Unruhige Gäste - Wilhelm Raabe - E-Book
SONDERANGEBOT

Unruhige Gäste E-Book

Wilhelm Raabe

0,0
1,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 0,00 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Dieses eBook: "Unruhige Gäste" ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Veit entfernt sich aus dem Säkulum, genauer gesagt, aus dem Kurhotel im Tal. Der junge Mann "aus der Zeitlichkeit", ein heiterer, mäßiger Charakter mit gesundem Körper und ausreichendem Vermögen, amüsiert sich auf seiner "Pläsierreise". Er steigt unbekümmert hinauf in das Bergdorf zu Prudens Hahnemeyer, seinem Kommilitonen aus den guten alten Zeiten in Halle. Der Gastgeber Prudens, vormals Studiosus Theologiae, ist inzwischen Pfarrherr oben im Wald geworden. Der Gast wird von Phöbe, der 20-jährigen Schwester des Pfarrers, bewirtet. Veit ist mit offenen Augen durch die sommerlichen Fluren gestiegen. Er spricht die Existenz der Quarantäne-Baracke für Flecktyphus-Kranke außerhalb des Dorfes an. Phöbe, vormals "Pflegerin und Lehrerin der kleinen Kinder in der Idiotenanstalt zu Halah", geht in der Baracke ein und aus. Sie berichtet ihrem Bruder eine Neuigkeit. Anna Fuchs sei dort an Typhus gestorben. Volkmar Fuchs, der Ehemann der Toten, verweigert ein christliches Begräbnis. Er will seine Frau im Wald beerdigen. Denn Anna soll nicht neben den Toten derer liegen, die das Ehepaar Fuchs samt Kindern in Quarantäne außerhalb des Dorfes abgeschoben haben. Wilhelm Raabe (1831-1910) war ein deutscher Schriftsteller. Er war ein Vertreter des poetischen Realismus, bekannt für seine gesellschaftskritischen Erzählungen, Novellen und Romane.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Wilhelm Raabe

Unruhige Gäste

e-artnow, 2017 Kontakt: [email protected]
ISBN 978-80-273-0021-1

Inhaltsverzeichnis

Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechszehntes Kapitel
Siebenzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
Zweiundzwanzigstes Kapitel

Erstes Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Es war eigentlich ein wenig abseits der gewöhnlichen, ausgetretenen Touristenstraße durch das Gebirge, wo das Dorf lag, das auf seine Kosten aus Stangen, Rasen und Tannenrinde die Hütte oder Köte gebaut hatte, die einen und einen halben Büchsenschuß (alte Tragweite) von den letzten Häusern des Ortes am Waldrande stand. Aber ein Fuß- und Reitweg schlängelte sich doch einige fünfzig Schritte von dem kuriosen, indianerhaften Gebäude aus dem Hochforst hervor, und eine bunte Schar von Sommerreisenden – Weiblein und Männlein zu Fuß, zu Pferde und zu Esel – zog eben lustig und laut aus dem Dunkel des Waldes in die Sonne und quer über die Vierlingswiese vorbei an der Rasenhütte.

»O wie hübsch!« rief eine der jungen Damen, ihr Tier anhaltend. »Das möchte ich wirklich noch in meinem Skizzenbuche mitnehmen. Haben wir nicht so lange Zeit, Papa und ihr anderen?«

Der Papa sah bedenklich auf die Uhr und dann auf den Führer. Verschiedene der jüngeren Herren riefen:

»Selbstverständlich, Fräulein Lili! Natürlich haben wir Zeit! Eine Ewigkeit noch bis Sonnenuntergang!«

Schon hielt der eine der jungen Ritter des hübschen Mädchens ihr den Steigbügel, und der zweite bot ihr das »Skizzenbuch« dar, und der, welcher die Bleistifte zu tragen und zu spitzen hatte, war auch mit denselben zur Hand, als der Führer jeglichem künstlerischen Wunsche und Enthusiasmus und aller höflichen Dienstbereitwilligkeit in der Gesellschaft ein kurzes und etwas schreckhaftes Ende machte.

