Im Herzen des Sturms - Beatriz Williams - E-Book
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Im Herzen des Sturms E-Book

Beatriz Williams

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Beschreibung

Liebe, Verrat und ein Geheimnis, das wie ein Sturm alles aufwühlt …

New York, 1931. Lily Dane begleitet ihre selbstbewusste beste Freundin Budgie Byrne zu einem Football-Spiel, bei dem sich die junge High Society trifft. Dabei lernt Lily den gutaussehenden, jüdischen Nick Greenwald kennen, in den sie sich sofort verliebt. Er erwidert ihre Gefühle, und gegen den Widerstand ihrer Familien versprechen sie sich die Liebe …

Rhode Island, 1938. Wie jedes Jahr verbringt Lily den Sommer im Strandhaus ihrer Familie im Örtchen Seaview. Doch ein Sturm kündigt sich an: Auch Budgie kehrt nach Jahren dorthin zurück – gemeinsam mit ihrem Ehemann Nick Greenwald …

Beatriz Williams erweckt das glamouröse Amerika der 1930er Jahre zu neuem Leben.

Die East-Coast-Reihe von Beatriz Williams bei Blanvalet:
1. Im Herzen des Sturms
2. Das geheime Leben der Violet Grant
3. Träume wie Sand und Meer
4. Die letzten Stunden des Sommers
5. Unser Traum von Freiheit

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Seitenzahl: 530

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Beatriz Williams

Im Herzen des Sturms

Roman

Aus dem Amerikanischen von Anja Hackländer

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel »A Hundred Summers« bei G. P. Putnam’s Sons / Penguin Group (USA) Inc., New York.

1. AuflageDeutsche Erstveröffentlichung Juli 2014 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.Copyright © 2013 by Beatriz WilliamsCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2014 by Verlagsgruppe Random House GmbH, MünchenUmschlaggestaltung: www.buerosued.deUmschlagmotiv: Arcangel Images/Evelina Kremsdorf;Trevillion Images/Jill BattagliaRedaktion: Sabine ThieleES · Herstellung: samSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN: 978-3-641-12622-3www.blanvalet.de

Den Opfern und Überlebenden des großen Neuengland-Hurrikans von 1938 und wie immer meinem Ehemann und meinen Kindern gewidmet.

DER STRAND VON DOVER

Mein Lieb, lass uns einander treu

Zur Seite stehn! Denn jener Weltenraum,

Zu unsren Füßen endlos wie ein Traum,

So mannigfach, so schön, so neu

Birgt weder Lieb, noch Licht, noch Pracht,

Noch Schutz, noch Fried, noch Heil der Qual

So stehn wir hier im finstren Tal,

Erfüllt von Lauten wirrer Flucht und Schlacht,

Wo blinde Heere ringen in der Nacht.

MATTHEW ARNOLD (1867)

1ROUTE 5, ZEHN MEILEN SÜDLICH VON HANOVER, NEW HAMPSHIRE

OKTOBER 1931

Einhundertundzwölf Meilen gewundenen Asphalts verbinden das Eingangsportal des Smith College mit dem Dartmouth Football Stadium, und Budgie fährt die gesamte Strecke, wie sie alles tut: ohne Rücksicht auf Verluste.

Ringsum schimmert das Laub in goldenen, orangen und tiefroten Tönen vor einem strahlend blauen Herbsthimmel, und die ungebrochenen Sonnenstrahlen necken uns mit einem trügerischen Eindruck von Wärme. Budgie hat beschlossen, mit offenem Verdeck zu fahren, obwohl ich mich schlotternd in meine Strickjacke hülle und krampfhaft meinen Hut festhalte.

Sie lacht mich aus. »Nimm den Hut einfach ab! So wie du dich daran festklammerst, erinnerst du mich an meine Mutter. Sie meint, es wäre das Ende der Zivilisation, wenn irgendjemand ihr Haar sieht.« Sie muss mir die Worte zuschreien, damit der Wind sie nicht fortträgt.

»Darum geht es doch gar nicht!«, rufe ich zurück. Der Punkt ist vielmehr, dass sich mein Haar, wenn ich es aus dem dunklen Filz meines Glockenhuts befreie, wie ein Steppenläufer verheddert, während Budgies kurze seidige Locken beschwingt hin und her wippen, um sich am Ende der Fahrt gehorsam zurück an ihren Platz zu begeben. Selbst ihr Haar beugt sich ihrem Willen. Doch meine Erklärung ist viel zu kompliziert, um sich gegen den donnernden Fahrtwind durchsetzen zu können, also schlucke ich sie herunter und ziehe die Nadeln heraus, um den Hut neben mir auf den Sitz zu werfen.

Budgie beugt sich vor und dreht an den Knöpfen des Radios. Ihr Wagen, ein schicker neuer Ford V8, ist mit allen möglichen Raffinessen ausgestattet, die ihr ergebener Vater für sie hat einbauen lassen, um ihr das Schmuckstück als verfrühte Anerkennung ihrer Graduierung zu schenken. Ganze neun Monate zu früh, um genau zu sein, denn der alte Herr hat in seiner Großzügigkeit beschlossen, dass Budgie den Wagen während ihres letzten Collegejahrs sinnvoll nutzen soll.

Lebe und amüsier dich, mein Herz!, sagte er freudestrahlend. Ihr Mädchen seid viel zu fleißig. Immer nur lernen, ohne sich zu vergnügen!

Er hielt ihr die Schlüssel unter die Nase.

Wirklich, Papa?, fragte Budgie mit ihren großen runden Betty-Boop-Augen.

Im Ernst. Genau so war es. Ich stand direkt daneben. Wir beide sind quasi seit unserer Geburt miteinander befreundet: Budgie wurde zu Beginn des Sommers geboren und ich gegen Ende, nur etwa zwei Monate später. Unsere Familien verbringen jeden Sommer zusammen in Rhode Island, und das schon seit Generationen. Heute Morgen hat Budgie sich auf diese uralte Freundschaft berufen, um mich unerwarteterweise ins Schlepptau zu nehmen, obwohl wir am College in unterschiedlichen Kreisen verkehren und sie ganz genau weiß, dass ich mich nicht für Football interessiere.

Der Motor heult wütend auf und übertönt für einen Moment das Krächzen des Radios, als Budgie in eine Kurve hinein beschleunigt. Ich packe mit der einen Hand den Türgriff, mit der anderen die Sitzkante.

Budgie lacht erneut. »Reiß dich zusammen, Liebes. Ich will nicht zu spät zum Warm-up kommen. Die Jungs sind immer so schrecklich ernst, wenn das Spiel erst mal begonnen hat.«

Oder so ähnlich. Der Wind trägt jedes zweite Wort davon. Ich drehe den Kopf zur Seite und betrachte den bunten Schimmer des Laubes, auf dem Höhepunkt der Saison, während Budgie weiter von Männern und Football spricht.

Wie sich herausstellt, haben wir das Warm-up tatsächlich verpasst, genau wie den größten Teil des ersten Quarters des Spiels. Die Straßen von Hanover sind wie leer gefegt, der Stadioneingang wirkt verlassen. Ferner Jubel dringt über den Stadionrand, begleitet von den dumpfen Klängen einer Blaskapelle. Budgie parkt den Wagen auf einem Rasenbankett vor dem Eingang, direkt neben einem Schild mit der Aufschrift »PARKEN VERBOTEN«. Ich kämpfe mit meinem Hut und den Hutnadeln.

»Warte, ich mach das schon.« Sie nimmt mir die Nadeln aus den eisigen Fingern und steckt sie mir schonungslos ins Haar. Dann dreht sie meinen Kopf in ihre Richtung. »Na bitte! Du bist wirklich wunderschön, Lily. Das weißt du doch, oder? Ich habe keine Ahnung, warum dich die Jungs nicht beachten. Sieh nur, deine herrlich rosigen Wangen! Jetzt bist du bestimmt froh, dass wir das Verdeck geöffnet haben, oder?«

Ich atme die goldene Herbstluft New Hampshires ein und erwidere, ja, natürlich sei ich froh darüber.

