Unsichere Heimat - C. Bernd Sucher - E-Book

Unsichere Heimat E-Book

C. Bernd Sucher

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Beschreibung

Morgen noch in Berlin oder schon in Jerusalem? Ungefähr 95 000 Menschen in Deutschland gehören heute einer jüdischen Gemeinde an. Bei einer Gesamtbevölkerung von 83 Millionen sind das nicht einmal 1% – eine verschwindend geringe Zahl. Und doch steht diese Gruppe immer wieder im Zentrum der medialen Aufmerksamkeit. Wegen der Shoah, antisemitischer Ausschreitungen, der israelischen Politik. In seinem neuen Buch untersucht C. Bernd Sucher, wie es um die deutschen Jüdinnen und Juden steht. Dafür beleuchtet er sowohl Vergangenheit als auch Gegenwart und sucht eine Antwort auf die Frage: Haben Juden in diesem Staat eine Zukunft – oder nicht?

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Motto

Vorwort

Einleitung

Teil I

1945 – und nun?

Zurück im Land der Mörder

Zentralrat der Juden

Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit

Die Shoah ist Vergangenheit – der Antisemitismus ist Gegenwart

Wiedergutmachung – materiell und ideell

Erinnerungskultur

Zerstört – wieder aufgebaut

Ohel Ja’akov in München

Das Jüdische Gemeindezentrum Duisburg-Mülheim-Oberhausen

Synagoge und Gemeindezentrum Gelsenkirchen

Licht der Diaspora – das jüdische Gemeindezentrum in Mainz

Die Synagoge am Fraenkelufer in Berlin

Das Synagogen-Projekt der liberalen Gemeinde Beth Shalom

Jüdische Museen als Orte der Reeducation?

Das Jüdische Museum Berlin

Das Jüdische Museum München

Gedenkstätten als Orte der Erinnerung

Gedenkstätten als Provokation

Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas

Das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma

Das Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen

Der Gedenk- und Informationsort für die Opfer der nationalsozialistischen »Euthanasie«-Morde

Konzentrationslager als Gedenkstätten

Das Konzentrationslager Dachau

Das Konzentrationslager Buchenwald

Stolpersteine

Jüdischer Protest im Rampenlicht

Teil II

Jüdisches Leben in Deutschland heute

Israelitische Kultusgemeinde

Union progressiver Juden in Deutschland

Koscheres Leben – Gebote und Verbote im Judentum

Koschere Restaurants und Lebensmittelgeschäfte

Das koschere Kurheim in Bad Kissingen

Jüdische Kunst

Deutsch-jüdisches Theater

Jüdische Orchester

Das Jewish Chamber Orchestra Munich

Das Jewish Chamber Orchestra Hamburg

Die Neue Jüdische Kammerphilharmonie in Dresden

Die Jüdische Galerie Berlin

Freie Berufe

Jüdische Allgemeine

Literaturhandlung

Daseinsfürsorge

Jüdische Krankenhäuser

Das Israelitische Krankenhaus in Hamburg

Das Jüdische Krankenhaus Berlin

Jüdische Altersheime

Judentum bedeutet lernen

Jüdische Schulen

Judaistik

Epilog

Teil III

Gespräche

Antje Yael Deusel

Deborah Feldman

Norbert Frei

Charlotte Knobloch

Tom Kučera

Moris Lehner

Walter L. Rothschild

Richard C. Schneider

Josef Schuster

Danksagung

Glossar

Anmerkungen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Literaturverzeichnis

Denn wohin du gehst, will ich gehn, und wo du nachtest, will ich nachten dir gesellt. Dein Volk ist mein Volk und dein Gott ist mein Gott.

Wo du sterben wirst, will ich sterben und dort will ich begraben werden. So tue ER mir an.

Rut 1,16, übersetzt von Martin Buber und Franz Rosenzweig

Für A.

Lochenhäusl, im September 2023

Sage nie, du gehst den letzten Weg!Trotz grauem Himmel und kein blauer Tag,die ersehnte Stunde kommt wie Paukenschlag.Und die Parole lautet: wir sind da.

 

Vom grünen Palmenland bis hin zum Land voll Schnee,wir kommen an mit unserm Leid, mit unserm Weh.Und wo ein Spritz gefallen ist von unserm Blut,dort wächst in uns ein neuer Wille, neuer Mut.

 

Das Heute wird zu Gold, wenn erst die Morgensonne scheint,das Gestern wird verschwinden mit dem Feind.Und zögert auch die Sonne noch am Horizont,das Lied ist ein Versprechen, dass sie kommt.

 

Geschrieben ist’s mit Blut und nicht mit Blei.Kein Liedchen ist’s von Vögeln, froh und frei.Es hat ein Volk, vor schon zerstörten Wänden,das Lied gesungen, Waffen in den Händen.

 

Drum sage nie, du gehst den letzten Weg.Trotz grauem Himmel ohne blauen Tag,die ersehnte Stunde kommt wie Paukenschlag.Und die Parole lautet: wir sind da.

