Unsere blauen Nächte - Annette Mierswa - E-Book

Unsere blauen Nächte E-Book

Annette Mierswa

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Beschreibung

Oscar und seine Freunde lieben es, zu feiern. Alkohol darf dabei nicht fehlen. Als Oscars sechzehnter Geburtstag aus dem Ruder läuft, stehen für ins Sozialstunden auf einem Gnadenhof auf dem Plan. Dort muss er sich um den Hund kümmern, dem er im Rausch Alkohol eingeflößt hat. Je mehr Zeit Oscar auf dem Gnadenhof verbringt, desto mehr stellt er sich Fragen nach dem Sinn des Lebens und wahren Freundschaft. Die Geschichte beschreibt eindrücklich, welch große Rolle Alkohol im Leben vieler Jugendlicher spielt und wie schnell der Konsum zum Zwang wird.

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Seitenzahl: 261

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Inhalt

Kapitel 1 – »Ich sehe was, …

Kapitel 2 – Die Wellen der …

Kapitel 3 – Um den Hauseingang …

Kapitel 4 – Freitag traf ich …

Kapitel 5 – Dabei fing er …

Kapitel 6 – Ein schriller Schrei. …

Kapitel 7 – Am Sonntag war …

Kapitel 8 – Ich betrat das …

Kapitel 9 – Villa Sonnenschein stand …

Kapitel 10 – Nach einem weiteren …

Kapitel 11 – »So geht das …

Kapitel 12 – Und dann kam …

Kapitel 13 – »Wenn du dich …

Kapitel 14 – »Hallo, ich bin …

Kapitel 15 – Nach der Schule …

Kapitel 16 – Die Flügel hielten …

Kapitel 17 – »Aufwachen!« Uh, das …

Kapitel 18 – »Wo warst du? …

Kapitel 19 – »Was war denn …

Kapitel 20 – Zum ersten Mal …

Kapitel 21 – Das Gartentor schloss …

Kapitel 22 – Als ich am …

Kapitel 23 – Die Menge teilte …

Kapitel 24 – »So, jetzt wird …

Kapitel 25 – Bella war längst …

Kapitel 26 – Da die Sommerferien …

Kapitel 27 – »Hi Leute, hier …

Kapitel 28 – @Rattenkoenig folgt dir …

»Eine Illusion, die uns schmeichelt, ist uns lieber als zehntausend Wahrheiten.« [1]

1

»Ich sehe was, was du nicht siehst …« Ich drehte mich im Kreis. »… und das ist blau.« Schneller und schneller. Die Lichter der Straßenlaternen tanzten vor meinen Augen wie Sternschnuppen, ein Wunscherfüllungskabinett, einzig um das eine Ziel kreisend.

»Die Lichter der Tanke?«

»Nein.« Mir wurde schwindelig. Aber ich durfte nicht aufhören. Dieser Wunsch musste in Erfüllung gehen.

»Der Golf dahinten?« Flinte zeigte die Straße hinauf, die langsam von der Nacht verschluckt wurde.

»Nein.« Ich streckte meine Arme aus wie Vogelschwingen.

»Der Hund da.« Julia schaute in Richtung der Blauen Lagune. Und während ich mich drehte, sah ich ihn ab und zu durch mein Blickfeld wischen: einen zotteligen blauen Hund, der von der Tanke aus zu uns guckte und die blaue Zunge hechelnd heraushängen ließ.

»Julimaus«, sagte Flinte, »der ist doch nicht wirklich blau.«

»Es zählt, was man sieht.«

Ich propellerte weiter.

»Mann, Alter, sag schon.« Abrupt hielt Flinte meinen Arm fest, sodass ich stolperte und auf den Gehweg sackte. »Also?«

Ich zeigte auf Julia.

»Was ist denn an der bitte schön blau?« Flinte fuchtelte mit seiner Bierflasche in der Luft herum.

»Ihr Zustand.« Dr.Korn lachte über seinen Joke, wobei sein goldener Eckzahn aufblitzte.

Julia musterte mich. Durch ihre blonden Locken schimmerte das Licht der Blauen Lagune.

»Jawohlnichihr Höschen?«, spekulierte der Doktor feixend, woraufhin Julia ihm auf den Arm schlug.

»Blödsinn«, meinte Bella ernst, »wer trägt schon blaue Wäsche?«

»Na, was isses dann?« Flinte wurde ärgerlich.

Da drehte Julia sich zu ihm um und sah ihn lange an. Er torkelte vor ihr hin und her, nur noch aufrecht gehalten durch ihren Blick, der ihn immer wieder in die Senkrechte dirigierte, wie der Faden einer Marionette. Und endlich schien Flinte es zu kapieren. Ruckartig fuhr er herum und stürzte sich auf mich. »Du Arsch! Du Oberarsch!«

»Was’n nu’ los?« Dr.Korn schluckte den Inhalt eines sehr kleinen Fläschchens herunter und wiederholte seine Frage.

Flinte ließ von mir ab. »Kapierst du’s nicht, Doc? Ihre Augen!« Er schwenkte die Flasche gefährlich nah an Julias Kopf vorbei. »Ihre Augen sind blau!«

»Na und? Besser als ihre Nase, oder?« Dr.Korn grinste dämlich.

