Unser Traum von Freiheit - Beatriz Williams - E-Book

Unser Traum von Freiheit E-Book

Beatriz Williams

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Beschreibung

Fesselnd, emotional und wunderschön — ein Roman, so imposant wie ein Sommersturm am Meer!

Sommer 1951: Miranda Schuyler ist jung, schön und träumt von der großen Liebe. Als ihre Mutter nach dem Tod ihres Vaters einen reichen Geschäftsmann heiratet, ziehen die beiden Frauen in dessen imposantes Sommerhaus an der Küste Long Islands, und schnell wird Miranda in eine ihr bisher unbekannte Welt gezogen. Eine Welt voller Glamour, Cocktails und Prestige. Dank ihrer Stiefschwester Isobel erlebt Miranda den Sommer ihres Lebens – und lernt Joseph kennen. Dieser kann als Sohn einer Fischerfamilie mit der High Society allerdings so gar nichts anfangen. Die beiden ungleichen Teenager verlieben sich trotz aller Widerstände Hals über Kopf ineinander und ahnen nicht, dass der Sommer und ihre Liebe drohen, in einer Katastrophe zu enden …

Die East-Coast-Reihe von Beatriz Williams bei Blanvalet:
1. Im Herzen des Sturms
2. Das geheime Leben der Violet Grant
3. Träume wie Sand und Meer
4. Die letzten Stunden des Sommers
5. Unser Traum von Freiheit

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Seitenzahl: 607

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Buch

Sommer 1951: Miranda Schuyler ist jung, schön und träumt von der großen Liebe. Als ihre Mutter nach dem Tod ihres Vaters einen reichen Geschäftsmann heiratet, ziehen die beiden Frauen in dessen imposantes Sommerhaus an der Küste Long Islands, und schnell wird Miranda in eine ihr bisher unbekannte Welt gezogen. Eine Welt voller Glamour, Cocktails und Prestige. Dank ihrer Stiefschwester Isobel erlebt Miranda den Sommer ihres Lebens – und lernt Joseph kennen. Dieser kann als Sohn einer Fischerfamilie mit der High Society allerdings so gar nichts anfangen. Die beiden ungleichen Teenager verlieben sich trotz aller Widerstände Hals über Kopf ineinander und ahnen nicht, dass der Sommer und ihre Liebe drohen, in einer Katastrophe zu enden …

Die Autorin

Beatriz Williams besitzt Abschlüsse der amerikanischen Universitäten Stanford und Columbia. Während sie als Beraterin in London und New York arbeitete, versteckte sie ihre Schreibversuche zunächst auf ihrem Laptop. Mit ihren Romanen eroberte sie nicht nur die Herzen ihrer Leserinnen im Sturm, sondern auch die »New York Times«-Bestsellerliste. Heute schreibt Beatriz Williams in ihrem Haus an der Küste Connecticuts, wo sie mit ihrem Mann und ihren vier Kindern lebt.

Die East-Coast-Reihe von Beatriz Williams bei Blanvalet:

1. Im Herzen des Sturms

2. Das Geheimnis der Violet Grant

3. Träume wie Sand und Meer

4. Die letzten Stunden des Sommers

5. Die kleinen Geheimnisse der Frauen

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BEATRIZ WILLIAMS

Unser Traum

von Freiheit

Roman

Aus dem Amerikanischen

von Regina Schneider

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Summer Wives« bei William Morrow, New York.

Die Zitate auf den Seiten 36/37 und 475 stammen aus William Shakespeare, König Richard II

Die Zitate auf den Seiten 47, 345 und 381 stammen aus William Shakespeare, Der Sturm

Das Zitat auf Seite 76/77 stammt aus William Shakespeare, Heinrich V

Das Zitat auf Seite 318 stammt aus William Shakespeare, Julius Cäsar

Die Zitate auf den Seiten 360 und 474–476 stammen aus William Shakespeare, Der Kaufmann von Venedig

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Copyright © der Originalausgabe 2018 by Beatriz Williams

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021 by Blanvalet Verlag, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Angela Küpper

Umschlaggestaltung: Sandra Taufer, München

Umschlagmotive: © Rekha Garton/Trevillion Images; Shutterstock.com (Blue Lemon Photo; Tana Lee Alves; Martin Valigursky; milezaway)

JB · Herstellung: sam

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-26686-8V001

www.blanvalet.de

Meinem Mann und meinen Kindern gewidmet –

und meinen Schwiegereltern, meinen persönlichen Reiseleitern

durch Geschichte und Kultur

PROLOG: 1969

Es war ein ungewöhnlich kalter Tag Anfang Mai, als ich nach Winthrop Island zurückkehrte, eine Woche nach meinem zehnten Hochzeitstag. Die letzte Fähre von New London hatte ich verpasst – der Fahrplan, wen wundert es, hatte sich in den achtzehn Jahren seit meiner letzten Überfahrt geändert –, und so heuerte ich ein Fischerboot an, das sich als alte Nussschale entpuppte, um nach Stonington überzusetzen. Ich glaube nicht, dass der Mann mich erkannte, aber wer weiß? Fischer sind bekanntlich ein stoisches Völkchen und durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Ich drückte ihm einen Zwanzigdollarschein in die Hand, und im Gegenzug stellte er keine unbequemen Fragen, wie ich hieße oder was ich auf der Insel wolle. Und wenn schon, dachte ich mir. Was sollte er schon machen? Die Presse informieren? Wahrscheinlich hatte er noch nie von mir gehört. Viele Leute hatten noch nie von mir gehört.

Anfang Mai war der Himmel nach wie vor hell, als wir die wenigen Meilen über den Long Island Sound schipperten, den Meeresarm, der die Insel von Connecticut trennt. Ich trug meine Sonnenbrille, schwarz und riesengroß, mit der ich aussah wie ein exotischer Käfer, und im Nu hatte der feine Sprühnebel die Gläser mit einem salzigen Film bedeckt. Als ich fast nichts mehr sehen konnte, nahm ich sie ab, und der starke Wind, der mein Gesicht traf, überraschte mich, ebenso wie der Geruch. Ich hatte ihn völlig vergessen, diesen Geruch am Sound, der etwas ganz Eigenes hatte und den es so auf der Welt sonst nirgendwo gab, nicht am Ärmelkanal, nicht am Mittelmeer und auch nicht am Südpazifik – oder vielleicht doch? Vielleicht bildete ich mir das alles nur ein. Egal. Jedenfalls, wie ich da stand am Bug des Fischerboots, gegen das Deckshaus gelehnt, schien es mir, als dringe die salzige frische Luft, die der Wind mir um die Nase blies, bis in die hintersten Winkel meines Gehirns, bis tief in den Hippocampus, um dort gewisse liebevolle Erinnerungen wachzukitzeln: wie ich mich über das Heck eines Hummerboots beuge, um Fangkäfige an Bojenleinen aus dem Wasser zu ziehen. Wie ich am mitternächtlichen Dock, weit hinten, mit einer Freundin zusammen bei einer Flasche Champagner sitze. Wie ich bei strömendem Regen am Strand neben einem Jungen liege und wir uns ein allerletztes Mal küssen.

Die Insel vor mir bildete einen dunklen, flachen Halbkreis, der sekündlich größer wurde, bis er den gesamten Horizont einnahm und die kleinen Punkte darauf die Form von Häusern annahmen. Ich sah die dicht stehenden Gebäude rings um den Hafen, die verstreuten Siedlungen entlang der Küste. Greyfriars war von hier aus nicht zu erkennen – es thronte oberhalb des südöstlichen Zipfels der Insel. Aber ich wusste, es existierte noch, überblickte Fleet Rock mit seinem berühmten Leuchtturm. Ich wusste es aufgrund des Briefes in meiner Handtasche, der auf Briefpapier von Greyfriars geschrieben war, in altmodischer, gestochener Schrift, und der vorwürflich unterzeichnet war mit Deine Mutter. Kein Wort von Isobel, doch ich wusste, dass auch sie noch existierte. Greyfriars ohne Isobel, das ging doch gar nicht, oder?

Ohne zu überlegen, drehte ich mich zu dem Fischer um, der bei meinem Anblick, jetzt ohne Sonnenbrille, regelrecht in Schockstarre verfiel.

»Ein Unfall«, sagte ich und fasste an mein linkes Auge, das dick geschwollen und blutunterlaufen war, die halbe Wange hinunter. »Ein Autounfall«, schob ich hinterher, denn zwischen Unfall und Autounfall gibt es einen bedeutsamen Unterschied. Allgemein von Unfall zu sprechen, impliziert eine grobe Fahrlässigkeit, keine böse Absicht, einen tragischen Fehler. Ein Autounfall dagegen ist, was es ist, ohne urteilende Bewertung darüber, wie oder warum er zustande kam.

»Tut mir leid, Ma’am.« Er lenkte den Blick wieder nach vorne in Fahrtrichtung. (Wie ich schon sagte, ein stoisches Völkchen.)

»So was passiert«, sagte ich. »Ich wollte Sie etwas fragen, wenn es Ihnen recht ist.«

»Nur zu.«

»Wissen Sie zufällig, wer zurzeit der Wärter vom Fleet-Rock-Leuchtturm ist? Ich habe früher etliche Sommer auf der Insel verbracht und mich gerade gefragt, wer das heute wohl macht.«

»Der Fleet-Rock-Leuchtturm? Warum? Das macht die alte Mrs. Vargas«, sagte der Fischer, ohne eine Miene zu verziehen, ohne den Blick vom Wasser zu heben.

