Unser Leben, unsere Wahl? - Manije Grayli - E-Book

Unser Leben, unsere Wahl? E-Book

Manije Grayli

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Beschreibung

Alles im Leben hat seinen Sinn. Manchmal verstehen wir im Moment des Geschehens nicht, wissen nicht welcher Sinn dahinter steckt, warum es so ist und nicht anders. Wenn alles anders läuft als wir es uns wünschen, kann dies sehr schmerzhaft für uns sein. Manchmal haben wir Prüfungen zu bestehen, durch Leiden und Trübsal, die für unsere geistige Entwicklung notwendig sind, um "den Rost der Selbstsucht vom Spiegel des Herzen zu beseitigen und die Sonne der Wahrheit darin strahlen zu lassen." (Bahá'í Schriften)

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Seitenzahl: 395

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Dieses Buch widme ich meinen lieben Kindern, die mit ihrem Dasein mein Leben bereichert und mich beim Schreiben dieses Buches liebevoll unterstützt haben.

*****

Ich bedanke mich bei meinen lieben Freunden Dorothea Erbslöh, Brigitte Deil, Ilka Trinckert und Alexander Hoernigk für ihre wertvolle Mithilfe.

*****

Mein besonderer Dank geht an Julia von Niebelschütz für ihren liebevollen Einsatz.

*****

Unser Leben, unsere Wahl?

Manije Grayli

© 2014 Manije Grayli

1. Auflage

Umschlaggestaltung, Klappentext: Manije Grayli Layout: Alexander Hoernigk

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN: 978-3-8495-8196-1

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Kapitel 1 - Meine Kindheit

Kapitel 2 - Meine Jugend und persönliche Schicksalsschläge

Kapitel 3 – Meine Ehe

Kapitel 4 - Golfkrieg

Kapitel 5 - Über mich

Vorwort

Wenn ich zurückblicke auf mein Leben, sehe ich ein Leben, welches, wie bei einem Puzzle, aus mehreren Teilstücken zusammengesetzt ist - aus Entbehrungen, Aufopferung, dramatischen Momenten und Umbrüchen. Es hat mich so geformt wie ich jetzt bin.

Als Kind und auch später als Jugendliche dachte ich:„Ich kann mein Leben so formen, wie ich es will und kann alle meine Pläne und Träume verwirklichen, wie ich es möchte. Was könnte mich daran hindern es zu tun?“, fragte ich mich. Ich war hübsch, mit einem schönen Körper, intelligent, ehrgeizig, mutig, fleißig, offen, fröhlich, gottgläubig und verfügte über einen großen Gerechtigkeitssinn.

Ich war wissbegierig, aber auch Kritikerin, Revolutionärin; ich stellte alles und jedes in Frage.Ich wollte immer alles von Grund auf verstehen. Wenn ich etwas nicht verstanden hatte, forschte ich so lange nach bis ich es verstehen konnte.Ich war eine Einzelgängerin, aber nicht stur.

Soweit ich durfte, habe ich nicht auf die anderen, sondern auf meine innere Stimme gehört und entsprechend gehandelt. Wenn es möglich war und ich durfte, habe ich sogar auf meine Eltern nicht so viel gehört. Ich dachte, dass ich fast alle Mittel habe, um meine Ziele erreichen zu können. Es schien alles für mich selbstverständlich - wie ich war und aussah. Ich dachte immer: „Gott hat es mir gegeben und kann es genauso auch nehmen.“ Ich hatte immer dieses persische Sprichwort im Kopf gehabt, das sagt: „Sei nicht stolz auf dein Vermögen, es kann über Nacht verloren gehen. Sei nicht stolz auf dein Aussehen, es kann durch ein Fieber verloren gehen.“ Das heißt, man soll nie stolz sein auf etwas, was man besitzt, denn man kann es sehr schnell verlieren ohne es vorher zu wissen oder zu wollen.

In den Situationen, in denen ich etwas besser konnte und die anderen nicht, taten sie mir leid. Es machte mich traurig und ich versuchte, wo ich konnte und es möglich war, ihnen zu helfen. Bei Tests im Prüfungsaal half ich z.B. Mitschülern, soweit ich konnte. Wenn sie hinter mir saßen, legte ich mein Blatt mit den Antworten so hin, dass sie abschreiben konnten.

Meiner Mutter erzählte ich immer mal wieder mit Traurigkeit Geschehnisse, die mich bedrückten. Sie sagte daraufhin immer: „Ach, mein Kind! Schön sein oder nicht schön sein; intelligent sein oder nicht intelligent sein, das ist alles nicht so wichtig. Sie werden auch ihren Weg finden.“

Sie klopfte sich mit dem Zeigefinger auf die Stirn und sagte: „Hier muss es schön sein. Hier ist, was dein Schicksal bestimmt.“

Ich dachte immer, dass ich verstanden hätte, was sie meinte. Aber später, viel später, als ich auf mein Leben zurückblickte und darüber nachdachte, begriff ich erst, was sie „wirklich“ meinte. Ich habe hier bewusst einige meiner Eigenschaften beschrieben, um Ihnen als Leser aufzuzeigen, dass ich trotz allem, was ich besaß, nichts im Leben geschenkt bekam und viele steinige Wege gehen musste. Und dass ich vieles nicht erreicht habe, was ich mir damals vorgenommen hatte. Es ist alles anders gekommen als ich dachte und geplant habe. Wie es dazu kam und was geschah, werden Sie in den nächsten Kapiteln erfahren können.

Trotzdem frage ich mich, in welchen Punkten ich Fehler gemacht habe.

Oder habe ich alles von Anfang an falsch gemacht?

Oder ist das der Sinn des Lebens?

Denn wenn ich über mein Leben nachdenke, ist der einzige rote Faden, der geblieben ist, der durchgezogen ist, meine Gottgläubigkeit und mein Vertrauen in Ihn, welches durch die Jahre noch verstärkt und vertieft wurde. Ich weiß, dass ich nur durch diesen Glauben, mein Vertrauen und meinen Optimismus überhaupt überleben, immer noch für meine Ideale und Rechte kämpfen und mich behaupten konnte.

