Unschuldig - Andrea Vanoni - E-Book

Unschuldig E-Book

Andrea Vanoni

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Beschreibung

Eiskalt wie ein Stich ins Herz

Bei den Dreharbeiten zu einem Krimi in Babelsberg liegt auf der Bahre nicht die geschminkte Komparsin, sondern eine echte Leiche. Entsetzt starrt das Team auf das Gesicht der Toten: Die leeren Augenhöhlen verbreiten sofort Angst und Schrecken. Als Gerichtsmedizinerin Martina Weber den Leichnam untersucht, weiß sie zunächst nur, dass das Opfer nicht an diesen Verletzungen starb — woran aber dann? Zusammen mit Kriminalhauptkommissarin Paula Zeisberg steht sie vor einem Rätsel, bis kurz hintereinander zwei weitere Tote am Filmset gefunden werden — alle ohne Augen, grausam entstellt…

Ein spektakulärer Thriller, der unter die Haut geht.

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Seitenzahl: 445

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DREI FRAGEN AN DIE AUTORIN ANDREA VANONI

Ihr neuster Fall führt Kommissarin Paula Zeisberg an einen Berliner Drehort, wo die Produzentin auf grausame Weise ermordet wurde. Wie sind Sie auf die Idee zu Ihrem Roman Unschuldig gekommen? Durch meine Tätigkeit in einer Berliner Künstleragentur ist mir die Film- und Fernsehbranche vertraut. Es hat mir großes Vergnügen bereitet, mich der speziellen Atmosphäre und den besonderen Befindlichkeiten, die dieses Milieu auszeichnen, zu widmen.

Wir begegnen in diesem Roman nicht nur einem skrupellosen Täter, sondern lernen auch Paulas Familie, ihren Lebensgefährten Jonas, ihre Schwester Sandra und deren kleinen Sohn Manuel, näher kennen. Welche Ihrer Figuren hat Ihnen beim Schreiben am meisten Freude bereitet?

Ich habe vor Kurzem geheiratet und bin dadurch der Lebenssituation meiner Romanfigur Paula Zeisberg nähergerückt. Aber am faszinierendsten war für mich, das Psychogramm des Mörders zu konstruieren und die unschuldig-liebenswerte Natur des kleinen Manuel.

Wo und wann schreiben Sie am liebsten?

Aus beruflichen und privaten Gründen pendle ich zwischen Berlin und Wien, aber genossen habe ich vor allem die Schreibtage, die ich zurückgezogen in der Idylle des österreichischen Weinviertels verbringen konnte.

ZUR AUTORIN

Andrea Vanoni war nach ihrem Studium als Assistentin am Wiener Burgtheater und als Dramaturgin am Kieler Opernhaus tätig. Heute arbeitet sie als Teilhaberin einer Agentur für Drehbuchautoren, Regisseure und Kameraleute in Berlin. Nach Totensonntage, Im Herzen rein und Seelenruhig ist Unschuldig ihr vierter Thriller um die Kriminalhauptkommissarin Paula Zeisberg.

Inhaltsverzeichnis

DREI FRAGEN AN DIE AUTORIN ANDREA VANONIZUR AUTORINVorspannKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41Kapitel 42Kapitel 43Kapitel 44Kapitel 45Kapitel 46Kapitel 47Kapitel 48Kapitel 49Kapitel 50Kapitel 51Kapitel 52Kapitel 53Kapitel 54Kapitel 55Kapitel 56Kapitel 57Kapitel 58NachspannDanksagungCopyright

Vorspann

Er wusste, dass sie total auf seine Cocktails abfuhr. Heute hatte er ein paar Kirsch-Minze-Daiquiris für sie vorbereitet: Eiswürfel, dunklen kubanischen Rum, Kirschsirup und Limettensaft. Ein paar frische Kirschen und Minzblätter hatte er in einen Shaker gegeben und dreißig Sekunden geschüttelt. Nicht gerührt. Er würde den Cocktail filmreif servieren, eiskalt in einem Martiniglas, dekoriert mit einer Kirsche und einem Minzblatt. Der Drink hatte das gleiche Rot wie ihre Kostümjacke. Oder wie ihr Blut, das sich schon bald auf ihrer weißen Bluse ausbreiten würde.

Drehschluss war laut Dispo – dem für alle Beteiligten verbindlichen Tagesplan – auf 18.30 Uhr festgesetzt gewesen. Im Anschluss sollte es noch eine Besprechung im Produktionsbüro geben, an der sie teilnehmen musste. Die müsste inzwischen längst zu Ende sein, dachte er mit einem Blick auf das Display seines Handys. Fast sechs Stunden lang hatte er sich seit dem Nachmittag für seinen Auftritt auf der Toilette verstecken müssen.

Sie war eine der erfolgreichsten Filmproduzentinnen im Lande, was nach ihrem schäbigen Start wohl niemand vermutet hätte. Eine souveräne und schöne Frau. Er hatte ihre Projekte all die Jahre über aus der Ferne verfolgt. Er wusste alles über sie.

Das Auffallendste an ihr waren ihre großen türkisblauen Augen, wach, intelligent und strahlend. Es würde ihm eine tiefe Befriedigung sein, sie herauszuschneiden und dabei zu beobachten, wie das Blut ihr wie Ströme von Tränen über die bleichen Wangen lief.

Er nahm an, dass sie bereits vorn im Restaurant saß. Sie liebte die Atmosphäre auf dem Filmset nach Drehschluss. Hier konnte sie sich am besten auf den kommenden Tag vorbereiten. Kein Laut drang nach hinten in die Küche und die Wirtschaftsräume. Wahrscheinlich machte sie sich Notizen. Keine Anrufe.

Er nahm das Tablett, das an der Wand lehnte, holte den Cocktail aus der Kühlbox, öffnete vorsichtig die Toilettentür und ging über den Flur. Plötzlich hörte er Geräusche aus dem Restaurant. Es waren keine Stimmen, die sich unterhielten, das war irgendetwas anderes. Er stellte das Tablett ein paar Schritte entfernt auf einer improvisierten Frisierkommode ab, ging leise wieder zur Tür zurück, öffnete sie einen Spaltbreit und spähte hinaus.

Was er sah, überraschte ihn nicht. Sie lag auf einem der Tische, den grauen engen Rock hochgeschoben, die schlanken Beine mit den schwarzen High Heels in die Luft gestreckt. Dazwischen stand breitbeinig Nummer vier und vögelte sie. Nummer vier auf seiner Liste. Die heruntergezogene Jeans hing ihm auf Höhe der Kniekehlen. Beide stöhnten laut. Sie hatte dabei die Augen geschlossen.

Leise entfernte er sich wieder von der Tür, nahm den Cocktail und ging zurück zur Toilette. Er wartete weitere zehn Minuten, ging dann erneut in Richtung Restaurant und sah Lea nun durch den Türspalt allein und mit dem Rücken zu ihm an demselben Tisch sitzen, auf dem sie gerade noch gelegen hatte. Ihr mit Swarovski-Kristallen verziertes Handy war aufgeklappt, ein paar Notizzettel lagen ausgebreitet daneben.

Mit der Haltung eines galanten Kellners aus einer Schmonzette, der der bildschönen Protagonistin ihr Lieblingsgetränk serviert, räusperte er sich leicht, als er keine drei Meter von ihr entfernt stand.

Überrascht schaute sie auf: »Oh, hallo! Was machst du denn so spät noch hier?«

»Wir hatten draußen noch zu tun.« Er verbeugte sich lächelnd, nahm das Glas vom Tablett und stellte es neben ihr Handy. »Kirsch-Minze-Daiquiri. «

Sie nahm das Glas, schnupperte daran und strahlte ihn aus ihren schönen Augen an. »Wo bekommst du nur immer diesen köstlichen Rum her?«

Ihre Worte klangen ein wenig verwaschen, ein untrügliches Zeichen dafür, dass sie schon einiges intus hatte. Sonst hätte sie sich bestimmt auch darüber beschwert, dass das Eis bereits geschmolzen und der Drink zu warm war. Gierig und mit russischem Schwung schüttete sie die Flüssigkeit hinunter. »Setz dich doch zu mir«, sagte sie mit einer einladenden Geste und hängte ihre rote Kostümjacke über die Stuhllehne. »Ich stelle gerade eine Liste meiner Lieblingsfilme zusammen, die ich Möller empfehlen möchte. Was ist denn dein Lieblingsfilm?«

»Wollen Sie noch einen Cocktail?«

»Warum nicht?«

Er kredenzte ihr einen weiteren Drink aus seiner Kühlbox, setzte sich dann auf den Stuhl neben ihr und erzählte von den Filmen, die er immer wieder gesehen hatte und die er so sehr liebte.

Sie legte den Kopf schräg, während sie lauschte, und bat schließlich um einen dritten Drink. Sie musste schon so betrunken sein, dass sie weder sich noch ihn fragte, wo er all die Daiquiris für sie bereithielt.

