Dickens’ Große Erwartungen und Thackerays Jahrmarkt der Eitelkeiten nicht ganz hinreichend erläutert hatte.

In letzter Zeit hatte ich ja wirklich enorm unter Stress gestanden, da waren die Bewerbungen fürs College und der Abschlussball und die Prüfungen. Ganz zu schweigen davon, dass ich eine mögliche Kandidatin dafür war, als Jahrgangsbeste die Abschlussrede halten zu dürfen. Bestimmt bekam ich meine Tage nur verspätet. Ich blinzelte. Tauchte da etwa der Hauch einer zweiten Linie auf? Ich lehnte mich an die Tür des Abteils, um das Testfenster etwas besser ins Licht halten zu können. Wenn ich nur …

Da wurde mit einem Schlag die Tür zu den Toiletten aufgerissen.

Ich zuckte zusammen und musste hilflos zusehen, wie mir der Test an meinen Fingerspitzen vorbei aus den Händen rutschte. Verzweifelt warf ich mich nach vorne, um ihn noch zu erhaschen, griff jedoch ins Leere. Der Stick überschlug sich mehrmals und fiel dann zu Boden, wo er mit einem unüberhörbaren Geräusch auf den Fliesen aufschlug, unter der Tür des Abteils hindurchrutschte und nach einigen Umdrehungen genau in der Mitte des Vorraums liegenblieb.

Okay, jetzt galt es, nicht in Panik zu verfallen, sondern einen kühlen Kopf zu bewahren. Vielleicht würde diejenige ihn gar nicht bemerken. Vielleicht war sie ja blind. Und taub. Vielleicht würde es ein gewaltiges Erdbeben geben, und die Schule würde einstürzen, und wir würden alle sterben. Auch hier in Missouri musste es doch so was wie einen Andreasgraben geben.

Stapf. Stapf. Stapf. Unter der Tür des Abteils hindurch konnte ich ein Paar abgestoßene Springerstiefel erkennen, die sich der Stelle näherten, wo der Teststick hell erleuchtet inmitten eines Sonnenstrahls lag. Eine Hand griff nach unten, abgeplatzter grüner Nagellack auf abgekauten Fingernägeln.

»Wow.«

Wer war das? Wer hielt da meine angepinkelte Zukunft in der Hand? Ich linste durch den Spalt in der Tür. Ein schwarzes, übergroßes T-Shirt. Zerrissene Skinny-Jeans, eine Größe zu klein. Verblasste türkis gefärbte Haare mit schwarzen Ansätzen, die aussahen, als hätten sie seit Tagen keinen Kontakt mehr mit einer Bürste gehabt.

Oh nein. So grausam konnten die Highschool-Götter gar nicht sein. Bailey Butler. Das schwarze Loch der Jefferson High, in dem sich alle Wut und Dunkelheit versammelte. Wenn man ihr auf dem Gang hallo sagte, quittierte sie das mit einem Stinkefinger. Ganz zu schweigen von dem, was einem drohte, falls man es wagte, sich beim Mittagessen neben sie zu setzen. Sie hatte einen ganzen Tisch für sich in der Cafeteria, weil sie die Leute buchstäblich anbellte, sobald sie Anstalten machten, sich dort hinzusetzen. Es ging das Gerücht, dass der Quarterback des Football-Teams einmal etwas zu ihr gesagt hatte, was ihr nicht passte, und sie daraufhin ein Taschenmesser gekauft und seinen Namen darauf eingraviert hätte. Sie war düster. Sie war zynisch. Sich in ihrer Nähe aufzuhalten war zutiefst unangenehm. Und sie war einmal meine beste Freundin gewesen.

Bailey hob den Teststick an ihre Nase und schnüffelte. »Noch ganz frisch.« Sie ließ den Blick durch den Toilettenraum schweifen und hielt inne, als sie meine weißen Adidas Superstars entdeckte. »Oh, das wird lustig.«

Würde sie meine Stimme noch erkennen? Es war fast vier Jahre her, seitdem wir zuletzt miteinander gesprochen hatten. Zur Sicherheit setzte ich ganz tief und grollend an. »Äh, wenn du das Ding einfach hier drunter durch schieben könntest … das wäre super.« Ich streckte die Hand unter der Tür hindurch und hoffte, sie könnte gnädig gestimmt sein.

Barley schnaubte verächtlich. »Netter Versuch. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass Batman nicht schwanger werden kann.« Durch den Spalt in der Tür sah ich sie hin und her tigern, die Hände hinter dem Rücken, mit nach oben gezogenen Mundwinkeln. Na toll. Ich kannte dieses Lächeln. Bestimmt hatten die katholischen Priester während der spanischen Inquisition genau so gelächelt.

»Chloe McCourt?«, riet Bailey. Wie versteinert saß ich auf der Klobrille. Dieses Spiel würde ich auf keinen Fall mitspielen. Ich würde es einfach aussitzen. Bailey kniff die Augen zusammen. »Nein. Calvin hat mit ihr Schluss gemacht. Sie kann nie im Leben schon den nächsten Kerl an der Angel haben, nachdem sie gerade erst sein Football-Trikot auf dem Schulhof verbrannt hat. Egal, wie groß ihre Titten sind. Hmmm. Gar nicht so einfach. Ella Tran? Sie wäre blöd genug, irgendwelche Pfefferminzbonbons mit der Pille zu verwechseln.«

»Gib das Ding her.« Ich versuchte, meiner tiefen Stimme mehr Nachdruck zu verleihen, doch es klang einfach nur verzweifelt.