»Rate nicht dazu, mit Erlaubnis, liebe Herrschaften«, sagte er. »Nervenfieber, Fleckentyphus, wie man das jetzt so heißt … Armes Volk die Familie Fuchs; und vielleicht auch mit Ungeziefer, seit die Feh liegt. Aber der Doktor sagt, niemand kann bei der bösen Krankheit gesunder gebettet werden; nur ist’s wohl dann und wann ein bißchen schlimm mit dem Räkel und seiner jungen Brut, die sonst schon niemand gern an sich kommen ließ. Da sind sie natürlich schon – wollt ihr zurück, ihr Kröten!«

Das letztere war eben an die »junge Brut« gerichtet. Ein verwildertes, zerlumptes, höchst malerisches Kinderstaffagepaar, ein Junge und ein Mädchen, zog es sich an den Weg und machte Miene, so nahe als möglich sich mit ausgestreckten schwarzbraunen Pfoten an die Gesellschaft zu drängen. Doch das Fräulein verspürte nicht die mindeste Neigung, jetzt noch Gebrauch von seinem Talent und diesen wirklich ausgezeichneten Modellen zu machen. Schon hatte es einen kleinen hübschen Schrei ausgestoßen und, statt nach dem Skizzenbuche zu greifen, den Esel mit der Gerte über die Ohren geschlagen. Der alte Herr war eiligst allen vorangeritten, ohne sich nach den nächsten und liebsten Familienangehörigen nur umzusehen. Daß die jungen Ritter nicht sämtlich nach dem Schwanz seines Gaules griffen, um rascher daran vorwärts zu gelangen, zeugte sogar nur von – Pietät. Rasch genug waren sie von den Felsblocken, auf denen sie sich zum Teil bereits gelagert hatten, in die Höhe gekommen.

Weiter trabte alles – Herren und Damen, jung und alt; und eine wohlbeleibte ältere Dame, die, trotzdem daß sie zu Maultier war, ihres Gewichtes wegen die letzte blieb, fand grade deswegen am innigsten und richtigsten das Wort für die Gefühle der Gesamtheit und gab es ächzend von sich:

»Das ist ja aber schrecklich, so nahe am Wege! Das sollte doch nicht sein; und wenn die Polizei es duldet, so müßten die Zeitungen von so was sprechen!«

Wer jetzt ein Jubelgeschrei ausstieß, das war das Kinderpaar aus der Indianerhütte. Es war den beiden doch aus der erschreckten Schar der Fremden ein Geldstück in weitem Bogen zugeflogen, und sie hatten es eben unter den Fingerhutbüschen und im übrigen Waldwiesengraswuchs mit ihren scharfen Wildenaugen gefunden und quittierten mit kreischendem Jauchzen darüber.

Einige Augenblicke später war der letzte Schwanz des bunten Zuges von der Vierlingswiese im gegenüberliegenden Tannenwalde, wo sich der Reitpfad plötzlich ziemlich steil bergabwärts zog, verschwunden. Der romantische Fleck versank wieder in die alte Stille; und die Sonne, im Niedersteigen, lächelte weiter auf Elend und Wohlbehagen, Gesunde und Kranke, reiche und arme Leute, wo der Erdenschatten es zuließ.

Es war ungefähr fünf Uhr nachmittags. Man hörte die Dorfglocke diese Zeit auch bald angeben hinter dem lichtdurchglänzten Gehölz zwischen der Wiese und dem Dorfe, und aus derselben Richtung kam nun eine junge Frau, oder was es war, in bescheidenen, dunkeln Kleidern, mit einem Körbchen am Arme und betrat die Wiese, wie um dem improvisierten Dorfhospital zuzuschreiten. Ihr Schatten fiel ihr vorauf und streifte einen Mann, der auch noch dagesessen hatte auf einem Stück versunkenen Zaunwerks an dem leise durch das Gras sickernden Wasserlauf, sich um die Gesellschaft und die Szene von vorhin nur mit einem unmerklichen Lächeln und Achselzucken gekümmert hatte, jetzt aber schärfer hersah und sich auch von seinem Sitz erhob.