Manche Szenen aus seinen Lieblingsfilmen konnte er richtig gut nachspielen, so oft hatte er sich die DVDs zu Hause angeschaut. Doch bevor er ihr die Kostprobe eines Dialoges geben konnte, bemerkte er, wie ihr Blick erst starr wurde und ihre Augen sich dann verdrehten, sodass fast nur noch das Weiße zu sehen war. Langsam rutschte sie vom Stuhl auf den Boden, wo sie ausgestreckt liegen blieb. Ihre gespreizten Schenkel waren vermutlich mit dem Sperma von Nummer vier befleckt, den die Polizei deshalb bald verdächtigen würde.

Er sperrte die Tür von innen ab und nahm den Schlüssel und das Cocktailglas an sich. Schnell zog er sich einen dünnen Plastikanzug an, den er in der Toilette versteckt hatte, und streifte Haube und Handschuhe über – das alles hatte er mit einer Stoppuhr viele Male geprobt. Dann blickte er einen Moment lang nachdenklich auf sie herab, und sein Blick zoomte auf ihre Augen. Er nahm das Grapefruitmesser.

1

Eine bleiche Märzsonne hing über der Stadt und verschwand gelegentlich hinter ein paar dünnen Wolkenschleiern. Die Menschen auf den Straßen blinzelten ins ungewohnte Licht wie im Schlaf gestörte Maulwürfe.

Paula Zeisberg stand am Küchenfenster und wärmte ihre Hände an der großen Tasse mit dem heißen Tee. Der Winter war ungewöhnlich lang und trostlos gewesen. Sie bemerkte an den Bewegungen der noch kahlen Kastanienzweige im Hof, dass ein heftiger Wind blies. Das war gut so, denn dann trocknete das Schmelzwasser auf den Straßen schneller. Der Boden war noch gefroren und konnte nur wenig Wasser aufnehmen. Dennoch war die blasse Sonne ein deutliches Signal dafür, dass der Winter nun sein Ende gefunden hatte.

Paula fröstelte in ihrem Bademantel und wandte den Blick in das nur spärlich eingerichtete Wohnzimmer. Im vergangenen Herbst hatte sie Jonas, ihre große Liebe, wiedergetroffen, nachdem sie sich jahrelang aus den Augen verloren hatten. Seither waren sie ein Paar und hatten ziemlich bald beschlossen zusammenzuziehen.

Paulas alte Wohnung in der Uhlandstraße war zu klein für sie beide, also suchten sie gemeinsam eine größere. Von ihrer Freundin, der Staatsanwältin Chris Gregor, bekam sie die Adresse einer Bekannten aus Charlottenburg, die sich mit dem dortigen Wohnungsmarkt gut auskannte. Bereits nach wenigen Tagen fanden sie mit deren Hilfe eine schöne helle Dachgeschosswohnung in der Sybelstraße. Die hatte zwar auch nur drei Zimmer, war aber größer als die vorherige, und auch die Aufteilung stimmte.

Am liebsten saß Paula in dem kleinen Glasanbau, der zur Ecke Sybel/Lewisham lag, oder sie legte sich zum Lesen und Nachdenken aufs Sofa oben auf der Galerie. Die Wohnung hatte sogar zwei Bäder und zwei Schlafzimmer, wovon eines als Gästezimmer diente. Das Beste aber war der Kamin in dem riesigen Wohnzimmer, den sie schon viele Male benutzt hatten.

All das war einfach ein Traum, und dazu auch noch bezahlbar. Obgleich das neue Domizil noch nicht einmal richtig möbliert war, fühlte Paula sich zum ersten Mal seit langer Zeit in ihren vier Wänden wirklich zu Hause. Fehlten nur noch die Siebensachen von Jonas, die in den nächsten Tagen geliefert werden sollten.

Während Paula mit ihrer fast geleerten Teetasse zwischen noch nicht ausgepackten Bücherkisten herumspazierte, überlegte sie, wie viele gravierende Entscheidungen sie eigentlich während des letzten Jahres getroffen hatte. Ihre alte Wohnung in der Uhlandstraße hatte sie leichten Herzens aufgegeben, nachdem Jonas ihr vorgeschlagen hatte, mit ihm zusammenzuziehen. Mit ihrem Ex Ralf traf sie sich kaum noch, obgleich sie nach wie vor häufig an ihn dachte. Sie hatte sich nach einer über zehnjährigen Beziehung im Jahr zuvor von ihm getrennt. Er hatte sie nicht nur betrogen, sondern sich auch in ihre Arbeit eingemischt, um schließlich in einem Mordfall, den sie zu bearbeiten hatte, als Verdächtiger ins Visier der Polizei zu geraten.

Damit hatte er in ihren Augen eindeutig eine Grenze überschritten. Es folgte ihr Auszug aus der gemeinsamen Wohnung, doch schon bald stand der Umzugswagen wieder vor ihrer Tür. Es ging zwar nur wenige Straßen weiter hinein nach Charlottenburg, aber das Ganze war dennoch ein ziemlicher Stress gewesen. Immerhin mal einer, für den sie entschädigt worden war. Paula hatte die Wohnung gewählt, und sie hatte Jonas gewählt. Wenn es nur immer so schön wie jetzt bliebe, dachte sie, als sie ins Bad ging.

Am Mittag erwartete sie den Besuch ihrer Schwester Sandra, die mit ihrem kleinen Sohn Manuel für zwei Wochen Berliner Luft schnuppern wollte. Der Knirps hatte Kindergarten-Ferien, und Sandra wollte endlich mal wieder Zeit mit ihrer Schwester verbringen, Freundinnen besuchen, in Museen gehen und natürlich bei der Gelegenheit auch Jonas näher kennenlernen, der ihr bislang nur einmal kurz vorgestellt worden war.

Paula kam gerade aus der Dusche, als ihr Handy klingelte: »Eine verstümmelte Frauenleiche, Ku’damm 162.«

Noch am Abend zuvor, als sie gemütlich mit Jonas bei einem Glas Rotwein vor dem Kamin saß, hatte sie sich in einer stummen Bitte gewünscht, sie möge die kommenden Tage von einem Mordfall verschont bleiben. Jetzt hatte sie sofort das enttäuschte Gesicht ihrer Schwester und den betrübten kleinen Lockenkopf vor Augen und verspürte ein schlechtes Gewissen. Bei einem schwierigen Fall würde sie nur wenig Zeit für ihre Gäste haben. Einfach wäre beispielsweise ein Streit unter Nachbarn mit tödlichem Ausgang oder ein familiäres Eifersuchtsdrama, aber eine verstümmelte Leiche hörte sich nicht danach an. Sie und ihr Team würden ohne nennenswerte Verschnaufpause bis zur Aufklärung des Mordes durcharbeiten müssen. Da waren auch die Wochenenden gestrichen.

Sie hatte nur den Tee getrunken, nichts von dem Toast angerührt, den Jonas ihr ans Bett gestellt hatte, bevor er sich auf den Weg in die Klinik machte, und ging noch einmal die wenigen Informationen durch, die der Beamte ihr mitgeteilt hatte, während sie sich hastig anzog. Der Anruf war um 7.23 Uhr bei der Polizei eingegangen. Die weibliche Leiche lag in einem Restaurant, in dem seit ein paar Tagen Dreharbeiten zu einem Fernsehfilm stattfanden. Sie war von einem Mitglied aus dem Filmteam vor Drehbeginn gefunden worden.

»Sieht verdammt nach großem Kino aus«, hatte der Kollege gespottet. »Aber die Tote ist echt.«

Paula zögerte kurz, als sie wenige Minuten später den Sicherheitsbügel an der Tür ihrer neuen Wohnung im fünften Stock verschloss. Eigentlich gehörte das nicht zu ihren Gewohnheiten. Meistens machte sie sich nicht einmal die Mühe, die Tür überhaupt abzuschließen, sondern zog sie nur hinter sich ins Schloss. Wenn jemand einbrechen will, dann schafft er es sowieso, das war ihr als Kriminalhauptkommissarin völlig klar. Warum also sollte ein möglicher Einbrecher mehr beschädigen, als nötig war?

Sie besaß nur wenige Dinge von Wert. Eine Menge Bücher mit handschriftlichen Anmerkungen, die noch unausgepackt in den Umzugskartons lagen, eine Musikanlage, die schon mindestens zwölf Jahre alt war, einen preiswerten Flachbildfernseher, den sie letztes Jahr gekauft hatte, und einige wenige Möbel, keine Bilder oder Kunstgegenstände.