Bailey musterte meine Schuhe. »Na, dann wäre da noch das langjährige Mitglied im Penis-des-Monats-Club, Olivia Blume …«

»Nein!«, platzte ich empört heraus.

»Ooooh. Wir sind also wählerisch … Ein Hinweis. Wer hält sich für besser als alle anderen?« Bailey kratzte sich am Kinn. »Faith Bidwell?« Sie würde so rasch nicht aufgeben. Ich musste die Sache beenden, bevor noch jemand anderes hereinkam.

»Verdammt. Du darfst das niemandem verraten. Kannst du ihn mir jetzt zurückgeben?« Ich wartete mit ausgestreckter Hand. Ich war nicht sicher, ob sie mir meine mittelmäßigen Schauspielkünste abkaufen würde, aber Bailey näherte sich tatsächlich dem Abteil. Vielleicht wurde ihr die Sache nun doch langweilig. Ich verspürte einen Anflug von Hoffnung. Aber dann beugte sie sich nicht etwa hinab, um mir den Teststick zu geben, sondern sprang hoch und klammerte sich an den oberen Rand der Tür meines Abteils.

»Holy Shit!«

Ich zuckte zusammen. Bailey hing da oben und grinste auf mich hinab.

»Komm sofort da runter, Bailey!« Ich wedelte wie wild mit den Armen, um sie zu verscheuchen.

»Träume ich? Das Leben kann doch nicht so perfekt sein«, krähte sie triumphierend.

Mir schoss das Blut in die Wangen, während ich mit meinen Klamotten kämpfte und versuchte, meine Unterhose und Jeans hochzuziehen, ohne mir vor Bailey eine Blöße zu geben.

»Würdest du bitte …« Ich bedachte sie mit einem scharfen Blick.

Erstaunlicherweise ließ Bailey sich ohne Murren hinuntergleiten. Sobald ich angezogen war, riss ich die Tür des Abteils auf. Sie wartete schon auf mich.

»Veronica Clarke, wie sie leibt und lebt«, bemerkte sie genüsslich. »Warte mal kurz. Ich will das nur schnell für die Ewigkeit festhalten.« Mit einem Griff in ihren Rucksack zog sie ihr Handy hervor und richtete es auf mich.

»Wage es nicht …«

Sie drückte ab und betrachtete das Ergebnis mit einem Lächeln. »Genau so will ich dich in Erinnerung behalten.« Bailey drehte das Handy herum, um mir das Bild zu zeigen, auf dem ich mit wutverzerrtem Gesicht nach der Kamera haschte.

»Du darfst das auf keinen Fall posten!«, japste ich, bevor ich mich bremsen konnte. Im Netz bloßgestellt zu werden war das Letzte, was ich jetzt brauchen konnte.

Bailey lächelte das Bild noch einmal liebevoll an, bevor sie das Handy in die Hosentasche zurückschob. »Entspann dich. Das hier ist viel zu besonders, um es zu teilen.«

»Sind wir dann jetzt fertig? Du hast, was du wolltest. Du hast mich ertappt. Du hast dich über mich lustig gemacht. Du hast meinen Tag noch schlimmer gemacht, als er ohnehin schon war. Könntest du mir also bitte den Test zurückgeben?«

Bailey blickte meine ausgestreckte Hand mit hochgezogener Augenbraue an. »Wie ich sehe, trägst du immer noch deinen Purity Ring. Um den Schein zu wahren? Oder sollte es sich hier etwa um jungfräuliche Empfängnis handeln?« Mit hochroten Wangen zog ich meine Hand zurück. Na klar, Bailey entging auch nicht das kleinste Detail, wenn es darum ging, mich zu quälen. »Wow. Du bist wirklich voll das Klischee.«

»Ich bin überhaupt kein Klischee!«, protestierte ich.

»Also ich finde Prom Queen, Jahrgangsbeste und Abschlussrednerin samt christlichem Reinheitsgelübde schon verdammt klischeehaft.«

»Erstens bin ich nur eine mögliche Kandidatin für die Abschlussrede, weil Hannah Ballard viel mehr außerschulische Aktivitäten vorzuweisen hat als ich. Obwohl ich eigentlich mehr Prüfungsfächer hatte als sie und ich glaube, dass meine Freiwilligenarbeit auch miteinbezogen werden sollte …«

»Oh Gott, was bist du nur für eine Streberin …«

»Und ich war keineswegs Prom Queen, sondern nur im Prom Court. Also alles andere als klischeehaft«, setzte ich hinzu.

»Du hast recht. Ich lasse mich gerne korrigieren und bitte vielmals um Verzeihung. Du entsprichst nur fast dem Klischee.«

»Ich weiß, dass es dir sehr schwerfällt, aber könntest du bitte mal für einen Augenblick aufhören, so fies zu sein?«

Bailey blickte mich leicht verwirrt an. »Nein. Warum sollte ich?«

Und das brachte das Fass zum Überlaufen. Nach anderthalb Wochen besorgten Wartens hatte ich meiner großen Schwester einen Schwangerschaftstest geklaut, mir den ganzen Morgen das Pinkeln verkniffen und sollte mich jetzt auch noch damit herumschlagen, dass Bailey so war, wie sie war? Es heißt doch immer, man würde rotsehen – aber das stimmt nicht. Eigentlich sieht man weiß. Es war wie ein Blitzlicht. Ehe ich wusste, wie mir geschah, stürzte ich mich auf die Hand, die den Teststick hielt. Bailey riss ihn gerade noch rechtzeitig weg und tänzelte ein paar Schritte rückwärts, während ich nach vorne stolperte.

