Unser wildes Blut - Wolfgang Schnellbächer - E-Book

Unser wildes Blut E-Book

Wolfgang Schnellbächer

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Beschreibung

Eine Liebe gegen alle Widerstände

Alexander liebt seine Mitschülerin Aysel. Doch es ist eine Liebe, die nicht sein darf. Denn Aysel ist Muslimin und Alexander Christ. Die beiden haben keine Chance. Aysels Bruder Ilhan, der auf dieselbe Schule geht, wacht mit Argusaugen über die Ehre seiner Schwester. Aber so leicht gibt Alexander nicht auf. Als der Konflikt sich immer mehr zuspitzt und die ganze Schule in zwei Lager spaltet, soll Aysel plötzlich verheiratet werden. Den beiden Liebenden bleibt nur die Flucht. Doch Aysels Bruder ist ihnen dicht auf den Fersen.

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Seitenzahl: 250

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Wolfgang Schnellbächer

Nur Öneren

Roman

Kinder- und Jugendbuch-Verlag

in der Verlagsgruppe Random House

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1. Auflage 2016

©2016 Wolfgang Schnellbächer

©2016 by cbt Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: *zeichenpool, München

Umschlagmotiv:© Shutterstock/ArTDi101

mi · Herstellung: aj/kw

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-15423-3V002

www.cbt-buecher.de

»Wer an die Freiheit des menschlichen Willens glaubt,

hat nie geliebt und nie gehasst.«

Marie von Ebner-Eschenbach

»Himmelhoch jauchzend, zum Tode betrübt;

glücklich allein ist die Seele, die liebt.«

Johann Wolfgang von Goethe

Herbst

Alexander

In jener Nacht, in der alles beginnt und alles enden soll, kann man das Leuchten der Sterne über dem Versteck kaum ausmachen. Im Dunkeln auf dem Teppich liegt Alexander, starrt verloren durch das Dachfenster und hört den Atem des Mädchens, das er liebt. Ein leiser Laut ihrer Stimme dringt an sein Ohr. Vorsichtig setzt er sich an den Bettrand, um ihre Hand zu nehmen und ihren unruhigen Schlaf zu besänftigen. Sie dreht sich zu ihm, zieht seinen Arm zu sich und fällt erneut in tiefen Schlaf. So sitzt er eine stille Weile, starrt auf die hölzernen Balken, die sich durch die niedrige Decke ziehen, und lauscht in das Rauschen der Bäume. Vorsichtig löst er seinen Arm aus Aysels Umklammerung, geht auf Zehenspitzen zurück, legt sich auf den Rücken und sucht erneut die Sterne am Himmelszelt. Jetzt erkennt er dort oben matt leuchtende Punkte, die immer wieder mit schwarzen Wolken verschwimmen. Er schließt die Augen und die Erinnerung trägt ihn zu dem sonnigen Tag am Anfang des Herbstes, als er das erste Mal mit ihr sprach.

Die Bühne der Schulaula war klein, leer, und der Auftritt, das wusste jeder, würde erbärmlich werden. Schüchtern und widerwillig kletterten die Mädchen die wacklige Treppe hinauf. Eine Hälfte trug enge schwarze Kleidung, die andere viel zu weite weiße. Scheinbar willkürlich verstreut stellten sie sich auf. Frau Ruckemöller, die Sportlehrerin, trat sichtlich aufgeregt vor das Publikum und nahm das Mikrofon. Was nun folge, sagte sie, läge komplett im Bewusstsein dessen, der es sehen würde. Bestenfalls sei es ein Spiegel, für die, die ihn erkennen. Für andere könnte es auch etwas ganz anderes sein, vielleicht ein Grammofon der inneren Empfindungen. Das einzig wirklich Entscheidende sei, dass man alles vergisst, um unvoreingenommen wahrnehmen zu können. Ein paar Sekunden versuchte sie, das Mikrofon zurück in die Halterung zu schieben, dann war schon ein Mittelstufenschüler da, um es ihr abzunehmen. Fremdartige Musik erklang, man hörte indische Klänge ohne feste Melodie, ab und zu einen Gong. Langsam begannen sich die Mädchen zu bewegen, wobei kein Unterschied zwischen Schwarz- und Weißgekleideten zu erkennen war. Irgendwann hörte man ein gluckerndes Geräusch wie das Aufsteigen einer Luftblase aus tiefem Wasser und die Mädchen bewegten sich mehr oder minder gleichzeitig Richtung Bühnenboden. Manche sanken grazil herab, andere legten sich umständlich und lustlos hin, und wieder andere plumpsten derart ungelenk auf das Holz, dass bereits das Zusehen wehtat. Kurz wurde es still. Vorne, in der ersten Reihe, stellte sich Herr Laspary, der Musiklehrer, auf einen Stuhl und begann wild in die Halle hineinzuwinken. »Wir sind dran«, rief er zu allen Seiten und von überall begannen als Vögel verkleidete Unterstufenschüler nach vorn zu drängen. Noch ehe die ersten Mädchen auf der Treppe waren, um die Bühne zu verlassen, wurden sie schon von einem Schwall lautstark herumtollender Vögel zurückgedrängt.