Ihr Ex hatte ihr zwar zahlreiche seiner Bilder geschenkt, und die waren inzwischen sicherlich im Wert gestiegen, seit er einen gewissen Bekanntheitsgrad erreicht hatte und die Preise seiner Werke in den Galerien in die Höhe schossen. Aber Paula hatte sie nicht mitgenommen in ihre neue Wohnung, sondern in einem Speditionslager in Tegel eingelagert. Sie zahlte lieber ein paar Euro Lagergebühren, statt sich mit dem »alten Gerümpel« zu beschweren. Vielleicht war das ihre ganz eigene Art von Vergangenheitsbewältigung.

In der Sybelstraße kam ihr eine streunende Katze entgegengelaufen. Sie sah ihrem verstorbenen Kater Kasimir ähnlich, und Paula wurde ein wenig schwer ums Herz. Er fehlte ihr sehr. Mit Jonas hatte sie sich jedoch darauf geeinigt, dass sie sich keinen neuen Kater zulegen würden. Sie arbeiteten beide viel und zu unregelmäßigen Zeiten. Besonders Jonas, der als Oberarzt oft Nacht- und Wochenenddienste in der Klinik zu leisten hatte.

Im Alter von zehn Jahren, vier Monaten und drei Tagen war Kasimir im letzten Jahr getötet worden. Jetzt tollte er wohl im Katzenhimmel herum, wo es jeden Tag frische Hühnerleber und allerlei andere Köstlichkeiten gab. Das hoffte Paula zumindest. Sie versuchte, die fremde Katze anzulocken, aber das Tier blieb scheu auf Distanz.

Im Vorübergehen betrachtete sich Paula flüchtig im Schaufenster einer Boutique auf der Wilmersdorfer Straße. Ihre Kleidung war eher praktisch als schick und ihr halblanges mittelblondes Haar noch feucht vom Duschen. Ein baldiger Friseurbesuch wäre auch nicht schlecht, dachte sie. Die blonden Strähnen waren längst herausgewachsen, und ihr Haar, sonst gelockt und voller Lichtreflexe, wirkte mausgrau und ziemlich langweilig. Ihr Teint war noch winterlich blass, und in der morgendlichen Hektik hatte sie nur ein bisschen Wimperntusche und einen fast farblosen Lippenstift aufgelegt.

Von der Wilmersdorfer waren es wenige Minuten bis zum durchgegebenen Tatort. Sie musste dazu den Adenauerplatz, die Lewisham und den Ku’damm überqueren. In ihrer gefütterten Kapuzenjacke, dem schwarzen T-Shirt, ihren ausgebeulten Jeans und den abgetragenen Doc-Martens passte Paula zumindest optisch ganz gut zu den Leuten vom Filmteam, die auf der Straße warteten und aufgeregt miteinander sprachen, als sie ankam. Einige rauchten.

Es waren etwa fünfzig Menschen, die vor dem Restaurant in kleinen Gruppen zusammenstanden. Rund um den Eingangsbereich war ein rot-weißes Absperrband gezogen. Zwei Polizeibeamte forderten die Passanten in freundlichem, aber bestimmtem Ton zum Weitergehen auf. Auf dem Bürgersteig waren Einsatzwagen geparkt.

Mehrere größere Fahrzeuge der Filmproduktion parkten in der Eisenzahnstraße. Überall Scheinwerfer, Metallständer, große Rollen mit Silberfolie und Unmengen von Kabeltrommeln. Paula ließ ihren Blick über die Filmcrew schweifen. Es waren zumeist junge Männer in schwarzer Kleidung und mit dunklen Baseballkappen, einige mit Aufschrift. Eine junge Frau mit einer dicken Kladde unter dem Arm ging mit wichtigtuerischer Miene zu einem der Lastwagenfahrer, wechselte ein paar Worte mit ihm. Ein weiterer Fahrer biss herzhaft in ein Sandwich, zwei Beleuchter standen auf einem aufgebauten Podest und versuchten von da aus einen Blick ins Restaurant zu erhaschen. An einem Speisewagen, über dem in Schreibschrift »Mamis Catering« stand, gab es Kaffee und Tee in Pappbechern.

Paula bahnte sich einen Weg durch die Menschentraube, die sich vor dem Restaurant gebildet hatte. Die Leiche lag offenbar im linken hinteren Bereich des Restaurants, denn alle blickten in diese Richtung. Polizeifotograf Scholli war bereits da und zeichnete alles mit einer Kamera auf. Beamte der Spurensicherung packten ihre Koffer aus. Sie würden jeden Quadratzentimeter des Leichenfundorts im Laufe der nächsten Stunden absuchen.

Am Eingang zog Paula Schutzanzug und Überschuhe an, nicht viel mehr als schlecht sitzende Plastiktüten. Dabei verlor sie ein wenig die Balance, und ein junger Beamter sprang hinzu, um sie zu stützen. Sie lächelte den Mann an und bedankte sich. Er lächelte nicht zurück, sondern blickte unsicher zu Boden.

Das ist der Nachwuchs, dachte Paula, nicht sehr kommunikativ, aber wenigstens höflich. Als hätte er ihre Gedanken lesen können, straffte der junge Mann plötzlich seine Schultern und verschwand.

Sie ging weiter ins Restaurant hinein. Das appetitliche Lachsrosa der Wände wurde immer wieder unterbrochen vom eleganten Weiß aufgemalter schmaler Säulen. Ein großer quadratischer Raum mit dunkel glänzender Theke im Hintergrund und vielen großen Spiegeln an den seitlichen Wänden. Elegante schwarze Holzlackstühle standen wie Wachsoldaten akkurat aufgereiht an edel eingedeckten Tischen mit weißen Tüchern, die fast bis zum Boden reichten. Über einer Stuhllehne hing eine rote Kostümjacke. Einzelne pinkfarbene Rosen steckten in kleinen grauen Porzellanvasen. Ein heimeliges Ambiente, warm und dezent.

Die Blutspritzer allerdings stellten einen heftigen Kontrast dazu dar. Paula kam es vor, als wäre sie beim Flanieren durch ein Geschäft mit Designermöbeln unmittelbar in einem Schlachthaus gelandet. Ein scharfer Geruch nach Fäkalien, Blut und Alkohol stach ihr in die Nase.

Die Tote lag auf dem cremefarbenen Fliesenboden in einer Blutlache.

Beim Anblick von Mordopfern spürte Paula noch immer Unbehagen, und sie war sofort alarmiert, als Dr. Weber sie in angestrengtem, leicht hysterischem Tonfall ansprach. Das war sie von der sonst so nüchternen Gerichtsmedizinerin absolut nicht gewohnt. »Rigor mortis hat eingesetzt. Ich schätze, dass sie seit mindestens sieben Stunden tot ist.« Dr. Weber kniete im Schutzanzug, unter dem sie eine dunkelgrüne Steppjacke und eine praktische Outdoorhose trug, vor der auf dem Boden liegenden Leiche. Sie verdeckte Paula die Sicht, sodass sie nur das lange schwarze Haar der Toten und ihre schlanken weißen Arme sehen konnte.

»Was ist los?«, fragte sie und stellte sich neben Martina Weber. Fassungslos blickte sie auf die schöne Tote. Die Frau trug einen engen grauen Rock, der leicht hochgeschoben war. Ihre Beine waren gespreizt, die weiße Bluse voller Blut. Ihre Augenlider waren weit geöffnet, und der Rand der leeren Augenhöhlen stach scharf hervor. Über den Rändern lagen faserig die Reste von Sehnerven und Muskelsträngen. Und da, wo zuvor die Augäpfel gewesen waren, wie auch in den Nasenlöchern und im leicht geöffneten Mund bewegte sich etwas auf unheimliche Weise.

Paula beugte sich ein Stück herunter und sah genauer hin: Fette bräunlich rosa Würmer, die sich mit Blut vollgesogen hatten, lagen in Knäueln ineinander verschlungen und bedeckten fast das ganze Gesicht der Toten. Sie krochen aus den Augenhöhlen und aus dem Mund, sie tummelten sich in den Nasenlöchern und in den Ohren. Entsetzt fuhr sie zurück. »Mein Gott, was zum Teufel ist das …?« Dann wurde plötzlich alles schwarz vor ihren Augen, und lautlos sackte sie zusammen.

2

Als Paula wieder zu sich kam, blickte sie als Erstes in das besorgte Gesicht von Martina Weber mit der ungesunden grauen Färbung. Ihr dünnes braunes Haar war streng in einem Pferdeschwanz zurückgebunden. Seit dem tragischen Verlust ihres Bruders im Jahr zuvor hatte Dr. Weber nur wenige private Worte an Paula gerichtet. Sie hatte sich ganz in ihre wissenschaftliche Arbeit gestürzt. Nicht einmal an der Weihnachtsfeier in der Keithstraße wollte sie teilnehmen, und auch Paulas Grußkarte zum neuen Jahr blieb unbeantwortet. Paula fehlten die anregenden Gespräche mit der Rechtsmedizinerin, aber nachdem sie einige Versuche unternommen hatte, ihr näherzukommen, musste sie einsehen, dass Dr. Weber noch Zeit für sich brauchte. Jetzt genoss sie die Fürsorge der Ärztin beinahe: »Geht’s Ihnen wieder besser? Wollen Sie ein Glas Wasser?«

Ein paar Polizisten von der Bereitschaft schauten tuschelnd zu ihnen herüber.