Es war kein alter Mann, sondern so um die Dreißig herum, kein häßlicher Mann, sondern von gutem Wuchs, wohlgepflegtem Bart und mit hellen, intelligenten Augen und einem ganz freundlichen und wohlwollenden Zug um den Mund. Ein Mann auch im Touristenanzuge, doch unbedingt aus einer andern Gesellschaftssphäre als die Herrschaften von vorhin.

»Hm, Veit«, murmelte er zu sich, »die könnte wohl schon zu ihm gehören! … Nun, wissen wird sie sicherlich etwas von ihm. Versuchen wir’s also!«

Mit abgezogenem Hut trat er der Kommenden entgegen.

»Nervenfieber, liebe Dame!« sagte er, auf die Hütte deutend.

»Ich weiß es – leider, lieber Herr«, antwortete die junge Frau, zum Wiedergrüßen nur den Kopf neigend.

»Auch Ungeziefer – wie man sagt – gnädige Frau oder – Fräulein.«

Die Frau oder das Fräulein mit dem Korbe lächelte weder verlegen, noch warf sie einen verwunderten Bück auf den Fremden.

»Wir sind gute Bekannte dort«, sagte sie ruhig, mit einem nochmaligen Neigen des Kopfes vorbeigehend durch schönes Licht und den Wohlduft von Tannenharz, Wiesenkräutern und Blumen; und so sah sie der Mann mit der Wandertasche eintreten in den schlimmsten Schatten und den bösesten Erdengeruch – sicher und gelassen.

»Hm«, sagte der Fremde, seinen Sitz am Bach wieder einnehmend, »Kaiserswerth – Riehen bei Basel – Bethanien; – es ist unbedingt seine Frau. Zusammen gegeben im Namen des Herrn! Schlechteste Pfarre im Lande, bösartigste Gemeinde dieses ganzen angenehmen Mittelgebirges. Was tun wir nun, Veit? Gehen wir weiter, oder warten wir, bis die gute Seele wieder zum Vorschein kommt, um uns ihr auf dem Heimwege von diesem pflichtgemäßen Samaritergange noch auf einige Momente anzuschließen? Zeit für alles bis zur nächsten Gastwirtstafel, wie die jungen Herren vorhin meinten. Nun, wir warten! Möchte dem alten Kerl, diesem Prudens, doch nicht so nahe vorüberstreifen, ohne ihm noch einmal im Leben die Tageszeit zu bieten. Was wird’s freilich mehr werden als das, was Fräulein Lili eben nicht bekommen hat, – im Vorbeifahren eine Skizze im Taschenbuch.«

So saß er denn und behielt die Krankenhütte im Auge, jedenfalls als ein wirklicher Beobachter, wenn auch nicht als ein wirklich an ihrem Wohl und Wehe Beteiligter. Die Kinder, die von ihm bereits ihren Wegelagerer-und Bettlertribut erhoben hatten, waren, gelockt von der Erscheinung des jungen Weibes mit dem Korbe, auch wieder in der Köte verschwunden. Nun trat ein großer, wüster Gesell heraus, seine Pfeife ausklopfend. Das kleine Mädchen lief mit einem henkellosen irdenen Kruge nach dem zwischen bemoosten Steinblöcken vortröpfelnden Wiesenborn. Es wurde innerhalb der spitz zulaufenden Rasen-und Schindelwände im Dialekt der Gegend gesprochen, und dann wurde es eine Zeitlang ganz still; man hörte nur noch den Specht von ferne.

Die Dorfuhr hinter den Bäumen schlug nur die vollen Stunden – die Zeit lief hier meistens ja doch ungezählt hin –, aber es mußte so ungefähr gegen sechs Uhr sein, als das junge Weib, das sich nicht vor dem Fieber und den Läusen fürchtete, wieder aus der Pforte der Elendshütte und in die Sonne trat und der Fremde von dem Zaun am Wege ihr abermals entgegen.

