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In ferner Zukunft: Die Menschheit schreibt das Jahr 932 n. gK. Die Erde ist als solche nicht mehr wiederzuerkennen, da ihre Atmosphäre nach einer weltweiten Katastrophe in einen dichten, giftigen Schleier verwandelt wurde, durch welchen sich die Menschen über die Jahrhunderte in zwei Gruppen spalteten: Jene, die auf der weiten Ebene inmitten des Nebels wandern, und jene, die innerhalb gewaltiger Sphären versuchen, die grauenhaften Zustände ihrer Welt zu vergessen. Wobei ihnen das Schlimmste in Wahrheit noch bevorsteht … Ashley Loza, welche aufgrund einer einzigartigen, gar übernatürlichen Fähigkeit von Anführern beider Völker gesucht wird, sieht sich gezwungen, sich ihren Problemen erstmals direkt entgegenzustellen, als ein erneuter Krieg zwischen Nomaden und Sphären-Menschen zu entfachen droht.
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Seitenzahl: 756
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Angelina Schnitzler wurde 2004 in Köln geboren und lebt zurzeit in dessen näherer Umgebung. Sie schloss im Jahr 2023 erfolgreich ihr Abitur ab und bereitet sich derzeit auf ihr Studium vor.In Ihrer Freizeit spielt sie Schach, erlernt unterschiedliche Sprachen und sammelt für ihre literarischen sowie künstlerischen Werke Inspiration auf Reisen.Sie schreibt seit ihrem vierzehnten Lebensjahr Romane, Kurzgeschichten und Gedichte in verschiedenen Sprachen, arbeitete bereits als Werbetexterin, Redakteurin sowie Lektorin und verfasste als Reporterin mehrere Sportberichte.
Angelina Schnitzler
Unter dem grauen Himmel
Roman
1. Auflage 2023
Text: © Angelina Schnitzler
Umschlaggestaltung: © Angelina Schnitzler
Verlag: Angelina Schnitzler
Kölner Straße 104
50226 Frechen
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die der öffentlichen Übertragung im Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil dieses Werkes darf ohne schriftliche Genehmigung des Urrechtsinhabers in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden .
Vertrieb: epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin
Kapitel 1:
Zu Beginn der Geschichte
Ihr Bein wippte nervös auf und ab, wurde dabei immer schneller. Ashley bemerkte es nicht einmal wirklich. Es war nur einer ihrer vielen nervösen Ticks, die sich jedes Mal bei ihr einstellten, sobald sie mit ihrer … Krankheit konfrontiert wurde. Auch wenn man es nur schwer als solche bezeichnen konnte, wirkte es sich doch ähnlich auf ihr Leben aus. Nur ob diese ›Krankheit‹ – dieser ganz und gar einzigartige Zustand ihrer selbst – eher physischer oder doch psychischer Natur war, ließ sich nicht allzu leicht sagen.
Eine ihr nur zu vertraute Stimme ertönte sanft und gleichzeitig besorgt neben ihr: »Ist wirklich alles in Ordnung bei dir?« Die Frage kam von Tamina, welche auf dem Stuhl zu ihrer Rechten saß und ihr fragend ins Gesicht blickte, die dunkelbraunen, dünnen Augenbrauen dabei zu einem verwunderten Stirnrunzeln hochgezogen hatte.
Ashley, die von ihrer besten und streng gesehen auch einzigen Freundin in diesem Moment kaum Notiz nahm, unterdrückte nun das Wippen ihres Beines. Ihren Blick angespannt auf die farblose Tür gegenüber von ihnen gerichtet, antwortete sie: »Du weißt doch, wie nervös mich solche Dinge machen.«
Tamina neigte den Kopf ein wenig zur Seite, wodurch ihre langen braunen Haare elegant von der einen Schulter auf die andere tanzten. »Weißt du, ich habe gehört, dass die da drinnen sogar einen Lügendetektor benutzen.«
Von wem weiß sie denn das schon wieder?, fragte sich Ashley verblüfft. Sie selbst arbeitete bereits seit Jahren in der Chemiefabrik, und doch kannte sie hier kaum jemanden. Sie wusste, dass es ihrer verschlossenen Natur geschuldet war: Sie unterhielt sich, wenn sie ehrlich mit sich war, alles andere als gerne mit den meisten anderen. Und diejenigen, mit denen sie bereits mehr als einmal bewusst gesprochen hatte, hatten sich kaum genügend in ihr Gedächtnis gebrannt, als dass sie sich an mehr als ihre Namen erinnern konnte. Sollte Tamina die Fabrik jemals verlassen, so würde Ashleys Verbindung zum Rest der Arbeiterschaft mit einem Mal gekappt werden …, falls sie selbst bis dahin überhaupt noch lebte, was unter den momentanen Umständen anzuzweifeln war.