Irgendjemand in der Nähe der Theke des Restaurants übergab sich geräuschvoll. »Zum Glück kotzt er in die Plastiktüte«, sagte eine männliche Stimme, aber Paula sah nicht hin. Sie dachte an den jungen Beamten, der ihr vorhin mit dem Schutzanzug geholfen hatte.

»Sorry, das ist das erste Mal …«, versuchte sie sich zu entschuldigen.

»Machen Sie sich nichts draus«, entgegnete Dr. Weber. »Manche gewöhnen sich nie daran. Kommen Sie.« Sie half ihr auf die Beine und bot ihr ein Tablett mit einem Glas Wasser und einem Espresso an. »Gehen Sie ein paar Schritte, damit Ihr Kreislauf wieder in Schwung kommt.«

»Wer ist die Tote?«

»Lea Buckow. Sie ist die Produzentin des Films, der hier gerade gedreht wird.«

»Was hat man mit ihrem Gesicht gemacht?«

»Jemand hat ihre Augäpfel entfernt und lebende Mehlwürmer in die Gesichtsöffnungen verbracht«, sagte Dr. Weber, nun wieder so sachlich nüchtern, wie Paula sie kannte. »Diese lieben Tierchen fressen alles, auch Eiweiß und Blut. Das ist für die ein Festschmaus hier.«

Paula trank den Espresso mit drei Stück Zucker, nahm einen Schluck Wasser, ging ein paar Schritte auf und ab und wagte dann erneut einen Blick auf die Tote.

»Und das ganze Blut?«

»Das kommt von der gewaltsamen Enukleierung der Augäpfel. Eine ziemlich blutige Angelegenheit«, erklärte die Ärztin.

»Man hat ihr die Augen herausgerissen, und daran ist sie gestorben? «

»Nein, mit großer Sicherheit ist sie daran nicht gestorben.«

»Sondern?«

»Auch wenn einem die Augäpfel gewaltsam entfernt werden, stirbt man deshalb nicht. Todesursache muss etwas anderes gewesen sein. Genaues kann ich aber erst nach der Obduktion sagen. Ein Messer jedenfalls hatte sie nicht im Rücken, und nach erster oberflächlicher Untersuchung kann ich auch keine tödlichen Verletzungen entdecken.«

Paula wurde wieder schwindelig. Sie musste sich an Dr. Weber festhalten. Die zog einen Stuhl heran und drückte Paula vorsichtig darauf. »Haben Sie denn nicht gefrühstückt?«

»Nein, nein, dazu hatte ich keine Zeit mehr«, murmelte Paula. Und dann setzte sie ziemlich unvermittelt hinzu: »Meine Schwester und mein Neffe kommen heute zu Besuch.«

»Ein Grund mehr, sich ein wenig zu stärken.«

Mittlerweile waren noch mehr Leute von der Spurensicherung eingetroffen, und Paula hörte die laute Stimme ihres Kollegen Tommi Blank.

»Einen schönen guten Morgen allerseits«, sagte er gut gelaunt in die Runde. Tommi war ein kräftiger Kerl mit kurzem schwarzem Stoppelhaar und ein besessener Sportler. Jeden Morgen joggte er erst mehrere Runden durch den Tiergarten, bevor er seinen Dienst antrat. Er roch stets frisch geduscht und irgendwie holzigwürzig. Paula gefiel das.

Die Leiche mit den Würmern nahm er achselzuckend zur Kenntnis. »Du siehst echt scheiße aus, Paula. Bist du krank?«

Paula grinste ihn schief an. »Nein, aber danke der Nachfrage.«

»Gehen Sie doch erst mal frühstücken!«, warf Dr. Weber ein und zog die Handschuhe aus. »Lassen Sie die Kollegen mal ran. Der Transport für die Leiche ist auch schon unterwegs.«

»Der Toten kannst du sowieso nicht mehr die Würmer aus der Nase ziehen«, scherzte Tommi, »und ich kann schon mal mit den Zeugenbefragungen anfangen.«

»Nein, das Frühstück kann warten, ich möchte mir erst selbst ein Bild machen.«

Tommi verdrehte die Augen zur Decke und zuckte mit den Schultern.

»Was haben Sie vorhin über den Todeszeitpunkt gesagt?«, fragte Paula die Pathologin.

»Die Totenstarre ist noch nicht ganz ausgeprägt. Normalerweise kühlt eine Leiche ein Grad pro Stunde ab, aber gestern Nacht hatten wir draußen Temperaturen unter null, und hier drin drehen sie nachts die Heizung runter, wurde mir gesagt. Sie könnte seit sieben oder maximal acht Stunden tot sein, kaum länger.«

»Gibt es Spuren sexueller Gewalt?«

»Oberflächlich gibt es keine Hinweise auf sexuelle Gewalt oder Anzeichen, dass sie sich gewehrt hat, aber dazu kann ich mehr sagen, wenn ich sie auf dem Tisch hatte.«

»Wer hat die Tote wann gefunden?«

»Eine Frau vom Filmteam, soweit ich weiß«, sagte Dr. Weber und packte ihren schwarzen Koffer. Ihre Arbeit hier war beendet.

»Wo ist sie jetzt?«

»Sie wird wohl noch hinten in der Küche warten.«

»Dann sehen wir uns mal die Filmleute an«, sagte Paula und besprach auf dem Weg dorthin mit Tommi die Reihenfolge der zu erledigenden Aufgaben.

Mehrere Leute aus dem Filmteam standen in gedrückter Stimmung in der Küche herum und tranken schweigend Kaffee. Die meisten von ihnen trugen Headsets und weite Hosen, die am Po herunterhingen.

Ein Wasserhahn tropfte ununterbrochen, aber es war niemand da, der ihn abstellte. Die Angestellten des Restaurants hatten frei, und die Filmer nahmen das Geräusch offensichtlich nicht wahr.

»Guten Morgen! Ich bin Kriminalhauptkommissarin Paula Zeisberg und leite die Ermittlungen. Wer von Ihnen hat die Tote gefunden?«

Eine junge Frau, die rauchend am offenen Fenster lehnte, hob die Hand. »Das war ich. Mein Name ist Michaela Brenner, ich bin die Requisiteurin. Ich war die Erste heute Morgen am Set, zusammen mit der Aufnahmeleiterin.« Sie war blond, schlank und auffallend blass. Auf dem Boden standen zwei schwarze Ledertaschen, die offensichtlich zu ihr gehörten.

»Wie ist der Name der Aufnahmeleiterin?«, fragte Paula.

Beim Sprechen blies Michaela Brenner Rauch aus, was ihren Worten etwas Entschiedenes verlieh. »Verena Köster.«

»Gut. Ich hätte gern eine Liste mit allen Beteiligten«, sagte Paula. »Bekomme ich die von Ihnen?«

»Es gibt drei verschiedene Listen: die Stabliste, da steht nur die Crew drauf, dann die Besetzungsliste und eine interne Liste mit den Privatnummern der Schauspieler. Welche genau wollen Sie?«

»Bitte alle drei.«

»Also eine Kopie aller Listen, kein Problem«, wiederholte die Requisiteurin. »Brauchen Sie auch ein Drehbuch?«

»Ja, bitte«, sagte Paula. Mit einem kurzen Blick in die Runde fragte sie: »Können wir bitte allein reden?«

Alle nickten, einige murmelten etwas vor sich hin, während sie im Gänsemarsch die Restaurantküche verließen.

Paula forderte Michaela Brenner auf, Platz zu nehmen, und setzte sich selbst auf einen der frei gewordenen Stühle.