»Jetzt chill doch mal, verdammt. Du kriegst das Ding erst zurück, wenn du mir was versprichst.«

»Als ob …«, knurrte ich, sobald ich mich stabilisiert hatte, um mich ein zweites Mal auf sie zu stürzen. Sie stützte sich am Waschbecken ab und lachte über meine vergeblichen Versuche, ihr den Teststick zu entreißen. Endlich gelang es mir, ihren Arm zu packen und mit aller Kraft daran zu zerren, damit sie den Test fallen ließ, als ich plötzlich etwas Kaltes und Scharfes an meinem Hals spürte.

»Ich habe gesagt, chill.«

Ich erstarrte und richtete den Blick dann ganz vorsichtig auf unser Bild im Spiegel über dem Waschbecken. Bailey hielt mir ein schwarzes Plastikkästchen an den Hals. Ich brauchte einen Augenblick, um zu kapieren, was das Ding war, weil ich so etwas bislang nur in Fernsehkrimis gesehen hatte. Es war ein Elektroschocker. Sie hatte tatsächlich einen verdammten Elektroschocker.

»Oh mein Gott. Wie hast du denn das Ding hier in die Schule gekriegt? Dafür könnten sie dich rausschmeißen! Und das weniger als einen Monat vor dem Abschluss!«

Bailey schnaubte. »Na klar, das ist natürlich dein erster Gedanke, wenn dir jemand einen Elektroschocker an den Hals hält.« Ich lockerte meinen Griff um ihr Handgelenk, und Bailey ließ das Ding sinken und trat einen Schritt von mir weg. »Also, wo waren wir stehengeblieben? Ach ja, das Versprechen. Ich gebe dir den Test zurück, wenn du mir etwas sehr Wichtiges versprechen kannst: dass dein Fortpflanzungspartner nicht Kevin Decuziac war.«

Ich unterdrückte ein Stöhnen. Sie wusste genau, dass Kevin mein Freund war. Die ganze Schule wusste das. Er war der Star der Fußballmannschaft und er war Mitglied in unserer Kirchenband. Alle mochten ihn, sogar meine Eltern. Okay, seine Schulnoten waren nur mittelmäßig, aber sein wunderbar schräger Sinn für Humor war mehr als ein Ausgleich dafür. Und vor allem war er total verknallt in mich. Nur Bailey konnte ein Problem mit Kevin haben.

Meine Miene verriet alles, und sie zog die Nase kraus in gespieltem Entsetzen. »Iiiiiiiigitt!«

»Ich weiß nicht, warum dich das überrascht«, grummelte ich.

»Keine Ahnung, vielleicht hatte ich einfach gehofft, du würdest mal dein Superhirn einsetzen und mit ihm Schluss machen. Oder dass er an Ebola sterben würde oder so. Örgs!« Sie machte ein Geräusch wie eine Katze, die ein Haarknäuel hochwürgt. »Ich fasse es nicht, dass du diese klettige Arschgeige an dich ran- oder viel mehr in dich reingelassen hast!« Sie beugte sich vor und tat so, als müsse sie noch mehr würgen, und ich bemerkte, dass sie vor lauter Begeisterung über die theatralische Darstellung ihres Ekels, den Elektroschocker auf dem Waschbeckenrand abgelegt hatte.

Ich machte einen Schritt nach vorn und schnappte ihn mir, während sie weiter so tat, als müsse sie sich auf den Boden übergeben. Sie brauchte noch mehrere konvulsivische Zuckungen, bis sie das kleine schwarze Kästchen bemerkte, das nun auf sie gerichtet war. Ihre Augen weiteten sich ein wenig, und sie lächelte.

»Gar nicht so übel, muss ich gestehen.«

»Gib mir das Ding.« Ich versuchte, meiner Stimme einen drohenden Unterton zu verleihen, in etwa so wie mein Dad, als der sauer auf meinen Bruder war, weil er mit einem seiner handsignierten Baseballs gespielt hatte.

»Tu’s.«

»Was?« Verwirrt ließ ich den Elektroschocker ein Stückchen sinken.

Bailey trat einen Schritt näher, vollkommen ungerührt von der zwar nicht tödlichen, aber dennoch bestimmt sehr schmerzhaften Waffe, die auf sie gerichtet war. »Ich hab das Ding noch nie benutzt und will wissen, wie es sich anfühlt.«

Plötzlich war meine Wut wie weggeblasen. Bailey war noch immer die Alte, die so eine Dummheit machen würde, sich wer weiß wie viele Volt durch den Körper zu jagen, nur um sagen zu können, sie hätte es probiert. Und genau wie früher machte mich das vollkommen kirre.

»Glaubst du, man kriegt Schaum vor den Mund?«, fragte Bailey nachdenklich.

»Ich werde es ganz bestimmt nicht ausprobieren.«

Bailey seufzte enttäuscht. »Dacht ich mir fast.«

Wir standen eine Weile da und starrten einander an, unsicher, was als Nächstes passieren würde.

»Jetzt komm schon, Bailey. Wir sind doch Freundinnen.« Das war ein Fehler. Ein zynisches Grinsen zuckte um Baileys Lippen.

»Sind wir das?«

»Ich meine … du weißt schon …«

»Sind wir auf einmal wieder in der Siebten?« Bailey riss die Augen in gespielter Überraschung weit auf und schaute an sich hinab. »Hmmmm. Aber ich sehe hier ein schnuckeliges Paar D-Körbchen, also vermutlich eher nicht.« Sie sah mich böse an. »Was bedeutet … wir sind keine Freundinnen.«

Sie würde mir den Test niemals zurückgeben. Und so tat ich das Einzige, was mir noch einfiel. Ich nahm den Elektroschocker, ließ ihn ins Waschbecken fallen und legte die Hand auf den Wasserhahn. Ein Tropfen Wasser spritzte auf das schwarze Plastik.