»Wenn sie da drinnen wirklich einen Lügendetektor haben«, meinte Ashley und seufzte, »… dann macht das die Situation doch nur umso schlimmer.«
»Wieso?«, fragte Tamina. Der Ausdruck in ihren dunklen Augen strahlte ehrliche Verwunderung aus. »Es macht die Sache doch eigentlich wesentlich leichter. Dadurch werden die Ermittler sofort wissen, dass wir nichts getan haben.«
Da Ashley ihr nicht die Wahrheit sagen konnte, nickte sie nur knapp. »Das mag sein, aber denk doch mal genau nach: Solche Dinger können sich doch manchmal irren. Und falls so etwas passiert, dann ...«
»Dann was?« Tamina wirkte noch immer irritiert.
»Dann würde das bedeuten, dass die einen umbringen«, antwortete Ashley flüsternd, damit keiner der anderen in der Warteschlange sie hören konnte. »Sieh mich nicht so an. Du weißt genau, dass ich recht habe. Es gehen doch zurzeit massenhaft Gerüchte um, dass jetzt auch in der Delta-Sphäre Nahrungsknappheit herrscht – davon habe ja sogar ich was mitbekommen. Die Sphären-Regierung wartet jetzt nur darauf, dass man irgendeine Straftat begeht, und sei sie noch so unbedeutend. Die Exekutionsrate wird bald schon explodieren.«
Tamina setzte sich augenblicklich aufrecht hin, ihr Körper wurde von Anspannung übernommen. Bei dem Wort ›Exekution‹ wurde sie, so wie jeder andere, stets blitzschnell hellhörig. »Du denkst doch nicht etwa, dass sie jetzt anfangen werden, auch Kleinkriminelle ohne Atemgeräte nach draußen zu schicken?«
Ashley nickte finster. »Doch, genau das glaube ich.«
Tamina schüttelte missbilligend den Kopf. »Du bist nur wieder viel zu paranoid.«
»Vielleicht bin ich das«, gab Ashley zu, da sie nach all den Jahren der Verfolgung tatsächlich einen gefährlich gewaltigen Hang zur Paranoia besaß, »aber du musst trotzdem zugeben, dass es Sinn ergibt. In den meisten Sphären ist kaum noch Platz für die Menschen – sogar in der Alpha-Sphäre wird es allmählich eng –, und dass es eine allgemeine Ressourcenknappheit gibt, ist ohnehin schon seit Langem bekannt. Das Schlimmste von allem ist, dass die Bevölkerungsrate trotz der momentanen Bedingungen weiterhin exponentiell ansteigt. Von daher schafft die Regierung durch die Exekutionen gleich mehrere Probleme auf einmal aus der Welt. Ich sage nicht, dass ich es für richtig halte, aber so ist es momentan nun mal.«
Tamina dachte angestrengt nach, dann erwiderte sie: »Wenn die Regierung verordnet, dass in Zukunft auch an Kleinkriminellen Exekutionen durchgeführt werden, dann wird es bald gar keine Verbrechen mehr geben. Das wirkt sich doch praktisch paradox aus – sie würden damit nicht länger als für einen Monat etwas erreichen.«
Ashley wusste genau, auf welche Statistiken Tamina sich mit ihrer Aussage bezog. Auf gewisse Weise hatte sie recht: Aufgrund der knappen Ressourcen gab es mehr Diebe denn je, jedoch traute sich kaum noch jemand, Mord zu begehen, da allen die Strafe für ein solches Verbrechen bekannt war. Nur gab es da ein großes Problem …
»Sie müssen ja niemandem sagen, was mit all den Kleinkriminellen passiert«, entgegnete Ashley mit leiser Stimme.
Tamina war sprachlos. Sie öffnete den Mund lautlos und schloss ihn wieder, wodurch sie Ashley für einen Moment an einen kleinen Goldfisch erinnerte. Auch wenn die meisten es ihr nicht glauben würden, hatte Ashley in ihrem Leben tatsächlich bereits einen echten Goldfisch gesehen, als sie noch in einem riesigen Aquarium am anderen Ende der Welt gearbeitet hatte. Allerdings lag diese Zeit bereits ganze zwei Jahrzehnte hinter ihr. Es war kurz nach ihrer Flucht gewesen, als sie noch ein völlig anderes Leben mit einem völlig anderen Namen geführt hatte.