»Wann genau haben Sie heute Morgen das Restaurant betreten? «

»Gegen sieben.«

»Haben Sie einen Schlüssel?«

»Ja, ich muss abends ab- und morgens aufschließen, damit die Techniker anfangen können. Und ich muss die ersten Szenen einrichten. «

»Sie gingen nicht allein ins Restaurant?«

»Nein. Ich war schon ziemlich spät dran. Verena kam gerade an, deswegen blieb ich an der Eingangstür stehen und wartete auf sie. Wir sind dann zusammen rein. Sie ging ein paar Schritte voraus und dachte laut nach über die Probleme, die heute auf uns warten würden, das macht sie immer so. Ich notiere dann die Stichworte später. Aber plötzlich schrie sie auf.«

»Wo waren Sie da genau?«

»Zwei Schritte hinter ihr.«

»Wie weit war Frau Köster von der Leiche entfernt, als sie sie bemerkte?«

»Vielleicht vier oder fünf Meter.«

»Und was passierte dann?«

»Dann hab ich Lea Buckow auch gesehen. Und das ganze Blut. Im ersten Moment dachte ich, sie sei gestürzt und hätte sich den Kopf aufgeschlagen. Aber dann registrierte ich die leeren Augen und überall die Würmer. Ich bin raus auf die Straße und habe sofort die Polizei gerufen.«

»Sind Sie dann noch einmal zur Leiche gegangen?«

»Nein, ich hab mich da nicht mehr hingetraut.«

»Und Frau Köster?«

»Keine Ahnung. Nein. Sie ist mir sofort auf die Straße gefolgt. Wir waren beide total durcheinander und ziemlich geschockt. Wir konnten gar nicht glauben, was wir da gesehen hatten.«

»Das kann ich mir vorstellen. War außer Ihnen beiden noch jemand im Restaurant?«

»Nein.«

»Und Sie sind sicher, dass überall verschlossen war?«

»Nein, das kann ich so nicht sagen. Ich hab ja nur die Vordertür geöffnet. Nach hinten bin ich nicht gegangen. Da gibt es noch einen Eingang.«

Paula schrieb »Schlüssel« und »Hintereingang« in ihr Notizbuch. »Wer hat einen Schlüssel für den Eingang zum Restaurant?«

»Ich weiß es nicht hundertprozentig. Die Produzentin natürlich. Und das Produktionsbüro. Und Verena.«

»Können Sie mir sagen, wie hier die Abläufe sind? Es gibt doch sicher Pläne, wer wann wo was machen muss?«

»Ja, dafür gibt es jeweils eine Tages-Dispo.« Die Requisiteurin kramte in einer ihrer beiden Ledertaschen und holte drei aneinandergeheftete Seiten hervor. »Das ist die Dispo für heute.«

»Vom Vortag gibt es die auch?«

»Sicher. Die gibt es für jeden Drehtag. Hier ist die von gestern.« Sie gab Paula drei weitere Seiten.

»Danke. Wer hatte gestern hier zuletzt zu tun?«

»Praktisch alle, die Sie auf der Dispo für die letzte Szene finden.«

Paula faltete die Papiere auseinander. Auf der ersten Seite waren oben in kleingedruckter Schrift alle Beteiligten für den jeweiligen Drehtag in den Gruppen Darsteller, Büro, Team, Sender und Extern aufgezählt. Neben Angaben zu Motiv, Drehort, Wetter (sogar Sonnenauf- und -untergang wurden vermerkt) und Parkplätzen fand sich der genaue Drehtagesablauf. Wer wann von wem abgeholt wurde, wer wann in der Maske und in der Garderobe zu sein hatte. Drehbeginn, Pausen, Drehende und Arbeitsende waren ebenfalls festgelegt. Bei der letzten Szene um 17.30 Uhr »Tag/ Innen Restaurant« waren neben den Beleuchtern und Technikern, der Maske, Requisite und Garderobe nur zwei Schauspieler aufgeführt: Felix Kleist und Nadine Woerner. Aufnahme- und Produktionsleitung, Regie und Assistenten und Praktikanten der Regie und Kamera sollten ebenfalls anwesend gewesen sein. Einundzwanzig Personen zählte Paula für die letzte Szene des vergangenen Drehtages.

»Ich würde jetzt gern mit Verena Köster sprechen.«

»Kommen Sie mit, sie ist draußen.«

Vor dem Cateringwagen standen etwa zwanzig Leute, die alle zum Filmteam gehörten, wie Michaela Brenner auf Nachfrage erklärte.

»Ich könnte noch einen Kaffee gebrauchen«, sagte Paula, die sich plötzlich ziemlich müde fühlte.

Michaela zog sie zur Theke des Wagens. Der junge Mann hinter der Container-Bar flitzte hin und her, um schnell alle Wünsche zu erfüllen.

»Einen starken Kaffee für die Kommissarin!«, rief sie ihm zu. »Und einen für mich, bitte. Dann hätte ich gerne noch zwei Lachsbrötchen. « Sie wandte sich zu Paula um, die hinter ihr stand, und lächelte entschuldigend. »Ich habe heute noch nichts gegessen.«

»Ich auch nicht.«

Blitzschnell reichte der Caterer der Requisiteurin ein Tablett mit den belegten Brötchen und zwei Pappbechern. Sie gab Paula einen Becher Kaffee und eins von ihren Lachsbrötchen.

Es war der schwärzeste Kaffee, den Paula seit ihrem letzten Italienurlaub gesehen hatte. Sie nahm einen Schluck und verzog das Gesicht. Er war so bitter, dass er schon fast sauer schmeckte. Sie bemerkte das Lächeln des jungen Mannes.

Als sich ihre Blicke trafen, sagte er: »Doppelter Espresso! Noch etwas Süßes dazu?«

»Nein, danke.«

»In der Reihe hinter Ihnen wartet Verena«, sagte Michaela.

Paula schnappte sich drei Zuckertütchen und einen Plastiklöffel von der Theke und wandte sich um.

Eine kräftige, etwas herb aussehende Frau mit einem flachsblond gefärbten Kurzhaarschnitt stand in voller Montur vor ihr. In den prallen Seitentaschen ihrer Cargohose klickte bei jeder Bewegung etwas Metallisches. Handy an der Hüfte, ein Sender um den Hals, Clipboard und Skript: »Köster. Ich bin die Aufnahmeleiterin.« Sie war etwa Mitte vierzig, hatte eine kleine Stern-Tätowierung am Hals und einen Kugelschreiber hinter das linke Ohr geklemmt.

Paula stellte sich ebenfalls vor und bat die Frau, ihr in die Küche zu folgen.

»Sie sehen alle ein bisschen aus wie Astronauten«, sagte Verena Köster mit einem Blick auf Paulas Schutzanzug, während sie sich setzte.

»So fühle ich mich manchmal auch. Sie haben heute Morgen als Erste die Tote entdeckt?«

Verena Köster nickte stumm. »Beschreiben Sie mir bitte genau, was Sie vorgefunden haben.«

Die Aufnahmeleiterin räusperte sich und wiederholte noch einmal, was Paula bereits von der Requisiteurin wusste.

»Wie nahe sind Sie an die Leiche herangegangen?«

»Nicht sehr nah. Einen Meter, vielleicht anderthalb. Können auch zwei gewesen sein.«

»Woran haben Sie erkannt, dass Frau Buckow tot war?«

»Überall das Blut. Die sah für mich tot aus.«

»Sie haben sie also nicht berührt und auch nichts, was sich in ihrer Nähe befand?«

Verena Köster schüttelte den Kopf und schluckte.

Paula gab ihr ein bisschen Zeit und ließ sich dann noch einmal ausführlich den genauen Hergang vom Betreten des Restaurants zusammen mit Michaela Brenner bis zum Eintreffen der Polizei schildern. Sie verzichtete auf die obligate Frage, ob es nach der Meinung der Aufnahmeleiterin jemanden im Filmteam gäbe, der zu einer so schrecklichen Tat fähig wäre. »Wie heißt noch gleich der Regisseur des Films?« Paula hatte seinen Namen zwar schon auf der Dispo gelesen, ihn sich aber nicht gemerkt.

»Tim Möller.«

Der Name sagte Paula nichts. Aber sie interessierte sich auch nicht besonders für Filme und sah nur sehr selten fern. Hin und wieder ging sie mit ihrer Freundin Chris Gregor ins Kino, aber auch da merkte sie sich meist weder die Namen der Schauspieler noch die der Regisseure.

»Ist das ein bekannter Regisseur?«

»Geht so. Er hat sicher schon ein Dutzend Filme gedreht, auch Serien und hin und wieder einen Werbespot. Hier macht er auch die Kamera«, erklärte Verena Köster.

»Wie geht denn das zusammen?«, fragte Paula.

»Soweit ich weiß, hat er beides studiert. Jedenfalls benötigt man einen sehr guten Oberbeleuchter, der das Licht setzt. Dann kriegt man das hin.«

»Wie viele Schauspieler sind bei diesem Film engagiert?«

»Sieben. Plus zwei Nebendarsteller und ein paar Statisten. Ich gebe Ihnen nachher die Listen.«

»Die hat mir Frau Brenner bereits zugesagt.« Paula trank den letzten Schluck von dem bitteren Espresso. Sie sehnte sich nach einem Schluck Wasser zum Nachspülen.