Im Innern drängen sich die Menschenmassen. Das Stadion quillt nahezu über, wie eine steinerne Bowleschale mit zu viel Punsch. Ich zögere einen Moment, ehe wir die Ränge betreten, überwältigt von all den Farben und dem Lärm, umspült von einer sintflutartigen Gischt von Menschen. Doch Budgie kennt keine Zurückhaltung. Sie hakt sich bei mir ein und zerrt mich die Betonstufen hinunter, quert mehrere Sitzreihen, steigt über ausgestreckte Beine, Lederschuhe und Erdnussschalen hinweg und entschuldigt sich charmant. Sie weiß ganz genau, wohin sie will. Wie immer. Selbstbewusst packt sie meinen Arm und schleift mich hinter sich her, bis ein lauter Ruf – Budgie! Budgie Byrne! – über die Flut der karierten Kappen und Glockenhüte hinwegwogt. Budgie bleibt stehen, wirft sich dezent in Pose und wedelt anmutig mit der Hand.

Ich kenne ihre Freunde nicht. Irgendwelche Jungs aus Dartmouth, nehme ich an, die sie aus ihren gesellschaftlichen Kreisen kennt. Die jungen Männer schenken dem Spiel nicht allzu viel Beachtung. Sie sind ausgelassen, lachen, toben, bewerfen sich mit Erdnüssen und klettern über die Bänke. 1931, zwei Jahre nach dem großen Börsenkrach, sind alle vergnügt wie eh und je. Krisen geschehen, Firmen gehen bankrott, doch all das ist nicht mehr als eine Bodenwelle, ein leichter Rückschlag. Der Motor der Nation hustet und spuckt, doch er versagt nicht. Bald wird er wieder brummen.

1931, und wir haben nicht die geringste Ahnung, was uns erwartet.

Das Publikum ist überwiegend männlich. Nur ein paar Frauen schmiegen sich an ihre Männer, Frauen von hier oder von außerhalb, und sie alle beäugen Budgie. Sie mustern ihren engen, grünen Pullover mit dem auffälligen D auf der linken Brust, ihr dunkles glänzendes Haar, ihr hübsches Betty-Boop-Gesicht. Meine rosigen Wangen finden nicht die geringste Beachtung.

»Und? Was habe ich verpasst? Wie macht er sich?«, fragt Budgie und setzt sich auf eine der Bänke. Ihre Augen suchen nach einem bestimmten Dartmouth-Spieler, ihrer aktuellen Flamme – der Grund für unsere halsbrecherische Fahrt hierher. Sie hat ihn im vergangenen Sommer in Seaview kennengelernt, wo er ein paar Freunde von uns besucht hat. Man könnte meinen, Hollywood hätte ihr den perfekten Co-Star zur Seite gestellt; seine sommerblauen Augen bilden das ideale Gegenstück zu ihrem eisblauen Blick. Graham Pendleton ist groß, athletisch, charmant und sieht einfach umwerfend aus. Er ist in allen Sportarten überragend, selbst in denen, die er noch nie ausgeübt hat. Ich mag Graham, man muss ihn einfach mögen. Er erinnert mich an einen Golden Retriever – und wer mag schon keine Golden Retriever?

»Macht sich nicht schlecht«, sagt einer der Jungs. Er bietet ihr ein Stück Schokolade an und setzt sich neben Budgie auf die Bank, so nah, dass sich ihre Beine berühren. »Ordentlicher Run in der letzten Serie. Elf Yard.«

Budgie steckt sich die Schokolade in den Mund und klopft auf das schmale Stück Bank neben sich. »Setz dich, Lily. Ich will, dass dir nichts entgeht. Da unten!« Sie zeigt aufs Spielfeld. »Da ist er. Nummer zweiundzwanzig. Siehst du? An der Seitenlinie, direkt neben der Bank. Er spricht gerade mit Nick Greenwald.«

Ich blicke aufs Spielfeld. Wir sind näher dran, als mir bewusst war, höchstens zehn Sitzreihen entfernt. Es wimmelt nur so von Dartmouth-Trikots. Ich entdecke die weiße Zweiundzwanzig auf einem breiten waldgrünen Rücken. Irgendwie ist es seltsam, Graham in einem ganz normalen Footballtrikot zu sehen, statt wie sonst in Badekleidung oder Tennisdress oder einem gepflegten Flanellanzug mit Strohhut. Er unterhält sich angeregt mit Spieler Nummer neun, der rechts neben ihm steht und ihn um einen halben Kopf überragt. Beide tragen ihre ramponierten Lederhelme unter dem Arm, und ihr Haar – das eine lockig, das andere glatt – hat dieselbe unbestimmbare Farbe von Feuchtigkeit und Schweiß.

»Sieht er nicht absolut umwerfend aus?« Budgies Schultern senken sich zu einem schwärmerischen Seufzer.

Nummer neun, der Große mit den Locken, blickt auf, als hätte er ihre Worte gehört. Die beiden stehen höchstens fünfzig Meter von uns entfernt. Ihr Haar wird vom strahlenden Licht der Herbstsonne in einen goldenen Glanz getaucht.

Nick Greenwald, wiederhole ich im Geiste. Wo habe ich den Namen schon mal gehört?

Seine Züge wirken hart, aus demselben Granit gemeißelt wie das Stadion um uns herum; seine scharfen Augen sind skeptisch zusammengekniffen, seine dunklen Augenbrauen finster zusammengezogen. Sein Ausdruck ist so intensiv, so leidenschaftlich, als wäre er einem anderen Zeitalter entsprungen.

Mir läuft ein sanftes Kribbeln über den Rücken, ein elektrischer Schauer.

»Ja«, sage ich. »Absolut umwerfend.«

»Seine Augen sind unglaublich blau, fast wie meine. Und er ist so zuvorkommend. Weißt du noch, wie er im Sommer meinen Hut aus dem Meer gefischt hat?«

»Und wer ist der andere? Mit dem er da spricht?«

»Oh, Nick? Das ist nur der Quarterback.«

»Was ist ein Quarterback?«

»Ach, nichts Besonderes. Steht nur dumm rum und überreicht anderen den Ball. Graham ist der eigentliche Star. Er hat diese Saison schon acht Touchdowns gemacht. Er kommt einfach an jedem vorbei.« Graham blickt ebenfalls auf und sieht in unsere Richtung. Budgie springt von der Bank und winkt überschwänglich mit dem Arm.

Keiner der beiden reagiert. Graham wendet sich wieder seinem Gesprächspartner zu und sagt irgendetwas. Gedankenverloren wirft Nick einen Football zwischen seinen großen Händen hin und her.

»Anscheinend sehen sie gerade woanders hin«, meint Budgie mürrisch und setzt sich wieder hin. Ungeduldig trommelt sie mit den Fingern auf ihr Knie und spricht mit dem Jungen neben sich. »Du bist doch ein Gentleman und gibst einem netten Mädchen noch was zum Naschen, oder?«

»So viel, wie du willst«, erwidert er und hält ihr die Tafel Hershey’s hin. Sie bricht sich mit ihren langen Fingern ein Stück ab.

»Sind die beiden miteinander befreundet?«, frage ich.

»Wer? Nick und Graham? Ja, sind sie. Ganz gut sogar. Ich glaube, sie teilen sich ein Zimmer.« Sie sieht mich unvermittelt an. Ihr Atem ist süß von der Schokolade, fast schon zu süß. »Aber Lily! Was geht denn da in deinem hübschen Kopf vor, du durchtriebenes Ding?«

»Gar nichts. Ich bin einfach nur neugierig.«

Sie schlägt eine Hand vor den Mund. »Nick? Nick Greenwald? Im Ernst?«

»Ich meine … er sieht einfach nur interessant aus, nichts weiter. Ehrlich.« Ich spüre, wie mir heiß wird.

»Bei dir hat alles eine Bedeutung, Süße. Ich kenne diesen Blick. Aber die Mühe kannst du dir sparen!«

»Welchen Blick?« Ich spiele verlegen mit dem Gürtel meiner Strickjacke. »Und was meinst du mit die Mühe kann ich mir sparen?«

»Ach Lily, bitte. Muss ich es dir etwa schriftlich geben?«

»Was musst du mir schriftlich geben?«

»Ich weiß, er sieht zwar ganz gut aus, aber …« Sie lässt den Satz beschämt verklingen, doch die Augen in ihrem Porzellangesicht funkeln vielsagend.