Da rastete Flinte völlig aus. »Wer achtet denn schon auf die Augenfarbe? Du vielleicht?«

»Äh … nö. Klares Nö.«

»Na eben.« Er drehte sich wieder zu mir und hielt mir seine Faust unters Kinn. »Wenn du sie anfasst, Alter, wenn du sie anfasst, dann bist du tot.«

Ich war nicht Flinte und Julia nicht meine Freundin, sickerte es zäh wie Eierlikör in meine blauen Gedanken. Augenfarbe war tabu, anfassen sowieso. Hättest du doch wissen müssen, oder? Oscar? Mann, Mann, Mann. Ergeben hob ich beide Hände, als hätte Flinte eine Waffe in der Hand.

»Klar, Alter, was denkst’n du?«

Und damit war alles gesagt. Von jetzt auf gleich grinste Flinte, reichte mir eine Hand und zog mich hoch. So war das immer mit ihm. Eben noch auf Krawall gebürstet, schien er sich eine Sekunde später schon nicht mehr zu erinnern, was der Grund dafür gewesen war.

»Na dann, lass uns noch was organisieren. Is’ ja gleich soweit.«

»Das ist doch mal ’ne Ansage«, fand Dr.Korn. »Auf in die Blaue Lagune.«

Also steuerten wir auf den Eingang der Tanke zu, alle nebeneinander, die Ocean’s Five mit Schlagseite. Vor dem Kühlregal blieben wir stehen und ich suchte einen Mumm Sekt aus. Konnte ich gebrauchen, Mumm.

Dr.Korn schielte auf die Flasche in meiner Hand. »Gibt’s was zu feiern?«

»Jep.«

»Aha. Und?« Er zog drei kleine Fläschchen aus einem offenen Karton.

»Na rate mal. Oder hast du dein Hirn schon für die Nachwelt konserviert?« Bella verdrehte die Augen und zeigte auf mich.

»Countdown, Leute.« Flinte hielt sein Handy in die Höhe. »Zehn, neun, acht, …«

Julia und Bella fielen mit ein.

»Sieben, sechs, fünf, vier, …«

Ich zog schon mal meinen Ausweis aus der Hosentasche.

»Drei, zwei, eins …«

Jubelschreie brachten die Tanke zum Beben. Der Vokuhila-Typ hinter der Kasse grinste sich einen.

»Los!«, brüllte Flinte und gab mir einen kleinen Schubs in Richtung Tresen, wo ich nach ein paar Torkelschritten zum Stehen kam und die Flasche abstellte.

»Macht 8,99.« Der Vokuhila-Typ sah nicht mal auf.

Das war’s? Nee, so ging das ja nicht.

»Falsch«, kam mir Flinte zur Hilfe. »Du musst nach dem Ausweis fragen. Hey, Mann, aber sowas von!« Er fixierte den Kassierer, so gut er noch konnte.

»Das seh ich doch, dass der über sechzehn ist«, meinte der Typ nüchtern.

Julia und Bella bekamen einen Lachanfall. Dr.Korn kapierte gar nichts und starrte Löcher in die Luft. Flinte riss wütend die Augen auf, wie ein Regisseur, dem die Darsteller nicht gehorchten. Und ich … ich stand da wie ein Depp, dem Papi dabei half, sein erstes Taschengeld auszugeben. Schließlich nahm Flinte mir den Ausweis aus der Hand und hielt ihn dem Typ vor die Nase, so dicht, dass er die Schrift garantiert nicht lesen konnte.

»Hey, Meister«, sagte Flinte, etwas zu großkotzig. »Du bist wohl ’n Oberchecker, was? Der Kunde hier ist genau seit fünfzehn Sekunden sechzehn.«

»Glückwunsch«, sagte der Checker unbeeindruckt in meine Richtung. »Macht immer noch 8,99.«

»Oooh Mann!« Flinte drehte sich im Kreis, presste sich eine Hand an die Stirn und fegte fast einen Turm Astra-Dosen um. Dann griff er sich eine davon und stellte sie auf den Tresen. »Ich nehm die hier.« Er betonte jede Silbe, als würde er mit einem Schwerhörigen sprechen.

»Ausweis«, sagte der Checker ungerührt.

»Was? Willst du mich verarschen?« Flinte wandte sich an die Mädels. »Der Kerl will mich verarschen.«

»Lass mal gut sein«, sagte Bella ernst. »Oscar hat Geburtstag. Schon vergessen? Lass uns feiern.«

Flinte wandte sich wieder an den Checker, der belustigt einen Zahnstocher zwischen seine Zähne schob und ihn mit zwei Fingerspitzen drehte.

»Hier.« Flinte legte zwei Euro auf den Tresen und griff nach der Dose.

»Ausweis«, verlangte der Checker erneut, während er meine zehn Euro entgegennahm und mir einen Euro eins rausgab. Dr.Korn stellte seine drei Fläschchen auf den Tresen und legte sechs sechzig passend hin. Auch sein Geld ließ der Checker kommentarlos in die Kasse klimpern. Flinte war inzwischen so angepisst, dass er sich zu einem »Arschloch« hinreißen ließ und anschließend aus der Tanke stob.