Nun war es merkwürdig, daß sie wie zu einem alten längst Bekannten zu ihm redete, wenn auch ihre Augen dabei nicht auf ihm hafteten, sondern ruhig nach dem wolkenlosen Abendhimmel gerichtet blieben, als sie ohne die mindeste Aufgeregtheit sagte:

»Sie ist eben gestorben. Mein Bruder vermutete es schon heute morgen, daß der Herr sie bald erlösen werde; aber er mußte leider nach seinem Filial und kann erst am Abend nach Hause kommen. Doch sie hat auch mich nicht mehr gekannt, sie hatte ihr Bewußtsein schon lange nicht mehr, und es war wohl eine Gnade des Herrn. Gottes Wille geschehe allezeit!«

Sie ging nun mit demselben gelassenen Schritt, mit dem sie gekommen war, und ließ den Fremden im vollen Zweifel, ob das da eben zu ihm oder zu dem Blau über den Wipfeln der Waldbäume gesprochen worden sei. Ihr Schatten fiel jetzt hinter sie auf ihrem Heimwege, und daß der Fremde ihr folgte, schien sie nicht mehr zu beachten als das Nachgleiten ihres Schattens über die Vierlingswiese.

Zweites Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Der Wald nach dem Dorfe, nach der untergehenden Sonne zu bildete nur einen lückenhaften, lichtdurchschimmerten Vorhang zwischen der Wiese und einigen Gärten, geringern Bauerngehöften und der Kirche. Letztere leuchtete in ihrer weißen Tünche auch bald zwischen den glatten, graden Stämmen der Hochtannen durch. Der Pfad wand sich über den »alten« Gottesacker, dessen letzte versinkende Ackerbauer-und Bergmannsgräber aus dem Anfange dieses Jahrhunderts stammten, und – da war die Hecke des Pfarrgartens und die Laube mit dem Tische und den zwei Bänken auf Pfählen und der Weg durch den Garten zu der Hintertür des geistlichen Hauses – alles im Schatten der Dorfkirche.

Eine niedere Holzgittertür, schlecht in den Angeln hängend und ohne Schloß und Riegel, sperrte den Pfarrgarten nur der Form wegen, wie es schien, von den Gräbern, den Dorfgänsen und dem an der Hecke weiterlaufenden Fußsteige ab; und, die Hand auf diese Pforte legend, stand jetzt die junge Schwester – nicht Frau – des Pfarrherrn und hatte nun, ganz zuletzt, gezwungen durch die Beharrlichkeit ihres Begleiters, doch noch ein Wort und dazu einen Blick, einen trotz aller kühlen, klaren Ruhe ein wenig fragenden Blick, an den hartnäckigen Menschen zu wenden.

»Wenn Sie die Landstraße wieder zu erreichen wünschen, müssen Sie sich an der Kirchenecke dort rechts halten. Der Weg weiter ins Dorf und zum Gasthause wendet sich links. Ich wünsche einen glücklichen Abend, mein Herr.«

»Ich auch, Fräulein«, murmelte der Tourist leise. Laut meinte er lächelnd: »Ich hätte wohl auch aus dem Quell auf jener Wiese mit der Hand schöpfen können; aber ein Glas Brunnenwasser hier aus mildtätiger Hand wäre mir doch lieber als ein Trunk dort, in Anbetracht der Hände und Füße, die dort gewaschen wurden, ganz abgesehen von der Wäsche, die neben dem Born zum Trocknen auf der Leine hing.«

Die junge Dame sah einen Augenblick wie erschreckt auf ihre Hände und dann zögernd auf den Fremden, Dann aber sagte sie:

»Ich verkehrte bei den armen Leuten dort. Sie kennen die Gefahr – wollen Sie eintreten bei uns, so bitte ich, sich zu setzen und wenige Augenblicke Geduld zu haben, mein Herr.«

Sie hatte die Gittertür geöffnet und deutete auf eine der Bänke in der Laube; der hartnäckige Fremde sagte:

»Ich weiß, liebes Fräulein. Wer um derartige Schatten auf seinen Wegen zu scheu herumgeht, geht nicht weit; und ich bin in allerlei Ländern der Erde gewesen und habe mir manche gute Erfahrung in Leben, Wissenschaft und Kunst mitgebracht, nur weil ich mir nach Möglichkeit eines mutigen Herzens bewußt blieb.«