»Ich sage dir, dass sie es tun werden«, betonte sie. »Die einzige Frage, die sich stellt, ist, wann sie damit anfangen.« Sie hob den linken Zeigefinger hoch, als Tamina zum Protest ansetzte. »Ich bin’s mir mehrmals im Kopf durchgegangen. Meine Schätzung liegt bei fünf bis sieben Monaten.«
Tamina erwiderte nichts. Ashley kannte sich mit politischen Themen wesentlich besser aus als sie, jedoch war sie sich nicht genau dessen bewusst, warum. Wann auch immer sie Ashley darauf ansprach, erwiderte diese lediglich, dass sie ›Erfahrung in solchen Dingen habe‹.
»Na super, jetzt hast du mich auch nervös gemacht«, meinte Tamina und stützte ihren Kopf auf ihre blassen Hände, welche ihr herzförmiges Gesicht dabei wie ein Bilderrahmen umfassten.
»Tut mir leid«, sagte Ashley ehrlich – das war nicht ihre Absicht gewesen. »… Aber vermutlich hast du auf gewisse Weise auch recht.«
»Inwiefern?«
»Es gibt vermutlich keinen Grund, wegen der Befragung in Panik auszubrechen. Selbst wenn die Resultate des Lügendetektors darauf hinweisen, dass man gelogen hat, würde das als Beweis sicherlich noch nicht ausreichen, um einen aus der Sphäre zu verbannen.«
Tamina setzte zu einer Antwort an, doch sprang die Tür vor ihnen im selben Moment auf.
Aus dem sich dahinter befindenden Raum trat ein recht dünner Mann, dessen abgemagerte Gestalt jedoch nichts weiter Besonderes darstelle, da nahezu jeder, dem Ashley in der Delta-Sphäre bisher begegnet war, zumindest leichtes Untergewicht besaß. Auf seiner Miene trug er einen gelangweilten Ausdruck – ein eindeutiger Gegensatz dazu, wie Ashley sich in diesem Augenblick fühlte. Er war einer derjenigen, an dessen Namen sie sich nicht erinnern konnte, von dem sie jedoch wusste, dass er in derselben Fabrikhalle wie sie arbeitete. »Sie können jetzt rein«, murmelte er im Vorbeigehen in ihre Richtung, woraufhin sie sich steif von ihrem Stuhl erhob.
Sie sah zu Tamina, welche sichtlich versuchte, ihren Blick möglichst ruhig und zuversichtlich zu erwidern, woraufhin sie die Gesichter der zehn Leute, die hinter ihnen in der Schlange standen, suchend überflog, als ob irgendeiner dieser Halbfremden sie vor der anstehenden Befragung retten könnte.
Mit einem inneren Seufzen gab sie sich den nötigen Ruck, sich der offenstehenden Tür zuzuwenden, woraufhin sie den dahinterliegenden Raum betrat, welcher für gewöhnlich nur als eine etwas größere Abstellkammer diente. Nun jedoch waren die Kisten beiseite gestellt und ein Tisch in der Mitte des Zimmers platziert worden, wo er wohl noch bis zum Ende der Woche verweilen würde. An ihm saßen zwei Ermittlerinnen, die scheinbar der lokalen Polizei angehörten. Eine von ihnen starrte genervt auf ihre Armbanduhr, während die andere entspannt an ihrem synthetischen Kaffee nippte – keine der beiden würdigte Ashley auch nur eines einzigen Blickes.
Jene erkannte, als sie über den kalten Boden zur anderen Seite des Tisches schritt, noch einen dritten Ermittler, welcher mit bedrohlichem Blick und verschränkten Armen in der Ecke gegenüber der Tür stand. Momentan war er noch der einzige, der ihr seine Aufmerksamkeit schenkte: So wie er sie anblickte, bekam sie den Anschein, dass er bereits wusste, dass sie schuldig war. Allerdings, so sagte sie sich zur Beruhigung mehrere Male im Geiste, sah er vermutlich jeden der Befragten hier auf diese Weise an.
»Gut, also: Wen haben wir hier?«, fragte die von Ashley aus gesehen links sitzende Ermittlerin und ließ dabei endlich von ihrer Uhr ab.