»Aber was?«

»Du willst mich veräppeln, oder?«

Ich sehe sie eindringlich an, um ihre Worte zu ergründen. Budgie hat ein Talent für so etwas: dezente Hinweise aufzuschnappen, die mir völlig entgehen. Vielleicht hat Nick Greenwald ja eine schlimme chronische Krankheit. Oder eine Verlobte – nicht, dass Budgie darin ein Hindernis sähe.

Als würde es mich überhaupt interessieren. Als wäre meine Fantasie bereits mit mir durchgegangen. Dabei gefällt mir einfach nur sein Gesicht, das ist alles.

»Veräppeln?«, frage ich zögerlich.

»Lily, Süße.« Budgie schüttelt den Kopf und legt eine Hand auf mein Knie. Sie senkt ihre Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern. »Süße, er ist Ju-de.« Sie zieht die Silben in die Länge, als wären sie etwas Abstoßendes.

Ein Jubel geht durch die Menge und schwillt immer mehr an. Vor uns stehen die Leute auf und rufen. Die Bank unter meinem Hintern erscheint mir plötzlich hart wie Stein.

Mein Blick schweift zurück zu den Männern an der Seitenlinie, zurück zu Nick Greenwald. Sein scharfer Blick ist fest auf das Spielfeld gerichtet und folgt jeder Bewegung, während sich sein Profil in einer goldenen Linie von dem kurz geschorenen Rasen abhebt.

Budgies Worte gleichen denen einer Mutter, die ihrem begriffsstutzigen Sprössling etwas erklärt. Sie hört den Namen Greenwald und weiß, ohne groß darüber nachzudenken, dass es sich um einen jüdischen Namen handelt, weiß von jener unsichtbaren Linie, die seine Zukunft unweigerlich von ihrer trennt. Budgie betrachtet meine Ignoranz in solch wesentlichen Dingen mit schierer Ungläubigkeit.

Dabei bin ich keineswegs hoffnungslos ignorant. Ich kenne durchaus ein paar jüdische Mädchen am College. Sie sind auch nicht anders als alle anderen – nett und freundlich und klug, die eine mehr, die andere weniger. Sie bleiben meist unter sich, bis auf ein paar wenige Ausnahmen, die mühsam versuchen, sich bei Mädchen wie Budgie beliebt zu machen. Ich habe mich oft gefragt, was sie wohl an Weihnachten machen, wenn alles geschlossen hat. Nehmen sie den Anlass überhaupt als etwas Besonderes wahr, oder ist es für sie ein Tag wie jeder andere? Was halten sie von den Tannenbäumen, die allerorts verkauft werden, von den Geschenken und Krippen, die jeden freien Winkel einnehmen? Betrachten sie unsere eigentümlichen Bräuche vielleicht mit Belustigung?

Natürlich habe ich sie noch nie danach gefragt.

Budgie hingegen nimmt jede kleinste Schwingung des Universums um sich herum wahr, jede kleinste Regung eines fernen Planeten. Selbstbewusst fährt sie fort: »Nicht dass man es ihm auf den ersten Blick ansehen würde. Seine Mutter war eine Nicholson, wunderbare Familie, absolut unbescholten, aber ihr Vater hat in der Krise alles verloren, natürlich nicht in der letzten, schon vor dem Krieg, deshalb hat sie Nicks Vater geheiratet. Du wirkst überrascht, Süße. Hast du das etwa nicht gewusst? Du solltest mehr unter Leute gehen.«

Ich blicke schweigend aufs Spielfeld, beobachte die beiden Männer an der Seitenlinie. Plötzlich kommt Bewegung in die Szene – grüne Trikots rennen auf den Platz, grüne Trikots rennen herunter. Graham und Nick setzen ihre Helme auf und mischen sich unter die uniformierten Spieler auf dem Rasen. Nicks Lauf ist kraftvoll und geschmeidig, jeder seiner langen Schritte kontrolliert.

Budgie nimmt ihre Hand von meinem Knie. »Du findest mich bestimmt grausam, oder?«

»Du klingst wie meine Mutter.«

»Ich meine das überhaupt nicht so. Das weißt du ganz genau. Ich bin nicht borniert, Lily. Ich habe selbst jüdische Freunde.« Sie wirkt plötzlich gereizt. Ich habe Budgie noch nie gereizt erlebt.

»Das habe ich doch gar nicht behauptet.«

»Aber gedacht.« Sie wirft den Kopf in den Nacken. »Na, von mir aus. Bestimmt wird er uns heute beim Abendessen Gesellschaft leisten. Dann kannst du dir selbst ein Urteil bilden. Er ist gar nicht so übel. Amüsier dich ein bisschen, gönn dir den Spaß!«

»Wie kommst du darauf, ich hätte Interesse?«

»Warum denn nicht? Ein bisschen Spaß würde dir sicher gut tun, Süße. Ich wette, der Junge weiß, wie man eine Frau glücklich macht.« Sie flüstert mir ins Ohr. »Stell ihn nur nicht deiner Mutter vor. Du weißt, was ich meine.«

»Was flüstern die Damen denn da?«, fragt der Junge neben Budgie, der mit der Schokolade. Er stößt sie leicht mit der Schulter an.

»Wird nicht verraten«, erwidert Budgie. Sie steht auf und zieht mich hoch. »Jetzt pass auf, Lily. Wir sind dran. Wenn das Spiel beginnt, gibt Nick den Ball an Graham ab. Achte einfach auf Graham. Nummer zweiundzwanzig. Er wird sie alle aus dem Weg fegen, wart’s ab. Er ist wie eine Lokomotive, das sagen zumindest die Zeitungen.«

Budgie fängt an zu klatschen. Ich schließe mich ihr an. Harte, scharfe Schläge, präzise wie ein Metronom. Mein Blick ist auf das Spielfeld gerichtet, allerdings nicht auf Graham. Ich betrachte die weiße Nummer neun inmitten einer langen Reihe aus grünen Trikots. Nick Greenwald steht direkt hinter dem Spieler in der Mitte, den Kopf aufmerksam erhoben. Er brüllt irgendetwas. Sein scharfer Ruf dringt bis zu mir herauf, obwohl uns zehn Reihen jubelnder Zuschauer voneinander trennen.

Im selben Moment rennt die Meute los. Nick Greenwald tritt ein paar Schritte zurück, den Ball sicher in der Hand. Ich warte darauf, dass Graham von hinten durchstartet und Nick ihm den Ball übergibt, so wie Budgie es prophezeit hat.

Doch Graham startet nicht durch.

Nick wartet ab und analysiert die Lage, während seine Füße auf dem zertretenen Rasen einen eleganten Tanz vollführen. Er holt aus, sein Arm schnellt vor, der Ball schießt aus seinen Fingern und fliegt in einem eleganten Bogen über die Köpfe der anderen Spieler bis weit in das gegnerische Feld hinein.

Emporgehoben vom Jubel der Menge, stelle ich mich auf die Zehenspitzen, um den Wurf zu verfolgen, weiter und weiter, ein braunes Geschoss über einem grün-weißen Fluss von Männern, die eilig hinterherstürzen, um danach zu greifen.

Irgendwo am Ende des Flusses schnellt ein Paar Hände in die Höhe und pflückt den Ball aus der Luft.

Im selben Moment setzt tosender Jubel ein.

»Er hat ihn! Er hat ihn!«, brüllt der junge Mann an Budgies Seite, während er den Rest seiner Schokolade begeistert in die Luft wirft.

»Habt ihr das gesehen!«, ruft jemand hinter mir.

Der Fänger rennt weiter, den Ball unter dem Arm, und stürzt in das weiß schraffierte Rechteck am Ende des Spielfelds. Wir fallen einander um den Hals, jeder jubelt, Hüte verrutschen, Erdnüsse fallen aus ihren Papiertüten. Ein Kanonenschuss ertönt, und die Band spielt einen euphorischen Tusch.