»Gut. Darauf finden Sie alle Beteiligten.«

»Auch die Techniker und Beleuchter und sonstigen Mitarbeiter? «

»Ja, jeden, der irgendetwas mit den Dreharbeiten zu tun hat.«

»Wann haben Sie Frau Buckow zum letzten Mal lebend gesehen? «

Die Aufnahmeleiterin antwortete, ohne zu zögern. »Das war gestern Abend.«

»Um wie viel Uhr?«

»Wir hatten noch eine Produktionsbesprechung im Büro, im Anschluss an den Dreh. Sie dauerte von etwa halb acht bis kurz vor neun.«

»Wer war außer Ihnen und Lea Buckow noch dabei?«

»Der Regisseur Möller, meine Assistentin und die Assis der Regie und Kamera.«

»Was wurde besprochen?«

»Nichts Besonderes, eine Drehplanumstellung für den übernächsten Tag. Ein paar kleine Änderungen und Umstellungen im Drehbuch, nichts Weltbewegendes.«

»Wann war gestern Drehschluss im Restaurant?«

»Um achtzehn Uhr dreißig. Alles nach Plan, keine Überstunden. «

Paula machte sich eine Notiz. »Wie sah es im Restaurant aus, als Sie es verließen?«

»Der Großteil des Teams war bereits weg, als ich noch mit den letzten Vorbereitungen für heute beschäftigt war. Ein Bühnenarbeiter hämmerte an der Verkleidung der Theke. Auch von den Elektrikern war noch einer da. Ach, und die Requisite ordnete irgendwelches Zeugs. Ich habe noch ein paar Anrufe erledigt und bin danach mit meiner Assistentin den Drehplan für den nächsten Tag durchgegangen. Nachdem dann alle weg waren, haben wir uns auch auf den Weg ins Büro gemacht.«

»Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen? Etwas Ungewöhnliches?«

»Nein, es war ein ganz normaler Drehtag. Nichts Besonderes.«

»Wer hat das Restaurant abgeschlossen?«

»Ich. Alle anderen waren ja schon weg.«

»Es war also ganz sicher niemand mehr da?«

»Nein.«

»In den hinteren Räumen oder in den Toiletten hätte sich jemand aufhalten können. Oder in der Küche.«

»Nein, das glaube ich nicht. Ich habe noch nach hinten gerufen, dass jetzt Feierabend ist und ich abschließe.«

»Nun, der Täter würde sich wohl kaum bemerkbar gemacht haben, sollte er sich hinten versteckt haben.«

Die Aufnahmeleiterin begriff und schwieg betroffen.

»Wer hat einen Schlüssel für das Restaurant?«

Verena Köster überlegte kurz. »Soweit ich weiß, der Besitzer, die Produzentin, ich und natürlich Michaela. Dazu noch jemand von der Produktionsleitung. Keine Ahnung, wie viele Schlüssel es insgesamt sind. Ich schätze, es gibt sechs oder sieben davon.«

»Zeigen Sie mir bitte Ihren Schlüssel?«

»Bitte schön.« Verena Köster legte einen Schlüssel auf den Tisch vor Paula, die ihn in die Hand nahm und sofort erkannte, dass es kein Sicherheitsschlüssel war. Somit hätte ihn jeder ohne Einverständnis des Besitzers nachmachen lassen können.

Das Handy der Aufnahmeleiterin klingelte. Sie nahm den Anruf an, machte kurz »Hm …« und unterbrach die Verbindung gleich wieder, ohne ein Wort zu sagen.

Paula schaute sie fragend an.

»Die Presse wartet draußen. Und mehrere Fernsehteams.«

Paula seufzte. »Wir verhängen erst mal Nachrichtensperre bis zur Pressekonferenz. Sagen Sie das Ihren Leuten bitte?«

Verena Köster nickte und griff sofort wieder zum Handy.

»Wie lange drehen Sie eigentlich schon in dem Restaurant?«

»Seit drei Tagen. Heute wäre der vierte Drehtag gewesen.«

»Und wie lange haben Sie noch hier zu arbeiten?«

»Morgen wäre der letzte Tag in diesem Motiv gewesen, Sonntag ist drehfrei, und Montag ziehen wir um in eine neue Location, eine Villa in Potsdam.«

»Würden Sie Ihren Teamleuten bitte auch Bescheid sagen, dass sie sich vorerst für die Befragungen der Polizei in der Nähe aufhalten sollen?«

»Sicher.«

Ein Praktikant erschien in der Tür und fragte, ob er in der Küche mit den Vorbereitungen beginnen dürfe. Verena Köster erklärte Paula, dass der Drehplan umgestellt werden müsse. Heute sollte nicht gedreht werden, aber wenn die Kommissarin damit einverstanden sei, würde die Produktion die Szenen, die in der Küche spielten, morgen abdrehen.

Paula wunderte sich zwar, dass das Team gleich am Samstag weiterarbeiten wollte – oder musste –, obwohl die Chefin erst wenige Stunden zuvor auf dem Filmset einen gewaltsamen Tod gefunden hatte. Aber sie konnte sich durchaus vorstellen, dass bei Filmarbeiten ein hoher wirtschaftlicher Druck herrschte, der keine langen Trauerzeiten während der Dreharbeiten erlaubte. Daher hatte sie nichts dagegen einzuwenden, dass die Vorbereitungen in der Küche fortgesetzt wurden. Sie konnte die Befragungen des Filmteams auch an einem anderen Ort vornehmen. Die Aufnahmeleiterin wollte noch wissen, wann das komplette Restaurant wieder zum Drehen freigegeben würde.

»Ich denke, wir sind bis morgen früh fertig.« Paula dankte Verena Köster und verabschiedete sich. Sie zog ihren Schutzanzug aus, verließ das Gelände und ging ein Stück den Ku’damm hinunter, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Der sogenannte »Buletten-Boulevard« mit seiner wechselvollen Vergangenheit hatte sich immer wieder neu erfinden müssen. Sie erinnerte sich noch gut an den Niedergang in den Achtzigerjahren, als Billigläden, Fast-Food-Lokale und Unterhaltung für Schulklassen aus Westdeutschland das Bild der Konsummeile prägten. Dann fiel die Mauer, und alle Blicke richteten sich auf den Ostteil der Stadt, nach Mitte. Aus diesem Tief hatte sich der Kurfürstendamm erst in den letzten Jahren langsam wieder aufgerappelt. Mittlerweile hatten Galerien und kleine Läden in den Seitenstraßen eröffnet, und auch Investoren hatten den Westen erneut entdeckt. Am elegantesten zeigte er sich heute südlich vom Adenauerplatz, zwischen Knesebeck- und Giesebrechtstraße: teure Schuhe, Juwelen, Kunst und edle Designerkleidung, bevor die internationalen Kettenläden der Mode- und Schuhhäuser auf dem Abschnitt der Gedächtniskirche und des Europacenters die Massen lockten. Bei wichtigen Fußballspielen diente der Kurfürstendamm als Jubelmeile für die Fans und den obligaten Autokorso. Die Jüngeren fanden seine Atmosphäre angestaubt, die Älteren konservativ, im besten Sinne.

Als sie sich auf Höhe des Olivaer Platzes befand, rief Paula Herbert an, ihren Vertreter im Kommissariat. Er wartete bereits auf ihren telefonischen Bericht, um sich sofort an die Erledigung ihrer Aufträge zu machen. Seit seiner Scheidung schob er mehr Überstunden als jeder andere im Team vor sich her. Paula informierte ihn knapp über die wichtigsten Fakten und bat ihn, sich bald mit Dr. Weber in Verbindung zu setzen, um alles über die Würmer herauszufinden, die im Gesicht der Toten aufgefunden worden waren.

Als Paula in das Restaurant zurückkehrte, war die Leiche bereits abtransportiert worden, und die Spurensicherung hatte ihre Arbeit fortgesetzt. Sie ging noch einmal in die Küche, um Verena Köster zu fragen, wo sie ungestört weitere Zeugenbefragungen während der nächsten Stunden führen könne. Dabei drängte sie sich an zwei Beleuchtern vorbei, die ihre Geräte in den hinteren Teil der Küche schleppten.

»Los, Tempo! Noch vier Meter Schiene!«

Die Aufnahmeleiterin versprach ihr, den Wohnwagen der Komparsen freimachen zu lassen. Dort könne sie in Ruhe ihre Gespräche fortsetzen. Paula nickte ihr dankend zu und ging hinaus. Dann informierte sie Tommi, der noch mit der Befragung der Nachbarn beschäftigt war, dass sie nun für eine gute Stunde unterwegs sein würde. Sie wollte unbedingt ihre Schwester und ihren Neffen von der Bahn abholen. »Kein Problem«, sagte Tommi. »Ich halte hier die Stellung.«

3

Paula wusste, wie sehr Sandra und Manuel sich auf den Besuch bei ihr in Berlin gefreut hatten. Aber sie wusste auch, dass in Mordfällen gerade die ersten achtundvierzig Stunden für die polizeiliche Ermittlungsarbeit besonders wichtig waren.

Jetzt werde ich kaum Zeit haben für die beiden, dachte sie traurig. Zum Glück gab es Jonas, der mittags zu Hause sein und sich um ihre Gäste kümmern würde. Das hatte er versprochen. Sie versuchte ihn in der Klinik zu erreichen, aber er ging nicht ran. Wahrscheinlich operierte er gerade. Also hinterließ sie ihm die Nachricht auf der Mailbox, sie habe einen aktuellen Mordfall und sei jetzt auf dem Weg zum Bahnhof, um Sandra und Manuel abzuholen.