Ashley schluckte, jedoch so, dass keiner der Ermittler etwas davon mitbekam. »Allison Loza«, antwortete sie knapp. Es war der Name der Frau, der der Pass, mit dem sie mittlerweile herumlief, eigentlich gehörte.
»Na schön, Allison Loza«, meinte die andere Ermittlerin und stand von ihrem Platz auf, woraufhin sie gelassen zu Ashley herüberging.
Ashleys Blick folgte ihr aufmerksam, während die Ermittlerin auf ein kleines, unscheinbares Gerät auf dem Tisch vor ihr zeigte. »Wissen Sie, was das ist?«
Ashley nickte kraftlos, auch wenn sie sich beim Hereintreten fest vorgenommen hatte, sich nicht so schnell geschlagen zu geben. Mit schwacher Stimme antwortete sie: »Ein Lügendetektor.«
Die Ermittlerin nickte bestätigend. »Sehen Sie diese drei kleinen Laschen, die mit dem Gerät verbunden sind? Mit Ihrem Einverständnis würde ich diese an ihrer Hand anbringen und erst danach mit der Befragung fortfahren.«
Ashley wusste genau, wie bedeutungslos der Ausdruck ›Mit Ihrem Einverständnis‹ war. Wer sich gegen den Lügendetektor aussprach, galt automatisch als schuldig – eine solche Aussage zog schlichtweg viel zu viel Aufmerksamkeit auf sich. Da sie demnach genau wusste, dass sie gar keine andere Wahl besaß, antwortete sie: »Ich bin einverstanden.«
Ohne ein weiteres Wort zu sagen, schaltete die noch sitzende Ermittlerin das Gerät ein, während die andere ihr die Schlaufen mit einigen nebensächlichen Bemerkungen um die Finger band. Als sie fertig war, setzte sie sich wieder auf ihren Platz, schaute flüchtig auf das Display des Lügendetektors und tauschte einen vielsagenden Blick mit ihrer Kollegin aus.
»Ms. Loza«, sagte sie, und der vorwurfsvolle Ton, der ihrer Stimme mitschwang, erweckte ein beunruhigendes Gefühl in Ashley, »kann es sein, dass Sie ein wenig nervös sind?«
Ashley schluckte tief. »Nun, unter den momentanen Umständen ...«
»Aber Sie haben doch nichts verbrochen, oder?«, fragte die andere Ermittlerin mit hochgezogener Augenbraue und verschränkte die Arme, wodurch sie dem stillen Mann, der nun aus seiner einsamen Ecke ins schwache Licht der Raummitte trat, ein wenig ähnlich sah.
Der Mann stellte sich zwischen die beiden, stemmte seine Fäuste auf den Tisch und lehnte sich langsam immer weiter nach vorne, während sich sein Blick einschüchternd in Ashleys Augen bohrte.
Ganz ruhig, dachte sich Ashley und rutschte unbehaglich hin und her. Er will dir doch nur Angst machen. Dafür ist er ja offensichtlich hier. Jedoch musste sie sich eingestehen, dass er alles andere als schlecht darin war.
»Wir wissen, dass Sie es waren«, knurrte der Mann und schielte mit einem Auge auf den Lügendetektor, als würde er nur darauf warten, dass Ashleys Herzschlag sie verriet.
Die Ermittlerin mit den verschränkten Armen sah ihn wütend an. »Was soll denn das, Flynn? Ich dachte, wir -«
»Das hat doch keinen Sinn«, unterbrach er mit lauter Stimme. »Dieses Spielchen ist doch wirklich lächerlich, also sagen wir es besser gerade heraus: Es gibt Überwachungsaufnahmen, auf denen Sie dabei zu sehen sind, wie Sie dieses Zeug entwenden, Ms. Loza. Wie hieß es noch gleich?« Er sah zu der Ermittlerin zu seiner Rechten.
»… Eratecytol«, antwortete die Ermittlerin nach kurzer Zeit, wobei die Antwort eher widerwillig aus ihr herauskam. Mit leisen Schritten schlich sich ein Gefühl an Ashley heran. Ein Gefühl, dass hier irgendetwas nicht stimmte.