Hirsch Glik, Partisanenlied[1]

Vorwort

Im Juli 2019 erschien in diesem Verlag »Mamsi und ich«. Ein Buch, in dem ich über meine jüdische Mutter und mich nachdenke, über die Shoah und mein Leben. Es ist geprägt vom Leid meiner Mutter. Unsere Doppelbiografie verlangte mir mehr Mut und Ehrlichkeit ab, als ich anfangs gedacht hatte. Beim Schreiben war alles, was meine Familie verdrängt und meine Mutter geschmerzt hatte, was mein Leben beeinflusste, gegenwärtig. Es gab nur zwei Möglichkeiten: zu lügen oder mich der Wahrheit mit all ihren Abgründen und ihrem Grauen zu stellen. Es war ein qualvoller Prozess. Am Ende jedoch war ich froh!

Felicitas von Lovenberg, die mich von Anfang an bestärkt hatte, diese Familiengeschichte zu schreiben, schlug wenig später ein neues Projekt vor. Ein Buch über jüdisches Leben in Deutschland nach 1945, wobei Gegenwart und Zukunft mehr Raum einnehmen sollten als der Blick zurück. Hoffnungsvoll begann ich die Recherchen, führte Gespräche. Ich wollte bestätigt finden, was die politischen Sonntagsredner überall und immerzu freudig-optimistisch verkünden: »Das Judentum gehört zu Deutschland, es hat die deutsche Geschichte und Kultur immer mitgeschrieben, vor und nach dem Zivilisationsbruch der Shoah, es prägt und es bereichert uns«, sagte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Januar 2021[2]. Im selben Jahr gab es fast eintausend »antisemitische Vorfälle«, die RIASS, der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus, meldete.

Ich machte mich in dem Vertrauen an die Arbeit, in diesem Land blühendes jüdisches Leben zu finden, und war mir ziemlich sicher, dass das im gesellschaftlichen Kontext so oft und gern hinausposaunte »Nie wieder!« von einem kämpferischen, kompromisslosen Eintreten von Nichtjuden für deutsche Juden begleitet sein würde.

Der Titel dieses Buches wurde nach vielen Überlegungen und Diskussionen gefunden. Jede optimistischere Formulierung verbot sich.

 

München, 6. Juli 2023

Schiwa Assar beTammus 5783

Einleitung

Ja, es leben wieder Juden in Deutschland! Mit Stand 2021 registrierte der Zentralrat der Juden in Deutschland 91 839 Mitglieder in den deutschen jüdischen Gemeinden und Landesverbänden. Nicht mitgezählt sind jene Jüdinnen und Juden, die Mitglieder in den 27 Gemeinden der »Union progressiver Juden in Deutschland« sind, und jene, die zwar als Jüdinnen und Juden gelten – weil sie jüdische Mütter hatten oder haben –, aber keiner Gemeinde angehören. So kann nur geschätzt werden, dass in Deutschland ungefähr 225 000 Personen leben, die als Jüdinnen und Juden gelten (können).[3] Bei einer Gesamtbevölkerung von über 83 Millionen ist das eine verschwindend kleine Gruppe – nicht einmal 1 Prozent. Und doch steht sie immer wieder im Mittelpunkt der medialen Aufmerksamkeit.

Wegen der Shoah. Wegen antisemitischer Ausschreitungen. Wegen der israelischen Politik. Und wegen der vielen gut gemeinten Appelle, dass die Juden zu diesem Land gehören.

Im Februar 2021 beschwor Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier das seit Jahrhunderten gelebte Miteinander von Juden und Nichtjuden in diesem Land: »Welch beeindruckende Zeitspanne! 1700 Jahre jüdisches Leben feiern wir überall in Deutschland in diesem Jahr, und es war mir eine Freude und ein ganz besonderes Anliegen, als Bundespräsident die Schirmherrschaft für dieses Festjahr zu übernehmen – ein Jahr, in dem wir uns überall in unserem Land auf die Spuren jüdischen Lebens, jüdischer Kultur begeben. Erstes offizielles Zeugnis jüdischen Lebens auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands ist das Edikt des römischen Kaisers Konstantin im Jahr 321, das es Juden in Köln erlaubte, öffentliche Ämter zu bekleiden. Seither gehört das Judentum zu Deutschland, gehören Juden zu Deutschland – ich glaube, vielen Menschen ist gar nicht bewusst, wie tief das Judentum verwoben ist mit der Geschichte und Kultur unseres Landes, wie sehr es sie mitgeschrieben und mitgeprägt hat. Und ich hoffe und wünsche mir sehr, dass es in diesem Festjahr gelingt, mehr Bewusstsein dafür zu schaffen! Ich bin zutiefst dankbar, dass nach dem Zivilisationsbruch der Shoah wieder jüdisches Leben in Deutschland möglich ist, dass es wieder aufblühen konnte und heute so vielfältig, jung und voller Schwung ist. Das ist ein unermessliches Glück für unser Land.«[4]

Diese Meinung, dass die Jüdinnen und Juden in Deutschland für das Land ein »unermessliches Glück« sind, teilen nicht alle Menschen, die in der Bundesrepublik leben.