»War das nicht unglaublich?«, rufe ich Budgie ins Ohr. Der Lärm ist so überwältigend, dass ich mein eigenes Wort nicht verstehe.

»Unglaublich!«

Mein Herz trommelt im Rhythmus der Musik gegen meinen Brustkorb. Jede Faser meines Körpers jubelt vor Begeisterung. Den Hut gegen die grelle Sonne tief ins Gesicht gezogen, blicke ich erneut aufs Spielfeld und suche nach Nick Greenwald und seinem sagenhaften Wurfarm.

Zuerst kann ich ihn nirgends entdecken. Die Flut von Spielern ist inzwischen abgeklungen und verebbt. Eine Gruppe grüner Trikots versammelt sich an der Ausgangslinie, wie von einem unsichtbaren Magneten angezogen. Ich suche nach der weißen Nummer neun, doch inmitten des Zahlengewirrs ist sie nirgends zu sehen.

Vielleicht ist er bereits zur Bank zurückgekehrt. Seinem strengen Profil nach zu urteilen, ist er kaum der Typ, der sich ausgiebig im Ruhm sonnt.

Inmitten der grünen Trikots erhebt jemand seinen Arm und winkt in Richtung Seitenlinie.

Zwei weiß gekleidete Männer rennen auf das Spielfeld. Einer von ihnen trägt eine schwarze Ledertasche.

»Oh nein«, sagt der Junge an Budgies Seite. »Anscheinend ist jemand verletzt.«

Budgie ringt nervös die Hände. »Oh Gott, ich hoffe, es ist nicht Graham. Bitte haltet nach ihm Ausschau. Ich kann gar nicht hinsehen.« Sie vergräbt das Gesicht in meiner Strickjacke.

Ich lege einen Arm um Budgie und betrachte den Pulk von Spielern. Alle blicken zu Boden und schütteln besorgt die Köpfe. Die Menge teilt sich, um die Männer in Weiß durchzulassen, und für einen kurzen Moment erhasche ich einen Blick auf den am Boden liegenden Spieler.

»Da ist er! Ich sehe seine Nummer!«, ruft der Junge mit der Schokolade. »Die Zweiundzwanzig. Steht direkt neben dem verletzten Spieler. Alles in Ordnung, Budgie.«

»Oh, Gott sei Dank«, erwidert sie.

Ich stelle mich erneut auf die Zehenspitzen, doch ein Meer von Köpfen versperrt mir die Sicht. Ich schiebe Budgie von mir, klettere auf die Bank und recke meinen Hals.

Im Stadion herrscht Totenstille. Die Kapelle hat aufgehört zu spielen, die Lautsprecheranlage schweigt.

»Wer ist der Verletzte?«, fragt Budgie.

Der Junge neben ihr klettert ebenfalls auf die Bank und springt hoch. Einmal, zweimal. »Ich kann nicht viel sehen … oh, Moment … doch … verdammt!«

»Was? Was?«, frage ich. Die Männer in Weiß, die sich über den verletzten Spieler beugen, ihre Ledertasche weit geöffnet, versperren mir die Sicht.

»Es ist Greenwald«, sagt der Junge und klettert von der Bank. Er flucht in sich hinein. »Das Spiel können wir wohl vergessen.«

2SEAVIEW, RHODE ISLAND

MAI 1938

Kiki hatte es sich in den Kopf gesetzt, diesen Sommer segeln zu lernen, obwohl sie noch nicht einmal sechs war. »Du hast das doch auch gelernt, als du so alt warst!«, verkündete sie mit der gnadenlosen Logik eines Kindes.

»Aber ich hatte Papa als Lehrer«, erwiderte ich. »Du hast nur mich. Und ich bin seit Jahren nicht gesegelt.«

»Ich wette, das ist wie Radfahren. Hast du selbst gesagt, weißt du noch? So was verlernt man nicht!«

»Segeln ist etwas ganz anderes als Radfahren, und außerdem wetten junge Damen nicht.«

Sie öffnete den Mund, um mir zu erklären, dass sie überhaupt keine Dame sei, doch in diesem Augenblick ließ sich Tante Julie mit ihrem unfehlbaren Gespür für den richtigen Moment zu uns auf die Decke sinken und seufzte zufrieden zum Rauschen des Meeres. »Endlich Sommer! Nach diesem verregneten Frühling. Liebes, hast du zufällig eine Zigarette für mich? Ich sterbe vor Verlangen! Deine Mutter ist so erbarmungslos wie dieser gottverdammte Hitler.«

»Das hat dich doch noch nie abhalten können.« Ich kramte in meinem Korb und warf ihr eine Packung Chesterfields und ein silbernes Feuerzeug in den Schoß.

»Ich werde wohl auf meine alten Tage weich. Danke, Liebes. Du bist die Beste.«

»Ich dachte, Sommeranfang ist erst im Juni«, meinte Kiki.

»Der Sommer fängt an, wenn ich es sage, Liebling. Ach, herrlich!« Sie atmete tief ein, schloss die Augen und ließ den Zigarettenqualm in einem schmalen, ungebrochenen Band durch ihre Lippen gleiten. Die Sonne stand hoch am Himmel – die erste längere Wärmeperiode seit dem vergangenen September. Tante Julie trug einen roten Badeanzug mit gewagtem Beinausschnitt. Sie sah einfach fantastisch aus, mit ihren endlos langen Beinen und einer frischen Bräune von ihrem kürzlichen Ausflug zu den Bermudas (»mit diesem neuen Kerl«, wie Mutter mit dem missbilligenden Tonfall einer fast zehn Jahre älteren Schwester verkündete). Sie stützte sich rückwärts auf die Ellbogen und reckte ihren Busen dem strahlend blauen Himmel entgegen.

»Mrs. Hubert sagt, Zigaretten sind Sargnägel«, kommentierte Kiki, während sie mit ihrem großen Zeh Linien in den Sand malte.

»Mrs. Hubert ist eine alte Schachtel.« Tante Julie nahm einen weiteren Zug von ihrer Zigarette. »Mein Arzt hat mir sogar dazu geraten. Es gibt nichts Gesünderes!«

Kiki stand auf. »Ich will ins Meer. Ich habe seit Monaten nicht im Meer gespielt. Wenn nicht seit Jahren.«

»Es ist zu kalt, Liebling«, sagte ich. »Das Wasser hat sich noch nicht aufgewärmt. Du würdest nur frieren.«

»Ich will aber trotzdem!« Kiki stemmte die Hände in die Hüften. Sie trug ihr neues Badekostüm mit Rüschen und Punkten. Mit ihrem dunklen Haar und der olivfarbenen Haut sah sie aus wie eine kleine getupfte Polynesierin.

»Ach, lass sie doch«, meinte Tante Julie. »Die Jugend kann einiges vertragen.«

»Wie wäre es, wenn du stattdessen eine Sandburg baust, Liebling? Du kannst dir am Meer Wasser holen.« Ich nahm Kikis Eimer und hielt ihn ihr hin.

Sie musterte erst mich, dann den Eimer, und überlegte.

»Du kannst doch soschöne Sandburgen bauen.« Verführerisch schwenkte ich das Spielzeug. »Beweis es mir!«

Mit einem tiefen Seufzer nahm sie den Eimer und ging über den Strand.

»Du hast wirklich ein Händchen für die Kleine«, sagte Tante Julie, während sie genüsslich weiterrauchte. »Ganz im Gegensatz zu mir.«

»Gott hat dich eben nicht dazu geschaffen, Kinder zu erziehen«, antwortete ich. »Du hast andere Qualitäten.«

Sie lachte. »Da hast du recht! Ich kann tratschen wie ein altes Waschweib. Und wo wir gerade dabei sind … hast du schon gehört, dass Budgie diesen Sommer in das alte Haus ihrer Eltern ziehen will?«

Eine Welle bäumte sich auf, höher als alle anderen. Ich sah zu, wie sie anschwoll und für einen Moment in perfekter Balance verharrte, um schließlich in einem schaumig weißen Bogen von rechts einzubrechen. Das Geräusch der Brandung traf mich eine Sekunde später. Ich lieh mir Tante Julies Zigarette und nahm einen langen, verstohlenen Zug. Dann dachte ich mir, was soll’s?, und griff nach der Schachtel.