»Also, Ms. Loza?«, fragte der Mann – Flynn – und wandte sich wieder Ashley zu. »Haben Sie uns irgendetwas zu sagen?«
»Warte mal«, meinte die Ermittlerin mit den verschränkten Armen und suchte mit den Augen eine vor ihr liegende Liste ab. »Heißt es nicht Ematecytol?«
Flynn zuckte mit den Schultern und die andere Ermittlerin erwiderte: »Es ist doch völlig egal, wie es heißt.«
»Ist es eben nicht. Das hatten wir ja gerade eben schon. Wenn wir den Leuten hier keine korrekten Fragen stellen, werden sie uns auch nicht korrekt antworten können. Wartet, hier hab i-«
Ashley schlug mit der freien Hand auf den Tisch, laut genug, um augenblicklich die Aufmerksamkeit der drei Ermittler auf sich zu ziehen. Etwas zu dramatisch, ging es ihr tadelnd durch den Kopf, während sie die Hand langsam wieder vom Tisch zog. Aber gut, wenn es nun mal nicht anders geht …
»Ich kann ja wirklich nicht glauben, was ich hier höre«, sagte sie gleichermaßen wütend sowie empört und erntete als Antwort verwunderte Blicke. »Wie können Sie es eigentlich wagen, mir eine solche Tat zu unterstellen? Und das ohne jegliche Beweise … Denken Sie denn wirklich, dass ich nicht weiß, was hier gespielt wird?« Sie ließ ihnen keine Zeit, die Frage zu beantworten. Es war völlig unnötig, da für die Ermittler nun klar sein sollte, dass sie sie durchschaut hatte. Sie hatte es verstanden.
»Ich weiß genau, dass Sie mich hereinlegen wollen«, sprach sie weiter, den anklagenden Ton in ihrer Stimme fortwährend aufrechterhaltend. »Nur in den drei wichtigsten Räumen dieses Fabrikgeländes gibt es Überwachungskameras, da man solche Nebenkosten so gering wie möglich halten will. Und eins kann ich Ihnen mit genauer Gewissheit sagen: die Labore, in denen das Eratecytol hergestellt und aufbewahrt wird, gehören ganz bestimmt nicht dazu.«
Die Ermittler schwiegen. Ashley fuhr ihre Klage fort, als befänden sie sich in einem Gerichtssaal. Sie wusste, dass sie diesen knappen Moment der Kontrolle für sich nutzen musste. Aufgefallen war sie nun ohnehin schon, jedoch ließ sich der Spieß vielleicht noch umdrehen. »Sie berauben mich hier meiner Rechte als Mensch. Entweder, ich erhalte von nun an eine faire Befragung, oder ich melde Sie bei Ihren Vorgesetzten.« Ihr Blick wanderte wild umher, sprang synchron zu ihren Worten von Ermittlerin zu Ermittler, von Ermittler zu Ermittlerin. Zum Schluss jedoch hielt sie ihn auf Flynn fixiert, dessen Rolle sie nun zu verstehen glaubte. Das war noch nicht alles.
Die Ermittlerin mit den verschränkten Armen schüttelte missbilligend den Kopf und sah nun ebenfalls zu Flynn, ihr Blick ähnlich dem seinen zu Beginn des Gesprächs. Ashley fragte sich, ob die beiden verwandt waren.
»Eleanor«, flüsterte Flynn mit sanfter Stimme.
»Du musst den Raum verlassen«, sagte sie. Als sie seinen überraschten Blick bemerkte, fügte sie hinzu: »Es stimmt doch: Diese Nummer hättest du nicht abziehen dürfen. Wir rufen dich für die Nächste wieder rein.«
»Als hättet ihr zwei nicht mitgemacht«, murmelte Flynn gereizt und verließ den Raum ohne weiteren Protest durch eine andere Tür, als jene, durch die Ashley eingetreten war.
Die Leichtigkeit, mit der sich diese Szene vor ihr abspielte, provozierte Argwohn in Ashley. Die Aufforderung der Ermittlerin kam zu plötzlich, die Reaktion des Ermittlers war zu gering. Irgendetwas stimmte immer noch nicht – Ashley hatte etwas Wichtiges übersehen. Sie hatte sie wohl doch nicht so schnell durchschaut, wie sie es zu Beginn noch geglaubt hatte. Der erste Trick war, mich zu einem Geständnis zu verlocken. Aber das war viel zu offensichtlich. Verdammt, das hätte mir früher auffallen sollen! Das hier ist irgend so eine guter-Cop-böser-Cop-Nummer, mit der die mich einlullen wollen. Es ging nie wirklich darum, etwas mit ihren falschen Anschuldigungen aus mir herauszukitzeln. Es war einfach nur darum gegangen, ihr Vertrauen kippen zu lassen. Es sollte im Raum hin und her wandern, bis es schließlich jemanden gefunden hatte, den es als Antagonisten identifizieren konnte … und sie war geradewegs darauf hereingefallen.