Ich meine nicht nur jene Deutsche, die Anschläge planen und verüben, die Juden beschimpfen, weil sie sie an der Kippa erkennen, oder Synagogenmauern beschmieren. Ich meine die unaggressive Mehrheit. In einer Studie des Pew-Forschungsinstituts aus dem Jahr 2018 antworteten 19 Prozent der Teilnehmer auf die Frage, ob sie Menschen jüdischen Glaubens in ihrer Familie gutheißen würden, mit Nein. 12 Prozent gaben keine eindeutige Antwort.[5] Ist diese Studie für Jüdinnen und Juden schon beunruhigend, so lehrt sie eine 2019 vom Jüdischen Weltkongress initiierte Umfrage das Fürchten. Danach waren 27 Prozent aller Deutschen antisemitische Gedanken keineswegs fremd. Die Begründungen für diesen Judenhass waren aberwitzig: Die Juden redeten zu viel über die Shoah, und sie hätten überhaupt zu viel Macht in Deutschland und der Welt, schlimmer noch, die Juden trügen die Verantwortung für die meisten Kriege. Auf die Frage, warum sie die Juden hassten, waren sich fast ein Viertel der Befragten sicher, dass die Juden selbst schuld seien, ihr Verhalten führe zur Ablehnung durch Nichtjuden.[6]

Um dem entgegenzuwirken, wird von Politikerinnen, Historikern, Publizistinnen und Vertretern der Kirchen immer wieder bekundet, was Deutsche den Juden während der Naziherrschaft angetan haben. Damit nicht genug. Zerstörte Synagogen wurden und werden wieder aufgebaut, neue Gotteshäuser wurden von den Juden mit der (finanziellen) Unterstützung von Nichtjuden errichtet, andere sind in Planung. Denkmäler wurden gebaut, ehemalige Konzentrationslager umgewidmet zu Begegnungsstätten. Jüdische Museen findet man inzwischen in allen großen Städten, in vielen kleinen und manchmal auch in Dörfern.

Ein nicht zu stoppender Philosemitismus machte sich breit. »Vor lauter ›Juden‹ im Kopf könne«, so der Historiker Per Leo, der Antisemitismus »die widersprüchliche Vielfalt realer Juden nicht sehen.«[7]

Der Begriff Erinnerungskultur prägt die Diskurse, wenn von der jüdischen Geschichte in diesem Land und von der Gegenwart der jüdischen Bevölkerung in der Bundesrepublik gesprochen wird. Man setzt auf Erinnerung; sie wird erhofft, zuweilen sogar eingefordert. Wie anders sind solche Wort-Mutanten zu deuten: Erinnerungsarbeit, Erinnerungsaufgabe, Erinnerungsbemühung, Erinnerungshype, Erinnerungskampf, Erinnerungskrampf, Erinnerungspflicht, Erinnerungsversuch. Und das sind keineswegs alle.

»Nirgendwo wird so nachdrücklich erinnert und gemahnt wie in Deutschland, auch wenn dies einigen immer noch zu wenig geschieht und es anderen mittlerweile zu viel wird.«[8] Und die Bundeszentrale für politische Bildung erklärt auf ihrer Website: »Verdrängen, vergessen, verschweigen – die deutsche Erinnerung an Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg hat selbst eine Geschichte. Eine intensive Auseinandersetzung und Aufarbeitung setzte erst zögerlich ein, das Thema wurde zunächst weitgehend totgeschwiegen in der Bundesrepublik, während die DDR als ›per se antifaschistischer Staat‹ jede Verantwortung für die NS-Verbrechen ablehnte. In den vergangenen Jahrzehnten wandelte sich die Erinnerungskultur, die Verantwortung, die sich aus der Vergangenheit ableitet, ist mittlerweile Teil der deutschen ›Staatsräson‹. Mit dem Untergang des SED-Regimes rückten auch neue Themen in den Fokus, beeinflusst durch die Rolle der Massenmedien. Wie steht es um die Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit, und welche Rolle spielt die Vergangenheit in der Gegenwart?«[9]

Kann man Erinnerung einfordern? Kann das Erinnern an die Judenmorde im sogenannten Dritten Reich verordnet werden? Gibt es ein Überangebot an Erinnerungsorten, Erinnerungsveranstaltungen? Und welche Konsequenzen könnte das Überangebot haben? Etwa aus Überdruss die Akzeptanz von Antisemitismus in jeglicher Form?

In seinem Buch Tränen ohne Trauer – Nach der Erinnerungskultur schreibt Per Leo: »Der Läuterungsstolz, mit dem manche den Gewinn der Erinnerungsweltmeisterschaft bejubeln, ist genauso unangemessen und einseitig wie die Behauptung, der kritische Umgang mit dem Nationalsozialismus sei ein Mythos, dessen Haltlosigkeit sich am derzeitigen ›Rechtsruck‹ und am Fortbestand völkisch-rassischer und antisemitischer Einstellung ablesen ließe.«[10]

Im vorliegenden Buch sollen Antworten gefunden werden auf die wichtigsten Fragen, die das Zusammenleben von Juden und Nichtjuden in Deutschland aufwirft – seit der Befreiung 1945 bis heute.