Die Erinnerungen verschwimmen vor Alexanders Augen. Er sieht noch Herrn Laspary winken, seltsam stumm ruft der Lehrer in das Publikum hinein. Da ist wieder das Gesicht von Thomas, das von Volkan, die ihn wie alle in der Schule nur Alex nannten. Und ja, sie redeten auf ihn ein und es wurde entschieden, den versteckten Whiskey aus der kleinen Halle nebenan zu holen. Aber er weiß nicht mehr, warum er gerade zu diesem Zeitpunkt losging. Er erinnert sich, wie ihn Ilhan, der mit seinen beiden Geschwistern neu auf der Schule war, aus Versehen anrempelte und dass er seltsam aufgewühlt weiterging. Doch ob auf der Bühne, irgendwo hinten oder in der Mitte versteckt, dessen Zwillingsschwester Aysel wirklich tanzte, vermag er nicht mehr zu sagen. Dann die verschwommenen Gestalten, zwischen denen er sich hindurchdrängelte, der Gesang des Kinderchors – war da nicht auch der Geruch von Brezeln? Erst ab der Tür zur kleinen Halle werden die Bilder wieder klarer. So klar, als würde er den Raum erneut betreten, sieht er das hell schimmernde Bodenholz und das matte Gelb der Wand, hört er erneut die eigenen Schritte im leeren Raum. Und dann öffnet sich wieder, wie unzählige Male zuvor in seiner Erinnerung, die Tür auf der anderen Hallenseite.

Alex dreht den Kopf zur Seite, müht sich, die Erinnerung zu verlangsamen und den Strom des schönen Gefühls, das ihn durchfährt, möglichst lange zu halten. Und wirklich, nun ist es, als würden einzelne Aufnahmen vor sein Bewusstsein geschoben, die er wie im Traum betrachten kann. Da ist das Bild, als sie gerade in der Tür stand und er sich wunderte, dass sie ihr Kopftuch nur in der Hand trug. Dann das Bild ihrer Augen ganz nah, da waren sie in der Hallenmitte fast nebeneinander. Ein schüchternes »Hallo« erklang von seiner Seite, ein nicht minder zögerliches »Hey« von ihr. Da war Aysel schon vorbei und selbst jetzt noch, hier auf dem Teppich, spürt er wieder einen Funken der Enttäuschung von damals, sie nicht richtig angesprochen zu haben. Dabei ist das alles so lange her und unendlich viel ist seitdem geschehen.

Die Erinnerung zieht ihn weiter, er sieht wieder das blassbraune Tor des Geräteraums, blickt erneut in das Chaos dahinter. Da waren der schwere Mattenwagen, ein Barren und ein paar Kisten. Weiter im Dunkeln zwei kleine Böcke, Sprungbretter und gelb vergilbte Kegel. Wie er hier eine Whiskeyflasche finden sollte, war ihm ein Rätsel. Er schaltete die Handylampe ein und begann ungelenk über den Wagen ins Dunkle zu kriechen. Da hörte er hinter sich schallendes Gelächter. Noch heute weiß er nicht, ob sie die Halle überhaupt verlassen hatte oder die ganze Zeit da gewesen war.

»Ich weiß ja, dass unser Tanz ziemlich komisch war, aber was du da machst, ist auch superlustig.« Ihr Kopftuch hielt sie noch immer in der Hand und dort im Dunkeln, auf allen vieren und inmitten einem Stapel blauer Matten, fühlte sich Alex wie bei etwas Peinlichem ertappt. Dann musste auch er lachen.

»Anstatt dich lustig zu machen, könntest du mir mal helfen.« Möglichst sportlich versuchte er, rückwärts von den Matten zu kriechen.