Kapitel 1

Meine Kindheit:

Im Jahr 1950 wurde ich in eine Familie der gehobenen Mittelschicht geboren. Ein „Mittelkind“, mit einer drei Jahre älteren Schwester, und einem fünf Jahre jüngeren Bruder. Ich möchte aber gerne die Geschichte noch ein Stück vor meiner Kindheit anfangen, als meine Mutter mich mit acht oder achteinhalb Monaten noch im Bauch trug. Sie erzählte mir diese Geschichte viel später als ich erwachsen war. Es geschah an einem Nachmittag im Herbst, meine Mutter ging zur Metzgerei. Unmittelbar zwischen der Theke und der Stelle, wo meine Mutter stand, war hinter ihr ein Lüftungsloch, das normalerweise immer bedeckt war. Als sie die Metzgerei betrat und dort vorbei ging war das Loch auch noch zu, darum hatte sie sich darüber gar keine Gedanken gemacht. Meine Mutter trat dann von der Theke ein oder zwei Schritte zurück, stürze durch das Loch in den Keller und landete zwischen zwei langen und spitzen Fleischhaken. Dort lag sie ungefähr 20 bis 25 Minuten bewusstlos in diesem kalten und dunklen Keller. Als sie zu sich kam, fasste sie als erstes ihren Bauch an, um zu prüfen, ob das Kind noch lebte oder sich bewegte. Es hatte sich in eine Ecke des Bauches zurückgezogen und bewegte sich schwach. Es war dunkel. Das Lüftungsloch war nicht mehr auf, denn der Deckel wurde wieder zugemacht. Meine Mutter rieb die Hände an ihrem Gesicht und Körper, stand auf und nahm langsam die Treppe nach oben.Sie war sehr schwach, erzählte sie mir. Gott sei Dank, die Kellertür war offen. Der Metzger hatte keine Ahnung von dem, was passiert war und schaute meine Mutter mit großen Augen an und fragte, ob es ihr gut ging und was passiert sei. Meine Mutter erzählte die Geschichte. Der Metzger war außer sich und schaute nach dem Lüftungsloch. „Es ist ja zu!“, sagte er zu meiner Mutter. Meine Mutter sagte: „Das sehe ich auch, aber vorhin war es offen, darum bin ich ja dort hineingestürzt“. Der Metzger schimpfte und fragte laut, wer es war, wer das Kellerloch aufgemacht hatte, jetzt in dieser Zeit, wenn die Leute noch zum Einkaufen kommen. Eine hochschwangere Frau und ihr Kind hätten sterben können. „Was würde ich denn machen, wenn das passiert wäre“, redete er laut mit sich und fragte meine Mutter, ob es ihr gut gehe oder ob sie einen Arzt bräuchte.

Meine Mutter sagte, es geht, sie werde später zum Arzt gehen, aber sie würde wissen wollen, wer es war. „Ich möchte denjenigen sehen, der es getan hat.“ Der Metzger wusste nicht, wer von den Arbeitern an dieser Situation schuld war. An diesem Tag wurde Fleisch geliefert, und es kommen nicht immer die gleichen Arbeiter. Außerdem würde keiner zugeben, dass er es war. Egal mit welcher Absicht, es wurde getan. Nun musste herausgefunden werden, wer es war.

Meine Mutter erzählte mir weiter, dass sie den Metzger seit Jahren kannte, er war ein guter Mann und ganz sicher hatte er nichts damit zu tun gehabt. Darum wollte sie auch nicht die Polizei benachrichtigen. Sie sagte: „Gott sei dank, war uns ja nichts weiter passiert.“ Darum hatte sie es dabei belassen. Aber trotzdem wollte sie, dass derjenige gefunden und zur Rede gestellt wird, und zwar von Angesicht zu Angesicht. Dass er sie sieht und sich schämt. Nicht, dass er einfach davon kommt, ohne Reue.

Der Metzger versprach meiner Mutter, dass er der Sache nachgeht und den Schuldigen finden würde, denn er sollte seine Strafe bekommen. Und war sehr dankbar, dass meine Mutter die Polizei nicht benachrichtigt hatte. Nach dem ärztlichen Untersuchungen war alles in Ordnung, sie und auch das Kind (ich). Da sagte ich „Hm“, ich sollte nicht sterben. Er wollte, dass ich zur Welt komme.“ Von den neun Kindern, mit denen meine Mutter im Laufe ihrer Ehe schwanger gewesen war, sind nur wir drei geblieben. Sechs ihrer Kinder hatte sie in den letzten Monaten ihrer Schwangerschaft oder kurz nach der Geburt verloren, oft Jungen. Deshalb war sie in der damaligen Situation so froh und dankbar, dass ihr Kind noch lebte, vor allem dass es gesund war. Nach ein paar Wochen war es soweit, die Wehen setzten in größeren Abständen ein. Am Tag meiner Geburt, bevor mein Vater zur Arbeit ging, hatten sie ausgemacht, dass man ihn rechtzeitig benachrichtigen solle, wenn es so weit wäre, damit er dabei sein und ihr helfen könnte, falls es nötig wäre.

Es war am Nachmittag, die Abstände wurden kürzer, mein Vater wurde zu spät benachrichtigt und konnte nicht mehr rechtzeitig kommen. Meine Großmutter mütterlicherseits war da. Die Wehen nahmen zu, das Kind war in der richtigen Position und hätte jeden Moment zur Welt kommen müssen. Es kam aber nicht, weil meine Mutter keine Kraft mehr hatte zu pressen und alles zu lang gedauert hatte. Sie konnte es alleine nicht schaffen. Doch es gab keine Hilfe, keinen Arzt, keine Hebamme. Es war auch schon zu spät für das Krankenhaus, denn es hätte schon unterwegs im Taxi passieren können. Sie mussten jetzt schnell handeln, denn Mutter und Kind waren beide in Gefahr. Es bestand Erstickungsgefahr für das Kind. Sie ließen eine Hebamme kommen, mit ihrer Hilfe wurde ich schließlich zur Welt gebracht. Ich war blau und konnte nicht atmen, weil es so lang gedauert hatte. Mit einem Klaps auf meinen Po und einem Schrei von mir wurde ich zum Leben gerufen. Erleichtert davon, dass alles am Ende doch gut gelaufen war, sagte die Hebamme zu meiner Mutter: „So ein schönes Mädchen! Es wäre schade, wenn sie nicht überlebt hätte.“ Kurz nach der Geburt war mein Vater auch da.

Zum zweiten mal wurde ich gerettet. Manchmal in späteren Zeiten, wenn es mir sehr schlecht ging, fragte ich Gott: „Warum hast Du mich nicht im Bauch meiner Mutter sterben lassen? Warum sollte ich geboren werden?“ Es wäre für mich einfacher gewesen, wenn ich nicht so viel Leid hätte ertragen müssen. Sechs Tage später wurde auf den Wunsch meines Vaters meine Geburt groß gefeiert, mit Familie, Freunden und ein paar Nachbarn. Meine Mutter erzählte mir, meine Schwester sei überglücklich gewesen, dass ihr Wunsch, eine Schwester zu haben, in Erfüllung gegangen war. Und sie beschäftigte sich ab diesem Zeitpunkt mehr mit mir als mit anderen Nachbarskindern oder ihrer Freundin, mit der sie bisher meistens zusammen gespielt hatte.

Wir wohnten mitten in Teheran, in einer großen Wohnung, in der zweiten Etage mit einem großen Balkon. Der Boden im Hof war mit großen Steinen verziert, wie es damals als schön betrachtet wurde. Unser Hof wurde gerade renoviert, und große Steine lagen am Boden. Ich war neun Monate alt und spielte auf dem Balkon mit meiner Schwester und anderen Kindern. Der Balkon war vergittert mit Holzstangen, aber genau in der Mitte war eine Holzstange locker und man konnte sie hin - und herschieben, dadurch war an dieser Stelle das Loch größer. Es war ein heißer Sommertag am frühen Nachmittag. Wir hatten ein Kindermädchen, das sowohl für uns da war, aber auch im Haushalt meiner Mutter half, wenn sie nicht gerade mit uns beschäftigt war. Sie wohnte auch bei Uns. Meine Mutter erzählte mir, dass sie und das Kindermädchen gerade beide in der Wohnung beschäftigt waren, als sie plötzlich das Geschrei meiner Schwester hörten: „Maman, Maman, Salime (ein Nachbareskind), hat Manije runter fallen lassen!“ Meine Mutter war zutiefst erschrocken und fragte: „Was? Was hast du gesagt?“ und rannte die Treppe hinunter zum Hof. Sie murmelte in sich: „Lieber Gott, lass sie leben, nimm sie nicht weg von mir!“ Sie fand mich zwischen zwei großen Steinen und dachte, ich sei tot.

Sie hob mich auf und schaute sofort nach meinem Puls. Ja, Puls war noch da, aber sehr schwach. Ich lebte noch, aber war ich bewusstlos. Nach ungefähr 25 Minuten erwachte ich aus der Bewusstlosigkeit. Der Arzt sagte: „Es ist ein Wunder geschehen!“ Außer ein paar kleinen Kratzern an der Stirn war ich unverletzt geblieben. Zum dritten mal wurde ich gerettet. Ich musste und durfte weiterleben. Eine höhere Macht hatte mich gerettet. Salime, die Freundin meiner Schwester, war ein oder zwei Jahre älter als sie. Meine Schwester erzählte meiner Mutter später auf ihre Frage, wie das passiert sei: „Manije saß vor dem Gitter, ich spielte mit ihr, auf einmal kam Salime und schubste sie herunter.“ Meine Mutter meinte, sie war neidisch auf mich, weil meine Schwester die meiste Zeit nur mit mir spielte seit ich da war und sie hätte sich vernachlässigt gefühlt. Meine Schwester bestätigte es und sagte: „Stimmt. Salime sagt das auch immer: „Seitdem deine Schwester da ist, spielst du nicht mehr mit mir und nur noch mit ihr.“ Ich sagte: „Gott sei Dank, dass es gut gegangen ist und ich noch lebte, sonst hätte das arme Mädchen lebenslang darunter leiden müssen, wenn es passiert wäre. Sie war eben noch ein Kind. Kinder denken nicht wie Erwachsene: Was würde passieren, wenn ich das tue oder welche Konsequenzen könnte mein Handeln haben? Oder, wie ich mich verhalten soll, damit meine Freundin wieder mehr mit mir spielt. Sie tun einfach, was sie denken. Sie wollte mich loswerden, so hatte sie reagiert ohne zu denken. Außerdem war es auch ein Zufall, dass ich grade da saß, wo das Gitter locker war.

Die Liebe meines Vaters zu mir

Später kam mein Vater nach Hause, ich war nicht wie immer da wo ich normalerweise sein sollte, wenn er kam. Dass er mich umarmen und küssen könnte, bevor er sich umzog. „Wo ist Manije?“, fragte er meiner Mutter. Meine Mutter hatte meiner Schwester verboten, ihm von dem Vorfall sofort zu erzählen, was Kinder gewöhnlich in solchen Fällen tun. Sie wollte erst, dass er sich ein bisschen ausruht nach der Arbeit, und dann langsam, langsam davon erzählen.

Also antwortete meine Mutter: „Sie schläft.“ „Sie schläft? Jetzt zu dieser Zeit? Sie schläft sonst nie zu dieser Zeit!“ „Sie war heute müde“, antwortete meine Mutter. „Setz dich erst einmal hin, sie wird auch gleich wach.“

Als hätte er etwas geahnt, sagte er: „Nein ich habe keine Ruhe, ich muss erst nach ihr schauen!“ Er kam herein und sah den Verband an meiner Stirn, kniete sich vor mein Bett und fing an zu weinen. Mit gebrochener Stimme fragte er meine Mutter, was passiert sei. Sie erzählte kurz die Geschichte. Er sagte schluchzend: „Was hätte ich bloß ohne sie gemacht, wenn sie gestorben Wäre?“. Meine Mutter beruhigte ihn: „Sie lebt ja, Gott sei Dank, und sie ist gesund, außer einem kleinen Kratzer an der Stirn ist ihr nichts passiert.“Aus beruflichen Gründen meines Vaters zogen wir alle paar Jahre in eine andere Stadt um. Er war bereits ein leitender Angestellter seiner Firma in Teheran. Als er in eine andere Stadt versetzt wurde, erhielt er einen noch höheren Posten und ein Doppelt so großes Gehalt wie in Teheran. In der Provinz Mazandaran war er Direktor eines Industriebetriebs. Meine Mutter hatte ihren Beruf als Angestellte nach der Heirat auf eigenen Wunsch aufgegeben, und hatte sich nur noch um uns gekümmert. Später bereute sie diese Entscheidung, da sie so kein eigenes Geld mehr verdienen konnte.

Ich war drei Jahre alt, als wir von Tehran in die Provinz Mazandaran umzogen. Ein Jahr waren wir in jener Stadt, danach zogen wir um in eine andere innerhalb der Provinz. Es war schön, wir wohnten meistens in einem großen Haus mit großem Garten. Ein Garten voller verschieden duftender Blumen, die meisten davon waren Rosen mit verschiedenen Farben, Feuerrot, Gelb, Rosa, Weiß. Wirklich in allen Farben. Sie dufteten schon morgens mit den ersten Sonnenstrahlen, bis spät in den Nachmittag hinein. Es war ein Traum. Ich liebte diesen Garten und meistens spazierte ich darin, den Gartenweg hoch und runter, zwischen den Blumenreihen und atmete dabei tief ein. Noch immer sehe ich den Garten vor meinem geistigen Auge und genieße diesen Anblick. Wenn ich nicht mit meiner Schwester spielte, dann war ich im Garten.

Manchmal fragten mich die Leute, die vorbeigingen, ob ich ihnen eine Blumen schenken würde? Ich sagte: „Ja“ und fragte: „Welche?“ Sie zeigten auf sie mit dem Zeigefinger oder sagten mir die Farbe der Blume, und ich pflückte sie und gab sie ihnen. Eines Tages beschwerte sich unser Gärtner bei meiner Mutter. Es seien so viele Blumen gepflückt worden, und es sei nicht mehr so schön. Meine Mutter wusste, dass ich es war, weil ich sehr oft im Garten war. Trotzdem fragte sie mich, ob ich sie pflückte. Ich sagte: „Ja, die Leute wollen sie und ich gebe sie ihnen.“ Sie sagte: „Hör zu! Tagtäglich gehen so viele Leute hier vorbei, wenn du jedem, der fragt, eine Blume schenken würdest, dann gibt es bald keine Blumen mehr im Garten. Dann ist der Garten nicht mehr schön. Darum hat sich der Gärtner beschwert. Der bemüht sich und pflegt sie so schön, damit solche schöne Blumen wachsen. Und wenn er sieht, dass alle oder mehrere gepflückt und der Garten leer ist, dann wird er traurig.“ Von dem Tag an habe ich es auch nicht mehr getan. Und wenn die Leute mich fragten, sagte ich: „Das geht nicht, ich darf nicht.“

Die schönen Momente im Leben sind meistens kurz, aber kraftvoll, damit wir die schönen Erinnerungen mit uns nehmen und mit Vertrauen und Hoffnung weitergehen können. Ein halbes Jahr waren wir nun da, als meine Schwester eingeschult wurde. Immer wenn sie nach Hause kam, nach dem Essen, haben wir erst einmal ein bisschen gespielt, bevor sie mit ihren Schulhausaufgaben anfing. Öfters saß ich neben ihr und wollte wie sie lernen, lesen und schreiben. Meistens bekam ich einen Zettel und versuchte von ihrem Schulbuch abzuschreiben. Aber manchmal sagte meine Mutter: „Du hast noch viel Zeit zur Schule zu gehen, geh doch spielen, sie muss jetzt lernen.“ So ging unser Alltag weiter, fast ruhig und ohne große Probleme.

Irgendwann merkte ich, dass mein Vater nicht immer nach Hause kam, aber ich wusste nicht warum. Ich fragte meine Mutter, wo er sei. Sie sagte, sie wisse es auch nicht, bestimmt bei seinen Freunden. Immer mal wieder hörte ich von ihr, dass sie unzufrieden war und über meinen Vater klagte, dass er trinkt und spielt. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass er zu Hause getrunken hatte, nie. Aber ich erinnere mich sehr gut, dass ich ihn nicht mehr regelmäßig sah. Er kam nicht mehr jeden Tag nach Hause und ich wusste nicht warum. Dann wurde es mir klar. Weil er meistens mit seinen Freunden war und auch dort übernachtete, und sie bis spät spielten. Das hatte ich von meiner Mutter erzählt bekommen. Zu Hause hatte ich ihn nie betrunken gesehen. Wenn er nach Hause kam, war er normal und roch auch nicht nach Alkohol, außer einem einzigen mal. Und dieses vergesse ich nicht.

Es war spät am Nachmittag, ich war mit meiner Mutter im Wohnzimmer, als er hereinkam. Er wollte mich wie immer wenn er kam, umarmen und küssen. Diesmal war es anderes, er war betrunken. Er sagte zu mir mit betrunkener Stimme: „Meine Süße, komm zu Baba und gib mir einen Kuss!“ Ich weigerte mich mit einem Kopfschütteln, und nahm ein bisschen Abstand von ihm. Er kam näher und wiederholte den vorigen Satz. Meine Mutter rief immer wieder dazwischen: „Lass sie, sie will jetzt nicht.“ Er war sehr nah an mir und versuchte mich zu fangen. Ich schrie: „Nein, nein ich will nicht.“ In diesem Moment nahm meine Mutter mich mit einem Griff in den Arm und schubste ihn leicht mit der anderen Hand zur Seite. Er war so betrunken, dass er zur Boden fiel und gleich einschlief. Am nächsten Tag kam er vorsichtig zu mir und Entschuldigte sich, dass er mir gestern Angst eingejagt hatte und versprach mir, dass es nie wieder passieren würde.Tatsächlich hatte ich ihn nie wieder in solch einem Zustand gesehen.

Finanziell ging es uns nicht mehr so gut, ich hörte meine Mutter immer wieder wie sie über die Situation klagte, dass sie kein Geld hatte und nicht wusste, wie es weitergehen sollte. Er machte sich rar und kam nur noch alle zwei oder drei Tage nach Hause. Meine Mutter hatte öfters gesundheitliche Probleme, auch früher schon. In den fünfziger Jahren allgemein waren sich die Menschen im Iran der gesundheitlichen Vorteile des Sportes noch nicht so bewusst. Natürlich gibt es immer welche, die ihrer Zeit voraus sind, und das gab es auch damals im Iran. Aber allgemein war dies nicht der Fall gewesen. Ernährung war wichtig und wurde auch viel bewusster wahrgenommen. Die Ernährungsmethode nach Avicenna, dem persischen Arzt, der von 980-1037 gelebt hatte, war und ist immer noch, bewusst oder unbewusst in unseren Köpfen vorhanden und wird bei der Zubereitung einer Mahlzeit beachtet. Bei uns zu Hause war es genauso. Zum Beispiel welches Gemüse oder Fleisch „warm“ und „trocken“ oder „kalt“ und „trocken“ ist, und wie am besten gekocht werden sollte oder was mit was gemischt werden muss, damit die Zusammensetzung für die Familie geeignet ist und so weiter. Das lernt man in der Familie und wie schon erwähnt, man macht unbewusst das Gleiche bei der eigenen Familie später. Und so geht es von einer Generationen zur nächsten. Gott sei dank, denn Ernährung ist auch sehr wichtig. Und sie richtig zu beherrschen ist schon eine Kunst.

Aber am Sport herrschte nicht so großes Interesse. Ich hatte meine Mutter auch nie Sport treiben sehen. Ich weiß es nicht, vielleicht in ihrer Jugend, aber davon hatte sie mir jedenfalls nichts erzählt. Am häufigsten hatte sie Rückenschmerzen und in dieser Zeit nahmen sie zu. Sie nahm Medikamente dagegen, doch manchmal half eine Tablette nicht richtig und sie musste mehr nehmen. Das Leben ging so weiter. Die Schule meiner Schwester war nicht so weit von unserem Haus entfernt, trotzdem begleiteten meine Mutter und ich sie meist dahin und holten sie später wieder ab. An einem Tag ging es meiner Mutter nicht so gut und sie kam mit anderen Kindern nach Hause. Meine Mutter klagte über ihre starken Rückenschmerzen und dass sie heute sogar mehr Medikamente genommen hatte als sonst. Aber es hatte ihr nicht genutzt, und die Schmerzen hörten nicht auf. Wir waren unruhig und besorgt um sie, mein Vater war nicht zu Hause. Sie wusste meistens wo er spielte und normalerweise schickte sie jemanden nach ihm, wenn sie etwas brauchte. Aber diesmal tat sie es nicht und dachte, es würde wieder besser werden. Sie wälzte sich mit dem Rücken auf dem Boden oder rieb ihn an einer scharfen Kante.

Besorgt und traurig gingen meine Schwester und ich schlafen. Irgendwann, mitten in der Nacht, weckte sie meine Schwester auf. Sie sagte, dass meine Schwester mit mir zu unserem Hausarzt gehen und ihn zu uns holen sollten. Wir hatten einen sehr, sehr netten und sympathischen Hausarzt, der auch mit uns befreundet war. Ich kann mich noch immer sehr gut an ihn und seinen Duft erinnern. Er mochte mich sehr und egal wo er mich sah, hob er mich hoch und drückte und küsste mich. Ich mochte ihn auch, aber ich wollte nicht von ihm geküsst werden, nicht nur von ihm nicht, sondern von niemandem, außer von meinen Eltern. Und wenn es doch einmal dazu kam, machte ich sofort mit meiner Hand die Stelle mehrmals sauber. Er fand es süß, lachte und wiederholte es. Es ärgerte mich. Deshalb rannte ich jedes Mal weg, wenn ich ihn aus der Entfernung sah. Aber mit meinen kleinen Füßen kam ich nicht so weit und er kriegte mich. Ich erinnere mich sehr positiv an ihn und habe ihn noch vor meinen geistigen Augen. Sein Gesicht und Lächeln sehe ich und seinen Duft rieche ich noch.

Jedenfalls, in dieser schrecklichen Nacht, weckte mich meine Schwester auf und sagte kurz: „Maman geht es schlecht, wir müssen den Arzt holen!“ Zu zweit mit einer Laterne liefen wir los. Der Arzt wohnte ungefähr 10 Minuten zu Fuß entfernt von unserem Haus, trotzdem hatten wir Angst. Es war überall dunkel. Wir wohnten in einem Haus, das etwas abseits von der Hauptstraße lag. Wir mussten bis auf die Hauptstraße über einen Weg laufen, der nicht so gut beleuchtet war wie die Hauptstraße. Wir hatten Angst vor streunenden Hunden, die auf der Straße schliefen. Und Angst vor fremden Leuten, welche vielleicht auf der Straße wären.

Meine Schwester hielt mit einer Hand die Laterne und mit der anderen Hand meine. Wir waren beide ruhig, aber wachsam, wir beobachteten unsere Umgebung, bei jedem merkwürdigen Schatten oder Geräusch sahen wir uns um, ob jemand da wäre. Gott sei Dank, kamen wir ohne jeglichen Zwischenfall an. Der Arzt wohnte auf der Hauptstraße. Meine Schwester klingelte, nach einer Weile ging das Licht an. „Wer ist da?“, fragte er durch das geschlossene Fenster, welches auf der von der Straße zugewandten Seite war. „Oh Gott sei Dank, er ist zu Hause“, sagten wir. Meine Schwester meldete sich mit ihren Vornamen. Er hatte sie erkannt und sagte: „Ich komme sofort!“. Er kam auch schnell zur Tür, in einem Hausmantel bekleidet: „Kommt rein!“, sagte er, wir gingen ins Wohnzimmer. Er fragte uns besorgt: „Was ist passiert? Warum hat man euch zu dieser Zeit alleine rausgeschickt?“ Meine Schwester sagte, dass es unserer Mutter nicht gut geht. Er fragte nach unserem Vater und ob er denn nicht zu hause sei. Sie verneinte. „Setzt euch“, sagte er, „Ich komme gleich!“ Er fragte meine Schwester: „Weißt du was sie hat?“„Ja, sie kann nicht gut atmen“, antwortete meine Schwester. Er streichelte uns und sagte: „Keine Angst, wir gehen sofort zu ihr, nur eine Sekunde. Ich ziehe mich schnell um und hole die Sachen, die ich brauche, dann können wir losgehen.“

Er kam schnell mit seinem Medizinkoffer. Er trug mich auf dem Arm, und mit der anderen Hand hielt er seinen Koffer und die Hand meiner Schwester. Da waren wir wieder froh, dass er da war. Erstens waren wir nicht mehr allein, zweitens war er Arzt und konnte unserer Mutter helfen.Wir gaben ihm den Hausschlüssel. Er schloss die Tür auf und wir rannten mit ihm zu unserer Mutter. Es ging ihr sehr schlecht. Er stellte nach einigen Untersuchungen fest, dass es sich um eine Überdosierung handelte. Sie hätte zu viele Schmerzmittel genommen, meinte er und sagte: „Gott sei Dank, dass sie noch lebt!“ Ich weiß nicht mehr, was er gemacht hat, aber er blieb so lange, bis es ihr besser ging. Bevor er ging, sagte er zu meiner Mutter, dass sie keine Medikamente mehr nehmen soll und er käme am nächsten Tag wieder, um sie zu untersuchen. Dank Gott war die Gefahr vorbei und sie sollte sich ausruhen. Am nächsten Tag besuchte er wieder meine Mutter und gab ihr die nötigen Medikamente. Nach ein paar Tagen ging es meiner Mutter wieder gut.

Inzwischen war mein Vater auch wieder da und bedankte sich bei unserem Hausarzt. Das sind die Momente oder Erinnerungen, die man nicht vergisst. Wie auch die guten Momente. Sie verblassen jedoch mit den Jahren und verlieren ihre Kraft. Manchmal später, wenn man über die eine oder andere Situation nachdenkt, dann wundert man sich, mit welcher Kraft man sie damals gemeistert hat und dass man dazu wohl nicht in der Lage gewesen wäre, wenn man vorher gewusst hätte, was geschieht. Schon vor lauter Angst würde man denken: „Oh, das kann ich nicht!“ und man würde versagen.

Irgendwann zogen wir in einen anderen Stadtteil, näher an der Küste des Kaspischen Meers, in ein großes Haus mit großem Hof und Wiese. Hinter dem Haus war der Strand, nur ungefähr fünf bis zehn Minuten entfernt. Inzwischen hatten wir einen Bruder und einen großen Hund. Im Sommer waren wir öfters am Meer mit unserem Hund und hatten großen Spaß daran an den Küsten entlang zu rennen oder zu dritt ins Wasser zu gehen. Sandige Hügel trennten unser Haus vom Meer. Im Sommer rollten wir den Sandhügel hinunter und der Hund lief mit uns hoch und runter. Im Winter war es weniger schön, besonders wenn es stürmisch war. Das Meer tobte mit ungeheurer Kraft und Lärm und peitschte wütend gegen die Küste. Ein paarmal kam das Wasser sogar sehr nah an unser Haus. Wir alle hatten Angst, dass es unser Haus mitreißen könnte. Es war furchtbar. Manchmal, mitten in der Nacht, wenn es sehr stürmisch und laut war und es grollte, bekam ich Angst und ging zu meinen Eltern und schlief bei ihnen. Aber trotzdem habe ich aus dieser Zeit mehr, sehr schöne Erinnerungen als negative.

Mit sechs Jahren wurde ich in der Schule aufgenommen. Darüber war ich sehr froh und glücklich, denn ich wollte schon gern mit fünf Jahren zur Schule gehen. Aber sei nicht erlaubt, hatte der Schuldirektor zu meinem Vater gesagt; meine Eltern durften mich erst mit sechs Jahren einschulen. Ich weinte und weinte und war unzufrieden. Ich wollte unbedingt wie meine Schwester zur Schule gehen, lernen, Hausaufgaben machen; immer nur spielen war langweilig. Ich musste aber warten bis ich sechs war. Der Schuldirektor war an seine Vorschriften gebunden und konnte nicht helfen, deswegen ging mein Vater mit mir bis zum Schulministerium. Er beschwerte sich über das Schulsystem beim Minister und fragte ihn, warum es für begabte Kinder keine Möglichkeit gäbe, dies zu tun. Und sagte weiter „Wie wir sie beobachten, kommt sie gut mit ihrer drei Jahre älteren Schwester mit. Sie kann schon lesen und schreiben“.

Auf den Wunsch des Ministers gingen wir zusammen mit ihm aus dem Büro und ein paar Schritte in den Hof des Ministeriums. Ich sei noch zu klein, um zur Schule zu gehen, sagte der Minister zu meinem Vater. Auf einmal antwortete ich, als keiner damit rechnete: „Ich bin klein ‚aber meine Gedanken sind groß!“ Der Minister war ein großer und schlanker Mann. Er war baff, er sah mich mit Staunen an und mit Tränen in den Augen hob er mich hoch, küsste mich auf die Wangen und sagte zu meinem Vater: „Sie haben recht, was die begabten Kinder angeht. Diese Vorschrift muss geändert werden, aber es wird dauern bis es soweit ist. So eine Veränderung braucht Zeit. Mit Bedauern muss ich gestehen, dass meine Hände gebunden sind. Ich kann im Moment leider nichts für Sie tun. Sie muss warten bis sie sechs Jahre alt ist.“ Darum war ich sehr froh, als es soweit war und ich zur Schule gehen konnte. Die Schule machte mir sehr viel Spaß und ich hatte keine Probleme.

In dieser Zeit sah ich meinen Vater wieder öfters. Ich weiß nicht was passiert war, aber er war wieder wie früher da und kümmerte sich um uns und unsere Hausaufgaben. Mein Vater war ein sehr fleißiger und liebevoller Vater. Ich bewunderte ihn immer und verreiste gern mit ihm. Auf meine Frage, ob ich mitgehen dürfte, nahm er mich oft auf seinen Reisen mit. Neben seinem Beruf, hatte er meistens auch Hobbys, mit denen er auch Geld verdiente. In dieser Zeit hatte ich mit dem Reiten angefangen. Es machte mir sehr viel Spaß, wenn ich mit ihm alleine aufs Land reiste und auch reiten konnte. Er vertraute mich, morgens nach unserem gemeinsamen Frühstück und bevor er dann seinen Geschäften nachging, einer Bekannten an, die auf mich aufpassen sollte. Er gab mir aber dennoch genaue Anweisungen, was ich zu tun oder zu lassen hatte. Manchmal zu dieser Zeit hatten wir auch Besuch aus unserer Verwandtschaft, z.B. Cousins oder Cousinen mit ihren Eltern und wir konnten zusammen mit anderen Kindern spielen. Aber unabhängig von diesen Besuchen spielte ich meistens mit anderen Kindern. Mein Vater konnte sich auf mich verlassen; was ich nicht durfte, tat ich auch nicht. Ich ritt die meiste Zeit. Meine zweite Lieblingsbeschäftigung nach dem Reiten war, auf Bäume zu klettern, Walnussbäume, Feigenbäume. Die Kinder vom Land waren es natürlich gewohnt auf Bäume zu klettern, bis auf ein paar Ausnahmen, aber nicht die Stadtkinder. Von den Stadtkindern war ich das einzige Mädchen überhaupt, das es wagte, auf so hohe Bäume zu klettern, soweit ich mich erinnern kann. Mein jüngerer Cousin hatte auch keine Angst gehabt. Die Bäume waren ziemlich hoch, auf jeden Fall höher als vergleichbare Bäume hier in Deutschland. Meine Eltern hatten immer Angst, dass mir etwas passieren könnte, wenn ich auf Bäume kletterte. Verboten haben sie es mir aber nicht. Sie sagten nur immer wieder, dass ich vorsichtig sein sollte.

Ich fühlte mich da oben wohl, es war ein großartiges Gefühl, da oben zwischen Ästen und Blättern zu sitzen und den Duft des Walnussbaumes einzuatmen, den ich immer noch besonders liebe. Auch jetzt noch, egal wo, wenn ich einen Walnussbaum sehe, stelle ich mich unter den Baum, fasse den Baum an und atme diesen Duft ein. Und wenn ich an die Blätter herankommen kann, reibe ich meine Hände damit ein, dass ich länger jenen Duft einatmen kann oder ich pflücke ein Blatt und behalte es bei mir für längere Zeit. Es sind auch die schönen Erinnerungen, die in mir wach werden. Ich fühlte mich da oben im Einklang mit den Bäumen, als wäre ich ein Teil davon. Wenn andere Kinder es wünschten, pflückte ich die Nüsse und warf sie zu ihnen hinunter, worüber sie sich freuten. Am Ende sammelte ich auch etwas für mich in einer kleinen Stofftasche oder ein bisschen in den Taschen meiner Kleidung und kam herunter. Wir spielten auch gern mit Walnüssen, so ähnlich wie beim Kegelspiel: Wir legten sie in einer bestimmten Entfernung nebeneinander in eine Reihe und mussten sie dann mit anderen Walnüssen treffen. Wer sie traf, dem gehörten sie. Ich beherrschte dieses Spiel sehr gut und nach ein paar Tagen hatte ich einen Koffer voll mit Walnüssen und wollte sie unbedingt nach Hause mitnehmen. Natürlich hatte mein Vater das nicht erlaubt. „Was willst du machen mit so einen Koffer voller Walnüsse?“, fragte er. „Er ist schwer zu tragen, außerdem müssen die Nüsse ja auch noch saubergemacht und aus ihrer dicken Schale herausgeholt werden. Verteile sie lieber hier unter den Kindern, sie werden sich freuen.“ Das habe ich dann auch getan, alles verteilt. Nur eine kleine Tüte voll Walnüssen, die schon geschält waren, nahm ich mit. Die Kinder, mit denen ich dort zusammenspielte, waren meist Jungs und sie waren auch älter als ich. Sie sahen mich auf der einer Seite als Konkurrenz an, weil ich ein Mädchen war, und auf der anderen Seite als Besucherin aus der Stadt und wollten nett zu mir sein. Ich gewann beim Spielen öfters und das ärgerte sie manchmal. Aber trotzdem waren sie nett zu mir. Wenn die Kinder in der Schule waren oder ihren Eltern bei der Arbeit draußen auf dem Land oder zu Hause halfen, war ich meist Reiten.

Wir zogen wieder nach Teheran. Am traurigsten war es für mich, den Hund zurücklassen zu müssen. Meine Mutter gab ihn einer unserer Nachbarinnen, die selbst einen Hund hatten, denn in Teheran wollten viele Vermieter keinen Hund im Haus haben. Es war furchtbar. Meine Schwester und ich spielten den ganzen Tag mit ihm, bis es soweit war. Ich habe diesen traurigen Augenblick nie vergessen und immer noch werde ich sehr traurig, wenn ich an diesen Tag denke. Ich weinte und streichelte ihn und sagte: „Wir holen dich wieder ab, aber jetzt können wir dich nicht mitnehmen.“ Meine Eltern hatten es auch so mit der Nachbarin ausgemacht, wenn es möglich wäre, würden wir ihn wieder zu uns nehmen. Es war soweit. Wir mussten in das Auto einsteigen. Ich küsste und umarmte ihn zum letzte Mal. Ich weinte und er auch. Die Tränen liefen vom inneren Winkel seiner Augen runter. Weinend trennte ich mich von ihm und stieg ins Auto ein. Das Auto fuhr los. Meine Schwester und ich saßen hinten und drehten uns um und schauten nach ihm. Der Hund rannte so lange hinter unserem Auto her, bis wir ihn nicht mehr sehen konnten. Ich war schrecklich traurig und weinte die ganze Zeit. Das brach mein Herz. Sehr lange hat es gedauert, bis ich ihn einigermaßen aus dem Kopf hatte. Dass war das letzte Mal, dass ich unseren Hund je wiedergesehen habe. In meinem Inneren wusste ich schon, dass ich ihn nie wieder sehen würde.

Meine Suche nach Gott

Schon als Kind habe ich immer meine eigenen Gedanken verfolgt, besonders in religiösen Fragen. Ich hatte einen offenen, aber skeptischen Geist und war gewohnt, von anderen zu lernen, ohne ihre Ansichten blindlings zu übernehmen, sondern die Wahrheit durch meine eigene Suche zu finden. Ich hatte von meinen Eltern, Nachbarn, Bekannten, Verwandten und Religionsführern gehört und glaubte selbst auch, dass es Gott gibt. Aber dann mit neun Jahren stand ich vor der Frage nach der Existenz Gottes, ob es Ihn wirklich gibt. „Wo ist Er? Ich möchte Ihn sehen.“ In dieser Hinsicht stellte ich alles in Frage. Ich war sehr mit Ihm verbunden, schon mit fünf Jahren hielt ich mit Ihm Zweisprache und betete; meistens für die Gesundheit aller, auch für meine Eltern und für mich. „Ist das alles umsonst gewesen?“ , fragte ich mich. „Gibt es Ihn wirklich?“ In dieser Zeit ritt ich noch, aber nicht mehr soviel wie zuvor. Mein Interesse galt nun mehr dem Sport und Gymnastikübungen, die ich ohne es gelernt zu haben, einfach tat. Ich wollte auch im Sport etwas erreichen, auf dem ersten Platz stehen und Goldene Medaillen bekommen. Das waren meine größten Wünsche. Aber dann lag auf einmal mein größtes Interesse darin, Gott zu finden. Wo ist Er? Gibt es Ihn überhaupt? Das heißt für meine eigene Person Gewissheit zu bekommen. Wenn man ein Haus baut, muss erst das Fundament stimmen, dann kann man darauf den Rest das Hauses aufbauen. Bei mir es war genauso, erst wollte ich wissen, ob es Ihn überhaupt gibt, bevor ich mich weiter mit Ihm beschäftigte und redete.

Die suche nach Ihm beschäftigte mich dermaßen, dass alles anderes nicht mehr so wichtig für mich war. Ich war aufgewühlt und fühlte mich allein, wenn ich nur eine Sekunde daran zweifelte, dass Er nicht da ist. Sehr oft war ich in mir und suchte dort Antwort: „Wo ist Er? Warum kann ich Ihn nicht sehen?“ Ich fragte meine Mutter, aber ihre Antwort befriedigte mich nicht. Sie hatte mich zu ein paar Religionsführern mitgenommen, das hatte auch nichts gebracht. Tag und Nacht redete ich mit Ihm: „Wenn Du da bist, dann lass mich Dich sehen, sonst kann ich nicht an Dich glauben. Für mich war das eine Zeit der tiefsten Seelenerforschung, des Schürfens nach Antwort. Antwort nach Gottes Existenz. Bis ich dann eines Tages diese Frage meinem Vater stellte.

Ich vergesse diesen Moment nie, wir saßen am Tisch, nur er und ich. Er sagte zu mir: „So mein Schatz, wer hat diesen Tisch gebaut?“ Ich sagte: „Der Tischler!“ „Richtig. Der Tischler weiß auch was er getan hat, aber der Tisch kann ihn nicht erkennen.“ Und noch ein anderes Beispiel zeigte er mir. „Mach das Licht aus.“ Ich tat es, es wurde dunkel. „So“, sagte er, „Die Elektrizität ist immer noch in den Kabeln, aber du kannst sie nicht sehen. Du kannst nur sehen, wenn du die Lichtschalter an machst. Aber wenn die Lichtschalter oder die Birne nicht funktioniert, kannst du sagen wir haben keine Elektrizität?“ Diese Beispiele waren tiefgreifend, und ich hatte es sofort verstanden, als wäre ein Licht in mir aufgegangen. Mit einem breiten Lächeln sagte ich: „Nein!!!“, und dachte, „Oh, mein Gott, Du bist da.“ Ich war so erlöst und glücklich wie noch nie. Durch meine Suche hatte ich die richtige Antwort für mich gefunden, was mir klar machte und keine Zweifel hinterließ, dass Er da ist. Ich hatte nicht einfach etwas von anderen blindlings übernommen, ohne es zu verstehen. Von diesem Moment an war ich befreit und konnte, ohne kleinste Zweifel, weiter mit Ihm sprechen und beten.

Ich war ein fröhliches und aktives Kind und gut in der Schule. Es fiel mir leicht, an der neuen Schule in Teheran neue Freundschaften zu Schließen. In jener Zeit fiel mir auf, dass mein Vater seit einiger Zeit ein ganz anderer Mensch geworden war. Wie verwandelt, ja das ist das richtige Wort dafür. Als ob nach einem Winter der Frühling kommt. Ich roch einen frischen Duft, das kann man nicht mit Worten beschreiben. Er trank und spielte nicht mehr und beschäftigte sich viel mehr mit uns, las viel und war viel hilfsbereiter zu Hause und andächtiger.

Abends saß ich oft neben ihm, und manchmal sah ich, dass er Tränen in den Augen hatte und sehr berührt war von dem Buch, das er gerade las. Ich war dann nachdenklich und fragte ihn was er lesen würde, dass es ihn so traurig macht. Mit Tränen in den Augen antwortete er: „Ich bin sehr berührt“, und dann liefen die Tränen über sein Gesicht. „Ich erzähle dir später, mein Schatz“. Später erfuhr ich von meiner Mutter, dass er Baha‘i geworden war. Da dachte ich bei mir: „Darum die Veränderungen, die ich bemerkt habe.“ Dann wurde mir klar, warum er mir nicht davon erzählt hatte, was er damals las und was ihn dabei so tief berührte. Aber später auf meine Frage, womit er sich damals beschäftigt, dass ihn so berührt hatte, sagte er: „Es war das Leben Baha‘u‘llah‘s (auf Deutsch Herrlichkeit Gottes), des Stifters der Baha‘i Religion.“ Diese Religion war und ist im Iran verboten, und die Anhänger werden verfolgt. Er wollte uns beschützen und hatte uns von der Sache nichts erzählt. Aber wichtiger als etwas zu erzählen, waren seine Taten, diese großartige Wandlung, die ich als Kind mitbekommen hatte, ohne ein Wort von ihm erzählt zu bekommen. Aber meine Mutter wusste es von Anfang an. Über die Bahai Religion hatte er von einem Verwandten, einem Baha‘i, der in Österreich lebte und vielleicht einmal im Jahr in den Iran kam, um die Familie zu besuchen, gehört. Nach langer Diskussion mit ihm, wollte mein Vater ihm beweisen, dass die Baha‘i Religion keine wahre Religion ist. Deshalb hatte er jahrelang erst über seine eigene Religion, den Islam, gründlich gelesen und geforscht, und dann über die Bahai Religion bis ihm klar wurde und er selbst wusste, dass die Baha‘i Religion eine wahre Religion ist. Dadurch ist er selbst Baha‘i geworden.

Ich hatte die Geschichte viel später mitbekommen, von Erzählungen meiner Mutter, und dann von ihm selbst, aber erst als ich selbst auf der Suche war. Abends wenn ich nicht zu tun hatte, saß ich neben ihm, entweder redete ich mit ihm oder las etwas, oder ruhte mich einfach aus, und wenn ich müde war, legte mich hin und lag meinen Kopf auf seinen Schoss. Ich fühlte mich wohl bei ihm. Wenn wir von Schule nach hause kamen, fragte er immer nach unseren schulischen Belangen, Hausaufgaben und wie es in der Schule gelaufen war. Ich war diejenige, die ihm am meisten erzählte über das, was in der Schule geschah, und auch über meine Wünsche.Wie ich bereits geschrieben habe, ich war sehr gut im Sport und war auch sehr aktiv, und wünschte mir nichts sehnlicher, als dass ich in der Welt berühmt und an erster Stelle stehen würde.

In Tehran zogen wir erneut um, nachdem wir ein eigenes Haus gekauft hatten. Es war ein schönes großes Haus mit Garten und einem großen Teich in der Mitte mit Goldfischen und einer langen und breiten Veranda. Im Garten gab es einen Sauerkirsch- und einen Süßkirchbaum und rote und weiße Trauben. Die Weinstöcke wurden an mehreren ungefähr drei Meter hohen Holzstangen angebunden, darüber war ein Holzgitter montiert, auf dem sie sich ausbreiten konnten. Im Sommer wenn die Trauben reif waren, hingen sie durch die Löcher.

Im Sommer in Tehran sind meistens die Tage sehr heiß. Darum saßen wir abends, wenn das Wetter allmählich erträglicher und angenehmer wurde, draußen auf der Veranda, und machten es uns gemütlich.Wir aßen Obst und später auch unser Abendessen dort. Es war ein gemütliches Haus, später hatte mein Vater das Dachgeschoss noch erweitern lassen, mit einem größeren Schlafzimmer mit zwei Betten für meine Schwester und mich. Meistens redeten wir dort nachts noch so lange bis irgendwann einschliefen, und sie war diejenige, die zuerst einschlief. Ich konnte nicht so schnell schlafen. Ich dachte immer über den Tag nach, was alles passiert war und über die besonderen Ereignisse, falls es welche gab. Ich machte mir dann oft Gedanken über meine Taten und mein Verhalten gegenüber Freundinnen oder Schulkameraden. Denn manchmal gab es Wettspiele. Ob ich dabei immer fair gewesen war? Wenn ich das Gefühl hatte, ich war nicht fair gewesen oder nur dachte, dass ich jemanden vielleicht weh getan hätte, ging ich am nächsten Tag zu ihr und redete mit ihr über die Sache. Es könnte auch sein, dass es nur meine Vermutung war, und soweit war dann alles Gut. Mit unseren zwischenmenschlichen Beziehungen ist es nicht immer einfach. Weil wir Menschen so verschieden sind, haben wir auch unterschiedliche sensible Seiten. Es passiert schnell, dass man unbewusst jemanden kränkt, von bewusst will ich gar nicht reden. Denn sogar im Streit kommen durch Wut oder Ärger unbewusst Worte heraus, die nicht gesagt werden sollen, weil sie verletzend sind. Darum denke ich, in solchen Fällen, wenn man sich bewusst darüber wird, sollte man sich bei den Betroffenen entschuldigen, und die Sache aufklären und nicht liegen lassen. Das Leben ging so weiter und außer meiner Schule, Sport, Hobbys und Freunden hatte ich nicht mehr im Kopf.

Nur die Spiritualität hatte noch einen besonderen Platz in meinem Leben, sie war da. Ich musste nicht darüber nachdenken: „Habe ich heute Zeit und Lust, dafür etwas zu tun oder nicht?“ Wie mein Atem, es war selbstverständlich, was ich dafür tat.

Ich wuchs langsam zu einer jungen Frau heran. Im Laufe der Zeit bekam ich eine ganz andere Sichtweise, es kamen neue Erwartungen und Wünsche, aber auch Probleme, die dieses neue Leben mit sich brachte. Wie schnell geht die Zeit vorbei. Wie schnell wird aus einem Ei ein Küken und daraus ein Huhn. Sie brechen, wenn die Zeit reif ist, die dünne Eierschale auf und schlüpfen heraus.

Kapitel 2

Meine Jugend und persönliche Schicksalsschläge:

Das Schicksal einer Person hängt meiner Meinung nach zu großen Teilen davon ab, in welcher Familie, in welchem Land und Umfeld diese geboren wird.

Was bis jetzt passierte, geschah mehr oder weniger ohne meine Einwilligung oder meine besonderen Wünsche, ohne dass ich wirklich mitentscheiden konnte oder durfte.

Es geschah nach dem Motto „Du bist ein Kind und deine Eltern entscheiden für dich“, was im normalen Fall auch gut ist, und auch gut für mich war. Aber dann befand ich mich allmählich auf dem Weg von der Kindheit ins Teenie-Alter und verabschiedete mich langsam von der Phase des Kindseins und gelang zur nächsten, in welcher ich meine eigene Zielrichtung für mein Leben suchte. Ich fühlte mich stark und kraftvoll, voller Energie und Enthusiasmus, schmiedete Pläne für meine Zukunft, ohne auch nur eine Sekunde daran zu zweifeln, ob das alles, was ich vorhatte auch möglich wäre. Ich erzählte mit großer Begeisterung meinem Vater, was ich alles werden wollte und vorhatte. Er hörte mir auch mit großem Interesse und Geduld zu und gab mir nach Bedarf vernünftige Ratschläge oder unterstützte mich mit Ideen. Je nachdem, welche Ideen oder Vorhaben ich hatte, lobte er mich.