»Gib mir den Test oder dein Elektroschocker geht baden.« Das versetzte Bailey tatsächlich einen Schreck. Ich drehte den Hebel nur um eine Winzigkeit, so dass ein weiterer Tropfen auf dem Elektroschocker landete. »Ich nehme an, das Ding ist nicht wasserfest.«

Instinktiv trat Bailey noch einen Schritt auf mich zu. »Lass das. Meine Mom bringt mich um. Das ist ihr Lieblingsteil, gleich nach der pinken Glock. In letzter Zeit fährt sie total auf Selbstverteidigung ab.«

Lächelnd streckte ich die Hand aus und wartete. Mit einem Seufzer drückte Bailey mir den Test in die Hand und vor lauter Erleichterung gaben meine Beine fast unter mir nach. Ohne Bailey eines weiteren Blickes zu würdigen, floh ich in das nächste Kloabteil und sperrte die Tür hinter mir zu.

»Jetzt komm schon«, rief sie mir hinterher. »Ich dachte wir wären Besties. Willst du mir nicht alles erzählen?«

Nein, das wollte ich ganz sicher nicht. Ich wollte diesen Augenblick überhaupt nicht erleben. Und ich wollte schon gar nicht diesen blöden Test anschauen müssen.

Bailey fing an, einen alten Hannah-Montana-Song zu singen: »You’re a true friend, you’re here till the end …«

Ich versuchte, sie zu ignorieren, holte tief Luft und schaute nach unten. Zwei kleine pinke Striche, einer neben dem anderen.

Positiv. Der Test war positiv.

Mir wurde eiskalt. Vor meinen Augen verschwamm alles. Baileys Song war nur noch ein ersticktes Dröhnen. Ich verfolgte, wie zwei dicke fette Tränen auf den Plastikstick in meiner Hand fielen.

Das Singen verstummte. Ich vernahm einen dumpfen Schlag und blickte nach oben, wo Bailey schon wieder über der Tür hing. In diesem Augenblick waren mir meine Tränen und der Rotz, der mir übers Gesicht lief, nicht einmal mehr peinlich. Es war alles egal. Es ging nur noch um diese beiden Striche.

»Mist.« In ihrer Stimme klang keine Schadenfreude mit. Sie schien sogar fast ein wenig Mitleid mit mir zu haben, was mich nur umso mehr zum Weinen brachte.

Als ich wenige Minuten später aus dem Klo-Abteil trat mit rotgeflecktem Gesicht, aber immerhin ohne Tränen, wartete sie zu meiner Überraschung auf mich. Sie hockte auf dem Rand des Waschbeckens und ließ die Springerstiefel baumeln.

»Tut mir echt leid für dich, was für eine Scheiße.«

Ich wollte ihr einen scharfen Blick zuwerfen, schaffte es aber nicht einmal, ihr ins Gesicht zu sehen. »Würdest du es bitte niemandem verraten? Bitte?« Ich brachte nur mit Mühe ein Flüstern über die Lippen. Selbst in meinen Ohren klangen die Worte jämmerlich und wenig überzeugend. Wer würde sich schon so eine Gelegenheit zum Tratschen entgehen lassen? Ich kannte meine Reputation. Immer nur die besten Noten. Volleyball in der ersten Mannschaft. Anführerin des Debattier-Clubs. Reine Haut, hübsche Frisur, süße Nase. In den Umfragen im Schuljahrbuch top bei den Punkten Von allen gemocht und Wird Karriere machen. Was im Umkehrschluss bedeutete: Alle taten zwar so, als würden sie mich mögen, doch die allermeisten warteten nur darauf, mich scheitern zu sehen. Ich konnte mir Hannah Ballards selbstzufriedenes Gesicht nur allzu gut vorstellen, wenn sie erfuhr, dass sie die Rede bei der Abschlussfeier halten würde. Ich war mir ziemlich sicher, dass Schwangerschaft ein automatisches Ausschlusskriterium darstellte. Was ungerecht war. Schließlich hatte es nichts mit meinen Noten zu tun und …

»Mein Gott. Was immer du gerade denkst, hör auf damit. Du siehst aus, als müsstest du gleich kotzen. Ich werde es niemandem erzählen.« Baileys Stimme riss mich aus meiner Abwärtsspirale der Angst.

»Warum nicht?«, entschlüpfte es mir, bevor ich mich bremsen konnte.

Bailey zuckte die Schultern. »Weil es an dieser Schule nur Arschlöcher gibt.«

Bzzz. Mein Handy vibrierte hinten im Rucksack. Wieder. Und wieder. Mir krampfte sich der Magen zusammen. Ich konnte mich nicht entspannen. Es war, als wäre da eine gigantische Leuchtreklame in Neonfarben auf meiner Stirn, auf der das Wort SCHWANGER blinkte. Immer wenn ich irgendwo auf den Fluren der Schule mein Spiegelbild erblickte, stellte ich mir vor, wie es wohl in ein paar Monaten aussehen würde, wenn mein Bauch weiter hinausragen würde als meine Zehen, während sich der Umriss meines Bauchnabels durch mein T-Shirt drückte. Ich war mir nicht sicher, ob die Übelkeit, die ich verspürte, ein frühes Anzeichen oder nur Nervosität war. Aber das war noch lange nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war der Grund, warum das Handy in meinem Rucksack alle dreieinhalb Minuten brummte. Das Schlimmste war Kevin.