Nicht schlecht, dachte sie sich, aber jetzt weiß ich wenigstens, wie vorsichtig ich bei diesen Leuten sein muss.
»Ist es so für Sie angenehmer?«, fragte die Ermittlerin, die Flynn Eleanor genannt hatte.
Ashley nickte. »Ja, danke sehr.« Es war wichtig, ihre Rolle nun aufrecht zu erhalten. Sie musste es den beiden Ermittlerinnen vor ihr nachmachen, musste dieses kleine theatralische Stück, das sie einander vorführten, am Laufen halten – solange, wie es eben nötig war. Solange, bis der Vorhang fiel.
»Wir entschuldigen uns dafür«, sagte die andere Ermittlerin. »Vielleicht wäre es besser, wenn wir uns erst mal vorstellen. Ich bin Nala Jensen, das hier ist meine Kollegin Eleanor Barragan. Wie Sie bereits mitbekommen haben, geht es um die Entwendung einiger Eratecytol-Kapseln aus einem der Laboratorien dieses Fabrikgeländes. Seien Sie aber bitte nicht nervös – wir befragen natürlich jeden Angestellten.«
Ja, aber die Nummer, die ihr hier gerade abgezogen habt, bekommt bestimmt nicht jeder Befragter zu sehen. Ashley konnte auch in diesem Moment nichts gegen ihre Nervosität unternehmen, auch wenn sie überraschenderweise bereits wesentlich entspannter war als zu Beginn der Befragung. Auch wenn sie das Schauspiel der Ermittler erst zu spät erkannt hatte, war es doch wenigstens eine nette Ablenkung von dem eigentlichen Grund dieser Befragung gewesen.
»Sie sagten uns ja bereits Ihren Namen, Ms. Loza«, sprach Nala Jensen weiter. »Wir wollen erst mal ein paar weitere Grundinformationen von Ihnen, bevor wir Sie genauer ausfragen. Also: Wie alt sind Sie?«
»Siebenundzwanzig«, antwortete Ashley.
Die beiden Ermittlerinnen blickten für einen kurzen Moment auf das Gerät, woraufhin Jensen mit einem leicht amüsierten Grinsen sagte: »Sie müssen uns wegen Ihres Alters doch nicht anlügen, Ms. Loza.«
»Das tue ich nicht«, behauptete Ashley und kramte ihren, nein: Allisons,Ausweis hervor. »Da, sehen Sie.« Sie reichte ihnen die kleine quadratische Karte aus Plastik, über deren Oberfläche ein von blau schimmerndem Licht umrahmtes Hologramm flimmerte, auf dem ihre wichtigsten Eckdaten zu lesen waren.
»Nun, die Papiere lügen nie«, murmelte Eleanor Barragan und schob ihr den Ausweis, in den selbstverständlich keinerlei echtes Papier eingearbeitet worden war, über den Tisch zurück.
»Wenn Sie erst siebenundzwanzig sind«, sagte Jensen, »dann arbeiten Sie doch bestimmt noch nicht allzu lange hier, oder?«
Ashley nickte zustimmend. »Ja, ich bin erst seit zweieinhalb Jahren hier.«
»Und was haben Sie vorher gemacht?«, fragte Jensen.
»Ich habe in einem Blumengeschäft gearbeitet«, antwortete Ashley wahrheitsgemäß.
Jensen und Barragan machten große Augen.
»In einem Blumengeschäft?«, fragte Barragan ungläubig. »Einem richtigen Blumengeschäft?«
Ashley gab ein zögerliches Nicken von sich.
»Höchst beeindruckend«, murmelte Barragan und schrieb sich irgendetwas auf, das Ashley von ihrem Platz aus nicht recht entziffern konnte. »Also haben Sie erst als Floristin gearbeitet und jetzt auch noch als Laborantin in einer Chemiefabrik.«
»Nun, ganz so würde ich es nicht ausdrücken«, meinte Ashley. »Ich war wohl eher eine Verkäuferin und bin jetzt nicht mehr als eine einfache Fabrikarbeiterin. Zwar habe ich eine kurze botanische Ausbildung erhalten, bevor man mich im Laden hat arbeiten lassen, jedoch habe ich mich in den drei Jahren, die ich dort gearbeitet habe, kaum selbst um die Pflanzen kümmern dürfen.«
»Aber ab und zu haben Sie es schon getan, oder?«, fragte Jensen neugierig. »Wie war das so? Mit so vielen Pflanzen in einem Raum zu sein, meine ich.«
»Nun ...«, meinte Ashley, unsicher, was sie sagen sollte.