Wann ging es eigentlich los mit dem Antisemitismus nach dem Kriegsende? War er in diesem Land je verschwunden? Oder wurde er von der Politik nur verharmlost und verschwiegen? Die Historikerin Stefanie Schüler-Springorum schreibt in ihrem Essay »Das Untote – Warum der Antisemitismus so lebendig bleibt und ist« von der erstaunlichen »Stabilität der antisemitischen Architektur«.[11] Und Norbert Frei, ein Historiker und Publizist, der alle seine Äußerungen ebenso entschieden wie vorsichtig formuliert, präzisiert bei gleichzeitiger Kritik an den Thesen seines US-Kollegen Daniel Goldhagen: »Der Antisemitismus hat nie aufgehört, und die seinerzeit vor allem von Daniel Goldhagen propagierte Idee, dass er mit der Ankunft der Amerikaner überwunden war, beziehungsweise überwunden wurde, ist natürlich Unfug.«[12]

Gab es also schon wieder judenfeindliche Strömungen gleich nach der Kapitulation 1945? Was bewog Juden, die die Shoah überlebt hatten, im Land der Mörder zu bleiben oder gar dorthin zurückzukehren und hier heimisch zu werden? Sie wurden von vielen Juden im Ausland – vor allem denen in den USA und in Israel – angegriffen. Selbst Jahrzehnte später, vor der Jahrtausendwende, wunderte sich Yohanan Meroz, von 1974 bis 1985 israelischer Botschafter in Deutschland, noch darüber: »Ich kann es tatsächlich schwer verstehen, wie Juden nach der Schreckenszeit in Deutschland Fuß fassen konnten. Ich kann es schwer verstehen, weil ich in den deutsch-israelischen Beziehungen den einzig wirklichen Ersatz für eine vermeintliche Symbiose sehe, die im Sande verlaufen ist. Deutsch-israelische Zusammenarbeit ist für mich der letztgültige Beweis für ein deutsch-jüdisches Miteinander. Nicht die Tatsache, dass vernichtete Gemeinden zum Teil künstlich aufgepfropft werden und zum Teil wachsen durch einen Strom von Neuankömmlingen aus der ehemaligen Sowjetunion. Ich halte es für schwer verständlich, dass sich Menschen, die keinen Hintergrund der Zugehörigkeit zum deutschen Kulturkreis haben, dort niederlassen und neue Gemeinden aufbauen. Aber das ist die Entscheidung des Einzelnen. Wenn sich Leute zu diesem Versuch entschließen, respektiere ich das, ohne ihn gutzuheißen.«[13]

Was bedeutet in diesem Zusammenhang die sogenannte Wiedergutmachung? Der in München geborene und in Tel Aviv lebende Journalist Richard C. Schneider nennt diesen Begriff »zynisch« und beklagt, dass er sich dennoch im deutschen Sprachgebrauch erhalten hat: »Es war keine Abschlagszahlung für die sechs Millionen Toten, es waren Zahlungen zur Integration des letzten Rests der ehemaligen KZ-Häftlinge.«[14]

Was bedeutet die Gründung des Zentralrats der Juden in Deutschland im Jahr 1950? Einigung der deutschen und der osteuropäischen Juden?

Was bedeutet Adenauers Schweigen bei seinem Regierungsantritt? Norbert Wollheim, ein deutscher Jude, Mitbegründer des Zentralrats der Juden in Deutschland, stellvertretender Vorsitzender des Zentralkomitees der befreiten Juden in der britischen Zone, war konsterniert über die Haltung des ersten Bundeskanzlers: »Als Adenauer die erste Regierungserklärung im Bundestag abgegeben hat, verlor er kaum ein Wort über die Vergangenheit, nichts über Solidarität mit den Opfern, Bedauern über die Verluste, ganz zu schweigen von Wiedergutmachung. Ich erinnere mich, wir hatten eine Sitzung in Bremen, und wir hatten sie unterbrochen, um Adenauer zuzuhören. Wir konnten kaum die Sitzung zu Ende bringen, denn die Erregung war ungemein.«[15]

Entschiedener äußerte sich der Publizist Ralph Giordano, der die Adenauer-Ära als »braunen Epilog« bezeichnete, »die Ära, in der sich das manifestierte, was ich die zweite Schuld genannt habe, womit ich die Verdrängung von Leuten von der ersten Schuld unter Hitler meine. Und zwar nicht bloß als moralische oder rhetorische Kategorie, sondern tief instituiert durch das, was ich den großen Frieden mit den Tätern genannt habe. Nicht nur, dass sie straffrei davonkamen, sie konnten auch in allen Sparten ihre Karriere weiter fortsetzen. Die Funktionselite der alten BRD war bis in die Siebziger nahezu identisch mit der unter Hitler. Und das war Adenauers Werk. Adenauer ist eigentlich für mich der Schöpfer der zweiten Schuld.«[16]

Wollten die Deutschen überhaupt wieder jüdische Gemeinden in ihrem Land? Die Antwort von Asher Ben Nathan, dem ersten Botschafter Israels in Deutschland, ist verstörend und lenkt wieder auf Spuren. Täter können durchaus Erinnerungen benutzen, um zu vergessen: »Ich glaube, die Bundesrepublik war an einer jüdischen Gemeinde in Deutschland interessiert. Vielleicht nicht an einer so großen wie in der Vergangenheit, aber trotzdem. Sie wollten das Zeichen. Es gibt eine jüdische Gemeinde hier und ein gutes Zusammenleben. Das war sicher eine der Absichten.«[17]

Wo sehen wir im Land jüdisches Leben? Und wo ist es bedroht? Wie hilfreich sind die vielen Initiativen, die deutsche Nichtjuden und deutsche Juden versöhnen möchten, die eine Annäherung von Deutschen und Israelis versuchen?