»Deine Mutter behauptet, die beiden sollen nächste Woche hier eintreffen. Er kann natürlich nur an den Wochenenden bleiben, aber sie will wohl den ganzen Sommer hier verbringen.« Tante Julie reckte ihr Gesicht in den Himmel und schüttelte ihr blondes Haar. Es glänzte golden in der Sonne. Keine Spur von Grau, soweit ich das sehen konnte. Mutter behauptete steif und fest, ihr Haar sei gefärbt, doch keine Koloration der Welt konnte diesen sonnenverwöhnten Farbton imitieren. Es war, als hätte Gott persönlich beschlossen, ihren ausschweifenden Lebensstil zu befürworten.

Unten am Strand wartete Kiki auf den Ausläufer einer Welle, um ihren Eimer zu füllen. Das eiskalte Wasser kräuselte sich um ihre Beine und ließ sie springen und tänzeln. Sie warf einen vorwurfsvollen Blick in meine Richtung. Hab ich’s dir nicht gesagt, verkündete mein Schulterzucken.

»Du hast wohl keine Meinung dazu?«

»Ich freue mich, sie endlich wiederzusehen. Es ist Jahre her.«

»Geld hat sie jedenfalls zur Genüge. Da kann sie das alte Haus ruhig mal auf Vordermann bringen. Du hättest die Hochzeit sehen sollen, Lily.« Sie stieß einen Pfiff aus. Natürlich war Tante Julie dort gewesen. Keine Veranstaltung der New Yorker Oberschicht galt als Erfolg ohne den Auftritt der berüchtigten Julie van der Wahl, geborene Schuyler, in Begleitung ihrer aktuellen Flamme – den Tageszeitungen schlicht als »Julie« bekannt.

»Glaub mir, ich habe alles aus der Zeitung erfahren.« Ich stieß eine lang gezogene Rauchwolke aus.

Tante Julie stupste mich mit den Zehen an. »Vergiss die alten Zeiten, Liebes. Es kommt alles so, wie es kommen muss. Versuche ich dir das nicht seit sechs Jahren beizubringen? Man kann sich auf nichts verlassen, außer auf sich selbst und seine Familie, und bisweilen nicht mal auf die. Ist das nicht ein herrlicher Tag? Ich könnte ewig so leben! Ein bisschen Sonne und Strand, und ich bin froh wie der Mops im Haferstroh.« Sie drückte ihre Zigarette im Sand aus und ließ sich rückwärts auf die Decke sinken. »Du hast nicht zufällig einen Schluck Whiskey oder so was in deinem Korb?«

»Nein.«

»Dachte ich mir.«

Kiki kehrte mit ihrem vollen Wassereimer zurück, der mit jedem Schritt überschwappte. Gott sei Dank hatte ich Kiki. Budgie mochte allen Reichtum dieser Welt besitzen, aber nicht meine Kiki mit ihrem hübschen dunklen Haar, den mageren Ärmchen und zusammengekniffenen Augen, die in diesem Moment die Entfernung zu unserer Decke einschätzten.

Tante Julie stützte sich auf die Ellbogen. »Jetzt verrate mir schon, was du denkst! Das Getöse in deinem Kopf ist ja unerträglich.«

»Ich achte nur auf Kiki.«

»Du achtest immerzu auf Kiki. Genau das ist dein Problem.« Sie ließ sich erneut zurücksinken und legte einen Arm schützend über das Gesicht. »Du lässt das Kind für dich leben. Sieh dich nur an! Es ist eine Schande, wie du dich gehen lässt! Allein dein Haar! Ich würde mir eher eine Glatze schneiden lassen, als so herumzulaufen.«

»Taktvoll wie eh und je.« Ich drückte meine halb gerauchte Zigarette aus und öffnete die Arme, um Kiki in Empfang zu nehmen, die in diesem Moment ihren Eimer abstellte und sich mir an den Hals warf. Ihr quirliger, samtweicher Körper war warm von der Sonne und roch nach Meer. Ich vergrub mein Gesicht in ihrem dunklen Haar und atmete ihren kindlichen Duft ein. Warum rochen Erwachsene eigentlich nicht so süß?

»Du musst mir helfen!« Kiki entzog sich meiner Umarmung, schnappte sich den Eimer und schüttete das Wasser gleichmäßig über den Sand. Letzten Sommer hatten wir ein ganzes Archipel von Sandburgen über den Strand verteilt. Das ambitionierte Projekt fand seine ruhmreiche Krönung in dem alljährlichen Sandburgspektakel von Seaview.

Man konnte wahrlich einiges erleben, hier in Seaview!

Ich ließ mich von Kiki hochziehen und kniete mich neben sie in den Sand. Sie reichte mir eine Schaufel und forderte mich auf zu graben, Lily, du musstgraben, wir brauchen einen echten Burggraben!

»Aber so weit vom Meer entfernt können wir keine echten Wassergraben bauen«, sagte ich.

»Jetzt lass dem Kind doch den Spaß«, erwiderte Kiki altklug.

»Was ist das eigentlich für ein garstiges Ding, das du da trägst? Hast du keinen Badeanzug?«, fragte Tante Julie.

»Das ist mein Badeanzug.«

»Gott bewahre. Soll Budgie Byrne dich etwa so sehen?«

Wütend stieß ich meine Schaufel in den Sand. »Eine Byrne ist sie ja wohl nicht mehr, oder?«

»Aha. Du hältst es ihr also doch vor!«

Ich stützte die Hände auf meine Knie, die von einem dicken schwarzen Baumwollkostüm bedeckt waren. »Warum sollte ich es ihr vorhalten? Sie darf doch wohl heiraten, wen sie will, oder nicht?«

»Ich sag es ja, die alten Zeiten! Wo hast du die Zigaretten? Ich könnte noch eine vertragen.«

»Das Kind kann euch hören!«, erinnerte uns Kiki. Sie stürzte ihren Eimer um und enthüllte einen makellosen Burgturm.

»Der ist sehr, sehr hübsch, meine Süße.« Ich schaufelte weiter Sand aus dem Graben, um rings um den Turm eine Burgmauer anzuhäufen. Für einen Moment fragte ich mich, ob meine Wut ausreichte, um einen Wehrgang anzulegen.

Tante Julie kramte in meinem Korb, um nach der Packung Chesterfields zu suchen. »Habe ich dir etwa geraten, dich sechs Jahre lang hinter deiner scheintoten Mutter zu verkriechen? Habe ich nicht! Lebe ein bisschen, habe ich gesagt. Mach was aus dir.«

»Kiki braucht mich.«

»Deine Mutter kann sich genauso gut um sie kümmern.«

Kiki und ich starrten sie entgeistert an. Tante Julie hatte die Zigarettenschachtel gefunden und balancierte eine Chesterfield zwischen ihren blutroten Lippen, während sie weiter nach dem Feuerzeug kramte. »Was?« Sie blickte auf und sah erst mich, dann Kiki an. »Ja, ja, schon gut.« Sie hielt sich die Flamme an die Zigarette. »Aber ihr könntet zumindest ein Kindermädchen einstellen.«

»Das Kind will aber nicht von einem Kindermädchen erzogen werden«, erklärte Kiki.

»Mutter hat mit ihrer Wohltätigkeitsarbeit schon genug zu tun«, sagte ich.

»Wohltätigkeitsarbeit!«, entgegnete Tante Julie verächtlich. »Wenn du mich fragst, aber das tust du ja sowieso nicht, ist es kein gutes Zeichen, wenn eine Frau mehr Zeit mit irgendwelchen Waisenkindern verbringt als mit ihrer eigenen Familie.«

»Außerdem kümmert sie sich um Papa«, bemerkte ich.