»Gern«, sie lächelte noch immer amüsiert, »ist das auch ein Tanz zum Deuten? Hm, also du könntest ein Karnevalswagen sein.«

»Ein bitte was?« Er lehnte sich lässig gegen den Wagen, doch der rollte nach hinten weg.

»Ein Karnevalswagen, macht ihr das nicht immer? Irgendwelche Figuren kniend auf einem Wagen und ihr findet das megakomisch?« Ihre Augen leuchteten, ihr Gesicht strahlte. Er genoss es und war verloren zugleich.

»Ähm also, noch mal mit dem Helfen. Ich such ’ne …« Alex zögerte, blickte in die Dunkelheit der Kammer, wieder in ihr strahlendes Gesicht und stockte erneut. »…’ne, Flasche Whiskey, die wir da hinten versteckt haben. Und da ihr so etwas ja nicht trinkt, ist es wohl ungefährlich, wenn du mir hilfst.« Im selben Augenblick fand er den Satz schon blöd; es war ihm unangenehm, dass er einem muslimischen Mädchen mit Alkohol gekommen war. Doch sie schien das gar nicht zu merken und lachte einfach weiter.

»Also Whiskey ist auch eine gute Deutung für deinen Mattentanz, und weil man sich dann so aufführt, trinken wir keinen.«

»Ähm.« Der Mattenwagen schien noch immer hinter ihm wegzurollen, obwohl kein Wagen der Welt so lange in eine dunkle Kammer rollen kann. Er wollte schnell sein, etwas sagen, dem Abrutschen des Wagens wie auch dem Verlust von Coolness vor diesem Mädchen entgegenwirken. Doch noch immer fiel ihm nichts ein. Wie aus Mitleid brach ihr Lachen ab – und Mitleid, das weiß jeder Junge, ist das gefährlichste Gefühl, wenn man einem Mädchen gefallen will. Das Nächstbeste, was ihm in den Sinn kam, ging ungeprüft auf Sendung.

»So ist das also. Deshalb seid ihr Türken auch so ein friedliches Völkchen und fallt nirgends negativ auf, gell?« Seine Stimme klang frech und forsch, doch er fragte sich in Gedanken, ob das jetzt nicht zu viel war. Aber ihre Augen strahlten weiter.

»Wir sind wirklich ein sehr nettes Volk, friedlich und hilfsbereit«, erwiderte sie mit gespielter Empörung. Endlich fiel ihm etwas Gutes ein, seine Stimme wurde ruhiger, als er sprach.

»Na, wenn ihr so hilfsbereit seid, kannst du mir ja beim Suchen helfen.«

Sie zögerte, blickte sich kurz nach allen Seiten um, dann wieder zu ihm und lächelte erneut.

Als sie zusammen über den Mattenwagen in die dunkle Kammer krochen, war noch immer nichts von einer Whiskeyflasche zu entdecken. Rechts stand ein Barren, gegen den eine Matte so ungünstig gelehnt war, dass man nichts dahinter sah. Alex zog sich daran hoch und balancierte kniend auf den Stangen.

»Ist dort hinten etwas?« Aysel hatte Mühe, in dem Gerümpel neben ihm Platz zum Stehen zu finden, und lugte ebenfalls herüber.

»Da liegt nur eine riesige, dicke Matte.«

»Ah, jetzt sehe ich sie auch und nun …«, sie grinste ihn an, »… kommt der elegante Abschwung.« Sie gab ihm einen kräftigen Stoß und er sauste mit rudernden Armen auf die dicke Matte. Flink zog sie sich an dem Barren hoch und ließ sich auf der anderen Seite nach unten gleiten.

Ilhan

In dieser Nacht ist es so finster, dass man das Leuchten des Zuges schon von Weitem sieht. Einsam steht Ilhan auf einem Bahnhof im Nirgendwo. Um jegliche Menschen zu meiden, ist er mit dem Rad über düstere Feldwege hierhergefahren und hat es irgendwo in den Büschen versteckt. Unsäglich viel hat er in den vergangenen Tagen und Wochen geschlafen und doch fühlt er sich müde und erschöpft, als er in einen der Zugsitze fällt. Eine kleine Ewigkeit kramt er in den Tiefen seiner Taschen nach dem Ticket, legt es auf den Tisch und schließt sogleich die Augen.