Ich konnte es ihm nicht sagen. Ich hatte es geschafft, ihm den ganzen Tag über aus dem Weg zu gehen. Glücklicherweise hatten wir keine gemeinsamen Kurse. Und während der Mittagspause hatte ich mich in der Bibliothek versteckt, die er ganz gewiss noch nie in seinem Leben betreten hatte. Aber das hatte ihn nicht davon abgehalten, mir zu schreiben. Ich zog das Handy hervor.

Kevin: ?

Kevin:

Kevin: ?

Kevin: ?

Kevin:

Kevin:

Kevin:

Seufzend stopfte ich das Handy in den Rucksack zurück. Ich konnte ihm nicht für immer aus dem Weg gehen. Aber was sollte ich sagen? Hey, Süßer, obwohl wir immer ein Kondom benutzt haben und manchmal sogar zwei, habe ich es dennoch geschafft, schwanger zu werden. Was für ein Albtraum! Glücklicherweise war die Schule für heute zu Ende. In fünf Minuten würde meine Mitfahrgelegenheit aufkreuzen und damit wäre das Problem auf morgen verschoben. Ich ließ den Blick über den Parkplatz schweifen auf der Suche nach Mrs. Hennisons verbeultem Toyota Sienna, um mich sogleich in olympischer Geschwindigkeit darauf stürzen zu können.

Plötzlich wurde mir schwarz vor Augen, als sich zwei Hände darüberlegten. Ich zuckte zusammen.

»Wer bin ich, Baby?«

Heute war ganz offensichtlich nicht mein Glückstag. »Hey, Kevin.« Er zog die Hände fort und drehte mich zu sich um. Graublaue Augen und Haare, die sich in natürlichen Locken wunderbar wild um sein Gesicht legten und ein Lächeln zum Dahinschmelzen. Ein Lächeln, das bei meinem Anblick stets verkündete, dass er sein Glück nicht fassen konnte. Besorgt musterte er mein Gesicht.

»Hab ich dich erschreckt?«

»Nein. Na ja, also schon ein bisschen.«

Er streckte die Hände aus und fing an, über meine Arme zu streicheln. »Alles okay mit dir?« Er versuchte, meinen Blick zu erhaschen. Ich wich ihm aus, weil ich Angst hatte, er könnte mein Geheimnis erraten. »Du hast mir nicht geantwortet.«

»Sorry. Ich … äh … war beschäftigt.« Bevor Kevin weiterbohren konnte, klopfte ihm im Vorbeigehen einer seiner Freunde auf den Rücken.

»Wir sehen uns bei Conner?«

»Na klar«, versicherte Kevin ihm und boxte ihn mit dem Ellbogen, bevor er sich wieder mir zuwandte. »Hatte ich dir schon erzählt, dass Conner eine Zusage für die University of Florida hat? Quinn geht auf die Arizona State. Und Hudson will zu den Marines. Es gehen echt alle von hier weg.«

»Ich weiß. So ist das nun mal, wenn die Schule vorbei ist. Aber schon verrückt.«

Er blickte an mir hinab, und ein Anflug von Verärgerung huschte über sein Gesicht. »Musst du es eigentlich allen unter die Nase reiben?«, fragte er. Ich blinzelte verwirrt, bevor mir einfiel, dass ich mein neues Brown-University-Hoodie trug.

»Nein. Das ist ein Geschenk von meinen Eltern. Sie sind einfach so stolz.«

Er spielte einen Augenblick mit dem Reißverschluss herum und grinste dann. »Du könntest immer noch die Abschlussprüfungen verkacken und dann mit mir zusammen auf die Missouri State gehen.« Jetzt war ich an der Reihe, verärgert zu sein. Wir hatten das alles schon besprochen. Ich wand mich aus seinen Armen.

»Können wir bitte nicht …«

Er zog einen Schmollmund. »Ach, komm schon. War doch nur ein Scherz.« Er zog mich wieder an sich. »Was ist los?«

»Nichts.« Ich konnte es ihm nicht sagen. Nicht hier auf dem Parkplatz zwischen allen Mitschülern, während direkt neben uns Mr. Contreras den Autoverkehr der abholenden Eltern regelte. Das war weder der richtige Zeitpunkt noch der richtige Ort, um jemandem so etwas mitzuteilen. Obwohl ich auch keine Ahnung hatte, was denn die richtige Zeit oder der richtige Ort sein könnten.

»Das war wirklich nur ein Witz. Du weißt, dass ich ernsthaft jedes Wochenende nach Rhode Island fahren werde, um dich zu sehen.«

»Ich weiß.«

»Ich liebe mein Ivy-League-Girl«, sagte er mit verschmitztem Grinsen. Seinem Charme konnte man sich wirklich kaum entziehen. Mein Herz krampfte sich zusammen. Ich würde alles zerstören.

»Ich liebe dich auch.« Meine Stimme klang matt, selbst in meinen eigenen Ohren.

»Bist du sicher?« Er musterte mein Gesicht.

»Ja.« Ich legte so viel Überzeugungskraft wie möglich in meine Worte, in der Hoffnung, dass er sich später daran erinnern würde.

Kevin lächelte zufrieden. »Dann ist ja alles gut.«

Das hoffte ich und bezweifelte es zugleich. Er küsste mich noch einmal. Aber anders als sonst verspürte ich bei der Berührung nicht diese Schmetterlinge im Bauch, nicht dieses Kitzeln. Stattdessen war da nur ein Gemisch von Lippen, Zähnen und Zunge. Ich war zu nervös. Sobald ich die Augen zumachte, sah ich immer nur diese beiden pinken Striche vor mir.

»Ronnie! Hör mit dem ekligen Rumgeknutsche auf und steig ein!«, ertönte Emilys Stimme quer über den Schulhof. Ich riss mich von Kevin fort und rannte los.

Hinter dem verschmierten Rücksitzfenster von Mrs. Hennisons Minivan sah ich die Großmärkte und Fastfood-Restaurants entlang der Straße vorbeiziehen. Emily, Jocelyn und Kaylee, meine besten Freundinnen seit dem Beginn der Highschool, waren alle drei in ihre Handys vertieft. Wir gehörten zur selben Kirchengemeinde, und Mrs. Hennison fuhr uns täglich zur Schule, seitdem Joey Mitchell gleich zu Beginn der Neunten im Bus seinen Penis ausgepackt und Jocelyn damit zugewinkt hatte. Auch wenn Joey wenig später auf eine Militärschule wechseln musste, war der Schaden nicht mehr rückgängig zu machen. Unsere Eltern hatten bereits einmütig beschlossen, dass eine Fahrgemeinschaft der einzig sichere Schulweg war.

Und so hatte sich unsere kleine Gruppe gebildet. Ich besaß zwar einen Führerschein, aber kein Auto, und die Gelegenheiten, bei denen meine Eltern mir ihr Auto geliehen hatten, konnte ich an den Fingern einer Hand abzählen. Nicht genug, dass ich nicht motorisiert war: Außerdem waren da ja noch der Zusatzunterricht zur Vorbereitung auf die Uni, der Akademische Zehnkampf, der Debattier-Club und die Schülerzeitung. Das alles zusammen hätte unser Sozialleben eigentlich zum Erliegen bringen müssen, aber trotzdem wurden wir zu sämtlichen Partys eingeladen. Was nicht zuletzt damit zu tun hatte, dass Kevin mein Freund war. Wir waren nicht die coolsten Kids an der Schule, aber alle kannten uns. Und jetzt hatten wir alle vier Zusagen von guten Colleges und waren drauf und dran, unsere langweilige, unbedeutende Kleinstadt hinter uns zu lassen. Gesetzt den Fall, dass wir unsere Abschlussprüfung schafften. Und gesetzt den Fall, dass ich … meine Gedanken wollten der harten Wahrheit ausweichen, der ich mich stellen musste, wenn ich im Herbst mein Zimmer in einem Studentenwohnheim an der East Coast beziehen wollte.

Kaylee blickte von ihrem Handy auf. »Es geht übrigens alles klar. Mein Dad ist bereit, seinen Angelurlaub zu verschieben.«

Jocelyn grinste. »Und wie hast du ihn rumgekriegt? Mit ›Hundeaugen‹ oder mit ›bebenden Lippen‹?«

»Mit den schlichten Tatsachen. Ich habe ihm erklärt, dass wir jedes Jahr in der Hütte für die Prüfungen gelernt haben und dass es das letzte Mal wäre und dass die Hechte deswegen warten müssten. Und dann hab ich noch ein ganz kleines bisschen geweint.« Alle lachten.

Unser Mega-Lernwochenende. Das hatte ich total vergessen. Jedes Jahr verbrachten wir das Wochenende vor den Finals in der Angelhütte von Kaylees Vater, um für die Prüfungen zu lernen. Anfänglich waren auch noch unsere Mütter dabei gewesen, aber schon im letzten Jahr durften wir alleine fahren. Jocelyns Eltern hatten ihr das Auto geliehen. Was allerdings nicht gerade die klügste Entscheidung gewesen war. Sie konnte nur mit Mühe die Spur halten. Und beim Linksabbiegen wurde sie immer nervös. Aber letztlich waren wir doch heil angekommen. Wir hatten alle unsere Hefteinträge durchgearbeitet, viel zu viel Limo getrunken und kitschige Liebesfilme geschaut. Es war cool. Emily stupste mich an.

»Bist du sicher, dass du das schaffst?«

Verblüfft sah ich sie an. Woher wusste sie? Sah mein Gesicht irgendwie anders aus? Hatte ich jetzt schon zugenommen?

»Zwei ganze Nächte ohne Kevin«, fuhr sie fort. Ich entspannte mich. Von uns vieren hatte nur ich einen Freund, und die anderen zogen mich ständig deswegen auf. Aber gleichzeitig war ich auch ihre einzige direkte Informationsquelle, was Sex anbetraf, und deswegen gingen sie nie zu weit dabei.

»Du könntest ihn ja auch mitbringen«, schlug Kaylee unschuldig vor.

»Ja, genau, wie stehst du zum Thema Polyamorie?«, fragte Emily.

»Ich wette, er könnte wesentlich zu unserer Entspannung zwischen den Lernblöcken beitragen«, bemerkte Jocelyn grinsend und wackelte mit den Augenbrauen.

»MÄDELS!«, ermahnte uns Mrs. Hennison, und alle brachen in wildes Kichern aus.

Ein scharfes Hupen ließ uns zusammenzucken. Ich schaute aus dem Fenster. Es war Bailey. Ein Arm baumelte aus dem Fenster ihres zerbeulten Toyota Camry. Sie saß weit zurückgelehnt hinter dem Steuer und winkte mir lässig zu. Emily zog die Nase kraus.