Sie sah ihn jetzt zum erstenmal mit wirklichem Interesse und einiger Verwunderung an. Ein Lächeln, das seinen Quell auch nur in einem im tiefsten Grunde heiter-mutigen Herzen haben konnte, überflog ihr ernsthaftes Gesicht; doch ohne weitere Bemerkung schlüpfte sie ins Haus, nachdem sie nur durch eine Handbewegung von neuem zum Niedersitzen eingeladen hatte. Und der Gast legte Hut, Stock und Tasche ab und nahm Platz auf einer der Bänke an dem abgenutzten Tische, der schon mehr als einem der Vorgänger des jetzigen geistlichen Herrn und seiner Familie treu bei Lust und Leid, Behagen und Unbehagen gedient haben mochte.

»Ich wünsche einen glücklichen Abend!« wiederholte er. »Hm, drunten im Bad, im Saisonkonzert? Halten wir diesen ruhigen Platz jedenfalls für einige Augenblicke fest, Veit. Hm, wie deutlich einem die Uhr dort im Turm die Zeit zuzählt.«

Man vernahm wirklich von der Laube aus in der tiefen Spätnachmittagsstille deutlich das Geräusch der Unruhe im Kirchturm jenseits der alten Gräber. Die einzige sichtbare Lebendigkeit brachten nur die Schwalben, die in leisem Fluge das spitze Schieferdach und den Wetterhahn umfittichten, in das friedliche Bild der Stunde.

Der Fremde hatte aber in der Tat eine geraume Zeit auf seinen Trunk zu warten; denn völlig umgekleidet trat das Pfarrfräulein wieder aus dem Hause, auf einem Teller das gewünschte Glas klaren Wassers tragend. Sie ging so leicht und leise, daß der flüchtige Gast diesmal ihr Herankommen durchaus nicht merkte, sondern aus seinem Sinnen fast erschrocken auffuhr, als sie mit freundlicher Stimme ihn anredete:

»Mein Herr – ich bitte.«

»Den schönsten Dank! Darf ich im Sitzen trinken?«

Statt einer Antwort nahm sie, nach ihrer Art das Haupt neigend, selber ihm gegenüber Platz.

»Es geschieht wohl selten, daß sich Ihnen die Welt so aufdrängt, mein Fräulein?« fragte er.

Sie schien alles, was sie sagte, erst genau zu überlegen. Er mochte erwarten, daß sie erwidere: die Welt, aus der Sie kommen, wohl selten. Sie aber sagte:

»Wir verschließen unsere Tür nicht. Kommt die Welt nicht zu uns, gehen wir zu ihr.«

»Wie zu der Hütte jenseits der Tannen auf der Vierlingswiese? Wir fürchten uns nicht vor bösen Gebärden, schlechten Gedanken und schlimmen Worten, wie wir keine Furcht haben vor der Ansteckung durch den Flecktyphus!?«

»Wir suchen unsere Furcht zu unterdrücken. Der Herr ist immer über uns und hat Geduld mit uns und schenkt uns ein heiteres Herz, wenn wir an einer Schwelle zögern, den Fuß über sie zu setzen.«

Der Gast beugte sich unwillkürlich vor über den Tisch, um besser in die gelassenen, klugen Augen sehen zu können.

»Wissen Sie, Fräulein, daß ich doch vorhin wahrhaftige Furcht hatte, den Fuß von der Landstraße – aus meiner Welt in den Frieden dieses Kirchen-und Fliederschattens zu setzen?«

»Warum?«

»Weil Sie immer wissen, was Sie zu den Leuten bringen, in deren Türe Sie treten. Ich aber weiß nicht, was ich zu Ihnen getragen, bei Ihnen zurückgelassen haben werde, wenn ich den Fuß von neuem auf die Chaussee setze, auf die Sie mich vorhin hinwiesen.«

Sie schüttelte nur den Kopf.