Und schließlich soll auch gefragt werden, wie die knapp 100 000 beziehungsweise 225 000 Jüdinnen und Juden hier versorgt werden – gibt es für die Orthodoxen unter ihnen die Möglichkeit, koschere Lebensmittel zu kaufen, koscher essen zu gehen, in koscheren Hotels zu übernachten? Gibt es ein speziell jüdisches Kulturangebot?

Im vorliegenden Buch, in dem es letztlich um Antworten auf eine einzige, wesentliche Frage geht – Haben die deutschen Juden in diesem Staat eine Zukunft oder nicht? –, werden auch deutsche oder in Deutschland lebende Jüdinnen, Juden und Nichtjuden zu Wort kommen, mit denen ich gesprochen habe, und jüdisches Leben in Deutschland reflektieren. Der letzte Teil ist der Dokumentation unserer Gespräche gewidmet.

 

»Nur durch Gespräch, nur durch Informationen kommen wir vielleicht eines Tages dazu, dass Normalität in der Begegnung zwischen Juden und Nichtjuden, die noch nicht vorhanden ist, irgendwann doch realisiert werden kann. Aber ich bezweifle, dass wir das in dieser oder in der nächsten Generation erreichen werden«.[18]

Vielleicht eines Tages … Eine geradezu utopische Hoffnung, die Paul Spiegel nach seiner Wahl zum Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland am 9. Januar 2000 äußerte.

Gar nicht denken möchte ich aber, was Spiegels Amtsvorgänger Ignatz Bubis vor der Jahrtausendwende formulierte: »Wenn die 80 Millionen Nichtjuden keine jüdische Zukunft hier haben wollen, dann werden die 80 000 Juden keine Zukunft aufbauen können.«[19]

Teil I

1945 – und nun?

Zurück im Land der Mörder

Wir sind da! – Das war nach der Befreiung Deutschlands von der nationalsozialistischen Herrschaft kein Schlacht- und schon gar kein Triumphruf der zurückgekehrten oder zugewanderten Juden. Wir sind da! – das war Ausdruck eines unerschütterten und trotz vieler sofort wieder einsetzender Anfeindungen unerschütterlichen Überlebenswillens, auch eines wiedergewonnenen jüdischen Selbstbewusstseins.

Die Juden, die sich entschlossen hatten, in Deutschland, dem »Land der Mörder«, zu bleiben oder hierhin zurückzukehren, wurden von den Deutschen keineswegs mit offenen Armen willkommen geheißen. Zudem wurden sie, und das traf sie härter, von den Juden verachtet, die nach Israel, ins Gelobte Land, oder in andere Länder der Welt ausgewandert waren. Diese Gruppe hatte es in den Augen der meisten Überlebenden richtig gemacht – sie hatte Deutschland so schnell wie möglich verlassen und diesem Staat ein für alle Mal den Rücken gekehrt. Diejenigen, die hingegen in Deutschland die alte, neue Heimat finden wollten, zogen sich dem Münchener Historiker Michael Brenner zufolge nicht »ihrer numerischen, sondern ihrer emblematischen Bedeutung wegen den Zorn der Juden der Welt zu«.[20]

Auf Deutschland, so sahen es die emigrierten Juden, lastete nach der Katastrophe, dem millionenfachen Mord, ein Fluch. Ein Bann. Und so traf er auch das neue jüdische Kollektiv auf deutschem Boden. In den Augen derer, die aus Palästina oder den USA nach Deutschland schauten, widersetzten sich diese Menschen dem in der Judenheit mehrheitlich durchgesetzten Dogma, dass es für das Land der Deutschen und seine Bewohner keine Vergebung geben dürfe. Auf deutschem Boden zu verbleiben oder dorthin zurückzukehren war nichts anderes, als den einstigen Verbrechern unausgesprochen die Hand zur Versöhnung hinzustrecken.

Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde in München, erinnert sich, dass sie und ihre Familie ausgeschlossen wurden. Sie empfängt mich im neuen Gemeindehaus auf dem St.-Jakobs-Platz. Bevor ich in das große, lichte Sitzungszimmer geführt werde, von dem man einen Blick auf das Dach der Synagoge hat, muss ich mich ausweisen und scannen lassen. Keinen Schritt kann ich ohne Begleitung tun. Nachdem ich drei Männer, das Sicherheitspersonal für die Präsidentin, passiert habe und endlich im vierten Stock angekommen bin, entdecke ich im Bücherregal einen Talmud und die 22 Bände der Encyclopaedia Judaica.