»Da… darf ich dich mal was fragen?« Wie aus einer fernen Zeit erklingt die eigene Stimme in seinem Kopf. Dabei ist es kein Jahr her, dass er diesen Satz gesagt hat. Und als gäbe es in seinem Bewusstsein einen technischen Fehler, erscheint erst Sekunden später das zugehörige Bild. Da stand er vor ihr am Rande der Schulaula auf dem großen Fest. Sie war etwas jünger als er, vielleicht sechzehn, trug einen Bäckerkittel und hatte die halblangen Haare zu einem Zopf gebunden. Klar, die Frage war unfassbar bescheuert, natürlich schaute sie ihn nur verwirrt an und selbstverständlich wusste er nicht weiter. Er schaffte es nicht, einen klaren Gedanken zu fassen, und verfluchte Said, diesen furchtbaren arabischen Angeber. Er ist der Coolste in der Stufe und Ilhan war neu an dieser Schule, hergezogen aus dem Ruhrgebiet und um jeden froh, der ihn akzeptierte. Noch immer sah ihn das Mädchen so verwirrt an, als wäre sein Gesicht mit rosa Sternchen bemalt. Erst lächelte sie in einer Mischung aus liebevoll und dämlich, dann schwieg sie einfach weiter.

Was dieser Said jetzt wohl dachte? Irgendwo dahinten stand er mit Benjamin und Tarek. Sicher lachten sie ihn aus. Eben noch hatte Ilhan mit ihnen im Gefühl der gemeinsamen Überlegenheit auf alle anderen herabgeschaut. Jetzt stand er unbeholfen vor einem Mädchen in einem Bäckerkittel. Eine ältere Lehrerin trat an seine Seite. Mit komischen Sandalen, weiter grüner Kleidung und langem strähnigen Haar sah sie aus wie eine Statistin in einem Mittelalterfilm. Ohne ihn, das Mädchen oder den Blickkontakt zwischen beiden zu beachten, bestellte sie ein Vanillestückchen. Ilhan wurde es unheimlich heiß, er begann zu schwitzen und fragte sich, ob er wirklich so wenig abgebrüht, so uncool war. Verstohlen blickte er sich um und merkte da erst, dass Zentimeter neben ihm ein Blechofen stand, in dem langsam ein paar Brezeln braun wurden. Die Lehrerin zahlte und wieder ruhten die Augen des Mädchens auf ihm. Er hatte das Gefühl, als hätte der Ofen jede Zelle seines Körpers ausgetrocknet. Als könne er nur noch stottern und brabbeln, aber keinen klaren, erst recht keinen coolen Satz mehr formulieren.

»Ähm, ich nehm auch so ein Vanilleteil«, sagte er schließlich und fragte sich, ob es noch eine tiefere Stufe des Bescheuertseins gab oder ob er endgültig ganz unten angekommen war. Brav packte sie ihm das Gebäckstück ein und reichte ihm wortlos die Tüte.

»Pass auf«, begann er jetzt viel zu schnell, »ich hab mir überlegt, also …« Er nahm ihr die Tüte aus der Hand. »Ich mein, man könnt sich ja so mal treffen. Bist du auf Facebook? Wie heißt du denn da?« Was er sagte, war noch immer unterirdisch schlecht, doch etwas besser als eben. Gegen all sein Empfinden zwang er sich zu lächeln – und tatsächlich lächelte sie zurück. Laut lachend zogen ein paar Unterstufenschüler vorbei. Sie trugen bunte Umhänge und Vogelmasken aus Federn und Eierschachteln.

»Ich heiße Emilie.« Sie hielt ihm die Hand hin. Ihren Namen wusste er bereits. Von Weitem hatte Said auf sie gezeigt und sie als leichtes Opfer mit einfältigem Gesicht, doch geiler Oberweite vorgestellt, mit der man alles machen könne. Mit den anderen hatte er anerkennend gelacht. Doch noch ehe er mit Lachen fertig war, hatte Said schon auf ihn gezeigt und gemeint, dass der Neue nun mal demonstrieren solle, was er bei Mädels so draufhat.