»Ach, und wer kümmert sich im Moment um ihn?«

»Im Moment haben wir Sommer. Und wir verbringen die Sommer immer in Seaview. Papa würde es nicht anders wollen.«

Tante Julie schnaubte. »Dann habt ihr ihn also gefragt?«

Ich dachte an meinen armen alten Vater in seinem tadellosen Zimmer, den Blick starr auf eine Wand von Büchern gerichtet, die ihm einst so viel Vergnügen bereitetet hatten. »Das ist nicht nett, Tante Julie.«

»Das Leben ist zu kurz für Nettigkeiten, Lily. Tatsache ist, du verschwendest dein Leben. Jeder junge Mensch erlebt den einen oder anderen Rückschlag. Ich habe, weiß Gott, so manchen erlebt. Aber man muss sich eben zusammenreißen. Und weitermachen.« Sie bot mir die Zigarette an, doch ich schüttelte den Kopf. »Ich werde dir heute Abend die Haare schneiden. Ein bisschen kürzer. Und einen Hauch Lippenstift.«

»Oh ja, Lily!« Kiki blickte zu mir auf. »Das sieht bestimmt hübsch aus! Darf ich dir helfen, Tante Julie?«

»Jetzt red keinen Unsinn«, sagte ich. »Hier kennt mich doch jeder. Wenn du mich anmalst, lassen sie mich nicht mehr in den Klub. Und außerdem, für wen soll ich mich schon hübsch machen? Für Mrs. Hubert? Die alten Lockley-Schwestern?«

»Irgendwer wird schon übers Wochenende einen unverheirateten Gentleman zu Gast haben.«

»Und du wirst ihn skrupellos missbrauchen, um dir Gin Tonics bringen zu lassen, noch bevor ich dich mit meiner Hutnadel stechen kann.«

Tante Julie machte eine wegwerfende Handbewegung und zeichnete eine Rauchspirale in die Luft. »Großes Pfadfinderehrenwort.«

»Ach, gehörst du jetzt zu den Pfadfindern? Wie reizend!«

»Lily, Liebes. Zier dich nicht so. Ich brauche dringend eine Beschäftigung. Ich langweile mich hier zu Tode, du machst dir gar keine Vorstellung!«

»Warum bist du dann überhaupt hier?«

Sie schlang die Arme um ihre Beine und starrte hinaus aufs Meer, während die Asche ihrer Zigarette unbeachtet in den Sand rieselte. Der Wind kräuselte sanft die Spitzen ihres Haars. »Oh, nur um die Männerwelt auf Trab zu halten. Es wirkt Wunder, einmal im Jahr für ein paar Wochen zu verschwinden. Nicht mal ich würde es wagen, einen Geliebten mit nach Seaview zu bringen. Die alte Mrs. Hubert hat mir meine Scheidung bis heute nicht verziehen.«

»Niemand hat dir deine Scheidung verziehen. Peter ist so ein netter Mann.«

»Zu nett. Er hat etwas Besseres verdient.« Tante Julie sprang auf und warf ihre Zigarette in den Sand. »Also abgemacht, ich werde dich heute Abend unter meine Fittiche nehmen.«

»Ich kann mich nicht erinnern, dem zugestimmt zu haben.«

Tante Julies blutrote Lippen weiteten sich zu jenem strahlenden Lächeln, das die New Yorker Zeitungen so liebten. Sie ging stramm auf die vierzig zu und hatte winzige Fältchen um die Augen, doch angesichts eines so bestechenden Lächelns bemerkte dies niemand. »Liebes«, erwiderte sie. »Ich kann mich nicht erinnern, dich um Erlaubnis gebeten zu haben.«

In Seaview drehte sich alles um den Klub, und der Klub drehte sich um Mrs. Hubert. Wenn man die Anwohner nach dem Grund fragte, erntete man nichts als verständnislose Blicke. Mrs. Hubert war schon so lange dabei, dass sich niemand an den Beginn ihrer Herrschaft erinnern konnte. Und ihre robuste Gesundheit (»geradezu vulgär, sich bei einer Party nie hinzusetzen«, sagte meine Mutter) trug dazu bei, dass niemand eine Prognose wagte, wann diese Herrschaft enden mochte. Sie war die Königin Victoria des Sommers, mit dem einzigen Unterschied, dass sie niemals Schwarz trug und mit ihrer schlanken, aufrechten Statur einem grauhaarigen Maibaum glich.

»Lily, meine Liebe!« Sie begrüßte mich mit einem Kuss auf die Wange. »Sag, was hast du nur mit deinem Haar gemacht?«

Ich tastete nach dem Knoten in meinem Nacken. »Tante Julie hat sie mir hochgesteckt. Eigentlich wollte sie sie abschneiden, aber ich habe mich strikt geweigert.«

»Sehr gut«, sagte Mrs. Hubert. »Folge nie der Mode einer geschiedenen Frau. Und, Kiki, mein Engel!« Sie ging in die Knie. »Du bist doch heute Abend schön brav, oder? Sonst muss ich dich von der Gästeliste streichen. Wir sind hier schließlich feine Damen, nicht wahr?«

Kiki legte ihre Arme um Mrs. Huberts Nacken und flüsterte ihr etwas ins Ohr.

»Meinetwegen«, erwiderte Mrs. Hubert. »Aber nur, wenn deine Mutter nicht hinsieht.«

Ich warf einen Blick über die Schulter, um nach Mutter und Tante Julie Ausschau zu halten, die im Foyer einer alten Bekannten begegnet waren. »Sitzen Sie heute Abend draußen auf der Veranda? Es ist herrlich warm.«

»Bei dieser Brandung? Gewiss nicht. Mein Gehör ist nicht mehr das, was es mal war.« Mrs. Hubert klopfte Kiki ein letztes Mal auf den Rücken und erhob sich mit der Eleganz einer altersschwachen Giraffe. »Na los, ab mit euch beiden. Ach Lily, einen Moment noch. Ich wollte dich etwas fragen.« Sie legte mir eine Hand auf den Arm und zog mich zu sich heran, sodass ich den Duft ihres Rosenwassers riechen und die feinen Linien von Reispuder in ihren Falten sehen konnte. »Du hast sicher von der Sache mit Budgie Byrne gehört?«

»Ich habe gehört, sie will diesen Sommer in das alte Haus ihrer Eltern ziehen«, antwortete ich kühl.

»Und was hältst du davon?«

»Ich halte es für eine großartige Idee. Es ist ein wundervolles Haus. Eine wahre Schande, dass es so lange leer stand.«

Mrs. Huberts kobaltblaue Augen hatten nichts von ihrer einstigen Strahlkraft eingebüßt, seit sie mir das erste Mal den Hintern versohlt hatte, weil ich damals, in Kikis Alter, für die Dekoration meines Festwagens am Unabhängigkeitstag ihre Fleißigen Lieschen gepflückt hatte. Mit denselben blauen Augen musterte sie mich in diesem Moment, und obwohl ich mir nicht die Blöße geben wollte, vor ihrem Blick zurückzuschrecken, starb ich innerlich tausend Tode. »Wie recht du hast«, sagte sie schließlich. »Eine wahre Schande. Ich werde dafür sorgen, dass sie dir keinen Ärger macht, Lily. Die Frau sorgt doch für Ärger, wo sie nur auftaucht.«

»Ach, mit Budgie werde ich schon fertig. Bis später, Mrs. Hubert. Ich werde Kiki jetzt ein Gingerale besorgen.«

»Ich bekomme ein Gingerale?« Kiki hüpfte freudestrahlend hinter mir her.

»Nur heute Abend. Einen Gin Tonic, bitte«, sagte ich zu dem Barkeeper, »und ein Gingerale für die junge Dame.«

»Und wer ist wer?«, fragte der junge Mann augenzwinkernd.

Frisch vom College.

Er krönte Kikis Gingerale mit einer Kirsche. Hand in Hand schlenderten wir hinaus auf die Veranda, um draußen auf Mutter und Tante Julie zu warten.