»Wir gehen alle nur, wie Gott uns schickt; und wir tragen nur als seine niedrigen Boten.«

Ganz überraschend fragte der Fremde hierauf:

»Wann könnte Prudens wohl zu Hause sein?«

Und trotz aller Selbstbeherrschung wirklich überrascht, erhob sich das junge Mädchen und rief:

»Sie kennen uns – den Namen meines Bruders?«

»Es würde sich nun wohl nicht schicken, Ihnen gegenüber mein Wald-, Wiesen-und Landstraßeninkognito länger festzuhalten. Mein Name da draußen im Säkulum ist Bielow und zur Unterscheidung von einer unendlichen Namensverwandtschaft, weit zerstreut durch das Deutsche Reich, das Land Österreich und mit mehr als einem Ausläufer nach Rußland, Holland und dem Königreich der Belgier – Bielow-Altrippen. Sollte sich aber hier am Ort ein gewisser vormaliger Studiosus Theologiae Prudens Hahnemeyer eines gewissen Veit Bielow noch ein wenig entsinnen und seiner dann und wann im Gespräch gedacht haben, so würde mir das vielleicht auch bei Ihnen, liebes Fräulein, zur Entschuldigung in betreff meines kuriosen Eindringens in Ihren Hausfrieden und des hartnäckigen Festhaltens des Platzes an diesem Tische behülflich sein.«

»Freiherr Bielow-Altrippen?«

»Veit Bielow, vordem Studiosus beider Rechte auf mancher Universität und auch der zu Halle, jetzt Professor der Staatswissenschaften Doktor Bielow an der Hochschule der Landeshauptstadt – durchaus nichts Außerordentliches, sondern nur bescheidener außerordentlicher Professor bis auf weiteres. Das Nächstliegende würde sein – darf der Mann jetzt im vollen Sinne des Wortes um Entschuldigung wegen seiner Aufdringlichkeit bitten? Darf Veit Bielow bleiben, bis der alte Kommilitone vom Filial nach Hause kommt und den Hausgenossen – aus der Welt da draußen unter seinem Dache und an seinem Tische findet?«

»O wie wird sieh mein Bruder freuen!« rief die Schwester des Pfarrers.

»Und Sie sind also Phöbe?«

»Ja, Phöbe Hahnemeyer.«

»Ja, und so sind auch wir beide im Grunde schon recht alte, gute Bekannte. Es ist eine ziemliche Reihe von Jahren her, seit ich in Ihres Bruders Dachstube hinaufstieg und den lieben Namen in einem Briefe von Ihnen oder an Sie fand. Mir klang er damals nur hold hellenisch, und so rief ich ihn fröhlich der Mondsichel über den Dächern in der deutschen Frühlingsnacht zu. Doch Ihr Bruder schlug mir sein Neues Testament auf und zeigte mir, daß auch jene, die den Brief des Apostels Paulus von Korinth nach Rom trug, Phöbe hieß. Da nahm ich denn die hübsche Gelegenheit wahr, mir eine historische Tatsache möglichst fest einzuprägen. O ich habe die Stelle noch ziemlich genau im Gedächtnis: ›Ich befehle euch aber unsere Schwester Phöbe, welche ist im Dienste der Gemeinde zu Kenchrea, daß ihr sie aufnehmet und tut ihr Beistand in allem Geschäft, darinnen sie euer bedarf!‹ Sie dürfen mir also die Art und Weise, in der ich mich eben zur genaueren persönlichen Bekanntschaft und zu jeder mir irgend möglichen Dienstleistung in allem Geschäft eingeführt habe, um so weniger übelnehmen.«

»O es ist ein lieber Besuch!« rief das Fräulein. »Und da kommt mein Bruder – o das ist gut! Das ist sein Wagen vor dem Hause. O wie wird er Augen machen und sich freuen, mein Bruder Prudens!«

»Und, bitte, nun laufen Sie ihm diesmal nicht entgegen, Fräulein Phöbe. Lassen Sie ihn uns hier am Tische finden wie zwei längst vertraute gute Freunde. Und machen Sie sich nachher in der Küche mehr mit mir zu schaffen als bis jetzt hier am Tische – ich habe nämlich nunmehr die bitterste Absicht, auch die Nacht über zu bleiben –, so darf mich das Haus Hahnemeyer noch so fest einriegeln in meinem Kämmerlein, ich gehe doch durch, sowie der letzte Teller gewaschen ist, und sollte ich mich an zerschnittenen Bettüchern vom Dachrande herablassen müssen.«

»Unnötige Sorgen, Herr Professor!« rief Fräulein Phöbe, und sie lachte dabei vollkommen kindlich aufrichtig.