»Die Luft war doch sicher ganz anders als sonst wo in den Sphären, oder?«, fragte Barragan, von dem Interesse ihrer Kollegin angesteckt.
Auf Ashleys Lippen machte sich ein leises Lächeln breit. Sie konnte nichts dagegen tun: wenn sie an die damalige Zeit zurückdachte, fühlte sie sich wie ein ganz anderer Mensch. »Ja, die Luft dort war wirklich anders. Nicht so trocken, und auch viel frischer. Einfach, na ja, irgendwie … lebendiger.«
Die durch und durch positive Wirkung, die ihre Worte auf die beiden Ermittlerinnen hatte, ließ sich nicht leugnen. Wann auch immer sie jemandem davon erzählte, dass sie für eine gewisse Zeit mit richtigen, echten Pflanzen zu tun gehabt hatte, reagierten die Leute mit ungezügelter Neugier. Das Grüne hatte eine nahezu magische Anziehungskraft auf sie, genauso wie alles andere, was heutzutage so unsagbar selten war.
Jensen räusperte sich und schüttelte den Kopf, wie als wollte sie sich selbst aus einem tiefen Schlaf wecken. »Nun gut, jetzt aber weiter mit den wichtigen Fragen. Auf Ihrem Ausweis steht, dass Sie hier in der Delta-Sphäre geboren und aufgewachsen sind. Ist das korrekt?«
»Ja«, antwortete Ashley. Erneut wanderten die Blicke der Ermittlerinnen auf die Anzeige des Lügendetektors. Ashley war sich genau dessen bewusst, dass er bei nahezu jeder ihrer Antworten gewaltig ausschlagen musste. Die Finger von ihrer freien Hand trommelten unter dem Tisch unruhig gegen ihr Bein.
»Und in welchem Distrikt wohnen Sie, Ms. Loza?«, fragte Jensen weiter.
»In keinem«, antwortete Ashley wahrheitsgemäß. »Ich lebe außerhalb der Sphäre.«
Erneut huschte eine unbestreitbare Verblüffung über die Gesichter der Ermittlerinnen.
»Das heißt dann«, sagte Barragan, während sie versuchte, die recht groben Züge ihres Gesichts wieder zu beruhigen, »dass Sie in einem der verkapselten Häuser leben, richtig?«
»Es ist wohl eher eine Hütte, denn als ein richtiges Haus«, meinte Ashley, »aber: ja, das tue ich.« Sie blickte auf den kastenförmigen, grauen Detektor vor ihr. »Es erinnert vom Aussehen her eigentlich sogar ein bisschen an die Blechkiste hier.«
»Interessant«, murmelte Barragan und schrieb sich erneut etwas auf.
Jensen sagte: »Das reicht uns wohl fürs Erste mit den Grundinfos. Lassen Sie uns also etwas ins Detail gehen, ja? Wie sieht denn zum Beispiel ein völlig gewöhnlicher Tag bei Ihnen aus? Erzählen Sie es uns am besten so genau wie möglich. Womit beginnt Ihr Morgen?«
Ashley riss ihre Augen mit einer Intensität auf, als hinge ihr Leben davon ab. Vielleicht tat es das sogar. Vielleicht war heute der Tag gekommen, vor dem sie sich bereits seit so langer Zeit gefürchtet hatte.
Schwungvoll stand sie aus ihrem Bett auf, warf ihre Decke achtlos zu Boden und sprintete ans andere Ende des Raumes, um für einen ihres Erachtens nach viel zu lang andauernden, verhängnisvollen Augenblick auf den Monitor zu starren, der ihr den Zustand der unterirdischen Räumlichkeiten zeigte.
Es war nichts passiert, alles sah genauso aus wie immer.
Mit zitterndem Körper und klopfendem Herzen wandte sie sich von dem Monitor ab und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. Nur ein weiterer Albtraum, sagte sie sich. Es ist nichts passiert, alles ist gut. Nur ein weiterer Albtraum … gottverdammt nochmal!