Die Brandung war heute außergewöhnlich stark und rollte in gewaltigen Wellen über den Strand. Als ich meinen Drink auf dem Verandageländer abstellte und meine Hände auf das verwitterte Holz stützte, spürte ich die salzige Gischt auf der bloßen Haut meiner Arme und meines Dekolletés. Das Kleid hatte Tante Julie ausgewählt – ein notwendiges Zugeständnis meinerseits, um sie vom Thema Haarschnitt abzubringen. Obwohl sie den festen Baumwollstoff mit Blumenmuster vorschnell abtun wollte, musste sie einsehen, dass meine bescheidene Garderobe leider nichts Besseres hergab. Zum Ausgleich versuchte sie, den Ausschnitt so weit herunterzuziehen, wie es die Physik erlaubte. »Wir werden den ganzen Krempel morgen zum Fenster rausschmeißen«, sagte sie. »Oder besser noch verbrennen. Ab sofort will ich keine einzige Blume mehr an dir sehen, Lily. Außer vielleicht eine dunkelrote Gerbera im Haar. Direkt über dem Ohr, würde ich sagen. Das wäre doch mal was. Damit würdest du sogar Budgie ausstechen!«

Kiki tauchte zwischen meinen Armen auf und lehnte sich rückwärts gegen das Geländer, um zu mir aufzusehen und an meinem Kleid herumzuzupfen. »Wer ist eigentlich Budgie Byrne«, fragte sie. »Und macht sie wirklich so viel Ärger, wie Mrs. Hubert behauptet?«

»Du solltest die Unterhaltungen von Erwachsenen nicht belauschen, Liebling.«

Sie schlürfte an ihrem Gingerale und ließ den Blick geziert schweifen. »Aber ich sehe hier keine anderen Kinder.«

Natürlich hatte sie damit recht. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund hatte meine Generation mit der uralten Tradition gebrochen, die Häuser der Elterngeneration zu übernehmen und die schmalen Wege und Tennisplätze mit kreischenden Kindern und launischen Jugendlichen zu füllen, mit malerischen Segelbooten, die sich in der Bucht ein Rennen lieferten, und prunkvollen Festwagen zum Unabhängigkeitstag, dekoriert mit stibitzten Blumen. Ich konnte es sogar irgendwie nachvollziehen. Das, was mich Jahr für Jahr nach Seaview trieb – sein altmodischer Charme, seine sture Unveränderlichkeit, die alten Korbmöbel und der Geruch von getrocknetem Salzwasser auf den verblichenen Sitzkissen –, genau das war es, was die anderen abschreckte. Die allgemeine Sucht nach Glamour, Glanz und Gloria konnte der Klub in keiner Weise befriedigen. Während der Prohibition war sämtlicher Alkohol aus den Regalen verschwunden und durch Limonade ersetzt worden, und nun, da sich die Gin Tonics ihre angestammte Position zurückeroberten, hatte die junge Generation sich bereits anderweitig orientiert.

Ausgenommen ich.

Kiki war somit die jüngste Person im Klub, gefolgt von mir. Gemeinsam standen wir an diesem Abend auf der Veranda und starrten in die Brandung, ganz ohne Gesellschaft. Es machte mir nichts aus. Es gab weitaus schlimmere Orte, um allein zu sein. Die Veranda erstreckte sich über die gesamte Breite des Gebäudes, an dessen Seiten sich die lange Zufahrtsstraße einerseits und die ausgedehnte Feriensiedlung andererseits anschlossen: Reihe um Reihe idyllischer Sommerhäuser, deren Eingangslaternen dem Meer freundlich zuzwinkerten. Der Anblick war mir tief vertraut. Er bedeutete Sicherheit. Familie. Zuhause.

Kiki sagte etwas, und unter uns rauschte eine Welle über den Strand, doch aus irgendeinem Grund vernahm ich das Rattern eines herannahenden Wagens, der in diesem Moment um die letzte Kurve bog und auf das Rondell des Klubs zusteuerte.

Im Nachhinein konnte ich nicht einmal sagen, warum es mir unter allen anderen Motorengeräuschen an diesem Abend besonders aufgefallen war. Ich glaubte nicht an Schicksal, an Vorsehung oder Intuition. Ich hielt es für reinen Zufall, dass ich der Ankunft jenes Wagens lauschte; dass ich hörte, wie er mit rasselndem Motor vor dem Klubgebäude anhielt; dass ich mit erschreckender Gewissheit die Stimme Budgie Byrnes wiedererkannte, die, eine Woche früher als erwartet, in ein melodisches Lachen ausbrach, gefolgt von einer tiefen Männerstimme.

Natürlich hieß sie nicht länger Budgie Byrne, wie ich mir in diesem Moment bewusst machte. Zu etwas anderem war mein wirrer Verstand nicht in der Lage.

Ich schnappte mir meinen Drink und Kikis Hand.

»Deine Hände sind eiskalt«, verkündete sie.

Ich ging auf die blau gestrichene Treppe zu, die hinunter zum Strand führte. »Lass uns ein bisschen spazieren gehen.«

»Und was ist mit meinem Gingerale?«

»Ich bestelle dir ein neues.«

Während ich mit Kiki die Stufen hinunterstieg, meine freie Hand am Rock, damit ich nicht stolperte, kippte ich den Rest meines Gin Tonics hinunter. Als wir das Ende der Treppe erreichten, war mein Glas leer, also ließ ich es am Rand der untersten Stufe stehen, wo niemand darüberstolpern konnte.

»Kommen die anderen auch?«, fragte Kiki, die neben mir zum Hopserlauf beschleunigte. Jede Abwechslung erfüllte sie mit schierer Begeisterung.

»Nein, nein. Es wird ein ganz kleiner Spaziergang. Nur du und ich. Ich will …« Ich zögerte. Der Gin stieg mir abrupt zu Kopf. »Ich will mir nur mal das beleuchtete Klubhaus vom Wasser aus ansehen.«

Kikis kindliche Fantasie war mit dieser Erklärung vollauf zufrieden. »Auf geht’s!«, rief sie und ließ unsere verschlungenen Hände schaukeln. Kikis flache Schuhe glitten mühelos über den Sand, während die Absätze meiner Sandalen mit jedem Schritt einsanken. Nach hundert Metern war ich außer Atem.

»Lass uns hierbleiben«, sagte ich.

Kiki zerrte an meiner Hand. »Aber wir sind doch noch gar nicht am Wasser!«

»Wir sind weit genug gegangen. Außerdem müssen wir gleich umkehren, bevor Mutter und Tante Julie uns suchen.«

Kiki murrte enttäuscht und ließ sich in den Sand fallen, die Beine in Richtung Meer gestreckt. »Oh Lily«, rief sie. »Schau mal, die Muschel!« Sie hielt mir eine spiralförmige Muschel entgegen, die erstaunlicherweise unversehrt war.

»Die ist ja toll! Mai ist eindeutig die beste Zeit, um nach Strandgut zu suchen, oder? Die wahren Schätze sind noch nicht geplündert. Verwahr sie gut!« Ich beugte mich vor und zog mir die Schuhe aus, indem ich unbeholfen auf einem Bein hüpfte. Der weiche Sand quoll mir zwischen die Zehen; die schäumenden Wellen lockten ganz in der Nähe. Die Flut hatte ihren Höchststand nahezu erreicht. Ich beobachtete das Spiel der Wellen, ihr Kommen und Gehen, bis sich mein Atem und mein Herzschlag beruhigten. Ein bitterer Nachgeschmack stieg in mir hoch, und mein kühner Verstand, entfesselt vom Gin, hielt mir meine Schmach vor Augen.

Der Moment war also gekommen. Ich hatte mir diese Begegnung immer wieder ausgemalt, mir überlegt, was ich tun würde. Ich hatte mir kluge Worte zurechtgelegt, mir vorgenommen, sicher und souverän die Haare zurückzuwerfen, ganz so, wie Tante Julie es getan hätte.

Stattdessen war ich davongerannt.

»Darf ich die Schuhe ausziehen und im Wasser nach Muscheln suchen?«, fragte Kiki.

Ich blickte nach unten. Das Mädchen hatte einen Kreis aus kleinen schwarzen Venusmuscheln um die Schneckenmuschel herumgelegt. Wie Betende an einem Schrein.