»Was ist mit Mr. Vargas?«

»Leider verstorben, Ma’am. Vor ein paar Monaten erst. Ein Winter zu viel, wenn Sie mich fragen.«

»Tut mir leid zu hören.«

»Er war ein guter Mann. Ein guter Hummerfischer.«

Ich lachte höflich. »Ist das nicht das Gleiche?«

Auch er lachte. »Ja, ist es wohl, Ma’am. Das ist es wohl.«

Mehr sprachen wir nicht, bis zum Hafen, und ich gab ihm noch einmal fünf Dollar, damit er niemandem von der Frau mit dem blauen Auge und der großen Sonnenbrille erzählte, die sich nach dem Fleet-Rock-Leuchtturm erkundigt hatte. Den Schein steckte er ein und fragte, ob er mir mit dem Koffer helfen dürfe. Nein, sagte ich, ich wolle nur eben in den Krämerladen auf der anderen Straßenseite. Doch darauf ging er gar nicht ein, und so ließ ich ihn gewähren. Männer sind manchmal gerne behilflich, wie ich festgestellt habe – warum also nicht, wenn man sie damit glücklich machen kann?

Drinnen im Laden sog ich den vertrauten Geruch von Staub und Gewürzen ein, noch so ein markanter Geruch, der mir einen wohlig süßen Schmerz durch den Bauch jagte. Irgendwie bleiben die Gerüche der Kindheit haften. Auch wenn diese Kindheit kurz war, bitter schmeckte und in einer Katastrophe endete, in einem Desaster von verheerendem Ausmaß, so erinnert man sich doch an jene kleinen, himmlischen Freuden mit sehnsuchtsvollem Schmerz. Weil es keinen Weg zurück gibt. Weil man nie wieder in den Zustand der Unschuld zurückkehren kann. So wartete ich geduldig, bis die alte Frau, die hinter dem Getränkespender zwischen ihren Regalen, Vitrinen und Ständern geschäftig hin und her wuselte, meine Anwesenheit schließlich bemerkte und entschuldigend auf mich zukam.

»Keine Ursache«, sagte ich.

Kaum hatte sie meine Stimme vernommen, veränderte sich ihre Miene, ungefähr so wie die des Fischers eben. Vor lauter Überraschung blieb ihr der Mund offen stehen, formte ein kreisrundes Loch.

»Deus meu! Miranda Schuyler?«, rief sie ungläubig.

»Die verlorene Tochter kehrt zurück.« Ich nahm die Sonnenbrille ab.

»Auweia! Was ist denn mit deinem Gesicht passiert?«

»Ein Unfall. Ein Autounfall. Dachte, ein ruhiger Ort, um meine Wunden zu lecken, kann nicht schaden. Sie haben doch nichts dagegen?«

Ihre Stimme war sanft, voller Mitleid. »Nein, natürlich nicht.« Sie hielt vorsichtig inne. »Weiß man, dass du kommst? In Greyfriars? Deine Mutter, sie war gestern hier, hat aber gar nichts davon gesagt.«

»Ich dachte, ich überrasche sie. Und Ihr Mann? Er macht wohl keine Botenfahrten mehr, oder?«

»Ach, mein armer Manuelo, er lebt nicht mehr.«

»Oh! Das tut mir leid. Damit habe ich nicht gerechnet.«

»Aber ich kann dich rausfahren. Meine Tochter Laura hält so lange die Stellung hier. Laura! Du erinnerst dich doch an Laura?«

»Natürlich erinnere ich mich an Laura. Ich erinnere mich an alles und jeden. Wie könnte ich es vergessen?«

Wir tauschten einen verständnisinnigen Blick, der exakt so lange anhielt, wie es brauchte, bis Laura, Mrs. Medeiros Tochter, erschien. Sie kam aus irgendeinem Hinterzimmer – pummelig, zerzauste Haare, geblümte Kittelschürze – und schlug die Hände zusammen, so bass erstaunt war sie, mich, die legendäre Miranda Schuyler, zu erblicken, die offenbar auf die Insel zurückgekehrt war und nun hier, direkt vor ihr, mitten in ihrem bescheidenen Laden stand.

»Oder müssen wir dich jetzt Miranda Thomas nennen?«, fragte sie und tat so, als schiele sie nicht nach dem unübersehbaren Veilchen, das meine linke Gesichtshälfte entstellte.

»Nein, Miranda genügt. Ich bin inoffiziell hier, müsst ihr wissen.«

»Ah, verstehe.« Sie strich ihr Haar glatt, sah zu ihrer Mutter, und die beiden verharrten in einer Art stiller Kommunikation, während Mrs. Medeiro nur leicht mit den Schultern zuckte. Miss Laura griff nach einem Spüllappen, legte ihn dann wieder aus der Hand. Ich hob gerade an, etwas zu sagen, als es aus ihr herausplatzte: »Wie war es, Roger Moore zu küssen?«

»Laura!«, fuhr ihre Mutter sie an.

Ich schob die Sonnenbrille wieder vor die Augen. »Genau so, wie du dir das vorstellst«, sagte ich.

Auf halbem Weg nach Greyfriars fragte ich Mrs. Medeiro nach ihrem Enkel, und es dauerte ein bisschen, bis sie antwortete.

»Es geht ihm gut, soweit ich gehört habe«, sagte sie. »Er hat auf keinen meiner Briefe geantwortet. Ich habe ihm geschrieben, immer wieder. – Er dachte wohl, es sei das Beste so. Es hatte ja keinen Sinn.«

Ich stützte den Ellbogen gegen die Autoscheibe, die ein Stück heruntergelassen war, und hielt die Nase in den lauen Wind. Ich hätte hinaus aufs Meer blicken können, das sich im purpurroten Abenddunkel langsam nachtschwarz färbte, aber ich tat es nicht. Ich kannte das Bild, kannte die Klippen, die steil ins Meer abfallen, kannte den Leuchtturm, der sich wie ein Traumbild gegen den Horizont abhebt.

Mrs. Medeiro wechselte in den zweiten Gang, um den alten Lieferwagen den Hang hinauf zu traktieren. »Die neuesten Neuigkeiten hast du gehört, ja?«

»Dass er aus dem Gefängnis ausgebrochen ist? Ja, das habe ich gehört.«

»Bist du …« Sie stockte, klopfte mit den Daumen auf dem Lenkrad herum.

»Ob ich deshalb zurückgekommen bin, meinen Sie? Weil Joseph aus dem Gefängnis getürmt ist?«

»Entschuldige. Es geht mich nichts an, warum du hier bist.«

»Ist doch klar, dass Sie fragen. Kann ich Ihnen nicht verdenken. Ich meine, er ist getürmt, aus dem Knast, und ich habe … Gut, nun bin ich hier, direkt aus London.«

»Dann bist du also doch seinetwegen hier?«

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Oh.« Mrs. Medeiro streifte mich mit einem kurzen Blick. »Also … die Polizei war bereits da, Kripo, Vollzugsbeamte. Ich meine, sie haben überall nach ihm gesucht. Haben ihn nicht gefunden.«

»Aber Sie wissen nicht zufällig, wo er sein könnte?«

Sie zuckte die Achseln. »Wer weiß schon, was in Joseph vorgeht? Er hatte immer seinen eigenen Kopf.«

»Das ist keine Antwort, Mrs. Medeiro«, sagte ich.

»Kann sein.«

Ich nahm die Sonnenbrille ab, klappte sie zusammen und steckte sie in meine Handtasche. Wir waren gleich da, hatten die Einfahrt fast erreicht, meine Finger zitterten in einem fort, und mein Herz pochte wie verrückt. Dabei hatte ich gedacht, dass ich Greyfriars nach all den Jahren begegnen könnte wie einem alten Freund – einem, mit dem man sich vor langer Zeit gestritten und dem man längst verziehen hatte, sodass man schon gar nicht mehr wusste, worum es bei dem Streit überhaupt gegangen war. Doch nun fiel mein Blick auf die steinerne Gartenmauer, die langsam zerfiel, und den kleinen Spalt, durch den ich so oft hinaus- und hereingeschlüpft war, auf die riesigen, verwahrlosten Rhododendren … Und ich war wieder achtzehn – exakt halb so alt wie heute (welch auffällige Symmetrie der Zahlen) –, hatte keinen blassen Schimmer, wie man seine Gefühle im Zaum hält und nicht unkontrolliert ausrastet. Meine Hände krallten sich um die Henkel meiner Handtasche, und ich zählte meine Pulsschläge, wie es mir mein Ehemann einmal beigebracht hatte, doch das Nervenflattern blieb, steigerte sich zu einem regelrechten Schwindelgefühl.

»Alles in Ordnung, Miranda?«, fragte Mrs. Medeiro ruhig. »Soll ich anhalten?«

»Nein, danke. Fahren Sie direkt vor die Tür, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«

Wir bogen in die Auffahrt, und die Reifen knirschten im Schotter, hüpften über die Spurrillen, kippelten durch die Schlaglöcher. In alten Tagen war diese Auffahrt in einem tadellos gepflegten Zustand und fast so glatt wie Asphalt gewesen. Wieder machte der Wagen einen ordentlichen Rums, der besonders heftig in die Knochen fuhr, und Mrs. Medeiro fühlte sich bewogen, sich für den unübersehbaren Verfall der einstigen Pracht zu entschuldigen, als trüge sie in irgendeiner Weise die Verantwortung dafür.

»In Greyfriars ist nichts mehr so, wie es einmal war, weißt du«, sagte sie.