Der Checker zog den Zahnstocher aus dem Mund und blickte ihm mitleidig hinterher. »Noch ’n bisschen grün hinter den Ohren, euer Kollege.« Dann steckte er sich das Teil wieder zwischen die Zähne und stellte die Astra-Dose zurück an ihren Platz.

Ich nahm die Sektpulle, Dr.Korn sein Korn und die Mädels. Und so torkelten wir alle dem Ausgang entgegen.

Blau und blau konnten sich sehr unterschiedlich anfühlen. Vor null Uhr hatte ich schon einen sitzen, allerdings völlig verboten und illegal erworben. Aber nun, nach null Uhr, war ich gefühlt einen Meter gewachsen. Ich befand mich jetzt für zwei Jahre in einer Zwischenwelt, in der manches legal, manches noch illegal war und die Justiz mir jetzt jederzeit ans Bein pinkeln konnte. Und Dr.Korn würde immer noch die harten Sachen für uns kaufen müssen.

»So«, verkündete Flinte, nachdem er ein paar Schlucke aus der Sektpulle genommen hatte, »jetzt haste es also geschafft.« Mit einem anerkennenden Nicken reichte er die Flasche an mich weiter. »Lasst uns saufen, solange die Tannen grün sind.«

Julia und Dr.Korn lachten sich schlapp über den Witz – bis Julia sich plötzlich zur Seite drehte und ohne Vorwarnung in die Walachei kotzte. Okay, da waren wir also schon. Bedeutete meistens, dass es schon spät war … Ich hätte ihr gerne über den Rücken gestrichen und meinen Arm um sie gelegt. War aber Flintes Job, den er NICHT erledigte. Shit. Ich reichte Julia ein Taschentuch. Sie sah mich dankbar an … aus diesen blauen Zauberdingern, die mich schwindelig machten. Magic Julia.

»Okay.« Dr.Korn nahm die Geschehnisse gleichmütig hin und zog ein Schnapsfläschchen aus seiner Manteltasche. »Russisch Roulette.«

Bella stöhnte auf, dennoch kippte Dr.Korn den Schnaps in einen der kleinen Becher und füllte vier weitere mit Wasser. Dann schob er die Becher hin und her, bis niemand mehr wusste, in welchem sich der Fusel befand. »Oscar, du Glückskind, du fängst natürlich an. Ehrensache.« Er klopfte mir gönnerhaft auf die Schulter. »Happy Saufday, Alter.«

Ich mochte Schnaps nicht. Wollt ich aber nicht mit hausieren gehen. Also nahm ich einen der Becher und leerte mir den Inhalt in die Kehle. Verdammt! Es brannte höllisch. Doch kurz darauf wurde ich von einer wohligen Welle der Glückseligkeit geflutet, der ich alles anvertrauen wollte, was mich quälte. All die ungeklärten Fragen und schmerzhaften Sehnsüchte, den Schulscheiß und Leistungsdruck, die zwanghafte Familienkacke meiner Eltern, die Sassi aus dem Haus getrieben hatte. All das, was nicht cool war, weichte auf in diesem warmen, Sorgen löschenden Meer aus Hochprozentigem.

2

Die Wellen der Glückseligkeit hatten mich wohl nach Hause getragen, denn ich erwachte in meinem Bett. Mühsam drehte ich mich auf den Rücken und spürte dabei etwas Hartes an meiner Stirn. Als ich mit den Fingern darüber strich, ertastete ich eine feste Kruste. Shit. Aus der Küche kam Gebrüll. Papa! Er fand immer etwas, das Mama oder ich falsch machten. Und seit meine Schwester weg war – oder wie er es formulierte: sich entzogen hatte –, fehlte seine Hauptangriffsfläche.

»Wer ist Bruno?«, brüllte er.

Mama wimmerte. Mir war nach Kotzen.

»Danielas neuer Freund«, sagte Mama. »Er hat sich gestern einen Bohrer ausgeborgt.«

Papa lachte empört auf. »Einen Bohrer, ha. Wo hat er denn gebohrt?«

Mama weinte. Wie ich das hasste. Daniela war Flintes Mutter und schon seit Jahren alleinerziehend.

Mit dröhnendem Schädel schleppte ich mich ins Bad und betrachtete mich im Spiegel. Himmel. Die Kruste war ein Grind aus getrocknetem Blut. Kurz überlegte ich, ob es auch wirklich mein Blut war. Ich konnte mich an keinen Sturz erinnern. Aber als ich die Stelle vorsichtig mit einem Waschlappen reinigte, kam ein ungefähr vier Zentimeter langer Schnitt zum Vorschein, der an meinem Haaransatz entlang verlief. Und höllisch brannte. Dennoch stellte ich mich unter die Dusche und ließ das warme Wasser über meinen Körper laufen.