»Nein, Liebling. Wir müssen zurück.«

»Ich dachte, wir wollten uns die Lichter ansehen?«

»Na, dann sieh sie dir an! Hübsch, oder?«

Sie wandte sich dem Klubhaus zu, das über dem Strand thronte, alle Räume in Erwartung des nahen Sonnenuntergangs hell erleuchtet. Die grau verwitterten Schindeln wirkten vor dem dunklen Sand der Dünen wie eine Art Tarnkleidung. Über seinem Dach versank die Sonne bereits im goldenen Westen.

»Sehr hübsch! Wir haben Glück, dass wir jeden Sommer hierherkommen dürfen, oder?«

»Großes Glück.« Ferne Stimmen drangen zu uns herüber, zu diffus, um einzelne Wörter auszumachen. Ich war mir meiner eigenen Feigheit schmerzlich bewusst. Hätte Kiki davon erfahren und es verstanden, hätte sie sich meinetwegen geschämt. Kiki schreckte vor keiner Herausforderung zurück.

Ich nahm ihre Hand. »Lass uns umkehren.«

Als wir die Veranda erreichten, hatte ich mir einen detaillierten Plan zurechtgelegt. Ich würde uns einen Tisch am hinteren Ende des Klubs besorgen, irgendwo in einer Ecke, möglichst weit vom Eingang entfernt. Dann würde ich Kiki schicken, um nach Mutter und Tante Julie zu suchen, und dem Kellner erklären, wir würden heute drinnen essen. Die Brandung sei meiner Mutter zu stark.

Nach dem Essen würden wir über die Veranda flanieren, ein paar alte Bekannte begrüßen, und wenn wir uns dem gefürchteten Tisch schließlich näherten, wäre ich ruhig und gefasst, bestärkt von jener wohlvertrauten Routine, anderen die Hand zu schütteln, Komplimente über Frisuren und Kleider zu verteilen, das Verscheiden älterer Klubmitglieder zu beklagen und die Geburt neuer Enkelkinder zu beglückwünschen. Dieselbe Unterhaltung, dieselben Themen, Abend für Abend, Sommer für Sommer. Ich kannte meinen Text in- und auswendig. Eine Minute, vielleicht zwei, und die Sache wäre erledigt.

Kiki rannte vor mir die Treppe hinauf, während ich mich vorbeugte, um mein leeres Glas einzusammeln. Mein Haar löste sich bereits aus Tante Julies kunstvollem Knoten, bezwungen vom Wind und seinem eigenen Starrsinn. Ich strich mir eine lose Strähne hinters Ohr. Meine Wangen prickelten von der lebhaften Gischt und dem flotten Spaziergang. Sollte ich den Waschraum aufsuchen, um mich in einen präsentablen Zustand zu versetzen, oder war die Gefahr zu groß?

»Oh, hallo!«, sagte Kiki am oberen Ende der Treppe. »Ich habe Sie hier noch nie gesehen.«

Ich blieb wie erstarrt stehen, noch immer vornübergebeugt, während meine Hand das glatte runde Longdrinkglas umklammert hielt, als wäre es ein Rettungsanker.

Eine quälende Stille dehnte die Sekunden zur Ewigkeit.

»Hallo«, erwiderte eine sanfte Männerstimme.

3HANOVER, NEW HAMPSHIRE

OKTOBER 1931

Jeder im Hanover Inn erkennt den Mann, der unseren Tisch mit seiner Anwesenheit ziert. Wir sitzen auf drei eleganten Medaillonstühlen und essen Steak mit Kartoffelgratin, während sich die übrigen Gäste nur mit Mühe beherrschen können, die Hälse zu recken, sich gegenseitig anzustoßen, verstohlen zu flüstern oder in unsere Richtung zu nicken.

Budgie sitzt kerzengerade auf ihrem Stuhl und lächelt selbstzufrieden, während sie ihr Steak in ordentliche Stücke schneidet. »Ich wünschte, sie würden endlich aufhören, uns anzustarren«, sagt sie. »Kann man sich an so etwas überhaupt gewöhnen?«

Graham Pendleton blickt zu uns auf, Messer und Gabel in der Luft erstarrt. Er füllt seinen Stuhl mühelos aus, füllt den ganzen Raum aus mit seinen breiten Schultern und dem geschniegelten braunen Haar, das im Licht der Tischbeleuchtung golden glänzt. Aus der Nähe betrachtet, wirkt er geradezu obszön attraktiv, ein Musterbeispiel von perfekter Symmetrie. »Meinst du die da?«, fragt er, während er mit der Messerspitze auf den Nachbartisch deutet. Wie auf Kommando stürzen sich seine ehrfürchtigen Bewunderer in eine angeregte Unterhaltung.

»Jeder.« Sie lächelt. »Jeder einzelne.«

Er zuckt mit den Achseln und konzentriert sich wieder auf sein Steak. »Ach, das bemerke ich gar nicht. Außerdem ist das nur samstags so. Sobald die Ehemaligen aus der Stadt sind, bin ich wieder ein ganz normaler Student. Dürfte ich mal den Pfeffer haben, Miss …?« Er zieht das Wort unnatürlich in die Länge. Meinen Namen hat er bereits vergessen.

Ich reiche ihm den zierlichen Pfefferstreuer aus geschliffenem Kristall. »Dane.«

»Miss Dane.« Er lächelt. In seiner großen Hand wirkt der Pfefferstreuer geradezu albern. »Vielen Dank.«

»Liebling, du erinnerst dich doch noch an Lily?«, sagt Budgie. »Wir haben den Sommer zusammen verbracht. In Seaview, weißt du noch?«

»Ach, natürlich. Das Gesicht kam mir gleich bekannt vor. Du trägst die Haare irgendwie anders, oder?« Er stellt den Pfefferstreuer ab und vollführt eine seltsame Geste neben seinem Kopf.

»Eigentlich nicht.«

Doch Graham hat sich schon wieder Budgie zugewandt. »Wie gesagt, Greenwald ist derjenige mit dem eigentlichen Talent. Die älteren Semester sind nur zu dumm, das zu begreifen.« Er schiebt sich ein Stück Steak in den Mund.

Budgie verzieht das Gesicht zu einer lächelnden Maske. »Was, Nick? Der ist doch nur der Quarterback. Er steht einfach dumm rum.«

Grahams Kehle arbeitet heftig, um den Bissen hinunterzubefördern. Er greift nach seinem Getränk, einem großen Glas Milch mit einer Schicht Rahm. »Hast du nicht diesen Wurf gesehen? Im letzten Quarter? Bei dem er sich verletzt hat?«

»Natürlich. Das war schon recht aufregend. Aber du bist derjenige, der dauernd rennt. Der die Touchdowns erzielt. Du machst doch die ganze Arbeit!«

Er schüttelt den Kopf. »Ich kassiere nur die Lorbeeren, weil ich der Fullback bin und Greenwald … na ja, du weißt schon.« Er nimmt einen großen Schluck Milch, um alles Jüdische, was Nick anhaftet, hinunterzuspülen. »Das wird man wohl in Zukunft öfter sehen, solche Vorwärtspässe. Mit so was kann man Stadien füllen! Du hast ja selbst gesehen, wie begeistert die Menge war. Der Junge hat wirklich Talent. Einen fantastischen Wurfarm und eiskaltes Kalkül. Ein Blick aufs Spielfeld, und er weiß genau, wo jeder steht, fast wie ein Schachspieler. Ich habe noch nie erlebt, dass er einen Spielzug falsch eingeschätzt hätte.«

»Und wie geht es ihm?« Ich kann die Frage nicht länger unterdrücken. »Seinem Bein, meine ich.«

»Ach, dem geht es gut. Er hat mich aus dem Krankenhaus angerufen. Längst nicht so schlimm, wie befürchtet. Einfacher Bruch. Haarriss oder so was. Seine alten zähen Knochen sind wohl schwer kaputtzukriegen. Der Bruch wird gerade gerichtet.« Graham schüttelt seine Armbanduhr unter dem Jackettärmel hervor und wirft einen Blick darauf. »Danach will er uns Gesellschaft leisten.«

ENDE DER LESEPROBE