Drittes Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Es war keine besonders lebensfreudige Stimme, die jetzt vom Hausflur her den süßen, an diesem Ort so wunderlich tönenden Namen Phöbe rief.

Der Gastfreund legte seine Hand auf die Hand des nun doch hastig von seinem Sitze sich erhebenden jungen Mädchens, und vom Hause her durch den Gartengang kam langsam der Pastor Prudens Hahnemeyer heran.

Veit Bielow blickte dem Jugendfreunde mit Spannung entgegen. Wenn ihm die Erscheinung desselben irgendwelche Enttäuschung bereitete, so ließ er jedenfalls nichts davon merken. Dieses Haus, diese Menschen hatten an seinem Wege gelegen, und er hatte sie aufgesucht. Er hätte an ihnen vorbeigehen können; aber er hatte es zufällig nicht getan, sondern war zu ihnen eingetreten. Wie hätte er sich ein Recht anmaßen können, das, was er fand, anders zu wollen, als es war? Ein größerer Gegensatz in Körpergestalt und Haltung und geistigem Ausdruck als zwischen diesen beiden Männern ließ sich freilich auch nicht leicht vorstellen.

Hager, aber breitschulterig und über die Mittelgröße des Menschen hinaus, doch den Kopf und Oberkörper etwas vorgeneigt tragend, kränklich, bleich und mit bald erloschenen, bald seltsam leuchtenden, aber immer halb durch die Lider verdeckten Augen trat der junge Dorfpfarrer in seine Gartenlaube.

Nur einen kürzesten Moment zauderte er am Eingang unter dem Fliederbogen, dann aber trat er mit weitem Schritt heran und sagte fragend:

»Ein Gast, Schwester?«

»Ein Freund, Bruder! Ein alter lieber Freund von dir. Ich weiß nicht, ob er dich raten lassen will, oder ob er – ob du –«

»Baron Bielow?« sagte Prudens Hahnemeyer.

»Veit Bielow, alter Mensch!« rief der Gast lachend und griff fest und warm nach der zögernden, magern, kühlen Hand des andern, die sich auf den Tischrand gelegt hatte. »Verbitte mir dringend alles fernere Baronisieren, mein braver, alter Dachstubenperipatetiker. Die Familie des Freiherrn von Bielow-Altrippen blieb seinerzeit immer gründlich unten, Fräulein Phöbe, wenn ich zu seiner Höhe emporstieg, um Weltliches und Überweltliches bei seinem schlimmen Tee, schlimmem Kaffee und über allen Ausdruck entsetzlichen Knaster mit ihm zu bereden. Weiland Doktor Samuel Johnson konnte auf der Universität Oxford die neuen Schuhe, die man ihm vor die Tür setzte, gewiß nicht grimmiger aus dem Fenster werfen, als wie dieser philosophisch-theologische Zyniker mich in Halle aus der Tür beförderte, als ich zum ersten und zum letzten Male den Versuch machte, ihm mit einer Kiste erträglicher Zigarren, einer Flasche Bordeaux in jeder Rocktasche und einem im nächsten Delikatessenladen gefüllten Handkorb fernere Duldung meiner windigen Persönlichkeit hinter der sturmsichern Mauer seiner Weltanschauung abzuschmeicheln. Ich verbitte mir also jetzt deinen Baron ebenso bestimmt, wie du dir damals meinen gekochten Schinken und Schweizer Käse verbatest, Hahnemeyer. Übrigens, im Ernst, lieber Freund, nimmst du hoffentlich diesen meinen Überfall aus blauer Luft und goldenem Abendhimmel nicht verquerer als wie damals meine leichtfertigsten Einbrüche und Einwürfe in deine ernsthaftesten logischen Beweisführungen, Darlegungen und Erörterungen?!«