Es donnerte an die Tür. »Oscar. Verdammt. Es ist schon acht!«

Papa. Jetzt war also ich an der Reihe. Die Schule schien ihm fast noch wichtiger zu sein als mein Leben …

Moment. Acht Uhr! Da war doch was … Die Mathe-Klausur!

Ich sprang aus der Dusche und stand nach fünf Minuten frisch gekleidet an der Haustür.

»Stopp!« Gerade, als ich hinausgehen wollte, hielt Papa mich am Arm fest, ließ aber sofort wieder los. »Was ist das denn?« Er zeigte auf meine Wunde.

»Nix.« Schnell schnappte ich mir Sassis alte Mütze, die rosane, die neben dem Schlüsselbrett hing, und zog sie über die Schnittstelle. Doch sobald ich die Haustür öffnete, griff Papa wieder nach meinem Arm.

Zum Glück kam Mama, schob sich dazwischen und drückte mich fest an sich. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, mein großer Hase.«

»Dein großer Hase hat sich letzte Nacht den Schädel geflutet und ist anschließend auf ein Riff aufgelaufen, was?«

Er schob meine Mütze hoch.

»Ach du lieber Himmel.« Mama stob davon. »Ich hole Desinfektionsmittel.«

Papas Worte kamen mir seltsam vertraut vor … Verdammt. Er konnte doch nicht einfach … »Du liest meine WhatsApps?«

»Ich muss ja sprachlich auf der Höhe bleiben, damit ich meinem Nachwuchs noch folgen kann.«

Ich schob seine Hand weg und trat aus der Tür.

»Stopp. Ich bin noch nicht fertig!«

»Gut!«, brüllte ich vor der Haustür, extra laut, damit es möglichst viele Nachbarn hören konnten. »Die Mathearbeit kann ja auch warten. Ich bin ganz deiner Meinung, dass das Abi überschätzt wird.«

Das haute ihn endlich aus der Spur.

»Na, das ist ja schön, dass so langsam alle eintrudeln«, bemerkte Herr Melzer, als ich kurze Zeit später ins Klassenzimmer trat. »Herr Fontane, auch Ihr klingender Name befreit Sie nicht von den Schulpflichten. Ich hoffe, das wird noch was.« Er legte das Aufgabenblatt auf mein Pult und ich gab ihm mein Handy, bevor ich mich fallen ließ.

Schon 8.20Uhr. Ich musste den Brain-Turbo einschalten. Sprit war alle. Also trank ich einige Schlucke aus meiner Flasche, in die ich einen Energydrink gefüllt hatte. Nun tat sich was. Der Motor lief an und damit kehrte auch die Erinnerung an die Sinuskurve zurück. Ah, und da war auch was mit Prozenten … Prozentsatz? Hochprozentiges? Bruchzahlen? Brechzahlen? … Mir wurde schwindelig. Noch ein paar Schlucke aus der Pulle. Tief durchatmen. Langsam trennte sich die Spreu vom Weizen, die Fuselsätze von den Formelsätzen. Und dann lief der Motor geschmeidig und alles schien gut. Fast schon schlafwandlerisch glitt ich durch die Aufgaben und schrieb im Expressmodus. Als Herr Melzer die Blätter einsammelte, schaute er mir derart bohrend in die Augen, dass ich den Blick abwenden musste, damit er nicht auf den Granit meiner verhärteten Frustrationen stieß und dabei etwas freilegte, das unbedingt fossilisiert werden sollte. Schnell flüchtete ich nach draußen – und landete direkt im Himmel.

»Hey, Geburtstagskind.« Julia umarmte mich und gab mir einen Kuss auf die Wange. »Ich dachte schon, du kommst nicht mehr.« Sie hatte einen hellblauen Pulli mit tiefem V-Ausschnitt an. »Was ist denn da passiert?« Sie zeigte auf meine Stirn.

»Gute Frage. Ich weiß es selbst nicht so genau.« Ich tastete die Wunde ab und zog dann die Mütze tiefer ins Gesicht.

»Ich dafür umso besser.« Dr.Korn zeigte seinen Goldenen. Er sah genau aus wie am Vorabend, hatte auch dieselben Sachen an, nur die langen Haare klebten etwas fettiger an seinem Nacken. »Da hat jemand ein Schild zu tief montiert. Sollte man anzeigen, den Spacko.« Er grinste sich einen.

Oh Mann. Ich hatte auf eine rühmlichere Story gehofft.

»Mensch, Oscar, wir hätten dich nicht allein lassen sollen.« Bella drängte sich zu uns.

»Habt ihr das?«

Sie riss die Augen auf. »Oscar? Echt jetzt? Wir sind wegen der Mathearbeit gegangen, nach dem dritten bescheuerten Roulette. Flinte hat uns nach Hause gebracht. Du hast verkündet, dass du Freitag noch mal richtig feiern willst, bist dann aber noch geblieben, mit ihm hier.« Sie nickte dem Doktor zu. »Alles vergessen?«

Ihr sorgenschwerer Blick löste einige Erinnerungsfetzen aus meiner geheimen inneren Kammer, die ich eigentlich fest verschlossen halten wollte, Bilder einer ebenfalls alkoholseligen Nacht: ein leeres Kondom auf meinem Laken, mein aufgequollenes Gesicht im Badspiegel und dieser Blick, der mich auch jetzt gerade traf, von Bella.