»Cool, Emilie und wie weiter?«

»Gonz.«

»Emilie, wir werden sicher noch voneinander hören.«

Alexander

Tief in der Turnmatte versunken, saßen sie da. Die Strahlen der Abendsonne fielen durch das halb offene Tor und ihre Stimmen wurden leiser und vertrauter. Sie fragten sich, wie alt die Geräte wohl waren und wie viele Schüler schon auf ihnen geturnt haben mochten. Von den Metallstangen blätterte der Belag, vielleicht war seine Farbe einmal schillerndes Silber gewesen, vielleicht schon immer dieses matte Grau. Sie malten sich Jungen aus, die hier in den Fünfzigern mit braven Seitenscheiteln turnten und dabei unerklärlicherweise Hemden und Lederhosen trugen. Stellten sich rebellische Jugendliche in den Siebzigern vor, die mit pickligen Gesichtern und viel zu langen Haaren über den Sinn jeder Übung diskutierten, und dachten sich blasse Schnauzbartträger in den Achtzigern aus. Sie trugen Vokuhila-Frisuren, enge, weiße T-Shirts mit dem alten Adidas-Emblem und knallten ungelenk auf die Matten. Und nun, nach alledem und ein paar gelangweilten Teens in den Neunzigern, saßen sie hier, ein deutscher Junge und ein türkisches Mädchen mit einem Kopftuch in ihren Händen.

»Glaubst du an Gott?« Wie aus dem Nichts kam ihre Frage und er spürte, dass sie ihr wichtig war.

»Eigentlich schon«, antwortete er überzeugt und stockte doch, »ich glaube an etwas Gutes, ja, einen guten Gott vielleicht, der uns …« Wieder zögerte er und ärgerte sich zugleich, wie unfertig, wie wenig überzeugend seine Antwort klang. Er starrte auf die Matte und begann, sie mit den Händen zu kneten.

»Weißt du, was Sternenkinder sind?« Sie schüttelte den Kopf. »Babys, die gleich nach der Geburt gestorben sind.« Er stockte und schloss die Augen. »Wenn jemandem etwas Schlimmes passiert, kann man immer sagen, dass er etwas Schreckliches getan, vielleicht auch nur gedacht hat. Man kann die komischsten Dinge zusammenreimen. Aber dass sich Menschen auf ein Kind freuen, dass es im Bauch der Mutter heranwächst, aber nie auf dieser Erde lebt, dass es nicht die kleinste Chance kriegt … Und deswegen zweifle ich manchmal an dem, was wir einen lieben Gott nennen.« Lange sahen sie sich tief in die Augen.

»Meinst du«, fragte sie leise, »dass es etwas wie eine Sternenliebe geben kann?« Er blickte sie fragend an.

»Na eine Liebe, die schon tot geboren wird. Die auch nicht die kleinste Chance kriegt, obwohl sie leben will.« Ihre Stimme war mit jedem Wort noch leiser geworden und wie Alex zuvor begann sie, in der Matte zu kneten. Er ahnte, was sie meinte, doch wusste nichts darauf zu sagen und so schwiegen sie beide. Noch lange saßen sie da und fühlten sich wie in einer dunklen, warmen Höhle. Sie sprachen über die Einsamkeit, die jede Jugend in sich trägt, über die Sehnsucht, die jede Jugend treibt und die sie beide nie verlieren wollen. Aysel erzählte, wie türkische Paare duldsam zusammen bleiben, ganz gleich, wie furchtbar die Beziehung ist, und Alex erwiderte, wie sich deutsche Paare viel zu schnell loslassen und weiterwandern und dabei doch nur die alte Angst und immer neue Not finden. Erst als das Licht im Tor immer dunkler wurde, krochen sie wieder über den Mattenwagen in die Halle hinaus. Auf einer langen Holzbank saßen drei junge Schüler in ihren Vogelkostümen und starrten sie an.

»Was die wohl denken«, flüsterte Alex.

»Und wart mal ab, wie die jetzt schauen.« Sie zwinkerte ihm zu, warf sich das Kopftuch über und hatte es in einer flinken Bewegung gebunden. Den Vögeln fielen fast die Augen aus. »Hey, macht mal den Mund zu«, sagte sie cool in ihre Richtung, drehte sich auf dem Absatz um und verließ die Halle.

Ilhan

»Und?« Said stand lässig in Sichtweite gegen eine Wand gelehnt. Benjamin versuchte, daneben, auf einer viel zu dünnen Fensterbank, zu sitzen. Lange Sekunden zögerte Ilhan seine Antwort hinaus, weil es ihm cool vorkam und es nichts gab, womit er die Zeit hätte füllen können, außer dieser Coolness.

»Da geht was!« antwortete er schnell, lächelte breit und stellte sich locker neben Said. Zu seiner Überraschung fragte keiner der beiden genauer nach und in seiner Unsicherheit war er richtig froh darüber. So ließ die Anspannung langsam nach, während er cool an die Aulawand gelehnt eine Cola trank. Sie hatte ihm wirklich ihren Namen gesagt und die Hand gegeben, sie hatte offen gelächelt. Es war ein kleiner Erfolg, viel mehr als die sicher erwartete Niederlage. Als wäre es ein besonderer Tag gewesen, an dem Besonderes passiert.