Charlotte Knobloch, eine 87-jährige, kleine Dame, lächelt: »Sie möchten wissen, wie man heute als Jüdin oder Jude in Deutschland lebt? Erlauben Sie mir, mit der Vergangenheit zu beginnen, mit den Jahren nach 1945. Es war nie einfach, als jüdischer Mensch in Deutschland zu leben, und das ist es auch heute nicht. Ich habe mein ganzes Leben in diesem Land verbracht, habe die Zeit des Naziterrors überlebt und bin am Ende in meiner Geburtsstadt München geblieben. Was sich geradlinig anhört, war aber in Wahrheit ein langer und schwieriger Prozess. Ich wuchs als jüdisches Münchner Kindl im NS-Staat auf. Ich habe die Verfolgung der jüdischen Gemeinschaft durch die Nationalsozialisten miterlebt und am 9. November die orthodoxe Synagoge brennen sehen. Sie stand am heutigen Lenbachplatz. Nachdem meine Großmutter im Sommer 1942 deportiert worden war, gelang es meinem Vater, mich bei der Familie einer ehemaligen Hausangestellten seines Bruders auf einem Dorf in Franken zu verstecken, in Arberg. Nicht nur ich überlebte, auch mein Vater überlebte. Meine Großmutter wurde 1944 ermordet. Als ich nach Kriegsende nach München zurückkehrte, war die Stadt völlig zerstört. Zugleich war sie voller jüdischer Displaced Persons. Das waren Überlebende, die sich nichts sehnlicher wünschten, als Deutschland zu verlassen. Argentinien, Australien, Amerika, die Schweiz, England, Israel, egal. Es gab viele Ziele, aber raus aus Deutschland, das wollten fast alle. Den meisten gelang das auch. Von den wenigen, die blieben, hatte jeder seine eigene Geschichte zu erzählen, warum es mit der Auswanderung nichts geworden war. Auch ich: Mein Mann und ich waren bereits auf dem Sprung in die USA gewesen, als das erste Kind sich ankündigte. Dann kamen ein zweites und ein drittes, und am Ende blieben wir hier.«

Ob es stimme, dass diese Displaced Persons gleich wieder von den Deutschen angegriffen worden seien, dass es gleich nach 1945 wieder antisemitische Ausschreitungen gegeben habe, möchte ich wissen. Ich hoffe auf ein entschiedenes Nein und bekomme ein entschiedenes Ja als Antwort. Die Juden, die in Deutschland geblieben waren, wurden eben nicht nur von den Deutschen wieder angefeindet, sondern auch von den Juden im Ausland. Also verbargen sie ihre Identität, wenn sie sich in anderen Ländern aufhielten, gaben sich zum Beispiel als Schweizer Juden aus. Und nie verließ sie das Gefühl der Anfeindung und der Unsicherheit. Ihre Angst war nicht unbegründet, wie der Brandanschlag auf das jüdische Gemeindehaus in München im Februar 1970 bewies – und schrecklicher noch zwei Jahre später das Attentat in dieser Stadt auf die israelische Olympiamannschaft.[21]

Die Juden, die sich in Deutschland (wieder) niederließen, wurden bedroht von einer Gruppe nicht jüdischer Deutscher; und sie wurden gedemütigt von den Juden im nicht deutschsprachigen Ausland.

Wir sind da! – das war also ein sehr mutiger Schritt. Zum einen wussten die Juden nicht, wie sie aufgenommen würden; zum anderen schlossen sie sich mit ihrer Entscheidung selbst aus. In den Augen vieler anderer Juden gehörten sie nicht mehr zur weltweiten jüdischen Gemeinschaft. Einst von den Nationalsozialisten ausgeschlossen und verfolgt, begaben sie sich nun freiwillig in einen Bund mit den Tätern – und wurden gerade dadurch wieder zu Verachteten, die jetzt von ihresgleichen zumindest verbal verfolgt wurden. In Deutschland zu bleiben, dafür brauchte es Mut – und einen sehr großen Optimismus, eine besondere Liebe zu diesem Land und seiner Kultur.

Doch nicht nur von außen gab es Angriffe. Die verschieden sozialisierten Gruppen – deutsche Juden, die den Holocaust überlebt hatten, trafen auf eine weit größere Anzahl osteuropäischer Juden – machten einander das Zusammenleben zusätzlich schwer. Die sogenannten Ostjuden waren meist aus Polen zugewandert, gestrandet auf deutschem Boden, Staatenlose, Displaced Persons, abgekürzt DPs. In Deutschland hatten nicht mehr als 1500 Juden überlebt. Dazu kamen 9000, die aus den befreiten Konzentrationslagern zurückkehrten. Eine nach jüdischen Gemeinden, also nach den Landesverbänden, geordnete Statistik vom März 1949 zählt insgesamt 21 645 Mitglieder. Davon waren 10 994 sogenannte deutsche Juden und 10 651 nicht deutsche. 50,7 Prozent deutsche Juden, 49,3 Prozent Displaced Persons.[22]

Moris Lehner, emeritierter Professor für internationales Steuerrecht, erklärte mir, bevor wir gemeinsam mit seiner Frau Schabbat feierten, was für ihn »Displaced Persons« seien. »Die Menschen, die Konzentrationslager mit großem Glück und mit letzter Kraft überlebt haben, waren nicht nur ›displaced‹ im Sinne von heimatlos und umgesiedelt. Sie waren lebende Leichen, die – ihr Leben lang! – meistens nicht mehr zu einem psychisch und physisch erträglichen Zustand zurückgefunden haben.«[23]

Schon im Jahr der Befreiung hatte es wieder die ersten antisemitischen Ausschreitungen in Deutschland gegeben, die einer breiten Öffentlichkeit und damit auch den Beobachtern im Ausland deutlich machten, dass jüdisches Leben in diesem Land bereits wieder gefährdet war.