»Ich freue mich herzlich; Sie – du bist willkommen, auch unter diesem Dache.«

»Für eine Nacht –«

»Für Tage, Wochen und Jahre, solange du wie damals zufrieden bist mit dem, was ich dir zu bieten habe.«

»Nur für diese Nacht, und auch für die nur, wenn deine Schwester einverstanden ist. Sie sehen übrigens, Fräulein, ich bin jedenfalls da wie der richtige Wandsbecker Bote: alles, was ich habe, trage ich bei mir. Das heißt, die Tasche hier enthält meine ganze fahrende Habe für diesmal. Schon aus Gepäckmangel würde ich also das alte Sprichwort von frischen Fischen und guten Freunden, die sich nur drei Tage im Hause angenehm halten sollen, von neuem wahr zu machen haben.«

Er hob die leichte, elegante Tasche lachend auf, wies zugleich auf Hut und Wanderstab und fuhr fort:

»Ich konnte aber unmöglich durch dein Dorf gehen, Hahnemeyer, ohne genauer zu erkunden, wo und wie eigentlich das Schicksal dich in der Welt argem Wirrsal in Sicherheit gebracht habe, und ohne den Versuch zu machen, noch einmal einen Abend mit dir zu verplaudern. Wer kann sagen, wann und ob uns noch einmal die Gelegenheit dazu gegeben wird? Gestern, etwas tiefer in euern Bergen, geriet mir eines eurer Kreisblätter mit deinem Namen und dem deiner Pfarrstelle in die Hände; deine Schwester mag dir erzählen, wie sich heute abend vor zwei Stunden unsere Bekanntschaft auf der Vierlingswiese angeknüpft hat.«

»Wir haben, wie es vorauszusehen war, dort eine Leiche, Prudens«, sagte Phöbe ruhig. »Anna ist tot. Es ist so geschehen, wie du heute morgen meintest; der Herr hat sie aus ihrem Elend vor sich gerufen, ohne daß sie es bemerkte. Sie ist vor seinen Stuhl gegangen, ohne bei uns ihre Besinnung wiederbekommen zu haben.«

Nach einer Weile fragte der Pastor:

»Und der Mann?«

»Wild und zornig gegen die ganze Welt. Wilder und zorniger jetzt als sonst! Und voll bösen Vorhabens zu seinen bösen Worten. Er lacht und meint, auf dieses habe er nur gewartet; so sei es jetzt gut, und das Dorf und alle, die mit der Familie Fuchs im Sterben nichts zu schaffen haben wollten, sollten sich nur ja nicht einbilden, daß sie ihnen im Tode Molesten machen werde. Ich weiß nicht, was er damit sagen konnte; aber er hat gelacht und die Hand, die er nicht gegen mich ballte, seiner Frau Leichnam als Faust auf die Stirn gelegt. Es war kein guter Anblick. Wann willst du zu ihm gehen?«

»Im Laufe des Abends natürlich«, sagte der Pfarrer und riß den Freund und Gastfreund in der Tat aus einem verworrenen Versunkensein in die Situationen, von denen eben dieses junge Mädchen so gelassen redete, als er hinzufügte:

»Du wirst nun wohl ein wenig im Hause zu sorgen haben für unsern Besuch, Phöbe. Du wirst dein Bestes tun, Kind; es ist wahrlich ein alter, guter Bekannter, der uns hier aufgesucht hat!«

Phöbe erhob sich rasch, grüßte noch einmal diesen Jugendfreund ihres Bruders, den dieser Bruder eben einen guten Bekannten genannt hatte, und eilte dem Hause zu; sie hatte einen zierlichen Schritt, auch wenn sie nicht langsam ging.

Die beiden Männer waren nun allein miteinander an dem Tisch in der Laube, und man hörte, während sie sich jetzt von neuem prüfend, ohne es zu verbergen, betrachteten, wieder nichts weiter als die Unruhe im Turm und dann und wann ein leises Schwalbenzwitschern um den Turm und das Kirchendach. Zuerst nahm dann Veit Bielow das Wort und sagte:

»So lebst du also nun, Prudens?«

»So lebe ich und hier. Es läßt sich für dich wohl nicht in kürzere Worte fassen.«