Jetzt im Zug muss er über die Szene lächeln. Er öffnet die Augen und ist überhaupt nicht mehr müde. Das passiert oft in letzter Zeit. Als wäre sein Körper aus der Zeit gefallen und noch immer verwirrt, ob er sich gerade hundemüde oder wie eine überladene Batterie fühlt. In vollem Schwung springt er auf, läuft durch den Wagen, zieht ein Fenster herunter und streckt seinen Kopf in den Fahrtwind. Es ist komisch, dass er noch so viel an Emilie denkt. Als würde man sich, wenn man etwas miteinander hatte, nie ganz verlieren. Als bliebe, wer einmal in unserem Herzen war, für immer dort, zumindest ein bisschen irgendwo und sei es nur als Wunde, die nie blutet und doch schmerzt. Wäre sie jetzt da, er könnte nichts mehr mit ihr anfangen. Doch da ist etwas wie Sehnsucht nach diesem Mädchen, nach den Gefühlen, die sie weckte, und nach dieser Zeit, die endgültig verloren ist. Manchmal ist das Gefühl stärker, manchmal schwächer, und er zweifelt, ob es je vergehen wird, wenn er einst eine muslimische Frau heiratet.

Alexander

Noch immer war es so warm, dass man in T-Shirts in der Klasse saß. Das Schulfest war einige Zeit, vielleicht schon Wochen her, aber Alex hatte sich nicht getraut, Aysel noch einmal anzusprechen. Oft dachte er an ihr freches Lächeln zum Abschied in der Halle, oft an den sanften Blick in ihren Augen, und wieder und wieder überlegte er, sie nach einem Treffen zu fragen. Das war vor allem nachts, wenn er im ruhigen Bett lag und nicht einschlafen konnte, oder früh morgens, wenn er warm eingebettet den Schritten der Eltern auf dem Flur lauschte. Doch dann in der Schule blickte sie ihn jedes Mal so abwesend an, trug sie ihr Kopftuch immer so streng gebunden, dass er sich nicht traute, auch nur ein Wort in ihre Richtung zu sagen. So verging Tag um Tag, bis irgendwann, an einem eigentlich ganz normalen Mittwoch, etwas Merkwürdiges geschah. Die sechste Stunde mit dem Fach Geschichte war gerade zu Ende und alle schlenderten beim Klingelzeichen hinaus. Nur sie nicht. Alex sah noch, wie sie ihrer Freundin Helena zunickte und ihr damit bedeutete, nicht zu warten, nahm noch kurz wahr, wie die schöne Helena, die so viele liebten, ihre Bildermappe wedelnd aus der Klasse ging. Er dachte noch daran, wie Aysel auf den Turnmatten begeistert von der Kunst-AG erzählt hatte, die Helena nahezu alleine schmiss. Dann starrte er wieder auf Aysel, wie sie dasaß und inmitten des Gewimmels in Zeitlupe ihre Bücher zuschlug, als müsse sie danach zu einem Abend mit deutscher Volksmusik und wollte deshalb nie fertig werden.

Erst war Alex verdutzt, dann glaubte er zu verstehen und bewegte sich ebenfalls immer langsamer. Als er endlich fertig gepackt hatte, blickte er auf. Sie verstaute noch immer, unendlich umständlich, ihre wenigen Sachen in die Tasche. Außer ihnen beiden war niemand mehr im Raum und auch der Gang schien still und verlassen. So stand er langsam auf, stellte sich ruhig vor ihren Tisch und lächelte. Aysel blickte nicht zu ihm, packte einfach weiter, obwohl sie ihn gesehen haben musste. Er sah auf ihr weiß schimmerndes Kopftuch und fragte sich, wie man es wohl band. Nun lag da nur noch ihr Mäppchen. In Zeitlupe schloss sie den Reißverschluss und nahm es bedächtig in beide Hände, als drohe es, bei der kleinsten Erschütterung zu zerbrechen.

»Ich fand es sehr schön mit dir auf dem Schulfest.« Endlich hatte er Mut gefasst.

Für einen Augenblick glaubte er, sie würde zittern und das Mäppchen fallen lassen. Sie sah auf. Er lächelte und hoffte, dass sie es verstehen würde, und wirklich schienen ihre dunklen Augen kurz verträumt zu funkeln, doch ihr Mund blieb unbewegt. Noch einmal nahm er allen Mut zusammen.

»Ich würde mich freuen, wenn wir uns mal treffen könnten. Irgendwie, irgendwo, irgendwann einmal.« Er versuchte zu lachen. Doch sie blickte ihn verständnislos an, als hätte sie etwas Verabscheuungswürdiges über ihn erfahren. Als hätte sich ein schwarzer Vorhang über das Spiel gelegt, das sie voreinander spielen.

»Das ist ja wohl eher ein Witz, lass mal lieber stecken.« Ihr Mund lächelte gequält, doch ihre Augen funkelten nicht mehr. Schwungvoll warf sie das Mäppchen in den Ranzen, schob schnell die Laschen ineinander und war schon aufgestanden. Alex schaute verdutzt auf den kleinen Holzstuhl, auf dem sie eben noch gesessen hatte. Sie schien eine Sekunde zu zögern. Dann war sie schon an ihm vorbei und noch ehe er reagieren konnte, hatte sie den Raum verlassen. Der Gang war wirklich leer und das schwächer werdende Grün der Blätter strahlte durch die großen Fenster. Sie war schon am Ende angelangt, hatte die Türklinke in der Hand, aber noch nicht nach unten gedrückt, als würde sie auf etwas warten.

»Hey«, rief er ihr nach, er konnte nicht glauben, was gerade passiert war. Kurz drehte sie sich um.

»Ich bin ein anständiges Mädchen, Alex. Pass mal auf, dass keiner davon hört.« Sie riss die Tür auf und war verschwunden.

Enttäuschung und Wut begleiteten ihn auf seinem Heimweg. Er hatte einen fetten Korb bekommen – und schlimmer noch, er war als deutscher Junge dumm genug gewesen, ein Mädchen mit Kopftuch nach einem Treffen zu fragen. Irgendwo in den unendlichen Weiten des Netzes wollte er nach Ablenkung suchen. Doch in eben diesem Netz warteten schon zwei Dinge, die alles in ihm erschüttern und wieder durcheinander werfen sollten. Er loggte sich auf Facebook ein und da waren eine Freundschaftsanfrage und eine neue Nachricht – und beides kam von Aysel.

»Sorry wegen vorhin. War blöd von mir – von dir aber auch «, stand dort. Erst freute er sich, doch mehr und mehr wich die Freude etwas anderem. Er war verwundert und überfordert und während er sein Gesicht in den Händen vergrub, meinte er, an einem dunklen Punkt angekommen zu sein. Hier begann eine falsche Welt, in der man nicht die Wahrheit sagte, in der man nicht offen und nicht frei war – zumindest dann nicht, wenn es um die Liebe zu einem Mädchen mit Kopftuch ging. Gerne hätte er geschrieben, dass er sich ärgerte, sie überhaupt noch einmal angesprochen zu haben. Noch lieber hätte er einfach noch mal nach einem Treffen gefragt. Doch er wagte keines von beidem. Und weil er schnell auf ihre Nachricht reagieren wollte und ihm vor lauter Überlegen fast schwindlig war, antwortete er etwas Nettes, Beiläufiges, über Benjamin, der sich im Deutschunterricht blamiert hatte. Das Wort blamiert grub sich tief in sein Bewusstsein. Und mit dem elenden Gefühl, das Falsche getan zu haben, warf er sich auf sein Bett.

Ilhan

»Es geht um Ausdauer.« Said klang so enthusiastisch und überlegen wie immer. Als wüsste er alles über jeden Weg zu jedem Glück in dieser Welt.

»Du schreibst einfach jedes Mädchen an, die dir halbwegs gefällt, einfach immer ›Hey du‹, klick auf senden und die Nächste, Text rein, klick. Immer dasselbe. Verstehst du, klick, klick, klick. Manche sind ziemlich fett unter ihrem hübschen Facebook-Gesicht. Aber einige sind wirklich geil und die meisten sehen ganz passabel aus.« Er legte sein überlegenes Lächeln auf und Benjamin blickte ihn fast folgsam an.

»Da hauen wir dann rein. Natürlich musst du erst ’ne Weile schreiben, bisschen hin und her, erzähl ihr einfach, was du so machst, aber, das is wichtig, keine Komplimente. Sonst fühlt sie sich zugesülzt.« Mit jedem Speicheltropfen Selbstsicherheit, der aus Saids Worten sprühte, verachtete Ilhan ihn, verachtete Ilhan sich selbst umso mehr. Nichts war unangenehmer als diese Momente seiner Nähe, die ihn selbst zur Kläglichkeit schrumpfen, so unterlegen und schwach wirken ließen. Und zugleich, so komisch es war, hätte er am liebsten Zettel und Stift gehabt, um die Tipps seines heimlichen Rivalen mitzuschreiben, während sie sich im großen Haus von Saids Eltern durch soziale Netzwerke klickten.