Im Sommer 1945 hatten die jüdischen DPs begonnen, sich Organisationsstrukturen zu schaffen. Am 25. Juli 1945 trafen sich im westlich von München gelegenen Kloster St. Ottilien, in dem zu dieser Zeit ein jüdisches Krankenhaus untergebracht war, 96 Delegierte, die 40 000, in 46 deutschen und österreichischen Camps lebende Juden vertraten. Diese Gruppe der »Scha’erit hapleta« – »des geretteten Rests« – war nicht homogen, ihre Angehörigen unterschieden sich durch ihre Herkunftsländer, ihre politischen und kulturellen, sogar durch ihre religiösen Überzeugungen. Und damit nicht genug der Schwierigkeiten: Die jüdischen Gemeinden, die von aus ihren Verstecken oder den Konzentrationslagern zurückgekehrten deutschen Juden dominiert wurden, stellten sich einer Integration der »Ostjuden« entgegen. Es etablierte sich also rasch eine Hierarchie.

Das Unvermögen der deutschen Nachkriegsgesellschaft, mit der Vergangenheit umzugehen, in die sie tief verstrickt war, zeigte sich direkt nach dem Krieg gerade am Umgang mit den Displaced Persons jüdischer Herkunft.[24] Der Judaist Peter Schäfer sieht zu dieser Zeit bereits wieder »die alten Stereotype vom Schachern und Wuchern der Juden wirksam«.[25] Am 2. August 1949 veröffentlichte die Süddeutsche Zeitung einen Leitartikel des Leitenden Redakteurs für Politik Wilhelm Emanuel Süskind unter der Überschrift »Judenfrage als Prüfstein«.[26] Sein Beitrag war offen antisemitisch. Zwar äußerte er eher kleinlaut, dass niemand die Juden ein zweites Mal vergraulen sollte, nachdem sie im Land überlebt oder nach Deutschland zurückgekehrt waren. Er plädierte dafür, sie zu halten, was auch immer dieses Verb zu bedeuten haben mochte. Allerdings formulierte er für diese Duldung der Juden – denn darauf lief es hinaus – Bedingungen: Der jüdische Schwarzmarkt in München und dort in der Bogenhausener Möhlstraße müsste von den Nichtjuden unterbunden werden. Den Deutschen – einem Wir – stellte er die anderen, die Fremden, gegenüber.[27]

Bogenhausen – und dort eben die Möhlstraße, aber auch Nebenstraßen wie zum Beispiel die Siebertstraße – war das Zentrum jüdischer gesellschaftlicher Aktivität der DPs. Auch heute ist der Stadtteil eine von der jüdischen Bevölkerung Münchens bevorzugte Wohngegend. Hier besitzt die Israelitische Kultusgemeinde Immobilien. Und hier hatten die wichtigsten Einrichtungen der »Ostjuden« ihren Sitz: das Zentralkomitee der befreiten Juden in der amerikanischen Besatzungszone, die jüdische Berufsschule, der jüdische Schauspieler- und Schriftstellerverband, das Bayerische Hilfswerk für die von den Nürnberger Rassegesetzen Betroffenen, die Hebrew Immigrant Aid Society (HIAS), das jüdische städtische Komitee, der jüdische Kindergarten, die jüdische Volksschule, das jüdische Gymnasium, die jüdische Bibliothek, das Stadtkommissariat für rassisch, religiös und politisch Verfolgte und das jüdische Krankenhaus. Die Straßenbahnlinie dorthin nannten die nicht jüdischen Münchner den »Palästina-Express«.

Baruch Graubard stammte aus Polen und hatte den Holocaust versteckt in einem Franziskanerkloster in der Slowakei überlebt. Im Jahr 1946 war er als DP nach Deutschland gekommen und arbeitete im Kulturamt des Zentralkomitees der befreiten Juden in der amerikanischen Zone, wurde später Vizepräsident der Israelitischen Kultusgemeinde in München. Satirisch stellte er fest, wie es in Bogenhausen zuging – und formulierte damit viele antisemitische Stereotype: »Es ist kein großes Vergnügen, an einem heißen Septembertag auf dem Platz beim Münchner Komitee handeln zu gehen. Ein Gedränge, ein Lärm und der Geruch von Zwiebeln und Fisch. Dazu kommt der Schlamm! Gott im Himmel! Woher nehmen die Juden in so einer Hitze Schlamm? Es macht den Eindruck, daß man ihn eigens aus Pinsks importiert.«[28]

Der SZ-Autor Wilhelm Emanuel Süskind hatte wohl solche Szenen vor Augen, als er an seine deutsche Leserschaft appellierte, »daß wir – moralisch – eine besondere Rücksicht und Zartheit den Juden gegenüber walten lassen wollen, auch wenn der einzelne Jude Rücksicht und Zartheit nicht herausfordert. Daß wir – intellektuell – unser Urteil nicht bestimmen lassen von Fehlern einzelner Juden und auch nicht von Fehlern, die das ganze Volk in seiner Durchgezüchtetheit besitzen mag.«[29]