»Also, Bella«, Dr.Korn sortierte seine Haare, damit er mehr sehen konnte, »das nächste Mal wartest du bitte so lange, bis wir fertig sind, und bringst ihn anschließend nach Hause ins Bettchen.« Er zwinkerte mir beunruhigend zu und lachte auf eine Weise, die bei mir den Verdacht weckte, er wüsste zu viel. Während ich eindeutig zu wenig wusste. Warum hatte ich mit ihm allein weitergebechert? Das war sonst eher Flintes Part.

Genau in diesem Moment kam Flinte und kloppte mir auf den Rücken wie ein Irrer. »Was geht?«

»Gleich nichts mehr, wenn du meine Organe zertrümmerst.«

»Du meinst die löchrigen Teile, die noch nicht zerfressen sind?« Bella wieder, mit ihrer irgendwie süß hochgezogenen Augenbraue. Schnell sah ich weg.

»Oh Bella, unsere Sittenwächterin«, sagte Flinte gestelzt. »Jetzt hätte ich mich beinah gut gefühlt. Du bist gerade noch rechtzeitig gekommen.« Er pikste ihr mit einem Zeigefinger in die Körperregion, wo ungefähr die Leber beheimatet sein musste. »Deshalb kotzt du die edlen Tropfen also immer aus, damit sie nicht bis zu deinen Organen vordringen.«

Bella verdrehte die Augen.

»Lass sie in Ruhe, Flinn.« Julia hakte sich bei ihr unter. »Wenn sie nicht wäre, dann hättest du sicher keinen Rollerschein mehr oder wärst schon mehrfach im Krankenhaus gelandet.«

»Nix für ungut, Bella.« Flinte legte gnädig einen Arm um sie. »Aber das Leben ist eh schon so kurz. Es sollte also maximal gelebt werden.«

»Ganz meiner Meinung.« Bella hob ihre Wasserflasche. »Cheers.«

»Also, nun zu den wirklich wichtigen Themen«, Flinte wandte sich mir zu, »wann und wo und vor allem womit?« Er grinste.

»Freitag natürlich«, sagte ich und mied weiterhin Bellas Blick. »Treffpunkt Blaue Lagune. Acht Uhr?«

»Sagen wir sieben. Dann können wir länger saufen.«

»Nee, acht ist besser.« Bella schob sich vor Flinte. »Wir müssen ja noch einiges für die Schule machen.«

»Am Freitag? Dafür ist doch noch das ganze Wochenende Zeit.«

»Mit Kater am Samstag?«

»Dann Sonntag.«

»Mit Kater vom Samstag? Miau.« Julia quetschte sich zwischen die beiden und hielt sich die Hände wie Öhrchen an den Kopf.

»Mensch, Julimaus«, Flintes Stimme wurde butterweich und er nahm Julia in den Arm, »ich helf dir auch mit Mathe.«

Dr.Korn brüllte los vor Lachen und Julia stieß Flinte von sich weg. »Das ist ja mal eine richtig gute Idee. Du meinst, nachdem ich dir geholfen habe?«

»So ungefähr.« Grinsend verzog Flinte die Lippen zu einem Schmollmund. Und damit hatte er Julia wieder eingelullt.

»Also gut, Flinn, Sohn des rothaarigen Mannes.« Sie nahm seinen Kopf zwischen ihre Hände und gab ihm einen Kuss. Ich musste, wie immer, weggucken.

»Klingt nach Wikingerzeug.« Dr.Korn strich sich ein paar Strähnen aus dem Gesicht.

»Was bedeutet denn dein Name, Oscar?« Julia entwand sich aus Flintes Armen und drehte sich zu mir.

»Keine Ahnung.« Ich wollte es lieber nicht wissen. Vielleicht war es etwas Beklopptes wie Der Ausgesetzte oder Der Enthaltsame oder so.

»Götterspeer«, las Bella von ihrem Handy ab. »Und Os steht für Gott oder Götter.« Sie sah mich mit einer Bewunderung an, wie ich sie mir von Julia wünschte.

Bella war toll, keine Frage. Süßes Lächeln, ’ne super Gesprächspartnerin und immer verlässlich an unserer Seite. Aber in ihrer Gegenwart fühlte ich mich ständig beobachtet und noch unvollkommener als ohnehin schon. Ein Bierchen über den Durst und sie rollte mit den Augen. Ein übler Scherz auf Kosten anderer und sie schaffte es, allein durch ihre Gegenwart, dass ich mich schuldig fühlte. Und dann war da ja noch die Sache mit jener Nacht, die sie nie mit einer Silbe kommentiert hatte … Julia dagegen war die Chill-Queen, hatte immer verrückte Ideen, war bei jedem Gelage mit am Start, sah granatenmäßig aus und gab mir einfach das Gefühl, richtig zu sein.

»Na, dann nennt mich doch fortan bitte einfach Os.« Theatralisch wischte ich mir die rosa Mütze vom Kopf.