Am selben Abend zogen sie los. Liefen zwischen Kneipen und Clubs durch die Altstadtgassen, wo man sich trifft, um loszulassen und allen Anstand zu verlieren. Nüchtern und cool, wie Jäger in einem Rudel grunzender Wildschweine, erfassten sie ihr Umfeld und werteten zielgerichtet alle Informationen aus. Meist waren es reine Jungengruppen, die ihnen entgegenkamen, mit Bier und großen Saftflaschen in der Hand, in die sie ekelhaft aussehende Mixgetränke gefüllt hatten. Sie steigerten sich gerade hoch, schienen mit jeder Gruppe aufgekratzter und doch jämmerlich verkrampft. Oft blickten sie feindselig, manchmal gar eingeschüchtert, als sie Said, Benjamin, Ilhan und Tarek erblickten, meist schienen die sie jedoch gar nicht wahrzunehmen. Einige Gruppen hatten Mädels dabei. Sie waren weniger ausgelassen, aber auch sie lachten hin und wieder übertrieben laut. »Wie am Spieß«, dachte Ilhan und fragte sich bei manchem südländisch aussehenden Mädchen, ob sie Türkin sei. Als habe Said seine Gedanken erraten, wies er stolz darauf hin, dass arabische Mädchen sich nie derart in der Öffentlichkeit zeigen würden. Was Benjamin in diesen Momenten dachte, ist Ilhan noch heute ein Rätsel. Überhaupt dieser Benjamin, so oft Said von seiner Ehre sprach, dieser Blondschopf nickte am schnellsten, am heftigsten, dessen Augen strahlten Said am klarsten an.

Offen und ohne Rücksicht taxierten sie alles Weibliche, liefen jedoch stets weiter, ohne sie angesprochen zu haben. Hier gab es nichts zu holen und ein guter Jäger verschwendet nichts in aussichtslose Fährten. Die wenigsten Gruppen bestanden nur oder in der Mehrzahl aus Mädchen. Häufig blieb Said direkt vor ihnen stehen, schaute der vermuteten Anführerin stolz und herausfordernd in die Augen, lächelte jedoch lieb und fragte, wo sie hingingen. Ilhan mühte sich, cool danebenzustehen und so souverän zu lächeln wie Said. Doch er kam sich furchtbar schlecht darin vor. Man kann nur souverän wirken, wenn man sich auch so fühlt – und das war neben Said meist nicht der Fall. Viele Mädchen liefen weiter, einige lächelten, sagten jedoch nichts, andere dagegen antworteten, nannten Kneipen und Discos; ob aus Nettigkeit oder weil sie wirklich an ihnen interessiert waren, vermochte Ilhan nicht zu sagen.

Sie waren überall und nirgendwo in dieser Nacht, einmal auf einer Art Oktoberfest in einer Halle, in der der Alkohol alle schon viel weiter getrieben hatte. Ilhan blickte auf tanzende Frauen auf Tischen und Bänken, in ihre ausgelassen verzerrten Gesichter, auf die unterschiedlichen Beine, die sie unter ihren Röcken zur Schau stellten. Sah ihre Schuhe, schwarze wie bunte, hochhackige, elegante und plumpe, Flachsohlen, in die sich zu große Füße pressten. Es gab Frauen, die ihre wenigen Reize allzu offen herausgeputzt hatten und damit nur ihre eigene Unvorteilhaftigkeit zur Schau stellten, während die meisten halbwegs gekonnt mit ihrer Weiblichkeit spielten. Und dann gab es genug, die wirklich einen Körper hatten, der jeden Mann in den Wahnsinn treiben konnte, und die diesen Körper so offen zeigten, dass kein Geheimnis mehr blieb und jeder Wunsch entstand. Die laute Musik durchspülte seine Seele, der Alkohol lag schwer in der Luft und in all diesen Frauen, in ihrem Singen und Gekreische, im Glanz ihrer Augen und in jedem verzerrten Gesicht lag etwas traurig Verdorbenes und unerreichbar Schönes zugleich. Ilhan konnte die Augen schließen, erneut öffnen und er sah das jeweils andere.