»Das denke ich mir.«

»Auch Geld ist keins mehr da, nicht so wie früher. Hier wohnen jetzt Pensionsgäste.«

»Ach, was! Hätte ich nicht gedacht. Davon hat Mutter in ihren Briefen gar nichts erwähnt.«

»Sie hat ihren Stolz. Man nennt sie auch nicht Pensionsgäste. Man spricht eher von einer … Wie sagt man noch gleich? Künstlerkolonie.«

»Oh, natürlich. Wie schön. Künstler. Schade, dass die nicht gleich noch Gärtner sind.«

Wir fuhren am letzten und größten Rhododendron von allen vorbei, und ich sah absichtlich nicht hin. Die Sonne war sowieso weg, und alles lag im Schatten. Auch das Haus selbst, das sich jetzt in meinen Blick schob, bot ein Bild des Jammers: ein langes, dunkles Gebilde mit ein paar Lichtflecken. Immerhin war ich wieder bei Atem, wie ich bemerkte. Mrs. Medeiro steuerte ins Halbrund vor dem Haus, und mit einem Knirschen kam der Wagen zum Stehen.

»Soll ich warten?«, fragte sie.

»Nein, nicht nötig.« Ich stieg aus, nahm meinen Koffer vom Rücksitz und winkte ihr zu. Sie hatte verstanden, fuhr davon, und ich wartete, bis die Scheinwerfer hinter dem Rhododendron verschwunden waren, ehe ich mich zur Vordertreppe umdrehte. Das Licht war aus oder die Glühbirne kaputt, und so konnte ich kaum etwas sehen, nur, dass die Farbe von der großen Haustür abzublättern schien und ich auch nicht mehr sagen konnte, ob sie schwarz oder grün war.

Dann schwang sie auf, die Tür.

»Du meine Güte! Wer …«

Durch das Licht in der Tür konnte ich das Gesicht der Frau, die da vor mir stand, nicht erkennen. Aber ich wusste auch so, wer sie war. Greyfriars ohne sie, das ging schließlich nicht.

»Isobel!«, rief ich. »Ich bin’s, Miranda.«

JUNI

1930 (BIANCA MEDEIRO)

1.

Er ist der schönste junge Mann, den sie je gesehen hat, schöner noch als Valentino, Errol Flynn oder Charles Lindbergh. Sie schaut ihm zu, wie er in seiner schlanken Rennjacht mit Peter Dumont zusammen den Fleet Rock Channel hinauf- und hinunterjagt, und bekreuzigt sich – zum einen, weil die Meerenge nicht ungefährlich ist, aber auch, weil die Sonne ein so helles Glitzern in sein blondes Haar zaubert, dass es bis zu ihr herüberfunkelt, bis zu ihrem Platz auf dem kleinen Felsvorsprung am Ende der West Cliff Road, wo sie nachmittags immer sitzt, um den beiden dort draußen zuzuschauen. In ihrer Fantasie salbt die Sonne ihn und küsst ihn, doch nur der Teufel höchstselbst könnte ihr solch einen unzüchtigen Gedanken eingeben. Sie bekreuzigt sich einmal mehr.

Heute braucht Tia Maria sie im Laden, nicht nötig also, sich gegen den Teufel zu wappnen. In einer Tour treffen die Familien der High Society auf Winthrop Island ein, um hier den Sommer zu verbringen, kommen mit der Fähre oder auf Privatjachten, und Bianca und ihre Cousinen haben alle Hände voll zu tun, um die Regale mit Waren zu befüllen, die Tio Manuelo vom Festland geordert hat: Dosenerbsen, Dosenpfirsiche, Dosensardinen in Olivenöl, Salzstangen, Campbell-Tomatensuppe, Kernseife, Bleichmittel, Ovomaltine, Getreideflocken, Cornflakes, Cantaloupe-Melonen, Tafeläpfel, Bananen, Salz, Ceylon-Zimt, säckeweise Mehl und Zucker, Backpulver, kühlende Gel-Cremes, Listerine, Aspirin (jede Menge), Gartenhandschuhe, Rasierklingen und Branntweinessig – einmal einen, der wirklich ein Essig ist, und einmal einen, der nicht wirklich ein Essig ist und der für spezielle Kunden, die Tio Manuelo höchstpersönlich bedient, in einem geheimen Regal hinter der Holztheke verwahrt wird.

Es ist heiß geworden in dieser ersten Woche im Juni, und sogar Tia Maria lässt die Ladentür sperrangelweit offen, um die salzige, frische Meeresbrise hereinzulassen, aber die Luft im Laden bleibt stickig und muffig, riecht nach Sägemehl. Bianca stapelt reihenweise Tomaten-, Gemüse- und Pilzcremesuppe neben- und übereinander feinsäuberlich ins Regal, denn Dosensuppen sind bei den Familien der High Society aus irgendeinem Grund besonders beliebt. Sie selbst mag lieber die Suppen, die Tia Maria selbst zubereitet, mit reichlich Kräutern, Gemüse und Meeresfrüchten, und die den ganzen Tag über in einem gusseisernen Topf auf dem Ofen vor sich hin köcheln. Doch die superreichen Sommerfrischler stehen offenbar auf langweiliges Dosenfutter. Langweilig, fad und fett – wie sie selbst. Sie bekreuzigt sich bei dem Gedanken, schließlich sind diese Familien das Lebensblut der Insel, und immerhin verdient Tio Manuelo den Sommer über sein Geld mit Dosensuppen und schachtelweise Salzstangen. Trotzdem, so sind sie nun mal, diese Sommerfrischler!

Bis auf den jungen Mr. Fisher. Der ist keineswegs langweilig oder fad.

Sie weiß alles über ihn. Sie weiß, dass er in einem weitläufigen Haus wohnt, nicht weit vom Dorf, mit Blick auf Fleet Rock, in einem Haus, das so neu ist, dass die Zedernschindeln noch keine naturgraue Alterspatina angenommen haben – gut, manche Ecken sind eben wettergeschützt. Sie weiß, dass die Familie Fisher nicht ganz so gut betucht ist wie jene Familien, die am anderen Ende der Insel wohnen, am östlichen Zipfel, wo der luxuriöse Winthrop Island Club liegt samt seinem prachtvollen Golfplatz, der sich über rund einhundert Hektar sattgrünes Land erstreckt. Dafür sei das Geld der Fishers zu neu, hat Tio Manuelo weise beim Abendessen gesagt, das brauche alles seine Zeit. Doch Geld reift erstaunlich schnell. Denn, und auch das weiß sie, Mr. Fisher hat in Harvard studiert, wo er sich schnell mit den Söhnen aus den richtigen Familien der Upper Class angefreundet hat, auch mit Peter Dumont. Man munkelt gar, Mr. Fisher habe sich über Ostern mit Peters Schwester Abigail verlobt, doch darauf gibt Bianca nichts. Zum einen, weil Abigail Dumont schon fünfundzwanzig und damit drei Jahre älter ist als Mr. Fisher, zum anderen, weil sie groß, breitschultrig, flachbrüstig und somit überhaupt nicht weiblich ist und weil sie außerdem eine laute, wiehernde Stimme hat, fast wie ein Esel. Auch wenn die Presse sie als strahlende, unwiderstehliche Schönheit preist, Bianca ist sich ganz sicher, Mr. Fisher hat einen weit besseren Geschmack. Seine Vormittage verbringt er auf den Klippen zwischen Dorf und Greyfriars – Greyfriars, »Graue Brüder«, so der Name, den die Fishers ihrem neuen Haus aus einem unerfindlichen Grund gegeben haben, vielleicht wegen der Zedernschindeln, die mit der Zeit elegant ergrauen. Dort verbringt er also seine Vormittage, mit Wasserfarben und Büchern, und gibt dabei ein so wunderschönes Bild ab, dass es Bianca bisweilen den Atem raubt, wenn sie ihn dort oben sitzen sieht, die Beine gefährlich über der Felskante baumelnd, in sich versunken, die makellose Stirn nachdenklich in Falten gezogen.

Und sie weiß noch viele andere Dinge über ihn. Sie weiß auf den Zentimeter genau, wie groß er ist (eins dreiundachtzig), kennt seine Augenfarbe (blau wie das Meer) und sein großes Talent im Segeln, im Hockey (in Harvard war er Teamkapitän) und im Golf, wo er im Sommer zuvor die Winthrop Island Club-Meisterschaft gewonnen hat, im ersten Sommer der Clubmitgliedschaft der Familie Fisher, damals noch mit finanzieller Unterstützung der Dumonts. All dies weiß Bianca, weil ihre Cousine Laura damals zufällig mit einem der Barkeeper im Club ausging, heimlich, versteht sich. Und der wusste so ziemlich alles, was es über diese Familien zu wissen gab, weil die offenbar dachten, warum auch immer, dass Barkeeper keine Ohren hätten, außer um Bestellungen aufzunehmen. Oder sie dachten, dass ein Trinkgeld von ein paar Cents genüge, um sich die Loyalität eines mittellosen Studenten zu erkaufen. (Diese superreichen Familien waren in Sachen Trinkgeld richtig knauserig, typisch für sie.)

Anders Mr. Fisher. Er hat ihrem Cousin Manuelo einmal einen Dollarschein gegeben, als der ihm half, seinen Buick Battistini, der vor der Eisdiele im Dorf nicht mehr anspringen wollte, den ganzen Weg bis hinauf nach Greyfriars zu schieben. Wie sehr hat Bianca ihren Cousin an jenem Tag um diesen Kraftakt beneidet, Schulter an Schulter mit Mr. Fisher – wenngleich die Straße hinauf nach Greyfriars einige Hundert Meter steil bergan geht und es eine gewaltige Anstrengung gewesen sein musste. Als Manuelo wieder zurück war, knallrot und durchgeschwitzt, löcherte sie ihn mit Fragen, wollte wissen, worüber sie gesprochen hatten, aber er sah sie nur mit leerer Miene an und sagte: Über gar nichts. Doch sie war sicher, dass Mr. Fisher ihm das ein oder andere Geheimnis anvertraut hatte, und war umso neidischer.