»Uah. Was will denn die Walmart-Kassiererin in spe von uns?«

»Da seht ihr genau den Grund, warum ich nicht von der Hütte wegfahren werde, ehe ich nicht wirklich alle Matheformeln gelernt habe.« Kaylee zog ein Schulbuch hervor. »So wie die will ich nun wirklich nicht enden.«

Jocelyn wandte sich an mich. »Warst du nicht in der Junior High mit ihr befreundet oder so?«

Emily riss die Augen auf. »Das hatte ich ja total vergessen! War sie das nicht, die letztes Jahr beim Ausflug zum Laura-Ingalls-Wilder-Museum verhaftet wurde?«

»Ich hab gehört, sie hätte ihren Namen auf eine Kutsche eingraviert«, fügte Kaylee hinzu.

»Nein, sie hat eine Haube geklaut«, widersprach Emily.

»Ist doch egal. Aber ihr wart Freundinnen, stimmt’s? Ganz am Anfang war sie sogar mal auf deiner Geburtstagsparty.« Jocelyn ließ einfach nicht locker. Ich spürte die erwartungsvollen Blicke meiner Freundinnen auf mir.

»Meine Mom wollte unbedingt, dass ich sie einlade. Aber enger befreundet waren wir nie. Weil, ihr wisst schon, die ist echt total durchgeknallt«, sagte ich und machte dabei eine kleine Drehbewegung mit dem Finger um mein Ohr. Die anderen lachten.

Ich bereute meine Worte sofort. Es gab eigentlich keinen Grund, nicht die Wahrheit zu sagen. Meinen Freundinnen wäre das egal gewesen. Warum hatte ich also gelogen?

Zehn Minuten später stieg ich aus dem Auto und schleppte mich über den rissigen Asphalt unserer Einfahrt bis zur Haustür. Mein Dad war schon da, sein Ford stand vor dem Haus. Die Stoßstange war über und über mit Stickern beklebt: »My child is an honor student at Jefferson High«.

Vorsichtig, damit sie nicht quietschte, öffnete ich die Haustür und schlich dann auf Zehenspitzen durch den Eingangsflur und die Treppe hinauf in mein Zimmer. Dort klappte ich den Laptop auf und durchsuchte rasch alle nur denkbaren Social-Media-Plattformen nach Baileys Profil. Wie sich herausstellte, war sie wirklich anders drauf als die meisten. Ich konnte nicht mehr finden als eine alte Facebook-Seite mit einem einzigen Bild, auf dem Bailey ihren Mittelfinger in die Kamera hielt. Ich seufzte und spürte, wie sich ein Teil der Anspannung in meinem Bauch löste.

Und dann tippte ich mit zitternden Fingern die zwei Worte, die mir im Kopf herumgingen, seitdem ich diese beiden pinkfarbenen Striche gesehen hatte.

Abtreibung. Klinik.

Inzwischen war die Sonne untergegangen und mein Zimmer wurde nur vom Bildschirm meines Laptops erhellt, was meine Hände in ein geisterhaft blaues Licht tauchte. Ich war ganz schlapp vor Erschöpfung. Die beiden Worte zu tippen war noch die einfachste Übung gewesen. Die folgenden Stunden hatte ich damit verbracht, mich durch überholte Informationen und irreführende Websites zu kämpfen. Doch endlich fand ich die Antwort, nach der ich gesucht hatte.

Es gab eine Klinik nur zwei Stunden entfernt. Ich war gerettet.

Ich konnte wieder eine Zukunft für mich sehen: Wie ich meine neue Mitbewohnerin am College kennenlernte, bis spät in der Nacht in der Bibliothek arbeitete, mit den Professoren diskutierte … dann vielleicht irgendwann ein Praktikum. Examen. Eine Karriere in einer großen Stadt. Eine urbane Loftwohnung. Schicke Schuhe. Ein ganzer Raum voller Menschen, die mir zuhörten, während ich ein Meeting leitete. Drinks nach der Arbeit. Mein eigener Netflix-Account. Aber ich rührte das Handy nicht an, das neben mir lag. Ich konnte mich nicht dazu überwinden, diese Nummer zu wählen. Was würde geschehen, wenn ich es nicht tat?

Ein Baby weinte. Erschrocken zuckte ich zusammen und nahm die Finger von der Tastatur.

»Kommst du zum Essen, Ronnie? Deine Schwester ist da«, rief meine Mom. Rasch klappte ich den Laptop zu und eilte nach unten.

Beim Abendessen saß ich da, wo ich, seitdem ich denken kann, schon immer gesessen habe, gleich neben meinem Dad und direkt unter dem Schild an der Wand mit der Aufschrift Bless this Mess. Ob Gott wohl unser Familienchaos segnete? Das rot-weiß karierte Kissen auf dem alten Stuhl mit der gedrechselten Lehne war voller Flecken und mittlerweile so dünn, dass ich ebenso gut direkt auf dem Holz hätte sitzen können. Der ganze Raum roch nach den tausend Eintöpfen, die es hier im Laufe der Jahre zum Abendessen gegeben hatte. Und der Duft von Hühnchen und Käse hatte etwas Beruhigendes an sich, ganz im Gegensatz zum Lautstärkepegel, der hier gerade herrschte und der sich irgendwo zwischen Rockkonzert und Flugzeuglandebahn bewegte.

Mein kleiner Bruder Ethan hatte sich Dads Handy geschnappt und ließ Musik aus den winzigen Lautsprechern dröhnen. Meine fünf Monate alte Nichte brüllte, während meine Schwester Melissa versuchte, ihr ein Fläschchen in den Mund zu stopfen. Neben ihr warf mein zweijähriger Neffe Goldfisch-Cracker auf den Boden und schrie dabei: »Findet Nemo! Findet Nemo!« Mein Schwager jagte Logan, den Ältesten, um den Tisch herum, damit der sich endlich hinsetzte. Logan hatte eine Art Roboter, der blinkte und dazu Lasergeräusche von sich gab. Und mittendrin saß mein Dad einfach da und trank in aller Seelenruhe sein Bier.