Paula eilte über den Ku’damm und den Adenauerplatz zurück in die Sybel, um ihren Autoschlüssel zu holen. Den Wagen hatte sie gestern einige Hundert Meter entfernt auf dem Stuttgarter Platz parken müssen, weil es in den benachbarten Straßen keine freien Plätze mehr gab.

Sandra hatte ihr eine SMS geschickt: »13.08 Uhr Hauptbahnhof. Freuen uns sehr auf Euch!«

Auf dem Stuttgarter Platz, den die Berliner liebevoll »Stutti« nennen, sah sie die Obdachlose schon von Weitem. Sie begegnete ihr regelmäßig beim Einkaufen. Die Frau, die um die sechzig sein mochte, streunte herum und überschüttete erstaunte Passanten mit einem unverständlichen Wortschwall. Dicke Tränensäcke verunstalteten ihr Gesicht ebenso wie die wirren verfilzten Haarsträhnen, die unter einem ausgebleichten roten Kopftuch hervorlugten. Ihre Züge waren von Alkohol, Nikotin und jahrelangen Entbehrungen gezeichnet. Sie trug einen ausgefransten grauen Mantel mit großen, verschiedenfarbigen Knöpfen und roch schlecht. Trotz allem konnte sie die Leute in dieser riesigen Stadt nicht wirklich erschrecken, sie fühlten sich nur ein wenig belästigt. Gelangweilt wandten sie den Blick ab, wenn die unglückliche Person auftauchte.

Im Januar hatte die Obdachlose Paula mehr als zwei Stunden lang dabei geholfen, ihr Auto freizuschaufeln, nachdem die Stadtverwaltung beschlossen hatte, nicht mehr zu streuen. Auch der Schnee wurde nicht geräumt, und so waren zahlreiche Autos in den Harsch- und Eisbergen einfach festgefroren. Paula hatte ihr ein gutes Trinkgeld für ihre Hilfe gegeben und zum Glück noch am selben Tag einen Platz in einer Mietgarage bis Anfang März gefunden.

Obgleich in den Hauptstadt-Zeitungen erboste Artikel über die Stadtverwaltung zu lesen waren, regten sich die Einheimischen erst wirklich auf, als für das Berliner Filmfest, die Berlinale, nur der Marlene-Dietrich-Platz vom Eis befreit wurde, damit die amerikanischen Stars trockenen Fußes in die Filmpremieren stöckeln konnten. Die Berliner hatten den ganzen Winter über mit dem ihnen eigenen Galgenhumor täglich über hundert Knochenbrüche und zahlreiche Unfälle zu ertragen.

Heute war die Obdachlose damit beschäftigt, einen Abfallkorb am Rand des Parkplatzes auf Brauchbares hin zu untersuchen. Sie hatte eine Plastiktüte dabei, in der bereits mehrere Flaschen klirrten. Als sie Paula bemerkte, winkte sie freundlich. Paula ging auf sie zu und drückte ihr ein Zweieurostück in die Hand. »Die Firma dankt«, sagte die Frau grinsend und wandte sich wieder dem Abfallbehälter zu.

Paula wählte den Weg über die B96. Auf der Fahrt zum Hauptbahnhof dachte sie darüber nach, wie cool, dreckig, lebendig und bunt Berlin war. Die Stadt war Heimat für sie, denn seit sie mit Jonas zusammen war, wusste sie, wie sich so etwas anfühlte. Sie lebte gern in Berlin, und zwar in dem Berlin, das sie nicht in den Hackeschen Höfen, im Reichstag oder im Borchardt fand, wo man den prominenten Friseuren, Schauspielern, Politikern und Journalisten beim Essen zuschauen konnte.

Ihre Einstellung zur Hauptstadt teilte Paula mit Jonas, der besonders die Mischung aus gesellschaftlichen, politischen, religiösen und ideologischen Gruppierungen, kurz gesagt: die Offenheit der Hauptstadt schätzte. Obwohl er als Beauftragter von »Ärzte der Welt« schon viele Städte gesehen hatte und es ihm schien, als hätte er sein halbes Leben nur in Hotelzimmern oder Apartments gewohnt. Jahrelang war er wie ein Nomade durch die Welt gezogen, von Krankenhaus zu Krankenhaus, von Operationssaal zu Operationssaal, von Kantine zu Kantine. Nun fühlte er sich in Berlin endlich angekommen.

Nach knapp anderthalb Kilometern nahm Paula die Ausfahrt links Richtung Invalidenstraße und war wenige Minuten später auf dem Parkgelände beim Europaplatz. Sie hatte noch eine gute Viertelstunde Zeit bis zur Ankunft des Zuges und kaufte ein paar Zeitschriften für sich – obwohl sie wusste, dass sie wahrscheinlich so schnell keine Zeit zum Lesen haben würde –, Schokoladenkekse für Manuel und Blumen für Sandra.

Während sie auf die Ankunft der beiden wartete, erinnerte sie sich wieder an die Zeit vor Manuels Geburt. Damals hatte Paula ihre Schwester eine Weile auf Distanz gehalten. Sandra war ihr mit ihrer Manie, alles zu psychologisieren, schwer auf die Nerven gegangen. Auch vor Paula hatte sie damit nicht haltgemacht, im Gegenteil. Ewig hatte Sandra an ihr herumanalysiert.

»Man muss ihre Schwester sein, wenn man Paula verstehen will. Sie ist total verschlossen!« Nach dieser Einführung hatte sie anderen dann erläutert, warum Paula zu viel arbeitete, sich so wenig Freude gönnte und ziemlich reserviert ihrer Familie gegenüber war: »Sie braucht das. Sie braucht diesen Abstand, und das ist überhaupt nicht böse gemeint. Ich nehme das auch nicht persönlich. «

Sandra hatte ein rührendes Übermaß an Verständnis für ihre Schwester, aber Paula hasste es, wenn sie damit anfing. Ihre Distanzlosigkeit war auch der Grund, warum sich Paula damals nur selten bei ihr meldete.

Eines Tages war Sandra überraschend bei ihr in Berlin aufgetaucht. Sie hatte sich von ihrem damaligen Freund Frank getrennt – oder er sich von ihr. Paula konnte sich nicht mehr genau an die Einzelheiten erinnern. Jedenfalls war Sandra zu diesem Zeitpunkt bereits schwanger. Zunächst sprach sie von Abtreibung, aber es war bald klar, dass sie das nicht über sich bringen würde. Paula riet ihr nur, alle Möglichkeiten gut zu bedenken. Ohne zu einem endgültigen Entschluss gekommen zu sein, reiste Sandra wieder ab. Im Dezember desselben Jahres brachte sie Manuel zur Welt. Seitdem hatten die Schwestern wieder engeren Kontakt. Frank zahlte großzügig für seinen Sohn und besuchte ihn alle zwei bis drei Monate. Öfter ging nicht, denn in Düsseldorf lebten seine Frau und seine anderen beiden Kinder. Das hatte er Sandra verschwiegen.

Die ersten beiden Jahre interessierte Paula sich nicht wirklich für ihren Neffen. Sie stand gerade vor einer Beförderung, arbeitete wie eine Besessene. Aber kurz nach seinem zweiten Geburtstag, als sie die Weihnachtstage bei ihrer Mutter im Westerwald verbrachte, nahm sie Manuel plötzlich als richtigen kleinen Menschen wahr. Er sagte tatsächlich »Tante« zu ihr, das erste Kind, das zutraulich auf ihrem Schoß saß und ihren Geschichten lauschte, um ihr dann einen dicken Kuss ins Gesicht zu drücken. Manuel war zu einem süßen Jungen herangewachsen, der erste einfache Sätze sprach und, während er mit seiner Plüschgiraffe – einem Geschenk von Paula – in der Wohnung herumspazierte, hoch und falsch vor sich hin trällerte. Wenn die Erwachsenen redeten, schwieg er meist und beobachtete sie mit ernsten Augen.

Jeden Abend las Paula ihm vor und war gerührt, wie mucksmäuschenstill das Kind in seinem neuen großen Bett lag. Die dunkelblauen Augen dabei weit geöffnet und der Blick so konzentriert, als könnte er die Geschichte an der Zimmerdecke in Bildern sehen.

Manchmal bemerkte Paula, die noch spät im Nachbarzimmer las, wie er nachts aufwachte, doch er rief nur selten nach seiner Mutter. Paula hörte ihn dann nebenan in einer ihr gänzlich unverständlichen Sprache mit seiner Giraffe plappern.