Und nun, da sie im stickig heißen Laden der Medeiros auf der Hemlock Street in unmittelbarer Nähe des Hafens steht und Dosensuppen ins Regal stapelt, denkt Bianca an jenen Nachmittag im August zurück und sieht ihn wieder vor sich, Mr. Fisher – wie er sein Leinenjackett auszieht, die Hemdsärmel hochkrempelt, sich über das elegante Heck seines Buick beugt und sein muskulöser Rücken von den Schulterblättern abwärts ein feucht glänzendes, wunderbares V am Rücken erkennen lässt, das sich nach unten hin verengt und in seinem Hosenbund verschwindet.

Sie räumt eine weitere Suppendose ein, bekreuzigt sich einmal mehr, und just in diesem Moment, wie durch eine himmlische Fügung, hört sie draußen vor dem Laden eine jugendliche, heitere Stimme rufen, die unverkennbar ihm gehört – Hugh Fisher. Der Zufall ist so unglaublich, dass sie zuerst denkt, er sei ihrer Fantasie entsprungen.

»Haalloo!«, ruft er noch einmal. »Jemand da?«

Bianca rührt sich nicht, bleibt hinter dem hohen Regal stehen, während sie nicht zu atmen wagt und mit rasendem Herzen darauf wartet, dass Tia Maria oder eine ihrer Cousinen auf sein Rufen reagiert. Aber nein, nichts.

»Haalloo? Francisca? Irgendwer da?«

Sie hebt die Hand, um ihr Haar glatt zu streichen, bleibt dabei aber an einer Suppendose hängen und stößt sich den Kopf. Sie schiebt die Dose zurück aufs Regal, eilt nach vorn in den Ladenraum, gerade als Mr. Fisher sich zum Gehen wendet.

»Hallo! Mr. Fisher!«

Er schwenkt herum und sieht sie an, sie ganz allein, Bianca Medeiro, und die Welt erstrahlt unter seinen funkelnden Augen, seinem hellen Lächeln.

»Ah, hallo«, sagt er. »Ich hatte gehofft, ich kriege hier ein oder zwei Flaschen Essig zu kaufen.«

2.

Und es gibt noch etwas, das sie über Hugh Fisher weiß: Im vergangenen Sommer verliebte er sich in ihre Cousine Francisca, das dritte Kind und die älteste Tochter von Tia Maria und Tio Manuelo. Und da Francisca sich Biancas Schwärmerei für Hugh durchaus bewusst war, versuchte sie ihr zuliebe, ihr Techtelmechtel mit Hugh möglichst geheim zu halten. Doch Bianca ahnte es ohnehin, an jenem Tag im Juli, als Francisca nach einer Ausrede suchte, um sich abends noch kurz aus dem Haus zu stehlen, eine Stunde später zurück war, mit erhitzten Wangen und glänzenden Augen und umweht von einem herb männlichen Duft, den Tio Manuelo bestimmt nicht in seinem Laden führte. In Wahrheit aber machte es Bianca gar nicht so viel aus. Dass Francisca mit Hugh Fisher ausging, war fast so, als ginge sie selbst mit ihm aus, und wenn sie hörte, wie die Hintertür leise knarzend aufging und wieder zufiel, stellte sie sich lebhaft vor, wie Francisca im Mondschein den Hügel hinaufeilte, wie sie Hugh Fisher oben auf den Klippen um den Hals fiel, unter ihnen das donnernde Branden des nachtblauen Meeres. Umso weniger kann sie sich vorstellen, wieso Hugh sich mit einer so unterkühlten Person wie Miss Dumont überhaupt einlassen sollte. Wenn Bianca Franciscas Haut berührte, war es für sie immer ein bisschen so, als würde sie ihn berühren – Hugh Fisher.

Und noch etwas: Im vergangenen Sommer war Francisca bereits eine junge Frau, neunzehn Jahre alt, zur vollen Schönheit erblüht. Bianca hingegen war erst sechzehn, hatte im vergangenen Winter erstmals ihre Menstruation bekommen, und ihr Gesicht war rund, pickelig und kindlich. Und so lag sie in jenen Sommernächten im Juli und August in ihrem Bett in der kleinen Schlafkammer, die sie sich mit ihren Cousinen teilte, und spitzte die Ohren, wenn es um heimliche Liebeleien ging, malte sich aus, dass sie die wunderschöne Francisca sei, die mit Hugh Fisher schlief, was ihr allemal lieber war als die Vorstellung, sich ihm selbst hinzugeben.

Irgendwann war der Sommer vorbei, und die reichen Familien, einschließlich der Fishers, kehrten in ihre Häuser nach New York, Boston, Providence und Philadelphia zurück. Francisca war das heulende Elend, ein einziger Trauerkloß. Am Esstisch erschien sie verweint und apathisch, aß keinen Bissen, und ihre Hausarbeiten erledigte sie freudlos und mechanisch, wie eine Maschine. Als sie an Weihnachten dann den Heiratsantrag annahm, den Pascoal Vargas ihr machte, dachten alle, sie sei über Hugh hinweg, denn ihre Wangen waren wieder rosiger, ihre Hüften hatten wieder den alten Schwung, und sie machte sich mit Eifer daran, ihre Brautausstattung zusammenzutragen, die so üppig ausfiel wie keine je zuvor in der Geschichte der Medeiro-Frauen, denn Pascoal Vargas hatte als Hummerfischer in den letzten Jahren viel Geld verdient, sehr viel Geld, und war gerade zum neuen Leuchtturmwärter von Fleet Rock ernannt worden. Francisca würde also fast so etwas wie ein Luxusleben führen. Wen kümmerte es da, dass ihr Angetrauter in spe schon über vierzig war und einem hutzeligen dunkelhaarigen Troll ähnelte? Und wozu romantische Gefühlsduselei, wenn man einen Verlobten hatte mit Geld auf der Bank und einem sicheren, angesehenen Job?

Doch Bianca ist skeptisch.

Das neuerliche Leuchten in den Augen ihrer Cousine nämlich ist ihr nicht entgangen, nun, da die Fishers wieder auf Winthrop Island sind. Und es ist ihr auch nicht entgangen, wie Francisca nach Ausreden sucht, um aus dem Haus zu kommen und hinauf auf die Klippen über dem Dorf zu steigen, oder wie sie ihrem Bruder Manuelo freiwillig anbietet, ihn auf seinen Liefertouren im alten Ford Model T ihres Vaters zu begleiten.

Doch nun ist ein neues Jahr, ein neuer Sommer. Francisca ist bald unter der Haube, ein Hausmütterchen quasi, und Bianca hat sich im Laufe des Winters vom hässlichen Entlein zu einem schönen Schwan gemausert, endlich. Ihre Pickel sind verschwunden, ihr Gesicht ist nun strahlend, glatt und rosig, ihr Haar dicht und glänzend, und ihr kleiner, zierlicher Körper hat wohlproportionierte weibliche Rundungen entwickelt – eine Augenweide für die Männerwelt.

Als Ostern vorbei war, es draußen grünte und blühte und die raue Luft Neuenglands langsam milder und wärmer wurde, war Bianca dabei, sich auf ihren Schulabschluss vorzubereiten, die kleine Winthrop Island School bald zu verlassen, frei zu sein. Sie fühlte ihre große Stunde kommen, hatte die sprichwörtlichen Hummeln im Hintern, steckte schon morgens voller Energie und Unruhe. Sie hatte das Gefühl, dass bald etwas Großes auf sie zukommen würde, die Zukunft, die für sie ausersehen war.

Sie hat nur noch auf ein Zeichen gewartet!

3.

Ist dies das Zeichen? Hugh Fisher? Der direkt vor ihr im Laden steht, rund einen halben Meter entfernt von der Holztheke mit dem Essig, der nicht wirklich ein Essig ist, in einem blauen Seersucker-Anzug, der seine Augen noch blauer strahlen lässt, als sie es in Erinnerung hat. Seine Haut ist golden vom Licht der Sonne und leicht gerötet von der Hitze, und sein glänzend blondes Haar gleicht dem güldenen Helm des Apoll, wie sie findet. (Sie wird sich später bekreuzigen.)

Bianca schiebt sich eine lose Haarsträhne hinters Ohr. Tia Maria duldet keine kurzen Haare bei ihren Mädchen, und dass sie jeden Trend mitmachen, schon gar nicht. Also steckt Bianca ihre Haare zu einem losen Knoten am Hinterkopf und zupft seitlich ein paar lockige Strähnchen hervor, ein bisschen so wie Clara Bow.

»Was für eine Sorte Essig brauchen Sie denn, Sir?«, fragt sie höflich, wenngleich ihr Herz wie wild pocht und sie kaum ein Wort hervorbringt.