»Wie heißt du noch mal richtig?« Bella wandte sich an Dr.Korn, der in sich zusammenzufallen schien.

»Dennis … Sag jetzt nichts.« Er klang, als hätte er eine Wette verloren, ließ die Schultern hängen und fixierte einen unbestimmten Punkt auf dem Linoleumboden.

Bella sah wieder auf ihr Handy und lachte plötzlich. »Das glaubst du nie.«

»Dann sag’s halt. Es gibt ja eh kein Zurück mehr. Ich werde Freitag einfach ein paar Kurze mehr reinkippen, um die Schmach zu vergessen.«

»Also«, Bella hob das Handy hoch, als wollte sie die Nachricht von einer Schriftrolle ablesen, »Dennis kommt von Dionysos, dem griechischen Gott des Weins, der Fruchtbarkeit, der Ekstase und der Freude.«

»Nein.«

»Doch.«

»Also mit anderen Worten: Dr.Korn«, feixte Flinte.

Wir brüllten alle los und Dennis, alias Dr.Korn, schien sehr erleichtert. »Nomen est omen.« Er streckte die Brust raus und tat so, als würde er ein Getränk erheben, um einen Toast auszubringen.

Da bimmelte es und Bella zog Julia sofort Richtung Klassentür. Flinte folgte den beiden.

»Warum hast du eigentlich kein Latein? Da wärst du doch sicher ein Einserkandidat.« Ich versuchte, in Dr.Korns Augen zu sehen, die gerade wieder hinter Haarsträhnen verschwanden.

»Is’ ’ne lange Geschichte.« Er sprach so leise, dass ich ihn kaum verstand. »Die willst du nich’ hören, glaub mir.«

»Oscarowitsch, Alter,« Flinte winkte von der Klassenzimmertür, »schieb deinen Hintern in die holde Hütte. Puschkin ist schon drin.«

Puschkin war unser Deutschlehrer und hieß eigentlich Herr Meyer. Aber da er eine Vorliebe für den russischen Dichter hatte und offensichtlich auch für den russischen Wodka, wurde er Puschkin genannt. Er roch immer nach Anisbonbons und ging manchmal mitten im Unterricht auf Toilette. Flinte und ich liebten ihn. Er war nicht nur tiefenentspannt, wenn jemand rülpste oder irgendwas durch die Gegend warf, sondern tauchte auch in den einschlägigen Kneipen auf und trank mal einen mit. Verpfiffen hat er noch nie jemanden. Wir ihn aber auch nicht. Er war geschieden und es ging das Gerücht um, dass das Einzige, was er hatte behalten wollen, der Inhalt der Hausbar war. Den Rest hatte er angeblich seiner Frau überlassen.

»Herrrr Fontane.« Puschkin hob seine buschigen Augenbrauen, während sein Bass den Raum erzittern ließ. »Moralische Maximen sind überraschend nützlich in den Fällen, wo wir wenig anderes erfinden können, um unser Handeln zu rechtfertigen [2], sagte …«

»Puschkin!«, riefen alle.

»Genau. Also, Herr Fontane, könnten Sie mir wohl Ihre moralische Maxime nennen, die Ihr Zuspätkommen rechtfertigt?«

»Äh … ja … Den Frauen den Vortritt lassen.« Ich nickte Richtung Bella und Julia und grinste. Ich war selbst beeindruckt von der genialen Notlüge.

»Soso.« Schmunzelnd kraulte sich Puschkin das Kinn. »Gut, gut.« Er schwenkte einen Arm gönnerisch über sein Publikum. »Wohl denn, setze Er sich.«

Flinte zeigte mir anerkennend einen hochgereckten Daumen. Ein paar Mädchen kicherten. Bella legte die Stirn in Falten, als dächte sie noch über meine Erklärung nach. Und Julia? Die saß über den Tisch gebeugt und schrieb etwas. Enttäuscht ließ ich mich auf meinen Stuhl plumpsen.

»Biste jetzt ’n Gentleman, oder was?«, flüsterte Flinte, der natürlich neben mir saß.

»Na klar, bin ja jetzt sechzehn.« Ich zog die rosa Mütze wieder auf.

»Jungfräuliche sechzehn wohlgemerkt.«

»Halt die Klappe, Angeber.«

»Ich würde sagen, das ist dein nächstes Projekt.«

»Hey, du Therapeut, so easy ist das nicht.«

»Doch, mega easy. Hier kommt mein therapeutischer Rat: Besauf dich, bis alle Mädels gleich aussehen, und dann schnapp dir die Erstbeste und bring es hinter dich.«

So ähnlich hatte ich es tatsächlich gemacht. Nur erinnerte ich mich gar nicht daran. Einzig Bellas hervorgewürgte Bitte, ich solle mich an den Kosten der Pille danach beteiligen und ein leeres Kondom, das ich in meinem Bett gefunden hatte, mussten mir als Beweise genügen. Ich hätte sie gern mal gefragt, wie es für sie gewesen war, wie ich gewesen war, ob ich das Kondom nicht draufgekriegt hatte. Aber was sollte ich schon sagen? Hey, Bella, sag mal, wie war ich so? Hat’s dir Spaß gemacht? Riesenscheiße das. Also fragte ich sie nicht. Und so blieb mein erstes Mal ein fucking Mystery Thriller mit Open End, bei dem die Bombe immer noch hochgehen konnte. Es war so beschämend, dass ich es nicht einmal Flinte erzählt hatte. Ob Julia es wusste, war nicht eindeutig festzustellen. Wenn ja, dann hatte sie sich jedenfalls nichts anmerken lassen.