Seit jenem Weihnachtsfest besuchte Sandra ihre Schwester mehrmals im Jahr in Berlin. Es war nicht zu übersehen, dass der Kleine sehr an seiner Tante hing – und sie an ihm. Paula versuchte bei diesen Gelegenheiten immer, sich ein paar Tage freizunehmen oder wenigstens nicht bis in die Nacht zu arbeiten, um mit ihm zusammen sein zu können.

Der Zug aus Köln fuhr mit nur wenigen Minuten Verspätung ein. Die automatischen Türen öffneten sich, und Paula entdeckte die jüngere Schwester sofort. Ihr glattes hellblondes Haar trug sie neuerdings mit einem exakt geschnittenen Pony. Die beiden Schwestern hatten die gleichen blauen Augen, die mit dem gleichen, ein wenig spöttischen Blick ihre Umwelt betrachteten. Von Frauen wurde dieser Blick oft als Arroganz ausgelegt, während Männer sich häufig gerade davon angezogen fühlten. Sandra zog ihren großen roten Koffer, Manuel einen kleinen grünen hinter sich her.

Paula umarmte und küsste ihre Schwester, dann hob sie Manuel in die Luft. »Na, mein Süßer! Du bist ja groß geworden!«

Er schmatzte ihr einen feuchten Kuss auf die Wange. Der Kleine war jetzt sechs Jahre alt, sein blondes Haar kringelte sich in kurzen Locken in alle Himmelsrichtungen. Manuel selbst mochte seine Locken nicht und strich sie oft mit Spucke glatt. Aber Süßigkeiten liebte er und strahlte über das ganze Gesicht, als Paula ihm die Schokokekse reichte. Im Wagen bot er zunächst höflich seiner Mutter und dann Paula einen Keks an, bevor er sich selbst über die Packung hermachte. Ein aufmerksamer kleiner Gentleman.

Sandra erzählte vergnügt, was sie alles vorhatten in den beiden Berlin-Wochen. Sie erkundigte sich nach der Wetterprognose und fragte nach gemeinsamen Bekannten.

In bester Laune kamen sie in der Sybelstraße an, und Paula führte ihre beiden Gäste durch die neue Wohnung. Stolz verwies sie auf ihre Aussicht und die geräumigen Zimmer. Sandra war beeindruckt und lobte besonders den schönen Kamin. Manuel tollte herum und genoss es, über das dunkle Parkett zu schlittern, sich im Glasanbau die Nase an den Scheiben plattzudrücken und über den dicken Flor des Teppichs im Schlafzimmer zu rollen, den Paula eigentlich schon hatte ausmustern wollen.

Schließlich ließ Paula die beiden im Gästezimmer allein beim Auspacken. Jonas würde in wenigen Minuten nach Hause kommen und sich in seiner charmanten Art um beide kümmern, dachte sie erleichtert. Sie musste bald zurück zum Tatort und die Ermittlungen vorantreiben. Im Schlafzimmer klappte sie ihren Laptop auf, um schnell noch ein paar Mails zu beantworten, als sie Jonas’ Stimme hörte, wie er die Ankömmlinge begrüßte und ihnen gleich etwas zu trinken anbot. Sie selbst hatte das natürlich versäumt. Wenigstens hatte sie beim Einkaufen an den Eistee gedacht, den Manuel so gern trank, und gleich mehrere Packungen davon gekauft.

Dann kam Jonas zu ihr herein, küsste sie und stellte ihr fürsorglich eine Tasse Tee und ein paar Kekse auf den Schreibtisch. Erst jetzt merkte sie, wie groß ihr Hunger war. Sie trank den Tee und nahm die Kekse mit auf den Weg. Sie sollte am Abend noch genug zu essen bekommen. Es war ausgemacht, dass Jonas für alle kochen würde. Ein Jambalaya aus der Cajun-Küche, ein üppiges Reisgericht nach einem raffinierten Rezept mit Hühnerfleisch und Shrimps, das er aus New Orleans mitgebracht hatte und das Paula besonders liebte.

4

Auf dem Weg zurück zum Tatort rief Paula Tommi an, der im Produktionsbüro mit ersten Befragungen beschäftigt war. »Ich bin wieder auf dem Weg zum Set und werde noch ein paar Filmteamleute nach ihrem Verhältnis Lea Buckow befragen«, sagte Paula. »Was weißt du über die Angehörigen der Toten?«

Sie hörte Tommi mit Zetteln rascheln. »Es gibt einen Ehemann, Sascha Buckow, und Eltern, Anita und Arthur Gruenbaum.«

»Kinder?«

»Nein, keine Kinder.«

»Habt ihr schon Kontakt zu Buckow aufgenommen?«

»Nein, da warte ich auf deine Ansage.«

»Und zu den Eltern?«

»Auch nicht. Die leben in Alicante. Ich habe aber ihre spanische Mobilnummer.«

»Und weiter?«

»Sascha Buckow ist noch mit seiner Sekretärin auf der Autobahn von Hamburg nach Berlin unterwegs. Er hatte gestern eine Besprechung mit zwei Redakteuren beim Norddeutschen Rundfunk in Hamburg und war über Nacht im Atlantik-Hotel.«

»Wer sagt das?«

»Der Produktionsleiter Schaub.«

»Wann wird er in Berlin zurückerwartet?«

»Gegen halb fünf oder fünf. Er wird aber wohl nicht mehr ins Büro kommen.«

»Gut, dann fahren wir gemeinsam zu ihm nach Hause und überbringen ihm die Hiobsbotschaft persönlich.«

»Und ich setze meine Befragungen im Produktionsbüro fort?«, wollte Tommi wissen.

»Ja. Und kann Herbert sich bitte um die Verbindungsdaten von Frau Buckows Handy kümmern?«

»Ist schon in Arbeit.«

In der Eisenzahnstraße standen noch zwei Lkw mit Beleuchtungsmaterial und Tontechnik sowie diverse Autos vom Filmteam. Eine riesige Kamera samt Unterbau war bereits ausgeladen und auf Schienen gestellt worden, und die Techniker eilten geschäftig über den Bürgersteig zum Drehort und wieder zurück. Es war zwar kein offizieller Drehtag mehr, aber die Teamleute sollten sich für Befragungen zur Verfügung halten. Niemand wollte an diesem Tag nach Hause gehen.

Draußen vor dem Catering-Wagen standen mehrere Leute vom Filmteam und aßen Brötchen von dem provisorischen Büfett. Sie hielten Pappbecher mit Getränken in den Händen. Hinter dem Wagen waren zwei Tische mit Bänken aufgebaut, an denen ebenfalls Teamleute saßen. Das Wetter hielt sich gut. Es war sonnig, und ein leichter, warmer Wind wehte aus Osten.

»Ihr Wohnwagen steht da drüben!«, rief die Aufnahmeleiterin in Paulas Richtung und eilte in die Restaurantküche. »Schauen Sie sich gleich mal an, ob es so recht ist.«

Paula stieg die wenigen Stufen zum Wohnwagen hinauf und öffnete die klemmende Tür mit einem kräftigen Ruck. Muffige Luft schlug ihr aus dem hässlich in dunklen Farben möblierten Raum entgegen. Die Heizung lief auf vollen Touren. Auf der Eckbank lagen Kleidungsstücke verstreut. Paula schob Röcke, Blusen und Hosen beiseite und drehte die Heizung herunter. Dann setzte sie sich an den eingebauten Tisch und zog ihren Notizblock hervor.

Ein schlanker, relativ kleiner Mann mit einem kurzen dunkelbraunen Bürstenhaarschnitt kam lächelnd durch die Tür. Er trug knallenge Jeans, ein dunkelrotes Shirt und einen beigen Kaschmirschal.

Die Assistentin von Verena Köster, deren Namen Paula noch nicht kannte, eine junge Frau mit pechschwarz gefärbtem Haar, streckte hinter ihm den Kopf herein. »Das ist Felix Kleist, unser Hauptdarsteller. Aber den kennen Sie ja sicher.«

Paula schaute den Mann an. Sie kannte ihn nicht.

»Wenn Sie etwas brauchen – ich warte vor der Tür.«

Zu dem Schauspieler gewandt, der ihr gegenüber Platz genommen hatte, sagte sie: »Ziemlich warm hier drin, was?«

Der zuckte die Achseln. »Die überheizen die Wohnwagen immer«, sagte er entschuldigend und legte seine auffallend schönen Hände mit den manikürten Fingernägeln vor ihr auf den Tisch. »Angst, dass wir uns erkälten. Wegen der Stimme und so. Und eine Klimaanlage gibt es nicht, tut mir leid.« Ernst sah er Paula an. »Schreckliche Geschichte. Die arme Lea. Weiß man schon Genaueres?«

»Wir ermitteln in alle Richtungen«, sagte Paula knapp. »Kannten Sie Lea Buckow gut?«

»Gut? Was heißt gut? Sehr oft habe ich nicht für sie gedreht. Für meinen Geschmack allerdings oft genug.«

»Was heißt das?«