Er lächelt ein bisschen verlegen. »Nun, ich habe gehört, man kriegt hier eine ganz spezielle Sorte Essig. Ich habe nämlich keinen mehr. Sollte ihn gestern Abend eigentlich geliefert bekommen, zum Bootsschuppen in Greyfriars, aber der Bote kam nicht.«

Biancas nervöser Blick wandert zu Tio Manuelos geheimem Regalfach hinter der Theke und wieder zurück zu Hugh Fishers Mund. (Sie kann ihm unmöglich direkt in die Augen schauen, nicht, solange ihre Nerven derart flattern, nicht, solange sie ihre Tränen wegblinzeln müsste angesichts seiner vollkommenen Schönheit, direkt vor ihrer Nase, zum Greifen nah.)

»Ich fürchte, ich kenne mich mit Essig nicht gut aus«, sagt sie.

»Nein, natürlich nicht. Ein so süßes, junges Ding wie du. Ist dein Vater da?«

»Mein Onkel«, sagt sie und errötet verschämt. Ein so süßes, junges Ding! Bemerkt er denn gar nicht, dass sie inzwischen eine junge Frau ist, ein Schwan? Bemerkt er ihre strahlende Haut nicht, ihr glänzendes Haar, ihre weiblichen Kurven, die gerundete Form ihrer Brüste und Hüften? Alle Jungs drehen sich nach ihr um, auch die Männer, sie jedoch erwidert keinen ihrer Blicke, nicht einen. Ihre blühende Schönheit ist allein für einen einzigen Mann auf dieser Welt bestimmt, und dieser Eine steht nun direkt vor ihr – undausgerechnet er bemerkt es nicht?

»Dein Onkel. Wenn er hinten ist, gehe ich schnell zu ihm durch.«

»Er ist unterwegs.«

»Und sonst ist niemand da? Nur du?«

»Ja«, sagt Bianca, wobei sie sich eigentlich gar nicht so sicher ist. Laura und Tia Maria waren eben noch hier. Wo sind sie bloß? Hinten im Garten, um heimlich eine zu rauchen?

»Verstehe.« Er sieht sie an, als wäre sie bloß ein Kind, als wäre sie nichts weiter als eben ein süßes, junges Ding, wie er sie genannt hat, und greift dann in die Innentasche seines Seersucker-Jacketts. »Dann kannst du ihm vielleicht meine Karte geben. Hier, meine Telefonnummer schreibe ich auf die Rückseite. Kannst du ihm das von mir geben?«

Er schiebt den kurzen Bleistift zurück in die Sakkotasche und streckt ihr die Karte mit seiner gepflegten Hand entgegen. Bianca nimmt sie, wobei sich ihre Fingerspitzen unwillkürlich sacht berühren und ein Kribbeln durch ihren ganzen Körper geht. Sie atmet tief ein, um den Duft seiner besonderen Rasierseife zu riechen, den man unter all den Seifen hier in Tio Manuelos Laden vergeblich suchen würde. Ein geradezu magischer Duft, ein himmlischer Wohlgeruch, der ihr obendrein weiche Knie macht, so berauschend wirkt er auf sie.

»Alles in Ordnung?«, fragt Mr. Fisher hörbar besorgt.

»Ja, alles okay.« Sie ist heillos betört, als sie die Augen wieder öffnet, die ihr vor lauter Verzückung zugefallen sind, und sie begegnet seinem Blick, seinen umwerfend blauen Augen, und sie bemerkt beglückt, wie diese plötzlich Feuer fangen.

»Sorry«, sagt er. »Ich glaube, ich weiß gar nicht, wie du heißt.«

»Ich bin Bianca. Bianca Medeiro.« Sie steckt die Karte in ihre Schürzentasche. »Und ich glaube, ich weiß, wo ich Ihren Essig finde, Mr. Fisher.«

4.

Hugh Fisher kauft zwei Flaschen Essig und gibt eine weitere Bestellung auf, die Bianca persönlich auszuliefern verspricht.

»Zum Bootsschuppen«, sagt er, »dort ist eine Klappe in der Decke, die findest du.« Bevor er geht, nimmt er ihre Hand und küsst sie – zuerst auf den Handrücken, und dann dreht er ihre Hand um, küsst sie auf die Handinnenfläche … und drückt sie zu, wie um den Kuss darin einzuschließen.

»War mir eine Freude, Miss Medeiro«, sagt er bedeutungsvoll. »Auf ein baldiges Wiedersehen?«

»Ja«, erwidert Bianca atemlos und schwebt für den Rest des Tages mindestens einen halben Meter über dem Boden. Als sie sich an jenem Abend schlafen legt, kriegt sie kein Auge zu. Sie presst die Hand an ihre Lippen – die von ihm geheiligte Hand, die sie natürlich nicht gewaschen hat – und denkt: Endlich, endlich ist es da, das Zeichen, dass mein Leben wirklich begonnen hat.

Und dieses Mal bekreuzigt sie sich nicht!

1951 (MIRANDA SCHUYLER)

1.

Am Morgen des Hochzeitstages meiner Mutter sah ich zwei Hummerboote, die draußen vor meinem Schlafzimmerfenster über das Meer glitten und ihre Fangkörbe ausbrachten, während die Sonne sich über den Horizont schob. Sie waren ein gutes Stück entfernt, eins östlich des Fleet-Rock-Leuchtturms, eins westlich davon, und ich wäre gar nicht darauf gekommen, dass es sich um Hummerfischer handelte (ich hatte damals keinen Schimmer vom Fischfang), hätte ich nicht ein Fernglas gehabt und gesehen, wie sie die Körbe vom Heck ihrer Boote aus ins Wasser ließen, einen nach dem anderen. Jeder Korb wurde an einem Seil befestigt, an dessen Ende eine farbige Boje hing, die im Wasser munter auf und ab schaukelte, während das Boot weiterfuhr.

Hinter mir regte sich etwas. Meine Mutter.

»Bist du das, Miranda?«, nuschelte sie verschlafen.

»Ja.«

»Wie viel Uhr ist es denn?«

»Erst halb sechs. Schlaf weiter, Mama.«

»Was … so früh?«, brummte sie und ließ ein halb verschlafenes Seufzen vernehmen, so wie man es in aller Herrgottsfrühe macht, um sich dann noch einmal umzudrehen, in die Kissen zu schmiegen und weiterzudösen.

»Ach, Miranda, du früher Vogel«, raunte sie.

Ob sie noch weiß, dass sie heute heiratet?, fragte ich mich. Manchmal, wenn man ganz fest schläft, passiert es ja, dass man alles vergisst, was man je gewusst hat, sogar den eigenen Namen, zumal Winthrop Island des Nachts wohl der ruhigste Ort der Welt ist, wäre da nicht das ewige Rauschen des Meeres, so nachtschwarz, so samtweich, dass man in sanften Schlummer sinkt, sobald man die Augen schließt. Man sinkt und sinkt, wie ein Anker, der keinen Grund findet, und ich glaube nicht, dass ich jemals wieder so tief geschlafen habe wie in jenem Sommer 1951, in meinem Schlafzimmer im weitläufigen Haus meines Stiefvaters hier auf der Insel.

Bis auf ebenjene Nacht Anfang Juni, die Nacht vor dem Hochzeitsmorgen meiner Mutter. Hugh Fisher war noch nicht mein Stiefvater. Der schicksalsschwere Sommer lag noch vor mir – wie eine Filmrolle, die darauf wartete, abgespult zu werden, und woher hätte ich wissen sollen, dass ich genau jetzt bereits die erste Szene in diesem Film durchlebte? Wie hätte ich ahnen können, dass eine an sich so belanglose Beobachtung den Lauf meines Lebens komplett verändern würde? An besagtem Morgen jedenfalls dachte ich einzig und allein an die bevorstehende Hochzeit. Sie war schließlich das Ereignis des Tages. Das ganz große Ereignis! Anstatt tief und fest zu schlafen, war ich nach einer unruhigen Nacht schon in aller Frühe wach und kniete nun am Fenster, das Fernglas vor den Augen, und sah dem geschäftigen Treiben der Hummerfischer auf dem Wasser zu, während die Sonne schläfrig über dem Meer aufstieg.

Ich sah den Leuchtturm seine Farbe ändern, von Blauviolett über Blassrosa zu Goldgelb, sah die Felsen ringsum aus dem Schatten tauchen und die kleinen Bojen, die hinter den Booten in langen, schaukelnden Linien mehr und immer mehr wurden. Ich sah den Hummerfischern zu. In dem Boot ganz im Osten waren zwei von ihnen zugange: ein kleiner, breitschultriger, mit gestreiftem Hemd und Strickmütze, und ein großer, hagerer, ohne Mütze, der die Fangkörbe ins Wasser ließ, während sein Bootskamerad sie mit Ködern versah.

Im zweiten Boot, dem im Westen, saß ein alter Mann ganz allein. Er bewegte sich nur langsam voran, setzte einen Fangkorb ins Wasser, wo das andere Boot in derselben Zeit bereits drei ausgebracht hatte, und wie das Morgenlicht immer heller strahlte, konnte ich die Tattoos auf seinen starken Armen erkennen und den silberweißen Seemannsbart, der sein Gesicht umrahmte. Er war fast kahlköpfig, kaute an einer Pfeife, und ich gab ihm den Namen Popeye. Ich fand, er hatte etwas Trauriges, ja, Tragisches, wie er jeden Fangkorb mit einem Köder bestückte, Seil und Boje daran befestigte und das Ganze dann über den Bootsrand hievte. Oder vielleicht, rückblickend betrachtet, unterstellte ich ihm diese Eigenschaften auch nur. Das mit den Erinnerungen ist manchmal eine komische Sache. Wie dem auch sei, dem Boot im Osten gingen die Fangkörbe oder etwas anderes aus, denn es wendete und steuerte zurück zum Hafen, verschwand kurz hinter dem Leuchtturm und kam dann wieder zum Vorschein, die weißen Bootsseiten glänzend im Sonnenlicht. Zur selben Zeit schwang Popeye einen weiteren Hummerfangkorb über die Bootskante, und dann … Vielleicht hatte ihn eine Welle umgerissen, vielleicht hatte er den Halt verloren, ich weiß es nicht, denn ich hatte den Blick inzwischen auf das andere Boot gerichtet, auf den schlanken, barhäuptigen, unbekümmerten Mann, der jetzt am Steuerrad stand – einen jungen Mann, Arme und Gesicht braun gebrannt, die lockigen Haare wehend im Fahrtwind – und so werde ich nie wissen, warum Popeye über Bord ging. Ich sah lediglich, wie der junge Mann aufschnellte, den Kopf herumriss und seinem Bootskameraden etwas zubrüllte, wie er sich bückte, sich die Gummistiefel von den Füßen riss und im nächsten Moment in einem langen, perfekten Bogen ins Wasser sprang.