»Durchgezüchtetheit«, das war Nazijargon – und Süskind war während des Dritten Reichs auch nicht gerade durch eine systemkritische Haltung aufgefallen. Sein Artikel schlug jedenfalls Wellen: »Am 9. August 1949 wandte sich die Redaktion an ihre Leser. Süskinds Ausführungen zur ›Judenfrage‹ hätten ›einen ganz ungewöhnlich starken Widerhall gefunden‹, schrieb sie. ›Wir veröffentlichen von den äußerst verschiedenartigen Leserbriefen einige besonders charakteristische.‹«[30] Erst kam ein philosemitischer Briefschreiber zu Wort, der betonte, dass er viele Juden zu Freunden gehabt habe, aber die Schwarzmarktjuden Anlass zu Antisemitismus geben könnten. Ein zweiter Leser argwöhnte, man unternehme nichts gegen den Markt, weil Auschwitz gegen die Möhlstraße aufgerechnet werde. Der letzte Schreiber war am deutlichsten: »Geht doch nach Amerika, aber dort können sie Euch auch nicht gebrauchen, sie haben genug von diesen Blutsaugern. Ich bin beim Ami beschäftigt, und da haben verschiedene schon gesagt, dass sie uns alles verzeihen, nur das eine nicht, und das ist: daß wir nicht alle vergast haben, denn jetzt beglücken sie (die Juden) Amerika … Sie können sich darauf verlassen, daß ich alles tun werde, um recht viele Amis aufzuklären. Ich versichere Ihnen, daß ich kein Nazi war, aber ich bin ein 1 000-prozentiger Deutscher. Ich gehöre zu den sogenannten ›Stillen im Lande‹, und die Flüsterpropaganda ist mehr wert als 100 Zeitungen …«[31] Unterzeichnet hatte ein Adolf Bleibtreu mit der fiktiven Adresse Palästinastraße.

Die sogenannte Entnazifizierung sollte den Deutschen einen Neuanfang ermöglichen, so wollten es die Besatzungsmächte; sie zielte auf die Umerziehung der Bevölkerung – offensichtlich gelang sie nicht. Dass ein Text wie der von Süskind die Redaktionskollegen nicht empört hatte, dass er erscheinen durfte, ist der beste Beweis dafür, dass selbst in den Medien nicht die »Umerzogenen« das Wort führten, sondern die Ewiggestrigen.

Nicht allein in München wurde daraufhin auf den Straßen gegen den Süddeutschen Verlag demonstriert. Es kam zu Krawallen, die Polizei musste eingreifen. Doch der Autor Süskind verlor seinen Posten nicht!

Der Artikel war zwei Wochen vor der allerersten, Mitte August stattfindenden Bundestagswahl erschienen. Am 20. September 1949 gab Bundeskanzler Konrad Adenauer seine erste Regierungserklärung ab – und redete in der Sache um den heißen Brei herum:

Die antisemitischen Bemerkungen der Deutschen, die vor allem in ausländischen Zeitungen zitiert worden waren, nannte er sehr verharmlosend »ungezogene Reden«. Seiner Logik folgend waren deshalb diese Veröffentlichungen übertrieben. Besonders auffällig und verräterisch: Adenauer sprach von rechts- und linksradikalen Außenseitern, obwohl der linke Antisemitismus sich erst viel später Gehör verschaffte. Mit einem Nebensatz erklärte er, dass der Staat in all diesen Fällen von seinen Gesetzen Gebrauch machen müsste. Mit einem kleinen Adverb – »nötigenfalls« – machte er deutlich, dass er den Zeitpunkt, sich gegen den neu erstarkenden Antisemitismus zu wehren und zu wappnen, noch nicht sah, sehen wollte.[32]

Wie also sagte Adenauer? Ungezogene Reden? Euphemistischer lässt sich dieses Skandalon nicht umschreiben.

Dann aber formulierte er klar und unmissverständlich: »Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang ein Wort zu hier und da anscheinend hervorgetretenen antisemitischen Bestrebungen sagen. Wir verurteilen diese Bestrebungen auf das Schärfste. Wir halten es für unwürdig und für an sich unglaublich, daß nach all dem, was sich in nationalsozialistischer Zeit begeben hat, in Deutschland noch Leute sein sollten, die Juden deswegen verfolgen oder verachten, weil sie Juden sind.«[33]

Oder vielleicht doch nicht so klar? Das, »was sich begeben hat«, war Völkermord!

Aber auch die Konflikte zwischen den DPs und den aus Deutschland stammenden Juden waren offenkundig. Bei diesen innerjüdischen Auseinandersetzungen spielten wirtschaftliche Unterschiede ebenso eine Rolle wie kulturelle. Deutsche Nichtjuden konnten die rivalisierenden Fraktionen nicht verstehen. Müssten die einst Verfolgten – im Leiden durchaus gleichgestellt – jetzt nicht gemeinsam für ihre Rechte kämpfen? Für Integration in der bundesrepublikanischen Gesellschaft? Nicht gemeinsam gegen wiederkehrende antisemitische Vorurteile aufstehen? Doch statt Solidarität herrschten zwischen den beiden jüdischen Gruppen Zwietracht, Neid und Argwohn. Auf der einen Seite beklagten die DPs die Ignoranz der deutschen Juden, die sich ihrerseits von den jüdischen Wohlfahrtsorganisationen benachteiligt fühlten, weil die anderen, von denen viele nach Palästina auszuwandern gedachten, bevorzugt wurden. Ein Max Horsch, von dem sonst nicht viel bekannt ist, hat dieses Spottgedicht gegen die ostjüdischen Überlebenden hinterlassen: