Unsichtbar - Eloy Moreno - E-Book

Unsichtbar E-Book

Eloy Moreno

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Beschreibung

Emotional, empathisch, aufwühlend – eine außergewöhnliche Mobbing-Geschichte Der spanische Bestsellerautor Eloy Moreno erzählt leise, unaufgeregt, gleichzeitig verstörend und faszinierend die Leidensgeschichte eines namenlosen Jungen, der in der Schule gemobbt wird. Hautnah erleben wir die Angst, die Demütigungen und alle Phasen der Verzweiflung des Opfers, das keinen anderen Ausweg weiß, als in die Welt der Phantasie zu flüchten. Aber auch der Mobber und die, die wegsehen, kommen zu Wort. »Unsichtbar« ist ein herzzerreißender und eindringliches Plädoyer dafür, hinzusehen und zu handeln – bevor es zu spät ist. Pressestimmen zur spanischen Originalausgabe: »›Unsichtbar‹ fordert uns auf, hinzusehen, zu sehen, was wir nicht sehen wollen, und der Gewalt, dem Schmerz und der Ausgrenzung nicht gleichgültig gegenüberzustehen.« José Ramón Mata, Málaga hoy »›Unsichtbar‹ ist ein Roman mit einer klaren und direkten Botschaft, die schockierend und bewegend ist.« Críticas Regina Irae »›Unsichtbar‹ ist eine sehr emotionale Geschichte, die starke Themen berührt. Es ist unmöglich, nicht mit der Hauptfigur mitzufühlen und in die Geschichte einzusteigen, um sie zu umarmen, zu trösten und ihr zu sagen: ICH SEHE DICH.« Locura por los libros

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Seitenzahl: 235

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Eloy Moreno

Unsichtbar

 

Aus dem Spanischen von Ilse Layer

 

Über dieses Buch

 

 

Emotional, empathisch, aufwühlend – eine außergewöhnliche Mobbing-Geschichte

Der spanische Bestsellerautor Eloy Moreno erzählt leise, unaufgeregt, gleichzeitig verstörend und faszinierend die Leidensgeschichte eines namenlosen Jungen, der in der Schule gemobbt wird. Hautnah erleben wir die Angst, die Demütigungen und alle Phasen der Verzweiflung des Opfers, das keinen anderen Ausweg weiß, als in die Welt der Phantasie zu flüchten. Aber auch der Mobber und die, die wegsehen, kommen zu Wort.

 

»Unsichtbar« ist ein herzzerreißender und eindringliches Plädoyer dafür, hinzusehen und zu handeln – bevor es zu spät ist.

 

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter www.fischerverlage.de/kinderbuch-jugendbuch

Biografie

 

 

Eloy Moreno, geboren 1976, arbeitete zunächst als Informatiker. Seine große Leidenschaft für Literatur veranlasste ihn, sich auf das Abenteuer Schreiben einzulassen. Seinen ersten Roman veröffentlichte er zunächst im Selbstverlag, ehe ein Verlag auf ihn aufmerksam wurde. Bisher hat er fünf Romane veröffentlicht, die allesamt zu Bestsellern wurden, mit renommierten Preisen ausgezeichnet und in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden. Unsichtbar ist das erste Buch des Autors, das auf Deutsch erscheint.

 

Inhalt

[Motto]

Sie steht seit [...]

UNSICHTBAR

Mir ist schon [...]

Jetzt, wo ich [...]

Ich strecke das [...]

Die Hand mit den hundert Armreifen

Geweckt hat mich [...]

Das Gesicht mit einer Narbe an der Augenbraue

Ich betrachte wieder [...]

Die Mutter

Das Mädchen mit den hundert Armreifen

Plötzlich hält mich [...]

Der Junge mit der Narbe an der Augenbraue

Der Besuch

Und so endete [...]

Sie

Der Junge mit den neuneinhalb Fingern

»Ach nichts, gar [...]

Das Mädchen mit den hundert Armreifen

Ich habe ihr [...]

Ich habe gehört, [...]

Schon seit Tagen [...]

Heute habe ich [...]

Luna

»Bist du krank?«, [...]

Sobald mein Vater [...]

Kiri

Und ich?

»Du Idiot! Du [...]

Der Junge mit der Narbe an der Augenbraue

Die Nacht bricht [...]

Und genau dieselbe [...]

Ich bin aufgewacht. [...]

Und ein Junge, [...]

Der Tag

»Alles hat mit [...]

Während ein bisher [...]

»Ich dachte, wenn [...]

»Unsichtbar? …«

Ich verstehe nicht, [...]

In einem kleinen [...]

DIE MONSTER

Das erste Monster

An diesem Freitag, [...]

Ich ging rasch [...]

Kiri war komplett [...]

Beim Reinkommen sah [...]

»Psss, psss …«

Es war wie [...]

NEIN

»Was?!«, schrie er [...]

Und im selben [...]

An diesem Freitag [...]

Hey, was war [...]

Hallo!!!

Es war Kiri. [...]

Das war die [...]

Montag

Der Montag bricht [...]

Dieser Morgen war [...]

Dieser Morgen ist [...]

Ich betrat das [...]

Dieses eineinhalb Punkte [...]

Ich ging mit [...]

Das belegte Baguette

Das Gesicht eines [...]

Von diesem Tag [...]

An dem Morgen, [...]

Und nach Papiergeschossen [...]

Vielleicht eine der [...]

Von dem Tag [...]

Mitten in einem [...]

Am nächsten Morgen [...]

In einer kleinen [...]

DER WESPENJUNGE

Am Montag passierte [...]

Ein Mädchen, das [...]

Nachdem ich da [...]

Und dann stiegen [...]

Da brummte etwas [...]

Der erste Stich [...]

Ich war einen [...]

Was der Wespenjunge [...]

Auf einem Handy, [...]

Wieder in der Klasse

Nach fast einer [...]

Ein Junge mit [...]

Es verging noch [...]

Der Lehrer sagte, [...]

Ein Junge mit [...]

Der Spiegel ist [...]

Als die Schule [...]

Am nächsten Morgen [...]

Hastig zog ich [...]

Während auf der [...]

Was sich in [...]

An diesem Tag [...]

In dieser Schultoilette [...]

Am selben Vormittag, [...]

Nachdem Kiri aufgetaucht [...]

Über viele Wochen [...]

An diesem Tag [...]

Heute ist der [...]

Jetzt, in einem [...]

MM hat gerade [...]

So etwas hatten [...]

In den nächsten [...]

An einem der [...]

In dem Moment [...]

Was, wenn es [...]

Der Tag bricht [...]

In der Zwischenzeit [...]

In der folgenden [...]

FEIGLING

Sie drehte sich [...]

MM bleibt stumm, [...]

Kiri hört sich [...]

Diese Geschichte war [...]

Während ich auf [...]

Und hier, ungestört [...]

»Was?«, erwidert eine [...]

An den folgenden [...]

Das Märchen

Nach dem Märchen [...]

Er schon, er [...]

In den letzten [...]

Es kommt der [...]

STREBER

Das war das [...]

»Sagt mal, wie [...]

»Zum Beispiel du, [...]

Ein Junge mit [...]

Von da an [...]

Am Tag mit [...]

Ein Junge mit [...]

Dieses Psss wirbelt [...]

MM ist noch [...]

Ein Junge kommt [...]

»Was für eine [...]

Am nächsten Morgen [...]

Es ist sein [...]

Alle waren schon [...]

In der Schule [...]

Ein Junge, der [...]

Der Drache fegt [...]

Es regnet weiter [...]

Ein Auto fährt [...]

Eine Hupe brüllt [...]

Zehn Sekunden

Ein Drache, der [...]

Fünf Sekunden

Die Lüge

Ich auch,

Die Liebe

Und ein Drache, [...]

Der Zug hat [...]

Während die Lehrerin [...]

Sie entdeckt eine [...]

SICHTBAR

Wenige Minuten später, [...]

DER DRACHE

Sie geht weinend [...]

Sobald sie die [...]

Es war ein [...]

War doch nur [...]

Das Mädchen duckte [...]

Da bist du [...]

So wurde ich [...]

[Widmung]

Was ist Mobbing?

Täter brauchen Zuschauer. Ohne Zuschauer sind sie machtlos.

Mobbing kann jeden treffen

Wieso gemobbt wird

Mobbing-Warnzeichen

Was du tun kannst

Freundlich, fair, einfühlsam

Erzähle anderen darüber

Jeder kann ein Held sein. Auch ein Mann, der etwas so Einfaches tut, wie einem kleinen Jungen einen schützenden Mantel um die Schultern zu legen, und ihm zeigt, dass die Welt nicht untergegangen ist.

BATMAN

Der dunkle Ritter

Man braucht keinen Röntgenblick zu haben, um zu sehen, dass etwas nicht gut ist.

SUPERMAN

Sie steht seit mehreren Minuten an der Ecke gegenüber und sieht unschlüssig zum Eingang. Soll sie jetzt hingehen oder morgen mit denselben Bedenken wie heute wiederkommen?

Sie holt tief Luft und läuft los. Überquert die Straße, fast ohne nach rechts und links zu sehen, und drückt nach ein paar Metern Gehweg ängstlich die Tür auf.

Jetzt ist es entschieden.

Sie wird gebeten, einen Moment auf der Couch Platz zu nehmen, sie sei gleich dran.

Beim Warten betrachtet sie die Kunstwerke an den Wänden: Motive, die wohl kaum ein Museum ausstellen würde und doch meistens von weit mehr Menschen gesehen werden.

Bei ihr nicht. Ihr eigenes wird nur sie selbst sehen, niemand sonst. Das denkt sie zumindest jetzt.

Nach wenigen Minuten wird sie in einen anderen Raum gebeten, der kleiner, dunkler, intimer ist …

Gleich beim Eintreten sieht sie ihn.

Er liegt flach auf dem Tisch, groß, sehr groß, groß genug, um ihren ganzen Rücken zu bedecken: ein riesiger Drache.

Sie bekommt noch einmal erklärt, wie es abläuft, wie lange es dauert, welche Technik eingesetzt wird … und vor allem wird sie auf eins hingewiesen: Wenn es auf einem normalen Rücken schon weh tut, dann auf ihrem noch viel mehr.

Sie überlegt wieder ein paar Sekunden lang.

Und entscheidet sich weiterzumachen.

Sie zieht T-Shirt und Hose aus, dann auch den BH, und so, praktisch nackt, legt sie sich bäuchlings auf die Liege, mit bloßem Rücken, dessen Anblick weh tut. Ein Rücken voller Narben. Sie rühren von Verbrennungen her und sind auf der Haut einer Frau mitgewachsen, die vor vielen Jahren, als sie noch klein war, der Hölle einen Besuch abgestattet hat.

 

»Dann wollen wir mal«, hört sie.

Sie erschauert und presst die Augen so fest zu, dass sie in die Vergangenheit zurückkehrt, zu dem Moment, als alles passiert ist.

Es ist lange her, aber sobald sie daran denkt, sind der Schmerz und die Angst wieder da. Sie gehen einfach nicht weg. Im Lauf der Jahre ist ihr klargeworden, dass manche Erinnerungen genauso qualvoll bleiben wie am ersten Tag.

Und so erwacht auf einer wulstigen Haut, die nach Vergangenheit riecht, Stück für Stück ein Drache zum Leben.

Nach mehreren Stunden, in denen ihre Gedanken von der Gegenwart in die Vergangenheit geschweift sind, wie ein Vogel, der genauso viel Angst davor hat, den Boden zu berühren, wie davor, weiterzufliegen, steht die Frau auf, um sich im Spiegel anzusehen.

Da ist er, das erste Stück eines Drachen, ihres Drachen. Der anfängt, wo der Rücken in den Po übergeht, und in ein paar Tagen, wenn er fertig ist, im Nacken enden wird.

Sie seufzt und lächelt. Endlich hat sie sich entschieden.

Was sie noch nicht weiß: Es wird Momente geben, da wird dieser Drache aufwachen, und sie wird ihn nicht immer im Griff haben können.

Was sie noch nicht weiß: Nicht sie lässt sich einen Drachen auf den Rücken tätowieren, sondern der Drache hat einen Körper gefunden, auf dem er leben kann.

***

UNSICHTBAR

Mir ist schon wieder dasselbe passiert.

Ich bin gerade zitternd aufgewacht, das Herz hämmert mir an die Rippen, als wollte es rausspringen, und mit dem Gefühl, dass auf meiner Brust ein Elefant sitzt.

Teilweise fällt mir das Atmen so schwer, dass ich denke: Wenn ich den Mund nicht ganz weit aufmache, kriege ich keine Luft mehr.

Zum Glück weiß ich inzwischen, was ich dann tun muss. Das haben sie mir am ersten Tag erklärt, als ich hier ankam, oder vielmehr am dritten, von den ersten beiden Tagen weiß ich nämlich nichts.

Ich muss von eins bis zehn zählen und dabei langsam ein- und ausatmen. Das soll bewirken, dass sich mein Körper nach und nach beruhigt, das Herz wieder an seinen Platz zurückkehrt und dieser Elefant verschwindet.

Eins, zwei drei … ich atme ein und aus.

Vier, fünf, sechs … ich atme ein und aus.

Sieben, acht, neun und zehn, ich atme ein und aus …

Und dann wieder von vorn.

Es ist auch wichtig, nicht in Panik zu verfallen, sagen sie. Ich soll mir klarmachen, dass ich an einem sicheren Ort bin, ich soll nicht nervös werden … damit es mir nicht so geht wie in der ersten Nacht. Da bin ich beim Aufwachen derartig erschrocken, dass ich geschrien habe.

Und das mache ich jetzt: Ich versuche, nicht panisch zu werden, warte ab, bis sich meine Augen auf das wenige Licht um mich herum eingestellt haben und ich etwas erkennen kann.

Eins, zwei, drei, ich atme ein und aus …

Vier, fünf … ich atme ein und aus …

Sechs, sieben …

Es scheint zu funktionieren, ich zittere nicht mehr, mein Herz schlägt langsamer, und der Elefant auf meiner Brust ist fort.

Ich rühre mich nicht.

***

Jetzt, wo ich ruhiger bin, kann ich mehrere Geräusche unterscheiden: entfernte Schritte, ganz langsam … als würden Leute schlurfen; Stimmen, Geflüster, Worte, die ich nicht verstehe; seltsame Geräusche, als würde jemand schluchzen und sich dabei den Mund zuhalten; mal Stille, mal ein Schrei … und noch tausend andere Geräusche.

Ah, und bei diesen ganzen Geräuschen ist auch eins von mir dabei, ich sage von mir, weil es in meinem Kopf ist. Eine Art lautes Pfeifen, so laut, dass es mir manchmal vorkommt, als würde sich eine Nadel einmal quer durch meine beiden Trommelfelle bohren. Es kommt und geht den ganzen Tag über, am meisten nervt es mich aber nachts, wenn alles ruhig ist.

Eins, zwei, drei … ich atme ein und …

Und höre auf zu zählen. Ich hab’s geschafft, glaube ich.

Ich bin ruhiger. Weiß, wo ich mich befinde. Deswegen traue ich mich, mich zu bewegen, und da kommt der Schmerz.

Ich bewege die Finger, mache langsam die Hände auf und zu, zuerst die linke, dann die rechte, dann beide gleichzeitig. Probiere es mit dem Hals, und das tut weh, sehr weh, aber ich versuche es weiter, drehe den Kopf zentimeterweise nach beiden Seiten.

Ich mache weiter.

Bewege auch die Beine, erst das linke, dann das rechte …

Und als ich das rechte Bein beugen will, merke ich, dass eine Hand auf meinen Oberschenkel drückt.

Wieder Panik.

Zittern.

Der Elefant ist wieder da.

Eins, zwei, drei … ich atme ein und aus.

Vier, fünf, sechs … ich atme ein und aus.

Sieben, acht, neun …

***

Ich strecke das Bein wieder, aber die Hand lässt mich nicht los.

Ich versuche mich zu erinnern, was los ist, warum diese Hand da ist, warum ich dieses laute Pfeifen höre, warum ich in diesem Bett liege, warum ich manchmal das Gefühl habe, unter Wasser zu sein und zu ertrinken …

Ich richte den Blick auf die kleine Uhr an der gegenüberliegenden Wand, so eine mit Leuchtziffern, die man im Dunkeln sehen kann: 2:14, ungefähr dieselbe Zeit wie in den letzten Nächten. Anscheinend kann ich trotz der Tabletten nicht länger als drei oder vier Stunden am Stück schlafen.

Dabei ist es schon viel besser: Beim Aufwachen schreie ich nicht mehr, jaule nicht mehr bei jeder Bewegung vor Schmerzen, und jedes Mal dauert es weniger lang, bis ich weiß, wo ich bin. Ah, und das Wichtigste von allem: Jetzt können mich die Leute sehen.

Ich glaube, seit dem Unfall kann ich nicht mehr unsichtbar sein, vielleicht hat der Aufprall etwas in mir verändert. Oder womöglich sind Superkräfte genauso schnell wieder weg, wie sie gekommen sind. Ich bin seit fünf Tagen hier, und bisher habe ich es noch nicht hinbekommen.

Ich versuche noch ein bisschen zu schlafen, und wenn es bloß eine Stunde ist. Eine Stunde ist besser als nichts.

Ich schließe die Augen.

Zähle von eins bis zehn.

Atme langsam.

Die Hand ist noch da und hält mein Bein fest.

***

Die Hand mit den hundert Armreifen

Im selben Moment, als jemand bisher Unsichtbares wieder einzuschlafen versucht, ist fünf Kilometer entfernt in einem kleinen Zimmer in einem sechsstöckigen Wohnhaus eine Hand voller Armreifen aufgewacht. Zeitgleich mit dem dazugehörigen Körper.

Seit fünf Tagen, genau seit dem Unfall, schläft sie nicht mehr gut. Sie nimmt auch Tabletten, und bei ihr wirken sie auch nicht.

Mitten in der Nacht wacht sie nervös auf, läuft in ihrem Zimmer herum und blickt immer wieder aus dem Fenster in den Himmel, der genauso schwarz ist wie jetzt ihr Gewissen.

Schon seit fünf Tagen sieht sie das Leben verschwommen, wie durch eine Tränenbrille, die sie nicht abnehmen kann. Schon seit fünf Tagen schreibt sie an einem Liebesbrief, der mit Wut beginnt und mit Hass endet. Einem Liebesbrief, der seinen Empfänger vielleicht nie erreicht, der weggeworfen oder in Vergessenheit geraten wird.

Sie blickt aufs Handy, das in letzter Zeit stumm ist. Sie öffnet die Fotos und muss mehrere Monate zurückgehen, bis sie eins von denen findet, die sie interessieren.

Da ist das erste, er lächelt, alle drei am Strand.

Da ist das zweite, er allein, zwinkert ihr von weitem zu.

Da noch ein neueres, von seinem letzten Geburtstag, wie er die Kerzen so heftig auspustet, dass die Torte fast wegfliegt.

Und ein viertes und fünftes und noch eins und noch eins … Während sie immer schneller wischt, kommen die Tränen, die Wut, die Ohnmacht und der Schmerz … denn der kommt irgendwann immer.

Sie wirft das Handy weg in einem sinnlosen Versuch, damit die Vergangenheit auszulöschen, und lässt sich aufs Bett fallen.

Und genau in diesem Moment, unter Schmerzen und im Bett, trifft sie endlich die Entscheidung, die sie schon seit Tagen hinauszögert.

***

Geweckt hat mich wieder dieses ätzende Pfeifen. Als hätte mir jemand eine Pfeife ins Ohr gesteckt und würde reinblasen und nicht mehr aufhören.

Ich halte mir die Ohren ganz fest zu, schließe die Augen und reiße den Mund auf, so weit ich kann … aber das Geräusch in mir drin bleibt.

Ich atme langsam, bis es ganz allmählich nachlässt. Irgendwann ist es weg, aber nur scheinbar, es hat sich bloß versteckt, um mich wieder aufzuwecken, sobald ich schlafe.

Ich öffne die Augen.

Blicke zur gegenüberliegenden Wand: 6:26.

Ich glaube, für heute ist es mit dem Schlafen vorbei.

An alles, was in den Wochen vor dem Unfall passiert ist, kann ich mich genau erinnern, aber an nichts, was seither passiert ist. Ab und zu kommen Sinneseindrücke: das Gefühl zu ertrinken, durch die Luft zu fliegen, dass jemand mir Feuer in den Mund steckt, ein Geräusch, das alles andere übertönt …

Und dann bin ich hier aufgewacht, in diesem Bett, in diesem Zimmer. Ich hätte zwei Tage geschlafen, hieß es.

Aber was vor dem Unfall war … das weiß ich alles noch. Und mir wird klar, wie sich mein Leben in wenigen Monaten verändert hat. Als wäre ich in eine Achterbahn gestiegen, die nie mehr anhält. Aber die Fahrt ist zu Ende. Seit fünf Tagen.

Seit das alles passiert ist, kriege ich dauernd Besuch. Eine ganze Menge Freunde sind vorbeigekommen, die alten und auch andere, von denen ich gar nichts wusste. Auch viele Verwandte, wobei ich manche noch nie im Leben gesehen hatte.

Aber vor allem sind die ganzen Leute gekommen, die mich bisher nicht sehen konnten und die sich jetzt, wo ich in den Nachrichten bin, überzeugen wollten, dass es stimmt, dass ich wieder sichtbar bin.

Ah, und natürlich sind auch viele Journalisten gekommen, sogar welche vom Fernsehen, aber die durften nicht mit mir sprechen. Ich weiß, dass oft über mich berichtet wurde, in der Zeitung, im Radio, im Fernsehen … aber ich konnte nichts davon sehen oder hören, es wurde mir nicht erlaubt.

Seltsam. Ausgerechnet jetzt, wo ich wieder sichtbar bin, fühle ich mich verlorener denn je.

6:46.

Durchs Fenster kommt jetzt Licht, das bedeutet, dass der Betrieb bald losgeht. Ich werde einen weiteren Tag hier liegen. Und die Hand wird auch da sein und mich am Bein oder am Arm festhalten oder mir die Hand drücken, jedenfalls wird sie da sein, darauf kann ich mich verlassen.

***

Das Gesicht mit einer Narbe an der Augenbraue

Es ist auch 6:46 in einer Wohnung im Stadtzentrum. Dort liegt noch jemand im Bett, dem das Schlafen fast so schwerfällt wie das Wachbleiben. Gewissensbisse.

Er steht auf, geht lautlos ins Bad und stellt sich vor den Spiegel. Betrachtet seine rechte Augenbraue, die mit der kleinen Narbe, streicht mit der Fingerspitze darüber und erinnert sich, wie er sie bekommen hat: vor vielen Jahren, in einem Park, zwei Fahrräder, ein Wettrennen.

Während er daran denkt, werden seine Augen feucht, denn schon seit mehreren Monaten ist dieses kleine Mal in seinem Gesicht das Einzige, was sie beide verbindet.

Er geht aus dem Bad wieder ins Bett.

Schon seit fünf Tagen überlegt er, ob er etwas sagen oder schweigen soll wie bisher. War er ein Feigling oder nur ein Überlebender? Er weiß es nicht.

Er hat ihn im Krankenhaus besucht, aber sie haben kaum gesprochen. Die Situation war sehr unangenehm, wie ein Wiedersehen mit jemandem, von dem man nicht weiß, ob man sich verabschiedet hat. Ganz eigenartig.

Nach so vielen Jahren der Freundschaft standen sie voreinander und wussten plötzlich nicht, wie sie sich ansehen sollten. Die Körper waren noch dieselben, aber die Worte fanden sich nicht wieder.

»Hallo«, sagte er gleich beim Reinkommen und versuchte, sich den Schreck nicht anmerken zu lassen: über seinen kahlrasierten Schädel, die Verletzungen im Gesicht und die Sonde in seinem Arm.

»Hallo«, gab der andere zurück.

»Wie geht’s dir?«, fragte er dann noch wie jemand, der sagt, dass der Himmel weit weg ist, dass der Schnee weiß ist oder dass es im Winter kalt ist.

»Ach, schon ein bisschen besser …«

»Hier, ich hab dir was mitgebracht.« Und der Junge mit der Narbe an der Augenbraue gab ihm ein Päckchen.

»Danke«, erwiderte der andere und machte sich ans Auspacken …

Dabei wurde das Schweigen so laut, dass ein paar Minuten lang nur das Rascheln des Geschenkpapiers zu hören war. Ein peinliches Schweigen, so eins, das alle schnell beenden wollen, aber nicht wissen, wie.

»Ich glaube, die hattest du noch nicht?«, sagte der Junge mit der Narbe an der Augenbraue schließlich.

»Nein, die hab ich nicht, vielen Dank«, log der andere ihn an, während er den Inhalt des Päckchens betrachtete.

***

Ich betrachte wieder die Hand, die mich nicht losgelassen hat, seit ich hier bin. Seit fünf Nächten.

Das macht sie, glaube ich, weil sie immer noch Angst hat, dass ich von einer Sekunde auf die andere wieder unsichtbar werden könnte und sie mich dann nicht mehr findet. Wenn sie mich am Bein festhält, weiß sie zumindest, wo ich bin.

Und ich brauche die Hand auch, deshalb kriege ich jede Nacht, wenn ich sie bemerke, zuerst einen Schreck, aber dann begreife ich: Wenn ich wieder verschwinde, weiß wenigstens jemand, wo ich bin.

Ich lege die Hand auf ihre und nehme ihre warme Haut wahr, drücke sie und spüre ihre Herzschläge in ihren Fingern … Und flüstere ihr etwas zu, das ich nie zu ihr sagen würde, wenn sie wach wäre: »Mama, ich hab dich lieb.«

***

Die Mutter

Denn in diesem Raum befindet sich nicht nur ein Junge, der irgendwann plötzlich unsichtbar geworden ist. Da ist auch eine Mutter, die sich seit dem Unfall pausenlos fragt, seit wann sie ihren eigenen Sohn nicht mehr sieht.

Deshalb lässt sie jetzt Nacht für Nacht eine Hand auf seinem Körper liegen, als Anker, durch den sie beide so miteinander verbunden sein können wie vor seiner Geburt. In der Gewissheit, dass man zusammen ist, selbst wenn man sich nicht sieht. Denn das ist oft gar nicht nötig, wenn man gefühlsmäßig in Kontakt ist.

Eine Hand, die ihn lange Zeit nicht hat finden können und jetzt alle Versäumnisse wiedergutmachen will, die zu diesem fatalen Ereignis geführt haben.

Eine Mutter, die im Schutz der Nacht wegen allem weint, was hätte passieren können. Denn manchmal entscheiden Millimeter und Sekundenbruchteile über Leben und Tod, zwischen ist und war, dazwischen, ob man einen Sohn aufweckt, der eingeschlafen ist, oder für immer mit einem leeren Bett spricht. Denn manchmal entscheidet ein kleiner Impuls im Gehirn darüber, wie die Zukunft aussieht.

Eine Mutter, die an dem Tag, als alles passierte, aus dem Haus ging, ohne groß auf ihren Sohn zu achten, ohne zu merken, dass der Körper vor ihr immer mehr zwischen den Möbeln verschwand.

Sie schläft, kommt aber nicht zur Ruhe. Ihre Augen sind zwar geschlossen, aber ihre Wunden – die in ihrem Inneren – klaffen weit offen und warten darauf, dass die Zeit sie zu Narben verschließt.

Trotz ihrer Angst, als ihr Sohn vor ein paar Tagen beim Aufwachen sagte, er hätte Superkräfte, er könne sich unsichtbar machen, er sei mit einem Drachen geflogen … kann sie jetzt lächeln, als sie spürt: Genau dieser Junge hat ihr gerade ein im Schweigen verborgenes Ich hab dich lieb geschenkt.

***

Das Mädchen mit den hundert Armreifen

Ein Mädchen mit zu vielen Armreifen ist aus dem Bett aufgestanden, hat das Handy aufgehoben und sich mit dem Schlafanzugärmel die Tränen abgewischt.

Schlurfend geht sie ins Zimmer ihrer Eltern, um ihnen zu sagen, dass sie bereit ist. Auch wenn sie es in Wirklichkeit gar nicht ist.

Sie geht barfuß durch den kalten Flur, macht langsam die Tür auf und betrachtet zwei Körper, die voneinander abgewandt schlafen. Sie geht zu der Seite des Bettes, wo ihre Mutter liegt, näher an der Tür, und beobachtet, wie sie atmet: wie sich ihr Brustkorb hebt und senkt, das leise Geräusch, mit dem die Luft ihren leicht geöffneten Mund verlässt …

Genau in dem Moment klingelt der Wecker, und sie zuckt zusammen. Kurz wird sie nervös und weiß nicht, was sie tun soll: schnell rauslaufen oder sie aufwecken …

»Schatz, was machst du hier? Ist was passiert?«, fragt ihre Mutter da auch schon und setzt sich ruckartig auf.

»Heute«, antwortet sie.

Schweigen.

»Bist du sicher?« Ihre Mutter zieht die Arme unter der Bettdecke hervor und bedeutet ihr, ins Bett zu kom-men.

»Ja, jetzt bin ich bereit.«

»Dann heute.«

Ihre Mutter rutscht zur Seite und macht Platz, damit sich Mädchen und Armreifen neben sie legen. Sie weiß, dass ihre Tochter noch nicht bereit ist. Im Grunde ist es keine von beiden, trotzdem wird es heute sein.

Heute.

***

Plötzlich hält mich ihre Hand nicht mehr am Bein fest.

Ich sehe sie an und beobachte, wie sie ein Gähnen zu unterdrücken versucht; wie sie die Augen aufmacht, mich anblickt und lächelt.

»Hallo, Schatz!« Sie drückt mir einen Kuss auf die Stirn, der eine gefühlte Ewigkeit dauert. »Wie hast du heute geschlafen?«

»Besser. Ich bin ich ganze Nacht nicht aufgewacht, glaub ich«, schwindele ich.

Diese Lüge bringt sie zum Lächeln, und sie umarmt mich.

»Immerhin, ein Tag weniger.« Schwerfällig steht sie auf.

Es sind schon die Rollwagen zu hören, mit denen das Frühstück gebracht wird, dazu Lachen, auch jemand, der weint, eine Unterhaltung im Nachbarzimmer … Alles geht wieder los. Früh, sehr früh, hier wird nämlich alles früh gemacht. Es wird früh gefrühstückt, früh zu Mittag gegessen, früh zu Abend gegessen … Aber die Nacht ist lang, sehr lang.

Wie jeden Morgen bringt mich meine Mutter ins Bad, und das ist mir echt peinlich. Sie wartet natürlich draußen, und ich bin drinnen, aber die Tür bleibt angelehnt, damit die Sonde, die meinen Arm mit dem Apparat verbindet, nicht reißt.

Wenn es nur ums Pinkeln ginge, wäre es ja noch okay, aber wenn das andere dran ist … Dann geniere ich mich wirklich, dass die Tür halb offen steht. Vor allem, wenn ich Blähungen habe, was fast immer der Fall ist wegen der ganzen Medikamente, die ich nehme.

»Wasch dir das Gesicht ordentlich! Du sollst gut aussehen, heute kommt doch der Besuch!«, ruft sie von draußen.

Der Besuch, stimmt, daran hab ich gar nicht gedacht.

Ein so unangenehmer Besuch, dass meine Mutter nicht mal sagt, wer mich da eigentlich besuchen kommt.

Ein Besuch, den ich nicht brauche, um den ich nicht gebeten habe und den ich gar nicht will.

Der bescheuerte Besuch.

***

Der Junge mit der Narbe an der Augenbraue

»Ich glaube, die hattest du noch nicht?«, sagte der Junge mit der Narbe an der Augenbraue schließlich.

»Nein, die hab ich nicht, vielen Dank«, log sein Freund ihn an, während er den Inhalt des Päckchens betrachtete: sechs oder sieben Comics.

 

Das war auch schon die ganze Unterhaltung zwischen zwei Freunden, die wenige Monate vorher stundenlang miteinander reden konnten.

Danach machte sich ein Schweigen breit, das die Eltern der beiden rasch mit Floskeln füllten: »Er macht schon einen viel besseren Eindruck«, »Ja, ihm geht’s besser«, »Bestimmt bist du bald wieder gesund«, »Du bist nicht so leicht unterzukriegen« …

Es waren geschlagene zehn Minuten zäher Unterhaltung, voller Schweigen, das ewig dauerte, und Augen, die nicht wussten, worauf sie sich richten sollten.

»Also, dann gehen wir mal … Werd ganz schnell wieder gesund«, sagte die Mutter des Jungen mit der Narbe an der Augenbraue. Sie hat es eilig vor lauter Angst, jeden Moment könnte ein Thema aufkommen, über das sie nicht sprechen will.

»Danke, danke, dass ihr gekommen seid«, erwiderte die Mutter des bisher unsichtbaren Jungen.

Niemand fragte, was passiert war, niemand sprach von dem Unfall, als wäre dieser Junge ganz einfach über Nacht vom Bett bei sich zu Hause in dieses Krankenhausbett gesprungen, als hätte sich alles auf die natürlichste Art und Weise zugetragen.

Davon redete niemand.

Die einen Eltern, weil sie etwas geahnt hatten und mehr hätten tun können; die anderen, weil sie nichts taten, um es herauszufinden.

Der eine Junge, weil er lieber nicht sehen wollte, was los war, der andere, weil er weiß: Wer unsichtbar sein will, kann hinterher niemandem vorwerfen, er hätte ihn nicht gesehen.

***

Der Besuch

Nein, ich hatte ihn nicht vergessen. Wie hätte ich diesen Besuch vergessen sollen!

Gestern Abend nach dem Abendessen fingen meine Eltern eines dieser unbequemen, komplizierten Gespräche an … Sie waren nervös, vor allem mein Vater. Er redete als Erster.

»Hör mal«, sagte er, ohne mir in die Augen zu sehen, »morgen kriegst du Besuch von einem Arzt … einem speziellen Arzt.«

»Noch einem?«, erwiderte ich.

»Ja, noch einem, aber diesmal nicht wegen der Verletzungen im Gesicht und auch nicht wegen der Prellung am Kopf oder dem Gedächtnisverlust. Das haben sie anscheinend einigermaßen im Griff.«

»Warum dann?«, fragte ich verwirrt.

»Tja, es ist jemand, der andere Arten von Verletzungen heilt.«

»Was für welche?«

»Die Verletzungen im Kopf drinnen.«

»Ein Psychologe?«, fragte ich.

»Ja, ein Psychologe.«