Nun habe ich viele Male gehört, dass Fischer nicht schwimmen können, was mit Aberglauben oder so zu tun haben soll. Wenn dem so ist, dann war dieser Fischer jedenfalls nicht von der abergläubischen Sorte. Eine Strecke von über einhundert Metern ist kein Pappenstiel, zumal hier, in den kalten nördlichen Gewässern Anfang Juni, doch er schwamm, als drehte er einfach mal eben ein paar Runden im Swimmingpool des CVJM, gleichmäßig, mit festen Zügen, gänzlich unbeeindruckt von Entfernung, Eiseskälte oder Wellengang. Und während ich frierend auf dem Holzdielenboden meines Schlafzimmers am Fenster kniete und dem Schwimmer durch das Fernglas folgte, vollführte mein Held eine letzte Hebung und tauchte dann unter die Oberfläche ab, genau an der Stelle, wo Popeye soeben aufgehört hatte, wild um sich zu schlagen, und versank – und ich dachte bei mir: Himmel hilf, wie will denn solch ein schlanker Bursche einen derart schweren Klotz wie Popeye zurück an die Oberfläche ziehen?

Ich hielt den Atem an, in stiller Verbundenheit mit den beiden Männern. Meine Arme begannen zu zittern. Ich beugte mich nach vorn, um die Ellbogen am Fensterrahmen abzustützen, das Fleckchen Wasser fest im Blick, und hörte mein Herz laut pochen, zählte die Schläge mit, bis es irgendwann so viele wurden, dass ich nicht mehr mitkam und leise zu weinen begann.

Bitte, bitte, bitte.

Dieser eben noch unbekümmerte junge Mann. Dieser arme Alte.

Bitte, lieber Gott, bitte.

Ich erinnere mich noch an das stille Glitzern der Sonne auf dem Wasser. An den besonderen, miefig-salzigen Linnengeruch der Wäsche in diesem Schlafzimmer, frisch belüftet nach dem Winterschlaf, ein Geruch, der bis heute in mir den Schrecken dieses Moments wachruft. Und manchmal frage ich mich, was wohl wäre, wenn die beiden nie mehr aufgetaucht wären. Was, wenn er nie mehr aufgetaucht wäre? Was, wenn diese beiden Hummerfischer, ein junger und ein alter, am Morgen der Hochzeit meiner Mutter zusammen ertrunken wären, wenn eine schreckliche Tragödie einen Tag voll Glück und Verheißung verdüstert hätte, und ich niemals einen von ihnen kennengelernt hätte?

Ich denke, auf diese Fragen gibt es keine Antwort. Denn gerade, als ich in Panik verfallen, das Fernglas absetzen, mich aufrappeln und um Hilfe schreien wollte, schossen die beiden durch die glitzernden Wellen empor wie ein einzelner verwundeter Wal. Der junge Fischer hechtete mit einer langen Bewegung nach einem Seil, das nahe am Heck von Popeyes Boot baumelte, zog Popeye über die Bootskante und sich selbst hinterher. Dann trommelte er wie wild auf Popeyes Rücken ein, der daraufhin literweise salziges Meerwasser erbrach.

Mit der Linken packte er das Steuerrad, mit der Rechten den Fahrhebel, doch er steuerte nicht den Hafen an, der auf der geschützten Seite der Insel gut eine Meile entfernt lag, sondern die nächstgelegene Anlegestelle – den Steg von Hugh Fisher, den Steg meines künftigen Stiefvaters, den Steg in direkter Sichtlinie vor meinem Schlafzimmerfenster.

Himmel, war ich erleichtert. Ich sprang auf, rannte zur Tür, die Treppen hinunter, in die Küche, schrie das Küchenmädchen an, den Arzt zu rufen, aber rasch, ein Boot läuft ein, mit einem halb ertrunkenen Mann. Einem Hummerfischer. Ein rosiges Gesicht, blank vor Entsetzen. »Einem was?«, rief sie.

»Einem alten Mann, er war ganz allein dort draußen!«

»Du meine Güte, bestimmt Mr. Silva!« Sie fuhr herum, langte nach dem Telefon an der Wand, und ich riss die Küchentür auf, rannte über den weichen grünen Rasen, am Swimmingpool und den großen weißen Festzelten entlang, die für die Hochzeit bereitstanden, am Bootsschuppen vorbei und den Holzsteg hinunter, wo eine frische Brise meine Wangen streifte, die Sonne mich durchflutete und das Dröhnen des Hummerbootsmotors in meinen Ohren immer lauter wurde, wie das Brummen Tausender heranschwirrender Honigbienen.

2.

Den Namen Miranda hatte mir mein Vater gegeben. Er war damals Lehrer an einem reinen Mädcheninternat in Virginia – kein Englischlehrer, wie man bei solch einem Namen vermuten könnte, sondern Kunstlehrer. Hauptsächlich für Malerei, obgleich er auch Bildhauerei unterrichtete, wenn es der Lehrplan zuließ.

Darüber hinaus liebte er Bücher, vor allem alte Bücher. Er brachte mir das Lesen bei, als ich noch sehr klein war, vielleicht zwei oder drei, und als ich fünf war, lasen wir zusammen Shakespeare-Stücke mit verteilten Rollen. Wir saßen in seiner Studierstube, einem winzigen, gemütlichen Zimmer mit großen Fenstern, ich auf dem Chesterfield-Ledersofa, er im Lehnsessel daneben. Wir tranken Kakao, und es roch nach Schokolade, vor allem aber nach Büchern – die Luft war erfüllt von diesem ganz bestimmten Geruch nach … ja, wonach eigentlich? Nach Druckerschwärze, nach Papier oder nach Binderleim? Ich weiß es nicht, jedenfalls war es ein ganz markanter Duft. Ich kann ihn heute noch riechen, irgendwo in meiner Erinnerung, und er trägt mich zurück in jenes Zimmer, zum Klang der Stimme meines Vaters, die anhebt, John of Gaunts letzte Rede auf dem Totenbett zu rezitieren …

Ich bin ein neu begeisterter Prophet,

Und so weissag’ ich über ihn, verscheidend …

Er hatte eine wunderschöne, volle Baritonstimme, und wie er da so saß in seinem Lehnsessel und Shakespeare rezitierte, die Beine übereinandergeschlagen, in seinem weichen Hemd, der Tweedjacke und der wollenen Weste, während seine blauen Augen die Seiten fixierten (obgleich er die Worte auswendig kannte), und ich ihm von meinem Platz auf dem Sofa aus lauschte, hätte ich mir fast einbilden können, er sei wirklich der Duke of Lancaster, der letzte große Herrscher aus dem Haus Plantagenet, so brillant war sein Ausdruck der Verzweiflung. Aus meiner Sicht gab es keinen heldenhafteren Mann als meinen Vater.

Dies teure, teure Land so teurer Seelen,

Durch seinen Ruf in aller Welt so teuer,

Ist nun in Pacht, – ich sterbe, da ich’s sage, –

Gleich einem Landgut oder Meierhof.

Ja, England, eingefaßt vom stolzen Meer.

Des Felsgestade jeden Wellensturm

Des neidischen Neptunus wirft zurück,

Ist nun in Schmach gefaßt –

Und ihm verdanke ich den Namen Miranda. Miranda, die im Shakespeare-Drama Der Sturm allein mit ihrem Vater, dem Zauberer Prospero, auf einer unbekannten, von Feen und Geister-Kreaturen bevölkerten Insel aufwächst. Ich habe mich oft gefragt, warum er gerade diese Figur ausgewählt hatte, gerade diese Tochter, gerade dieses Stück. Ich denke, es hatte etwas mit dem Meer zu tun, das er liebte, und auch mit den Stürmen, die ihn ebenfalls faszinierten. Oder vielleicht auch mit anderen Dingen. Ich werde es nie mehr erfahren. Am 2. November 1943 wurde er nach England eingeschifft – Dies Land der Majestät, der Sitz des Mars (…) Dies Kleinod, in die Silbersee gefaßt … Ich war zehn damals und erhaschte noch einen flüchtigen Blick auf ihn, wie er winkend an der Reling eines militärgrauen Truppentransporters stand, bevor er im dunklen Nebel des New Yorker Hafens verschwand wie ein Geist. Das war’s.

Und dennoch habe ich es dem Meer nie verziehen, dass es meinen Vater einfach so verschlungen hat.

Und wie ich dort stand, am Ende des Stegs von Greyfriars, und das Hummerfischerboot näher kommen sah, versetzte mich das Dröhnen des Bootsmotors in eine unerklärliche Erregung. Ob es Angst war oder Freude, keine Ahnung. Ich hatte das Gefühl, als würde der Meeresgott Neptun, der meinen Vater verschlungen hatte, mir jetzt, ganze acht Jahre später, irgendetwas vor die Füße speien.

Ein Etwas in der Gestalt eines jungen Adonis mit lockigem dunklem Haar und sonnengebräunter Haut, kraftvoll und stark genug, einen Mann vor dem Ertrinken zu retten.

3.

Ich hatte damals nicht viel Ahnung von Booten, aber dass ich das Seil, das mir der junge Mann entgegenwarf, packen und fest um einen der Poller schlingen musste, war mir klar. Die Flut war hoch und träge, und das Boot kam nur knapp einen halben Meter unterhalb der Holzplanken zum Halten. Im Boot lag Popeye, hustete, keuchte, röchelte und blutete, von woher auch immer.

Der junge Mann hob Popeye mit kräftigen Armen an und wuchtete ihn hoch auf den Steg, wo ich ihm unter die Arme fasste und ihn von der Kante wegzog. Er war schwerer, als ich dachte, ein nasser Brocken, ein echtes Muskelpaket, und mit meinen nackten Füßen auf den Holzplanken eine recht rutschige Angelegenheit.

»Vorsichtig!«, rief der junge Mann, sprang mir zur Seite, riss Popeye das Hemd auf, kontrollierte Herzschlag und Atmung, denn er hatte aufgehört zu schnaufen, hing nur mehr schlaff in meinen Armen.

»Der Arzt ist unterwegs!«, stieß ich hervor. »Ich habe euch vom Fenster aus gesehen.«

»Jesus, Maria – sein Arm!«

Da sah ich Popeyes linken Arm, der schrecklich verdreht war und aus dem das Blut strömte.

»Hier«, sagte der junge Mann, »halt seinen Arm fest am Körper, während ich ihn anhebe. Kriegst du das hin? Eins, zwei, drei.«

Ich rappelte mich hoch, beugte mich über Popeye, um seinen Ellbogen vorsichtig zu halten, während der junge Mann den wettergegerbten alten Fischer behutsam um die Hüfte fasste – wie ein, ja, wie ein Ritter ein Burgfräulein – und ihn langsam anhob. Nun sah ich, dass der blanke Knochen nach außen verdreht war und durch das nasse Karohemd ragte – mir wurde fast schlecht, speiübel, nein, oh nein, bitte nicht jetzt! Ich redete mir gut zu, die Krankenschwestern im Krieg, sagte ich mir, haben weiß Gott Schlimmeres gesehen. Und möglicherweise hat eine von ihnen meinen Vater gepflegt. Also, stell dich nicht so an und reiß dich zusammen, sagte ich mir. Ich hob also Popeyes Arm an, legte ihn quer über seinen Bauch und drückte ihn an, so gut ich konnte. Ganz vorsichtig zogen wir Popeye hinüber auf die Wiese. Er blieb völlig reglos. Lass ihn bitte nicht gestorben sein, betete ich.

Die Sonne schien mir seitlich ins Gesicht, während wir uns langsam den grünen Hang hinaufschleppten, am Bootsschuppen und den Zelten vorbei, die Stufen zur Terrasse hinauf und um die Ecke herum zur Küche, wo uns das Küchenmädchen bereits entgegenwinkte.

»Leg ihn direkt hier ab, Joseph! Ich habe den Küchentisch saubergemacht. Der Arzt wird jede Minute hier sein. Jesus, Maria!«, rief sie. »Wie sieht er denn aus! Was ist passiert?«

Wir legten ihn langsam ab. Joseph kontrollierte noch einmal Herzschlag und Atmung und fluchte. Über Popeyes Gesicht gebeugt, die Nase zugedrückt, begann er mit der Mund-zu-Mund-Beatmung, während das Küchenmädchen davoneilte, um Handtücher und andere nützliche Dinge herbeizuschaffen. Ich stand nur da, hielt Popeyes Arm und wusste nichts weiter zu tun. Nach ein bis zwei Wiederbelebungsversuchen begann sich Popeyes Brust zu heben, und Joseph drehte ihn rasch auf die Seite. Wieder erbrach er einen Schwall Wasser, sprudelnd und spritzend, begleitet von einem elenden Ächzen, und just in diesem Moment eilte der Arzt in fliegender Hast, mit wehendem Morgenmantel, durch die Tür – Gott sei Dank.

4.

So etwas wie ein Krankenhaus hat es auf Winthrop Island nie gegeben, wie ich später erfuhr. Entweder war man krank genug, um sich auf den Weg ins Krankenhaus auf dem Festland zu machen, oder kurierte sich daheim im Bett aus. Besagter Arzt, Dr. Huxley, hatte vor Ort keine eigene Praxis. Er war ein sogenannter Sommerfrischler, der die Sommer in seinem Haus hier auf der Insel verbrachte und der sich für Notfälle zur Verfügung stellte unter der Bedingung, ihn doch bitte nicht zur Happy Hour oder beim Golfen zu stören.

Zum Glück für Popeye war der gute Herr Doktor ein Frühaufsteher und wohnte weiter oben an der Winthrop Road, nicht mal einen Kilometer von Greyfriars entfernt. Er fixierte Popeyes gebrochenen Arm, vernähte die Wunden und wies den Hausherrn, Mr. Fisher, an, ihn in einem der Gästezimmer unterzubringen mit der strengen Weisung, auf Anzeichen einer Lungenentzündung zu achten.

»Was ist mit seiner Familie?«, fragte ich. »Sollten wir sie nicht anrufen und Bescheid geben?«

»Er hat keine Familie. Seine Frau starb vor zwei Jahren. Die Kinder sind aufs Festland gezogen«, sagte Joseph und sah mir dabei lächelnd in die Augen.

»Oh, tut mir leid.«

»So ist das eben auf dieser Insel. Die Kinder ziehen weg.«

Er wurde ein bisschen rot, musterte mich mit einem flüchtigen Blick, und ich bemerkte, dass ich noch meinen alten grünen Flanellschlafanzug anhatte, der mir, nass von Meerwasser und Blut, auf der Haut klebte. Ich verschränkte die Arme vor der Brust. Mr. Fisher und Dr. Huxley waren zusammen mit dem Küchenmädchen oben, um den Patienten in einem der Zimmer ins Bett zu legen. Mit der Sonne, die durch die Fensterscheibe fiel, wurde es in der Küche langsam wärmer, und ich bemerkte den frischen Backgeruch, der mir in die Nase stieg, einen Duft nach Zucker und Vanille, einen Hochzeitsduft. Ach ja, der Backofen war vermutlich an, gab Wärme ab und heizte den Raum zusätzlich auf. Ich stierte auf den Küchentisch, den ich zusammen mit Joseph eben gesäubert hatte, mit Spültüchern, heißem Wasser und Essig, dessen säuerlich stechender Geruch noch immer in der Luft hing. Jetzt, wo alles wieder blitzsauber war, sah es in der Küche so aus, als wäre nichts geschehen. Es war eine Küche, nichts weiter als eine alte, große Küche auf einem alten, großen Sommerlandsitz. Und zwei Menschen, die sich unmittelbar und leicht unbeholfen gegenüberstanden – wie zwei Schauspieler, die ihren Text vergessen hatten.

Joseph drehte sich zur Tür, schickte sich an zu gehen.

»Möchtest du einen Kaffee?«, fragte ich.

»Hast du einen fertig? Ich meine, du musst nicht extra welchen machen.«

»Ich denke schon.« Ich ging zur Kaffeemaschine auf der Küchentheke und nahm die Kanne. Sie war schwer. Hinter mir hörte ich das leise Kratzen eines Stuhlbeins auf dem Linoleumboden. Ich öffnete ein paar Küchenschranktüren, suchte nach Kaffeebechern.

Joseph räusperte sich. »Du musst die Tochter von Mrs. Schuyler sein.«

»Ja, die bin ich.«

»Tut mir unendlich leid, wenn ich euren großen Tag ruiniert habe.«

»Ach woher! Er lebt, und das ist doch die Hauptsache, meinst du nicht? Bringt bestimmt Glück. Dank dir. Von ruiniert kann also gar keine Rede sein. Möchtest du Sahne oder sonst irgendwas?«

»Ich bediene mich, danke!«

Das Stuhlbein kratzte abermals über den Boden, und aus dem Augenwinkel sah ich ihn zum Kühlschrank gehen und die Tür aufziehen. Er war gut eins achtzig groß und trug noch immer sein wasserdichtes gelbes Ölzeug über dem nassen Hemd, während seine Haare langsam trockneten und sich weich um seine Ohren ringelten. Ich drehte mich zu ihm um und reichte ihm den Kaffeebecher.

»Danke«, sagte er und gab ein paar Tropfen Sahne aus einem kleinen blauen Kännchen hinein. »Du auch?«

»Ja, bitte.«

Er hielt das Kännchen über meine Tasse und neigte es so, dass der feine gelbweiße Sahnestrahl gleichmäßig hineinfloss. »Sag einfach Stopp.«

»Stopp.«

Er nahm das Kännchen hoch und stellte es zurück in den Kühlschrank, während ich mich zum Fenster drehte, damit er nicht mitbekam, dass ich seinen Nacken betrachtet hatte, dort, wo seine Haare sich lockten. Ich hatte nicht viel Erfahrung mit jungen Männern, hatte kaum Zeit mit einem verbracht und konnte auch schwer sagen, wie alt er war. Zwanzig? Einundzwanzig? Älter als ich jedenfalls. Seine Haut war jugendlich frisch und glatt, die Schultern hingegen hatten etwas ausgereift Männliches, etwas Breites, Starkes – und seine Stimme hatte eine harmonische, reife Klangfarbe, so gar nichts von einer Jungenstimme.

Älter als ich, ganz klar. Nicht viel vielleicht, aber immerhin. Kein Junge mehr, sondern ein erwachsener Mann, ein Mann, der seine Brötchen verdiente, wohingegen ich noch das junge Mädchen war, vor Kurzem von der Highschool abgegangen, im Februar gerade mal achtzehn geworden. Noch keine zwanzig. Noch absolut grün hinter den Ohren.

Ich rührte meinen Kaffee um und schleckte den Löffel ab. Joseph kam näher, nicht zu nahe, und sagte: »Wie gefällt dir denn die Insel? Du bist gestern Abend hier angekommen, nicht wahr?«

»Oh, sie ist wunderschön.« Ich legte den Löffel beiseite. »Aber woher weißt du, wann ich angekommen bin?«

»Miss Schuyler, eins musst du wissen: Hier auf der Insel weiß jeder alles über jeden. Und zwar spätestens fünf Minuten, nachdem es etwas Neues zu wissen gibt, wenn nicht schon früher. Es verbreitet sich in Windeseile, wie eine Art stille Post oder so was.« Er unterbrach sich, um einen Schluck Kaffee zu trinken. »Außerdem habe ich gesehen, dass Isobel dich an der Fähre unten abgeholt und hergefahren hat.«

»Ja, hat sie.«

Durch das Fenster blickte ich auf die Wiese und die Zelte. Irgendwann im Trubel der letzten Stunde musste ein alter, rostroter Ford Transit auf die Wiese vor dem Haus gefahren sein, denn ein paar Männer waren bereits dabei, haufenweise Kisten auszuladen. Kisten mit Gläsern und Porzellangeschirr, wie ich vermutete. Dahinter, vor dem blassblauen Himmel, konnte ich gerade so einen schmalen Streifen vom Anlegesteg erkennen und die vorspitzende Nase von Popeyes Boot, das dort vertäut lag.

»Die ganze Insel ist völlig aus dem Häuschen«, sagte Joseph.

»Warum das denn?«

»Warum? Na, wegen der Hochzeit. Mr. Fisher ist hier ein ziemlich dicker Fisch, um es mal so zu sagen.«

Ich verlagerte mein Gewicht von einem Fuß auf den anderen und blickte in meinen braun-trüben Kaffee. »Ich kenne ihn eigentlich gar nicht so gut. Zu Mama jedenfalls war er immer furchtbar nett.«

»Habe gehört, die beiden haben sich an deiner Schule kennengelernt?«

»Ja. Letztes Jahr.« Ich hielt inne, doch die Stille schien derart gewaltig, dass ich rasch weiterredete, auch weil er so interessiert gefragt hatte. »Ich glaube, es war auf Isobels Abschlussfeier. Irgend so was. Vor lauter Feierlichkeiten und Partys weiß ich das gar nicht mehr so genau. Meine Mutter war Sekretärin im Rektorat, seit mein Vater, na ja, seit mein Vater …«, stotterte ich und stockte. Der Gedanke an meinen Vater ließ mein ohnehin nervöses Gestammel verstummen.

»… im Krieg gefallen ist, nicht wahr?«, sagte Joseph gänzlich ungeniert.

»Woher weißt du das?«

»Wie gesagt, die Insel weiß alles und spricht seit Wochen davon, Miss Schuyler. Nicht, dass ich groß was auf Klatsch und Tratsch geben würde. Aber man bekommt eben alles mit, ob man will oder nicht. Meine Großmutter führt den Krämerladen im Ort. Und es gibt nichts, was sie nicht weiß.«

Ich sah kurz zu ihm hinüber, und obwohl er geradeaus vor sich hin stierte, die Tasse gegen die Lippen hielt, als wäre er schwer beeindruckt vom vielen Kristall und Porzellan, das draußen gerade ausgeladen wurde, war mir, als ob er ein klein bisschen lächelte.

»Ach, ist das so?«, erwiderte ich. »Was hast du denn noch gehört?«

»Oh, so allerlei.«

Schon komisch. Ich kannte diesen Jungen, diesen jungen Mann, gar nicht. Nur seinen Namen, sein Gesicht und sein ungefähres Alter. Und ich wusste, dass er seinen Lebensunterhalt damit verdiente, Hummer zu fangen, dass er schwimmen konnte und mannhaft ins Meer sprang, um einen anderen vor dem Ertrinken zu retten. Er war ein Fremder, und doch wieder nicht. Wir hatten mit vereinten Kräften einen blutenden, verletzten Mann in unseren Händen gehalten; wir hatten ein Leben am Rande des Jenseits direkt vor unseren Augen gesehen. Und jetzt standen wir bei einem Kaffee zusammen. Starrten aus dem Fenster, atmeten die gleiche Luft. Er war kein Fremder, und doch, er war ein Fremder.

Ich stellte meine Tasse ab und schwang mich mit einem Satz auf die Küchentheke. Die Uhr an der gegenüberliegenden Wand zeigte mit ihren spitzen schwarzen Zeigern Viertel nach sieben. Viertel nach sieben! Erst. Es kam mir so vor, als wäre eine halbe Ewigkeit vergangen. Ich verschränkte die Arme vor meinem peinlichen Schlafanzug und sagte – nicht zu Joseph, sondern eher in den Raum hinein: »Er hat elf Jahre lang an der Foxcroft Academy unterrichtet. Mein Vater. Er hat sich freistellen lassen, um beim Militär einzurücken, und nachdem er gefallen war, gab Miss Charlotte Mama einen Job, um über die Runden zu kommen. So ist sie, die liebe Miss Charlotte. Raue Schale, guter Kern, ein Herz aus Gold, wenn du weißt, was ich meine.«

»Was hat er denn unterrichtet?«

»Kunst. Deshalb hat er sich auch freiwillig gemeldet, weil er gehört hatte, was die Nazis machen … dass sie Kunstschätze plündern und zerstören. Und das konnte er nicht … Er konnte es einfach nicht hinnehmen, wie er sagte …«

»Ein guter Mensch.«

»Oh ja, das war er. Das war er wirklich. Klar, ich war erst elf, als er fiel. Und vielleicht habe ich ihn nie als einen wirklich realen Menschen begriffen, als einen ganz gewöhnlichen Menschen, einen, der im Krieg gefallen ist.«

»Nein«, sagte Joseph. »Er hat für etwas gekämpft, an das er glaubte. Ein Held, wie er im Buche steht.«

»Jeder hat gekämpft. Auch Mr. Fisher war im Krieg.«

»Ja, stimmt. Und zum Glück für deine Mutter kam er heil wieder zurück.«

»Ja, Glück gehabt.«

»Man sagt, sie ist eine wahre Schönheit, deine Mutter.«

»Mama? Oh ja. Hast du sie noch nie gesehen?«

»Nein, nicht direkt. Nur ihr Foto im Ortsblatt.«

»Manchmal starre ich sie an und frage mich, wie man nur so wunderschön sein kann, weißt du. Sie war blutjung, als sie meinen Daddy geheiratet hat. Gerade mal achtzehn. Kannst du dir das vorstellen, neunundzwanzig und schon verwitwet? Aber sie hat ihn so sehr geliebt, dass sie lange Zeit keinen anderen Mann angesehen hat.«

Er rührte sich leicht, drehte den Kopf und sah mich an. »Wie geht es dir jetzt damit? Freust du dich über die Hochzeit?«

»Ja, natürlich. Wieso denn nicht?«

»Nur so.«

»Mama ist glücklich. So glücklich, wie ich sie noch nie erlebt habe. Zumindest seit Daddys Tod nicht mehr. Man kann nicht ewig trauern, stimmt’s?«

»Stimmt.«

»Und ich denke, Mr. Fisher liebt sie auch, immerhin heiratet er sie nicht des Geldes wegen, so viel steht fest.«

»Eine echte Aschenputtel-Geschichte also.« Er trank seinen Kaffee aus, ging hinüber zum Spülbecken und schwenkte seine Tasse unter dem Wasser aus. »Ich bin dann mal weg. Muss Silvas Kahn zum Hafen zurückbringen. Und Pops fragt sich bestimmt schon, wo ich so lange bleibe.«

»Kannst du ihm nicht irgendwie sagen, dass er herkommen soll? Ist noch jede Menge Kaffee da.«

Er lächelte. »Pops würde niemals hierherkommen. Nicht nach Greyfriars.«

»Wirklich? Warum nicht? Mr. Fisher ist doch kein arroganter Snob oder so?«

»Ein Snob? Nein, wo denkst du hin. Ich meine das allgemein auf die Insel bezogen. Die feinen Familien der High Society und die Einheimischen respektieren sich gegenseitig, bleiben aber jeweils unter sich, was man sonst nur von wenigen Orten sagen kann.«

»Die feinen Familien der High Society?«

»Ja, die Sommerfrischler. So wie du.« Er trocknete sich die Hände an einem Geschirrtuch ab und streckte mir die Hand entgegen. »War schön, dich kennenzulernen, Miss Schuyler. Wenn auch unter weniger erfreulichen Umständen … Es hat mich trotzdem gefreut.«

Ich sprang von der Küchentheke und schüttelte ihm die Hand. »Miranda.«

»Miranda.« Er lächelte erneut.»Bewundernswürdige Miranda, in der That, alles würdig, was die Welt schäzbarstes hat!«