Meine Mom kam mit einem strahlenden Lächeln herein und stelle einen Hühnchen-Nudel-Auflauf auf den Tisch.

»Wollen wir beten?«

Wir hielten uns alle bei den Händen, und selbst mein ältester Neffe krabbelte auf seinen Stuhl, nachdem sein Vater gedroht hatte, ihm Mr. Roboto wegzunehmen. Dad hielt meine Hand ganz fest. Seine war groß und rau und vertraut.

»Lieber Gott«, fing meine Mom an. »Wir danken dir für dieses Essen …«

»Logan! Setz dich sofort wieder hin!«, kreischte Melissa. Mein Neffe hatte sich unter den Tisch gleiten lassen. Ich spürte, dass er mit meinen Schnürsenkeln herumspielte.

»Und danke, lieber Gott«, fuhr meine Mutter unbeirrt fort, »dass du unsere Tochter Veronica mit einem Stipendium gesegnet hast und sie als Erste in unserer Familie studieren wird.« Dad drückte meine Hand und ließ seinen Blick zu mir wandern, während ein kleines Lächeln um seine Lippen spielte.

»Logan! Sofort! Eins! Zwei! …«, zählte meine Schwester.

Meine Mom zuckte zusammen und griff sich ans Bein.

»Logan, du sollst Grandma nicht beißen. Das ist gar nicht lieb.«

»Verpass ihm einfach einen Tritt«, murmelte mein Dad, aber ich glaube, ich war die Einzige, die ihn hörte.

»Jetzt pass doch mal auf ihn auf, Pete!«, blaffte meine Schwester, während das Baby die Gelegenheit nutzte, sich vollzukotzen. Dad lachte und bemühte sich dann, es hinter einem Hustenanfall zu verbergen.

»Amen«, endete meine Mutter, bevor sie den großen Löffel in den Auflauf steckte. »Wer kriegt zuerst?«

Das restliche Abendessen verlief einigermaßen gesittet, und der kleine Logan schleuderte nur ein ganz klein wenig Nudelauflauf an die Wand. Wir waren inzwischen beim Eis zum Nachtisch angelangt, als meine Schwester aufstand und sich räusperte.

»Wir haben eine kleine Ankündigung zu machen.«

»Willst du deine Ausbildung beenden?«, fragte ich.

»Nein«, kicherte meine Schwester und fügte dann strahlend hinzu: »Wir sind schwanger!« Mom sprang sofort mit einem ohrenbetäubenden Freudenschrei auf. Dad atmete lange und langsam aus und schien ein wenig tiefer in seinem Stuhl zu versinken. Ich sah, wie seine Augen zu meiner Hand hinüberglitten, als wolle er sich vergewissern, dass mein Purity Ring noch immer da war, wo er hingehörte, bevor er ein Lächeln aufsetzte, um ein herzliches »Glückwunsch« für meine Schwester hervorzubringen.

Ich drehte den Ring an meinem Finger und betastete die vertrauten Muster darauf. Es war Dads Idee gewesen, und ich hatte sie nur zu gerne angenommen. Ich war damals ganz wild darauf, mich vor der ganzen Kirchengemeinde hinzustellen und ein Versprechen abzulegen, das mir mit meinen zwölf Jahren so gut wie gar nichts bedeutete, nur um ihm zu zeigen, dass ich besser war als meine Schwester. Eigentlich sollte ich das alles gar nicht wissen, aber ich hatte die Streitereien natürlich mitbekommen. Unser Haus war klein und die Wände waren dünn. Auch wenn Melissa inzwischen voll und ganz in ihrer Rolle als Mutter aufging, hatte sie doch ein wenig früher damit angefangen, als irgendjemand in der Familie zugeben wollte. Als sie es meinen Eltern damals unter Tränen gebeichtet hatte, war sie erst seit ein paar Wochen mit Pete zusammen und hatte gerade mit ihrer Krankenpflegeausbildung begonnen.

Dad hatte nicht geschrien. Das hatte er meiner Mutter überlassen. Nein, Dad war ganz ruhig, blieb aber unverrückbar bei seiner Meinung. Seiner Ansicht nach waren meine Schwester und Pete nun Eltern und würden von nun an ihre Bedürfnisse immer denen ihrer Kinder unterordnen. Genau das hatten er und meine Mutter für uns getan.

Jedem Argument, das Melissa vorbrachte, entgegnete Dad mit Liebe. Und Trost. Er versprach zu helfen. Mit Geld, mit Kinderbetreuung, was immer sie brauchten. Schließlich hatte er sie mit tränenerstickter Stimme angefleht. Und schon am darauffolgenden Wochenende war meine Schwester glücklich verlobt und alle Pläne, die sie für ihr Leben gehabt hatte, waren vergessen. Wie sollen die Träume eines Menschen gegen so viel Liebe bestehen?

Ich wusste, dass meine es nicht könnten.

Was mein Dad allerdings nicht vorhergesehen hatte, war das vollständige Fehlen jedweder elterlichen Fähigkeiten bei meiner Schwester.

Ich spürte, dass etwas an meinen Jeans zog. Unter dem Tisch saß Logan und grinste mich an. Er hatte sich eine Babykarotte in die Nase gesteckt.

»Darf ich bitte aufstehen?«