»Hey, Penner.« Flinte stieß mich an. »Hast du mir überhaupt zugehört? Normalerweise lasse ich mir die Sitzungen bezahlen.« Er schrieb 50 € auf den Rand meines Collegeblocks und malte einen Smiley daneben.

»Hast du es denn so gemacht, Doc? Besaufen und dann …« Ich musste dringend den gereizten Unterton wegkriegen.

Flinte plumpste aus seiner Coolness, als hätte ich ihn beim Klauen erwischt. Eine Weile schwieg er und Puschkins sonore Zusammenfassung von Kabale und Liebe, die er zu seinem Leidwesen mit uns bearbeiten musste, waberte durch den Raum.

»Ich bin der Doc und stelle die Fragen«, sagte Flinte irgendwann. Und damit war das Thema abgehakt.

Warum war Flinte eigentlich mein bester Kumpel? Mal abgesehen von unserer gemeinsamen Vergangenheit, die schon mit dem Kindergarten begonnen hatte, damals, als er mein Nachbar gewesen war und seine Eltern noch eine Wohnung geteilt hatten, wusste er einfach immer, das Leben zu feiern. Aber wir konnten uns auch so gemeinsam schlapplachen, halfen uns gegenseitig, wenn es uns schlecht ging, und waren schon zusammen durch Frankreich getrampt, während unsere Eltern dachten, wir wären auf einem Campingplatz an der Ostsee. Außerdem hielten wir dicht über Dinge, die wir uns anvertrauten, und teilten ein cooles Hobby, nämlich das Saufen … nein, Surfen. Und wir hatten gemeinsam den Rollerführerschein gemacht. Allerdings hatte nur ich danach auch einen Roller bekommen. Den konnte sich Flinte aber leihen, wann er wollte. Es gab auch noch etwas anderes, das uns verband, etwas Unrühmliches …

Wir hüteten nämlich ein Geheimnis, das wir ganz real verbuddelt hatten. In einer alkoholseligen Nacht waren wir noch über einen Parkplatz getorkelt und hatten acht Seitenspiegel von parkenden Autos abgerissen. Wir hatten die Dinger wie Trophäen mitgenommen und auf Flintes Regalbrettern aufgereiht. Am nächsten Morgen dann das böse Erwachen. Ich konnte mich nur noch daran erinnern, dass wir uns bei jeder Karre vorgestellt hatten, dass es die von Bruno war, dem neuen Freund von Flintes Mutter, den er hasste. Aber das machte die Sache auch nicht besser. War so eine richtig beschissene Aktion gewesen. Und wie sich später herausstellte, hatte Brunos Klitsche noch alle Spiegel. Dafür trafen wir auf der Straße die weinende Frau Bronner aus der Fünfzehn, die als Altenpflegerin auf ihren Wagen angewiesen war … dem nun »irgend so ein Schwachsinniger« den Außenspiegel abgerissen hatte. Kleinlaut verbuddelten wir die Trophäen in unserem Garten hinter der Biomülltonne und leisteten einen lebenslangen Schweigeschwur. Ich zweigte ein halbes Jahr lang jeden Monat circa fünfzehn Euro von meinem Taschengeld ab und steckte Frau Bronner anschließend einen Umschlag mit hundert Euro in den Briefkasten, kommentarlos. Flinte erzählte ich nichts. Er bekam kaum Taschengeld und hätte sich sonst bestimmt mies gefühlt.

Eigentlich hatte ich mir nach der Sache vorgenommen, nie wieder so viel zu trinken, dass ich Dinge tat, die ich hinterher bereuen würde. War mir dann doch nicht gelungen. Ich wollte ja meine Freunde nicht verlieren. Abstinenzler waren für Flinte und Dr.Korn die Provokation Nummer eins. Und die meisten Mädels schienen trinkfeste Kerle auch attraktiver zu finden als enthaltsame. War vielleicht so etwas Biologisches: Wer mehr vertragen konnte, war standfester und somit besser für die Paarung geeignet. Und paaren wollte ich mich ja dringend. Dazu kam noch Flintes Mantra, dass nur Menschen zu trauen war, die besoffen genauso zu einem standen wie nüchtern. Denn nüchtern könnte man es ja vorspielen. Außerdem ließ sich der ganze Schulscheiß mit Alk ein Weilchen vergessen und ich konnte entspannen. Die Gegenargumente hatte ich also kurzerhand verdrängt und nach ein paarmal Bier-Pong und Russisch Roulette war es wieder so weit gewesen. Wie auch gestern, als das Schild zu tief hing und die Latte meiner Willenskraft zu hoch.

»Hey, Flinte«, Bella schob sich in der Pause zu uns beiden, »Julia sagt, ihr geht Freitag doch schon früher. Könnt ihr da einen kleinen Umweg machen und mich begleiten? Ist eine düstere Gegend.«

»Oscar«, Flinte sprach meinen Namen mit sehr scharfem S, »hast du nicht gerade gesagt, dass du dem heiligen Dionysos so richtig feist huldigen und mit mir durchmachen willst? Ein Geburtstagswunsch sozusagen?« Er sah mich bedeutungsvoll an, dabei hatte ich keine Ahnung, wovon er sprach.

Julia kam nun auch dazu und drückte sich an Flinte. »Was?« Über ihre strahlenden Augen zog sich ein Schleier.

»Ich meine«, legte Flinte nach, »es ist sein Geburtstag. Und er ist mein bester Kumpel.« Er zwinkerte mir zu und schien sehr zufrieden mit sich. Da begriff ich langsam, was für ein mieses Spiel er spielte.

Julia und Bella starrten mich an, als hätte ich ihnen gerade die Freundschaft gekündigt. Flinte war so ein Arsch.

»Äh«, brachte ich hervor. »Also eigentlich …«

»Hey.« Flinte grätschte in meinen Erklärungsversuch. »Du könntest den Mädels zur Feier des Tages ja mal ein Taxi spendieren, oder?«

Julia ließ Flintes Arm los und ging einfach weg. Ich hätte brüllen können.

»Es reicht, Flinte.« Endlich hatte ich meine Stimme wiedergefunden. Nun wandte sich auch Bella um und lief Julia nach. »Was soll der Scheiß, Mann.« Ich boxte Flinte auf die Brust. »Sag doch einfach, wenn du länger saufen willst, und lass mich da raus.«

»Hey, ich dachte, wir sind Freunde. Wollte dir einen Gefallen tun.« Er wich vor mir zurück.

»Einen Gefallen? Das nennst du einen Gefallen?« Ich riss mir die rosa Mütze vom Kopf und knüllte sie zusammen, um meine Hände davon abzuhalten, Schlimmeres zu tun. »Du kriegst es nicht auf die Reihe, mit deiner Freundin Klartext zu reden, und benutzt mich dafür. Das ist kein Gefallen. Das ist feige Scheiße.«

Ich ließ ihn stehen und wollte den Mädchen hinterher. Aber Flinte hielt mich fest.

»Soll ich dir mal was sagen.« Er sprach gedämpft, aber seine Hand umklammerte mein Handgelenk wie eine Eisenzange. Ein dumpfer Schmerz zog meinen Arm hinauf. »Ich hab Augen im Kopf. Und ich bin nicht blöd. Wäre es nur um Bella gegangen, hättest du dich bei mir bedankt.« Er funkelte mich an. »Also komm mal wieder runter, ja? Wenn hier einer ’nen Grund zum Ausrasten hat, dann ich.« Und damit öffnete er seine Eisenzange und gab meinen Arm frei, der sich ein wenig taub anfühlte. Flinte griff in seine Hosentasche und zog einen zerknüllten Zettel heraus, den er mir in die Hand drückte. Dann ging er weg.

Ich faltete das Papier auseinander und las: Das Wasser, das du nicht trinken kannst, lass fließen. [3] Puschkin.

3

Um den Hauseingang herum hingen lauter Luftballons und dazwischen ein besonders großer, mit einer Sechzehn darauf. Als ich die Tür öffnete, duftete es nach meinem Lieblingsessen, Kartoffelgratin.

»Mama?«

Niemand reagierte.

Auf dem Esstisch war ein Platz für mich dekoriert. Eine Linzer Torte von König & König, mit sechzehn Kerzen. Und daneben eine Nachricht von Mama, mit dem Hinweis auf das Essen in der Mikrowelle und der Info, dass Papa noch eine dringende geschäftliche Verabredung hätte und sie zu ihrer Freundin Rachel müsse, der es gerade sehr schlecht ginge. Ich hatte ja leider nur Geburtstag, konnte keinen Megadeal anbieten oder mit Selbstmordabsichten aufwarten.

Ich zündete die Kerzen an, sang mir selbst ein Ständchen und pustete die Kerzen wieder aus. Dabei dachte ich an Julia. Und Bella. Dann an Flinte und Puschkin, das Wasser, das ich nicht trinken konnte. Shit.

Ich öffnete den Kühlschrank und blickte auf die Moët & Chandon-Schampusflasche, die mit tausend Flüchen belegt war, sollte ich es wagen, sie anzurühren. Ha. Eine lag da immer, für besondere Anlässe. Wenn Papa einen Moët köpfte, dann war gute Laune angesagt, irgendwas war supi gelaufen und der Tag versprach entspannt zu werden. Warum sollte ich dieses Recht nicht auch haben? Schließlich war mein Geburtstag ja wohl verdammt noch mal auch ein besonderer Anlass. Selbst wenn Papa es bevorzugte, mit irgendwelchen wahnsinnig wichtigen Leuten essen zu gehen. Scheiß drauf!