»John Parker«, flüsterte sie ins Nichts, »wenn du so weitermachst, dann bekomme ich noch einen Herzanfall.«
Auch wenn die wahre Gefahr eigentlich nur tagsüber bestand, so jagte sie sie trotzdem stets in der Nacht. Es folgte ihr in ihre Träume, änderte sie, manipulierte jeden ihrer Gedanken, bis sie zu Albträumen wurden. Manifestierungen ihrer tiefsten Ängste: und das nahezu jedes Mal, wenn die grauen Wolken über ihr das tiefe Schwarz der Nacht annahmen. Woher kam das alles? Was war es, und was wollte es von ihr? War es vielleicht ihr Gewissen, oder sogar doch John Parker, der sich Nacht für Nacht in ihren Verstand schlich?
Ashley seufzte. Es war ein tiefes, gebrochenes Seufzen – eines von der Art, auf die gar nichts anderes als Stille folgen konnte. Einfaches Schweigen. Es gab keine Worte für das, was sie sagen wollte, und niemanden, der da war, um sie zu hören. Kein einziger Laut um sie herum, keine Bewegung in diesem kargen, einsamen Zimmer. Für einen kurzen Moment schien sogar die Zeit selbst stehenzubleiben, doch blieb immer noch das Pochen ihres Herzens. Das Ticken eines Sekundenzeigers nachahmend, erinnerte es sie daran, dass es doch noch voranging. Dass sich die Welt noch immer weiterdrehte.
»Mein Tag?«, fragte Ashley und dachte für einen Augenblick nach. »Nun, ich schätze, er beginnt so wie bei jedem anderen auch. Ich stehe morgens auf. So um, ähm, sieben Uhr ... klingelt mein Wecker. Und dann mache ich mich fertig für die Arbeit – gibt nichts Besonderes, was man da erzählen könnte.«
»Soso«, murmelte Barragan. »Und danach?«
Die mögen es wohl, mich leiden zu sehen, dachte sich Ashley, versuchte jedoch trotzdem, weiterhin so ruhig wie möglich zu erscheinen. Der Lügendetektor hat mittlerweile bestimmt eh schon tausendmal ausgeschlagen, aber vielleicht habe ich ja Glück und die denken, dass das Teil kaputt ist. »Muss ich Ihnen das wirklich alles so genau erzählen? Es passiert wirklich nichts Besonderes und -«
»Erzählen Sie es uns einfach«, unterbrach Jensen. »Wir befragen hier jeden zu seinem Tagesablauf. Es hilft uns, einen besseren Überblick zu bekommen.«
»Natürlich«, stimmte Ashley zu und war sich sicher, dass der Detektor bei den beiden Detektivinnen, wenn diese denn ebenfalls mit ihm verbunden wären, sicherlich noch öfter ausschlagen würde als bei ihr selbst.
Sie blickte an die Decke, daraufhin auf den Boden, als Nächstes zu beiden Seiten, und ein letztes Mal auf den Monitor, nur, um sich auch wirklich sicher sein zu können, dass alles in Ordnung war. Dann verließ sie den Raum.
Während sie durch den einzigen oberirdischen Flur ihrer scheinbar kleinen Behausung lief, schweifte ihr Blick an dessen kahlen Wänden entlang, bis er schließlich an der einzigen Uhr im Haus hängen blieb. Ich sollte mich langsam fertig machen, und für die Pillen ist es auch schon höchste Zeit.
Ihre linke Hand bewegte sich langsam auf ihre Hosentasche zu und kramte darin eine Weile suchend herum, jedoch ohne fündig zu werden. Ashley überprüfte die andere Hosentasche mit demselben Resultat. Was zur ...? Sie hatte die Pillenimmer, immer bei sich. Das kann doch nicht wahr sein, das kann es nicht! Ich muss immer noch in einem Albtraum gefangen sein – das ist die einzige Erklärung.
Erneut stieg Panik in ihr auf. Eine gewaltige Welle von Furcht kam ihr entgegen, drohte, sie mit sich zu reißen. Ohne die Pillen konnte sie nicht leben. Ohne sie würde das alles schnell schon sein Ende finden – ein grausames, schmerzhaftes Ende, bei dem wesentlich mehr Leute als nur sie selbst zu Schaden kommen würden.
Komm schon, reiß dich zusammen, sagte sie zu sich und suchte in der Ferne nach einem Rettungsring, der sie davor bewahren konnte, in ihren eigenen Ängsten zu ertrinken.
… Der Mantel!
Warum war sie nicht früher darauf gekommen? Als sie gestern Abend nach Hause gekommen war, musste sie die Pillen noch in ihrem Mantel gehabt haben – und aus irgendeinem Grund hatte sie vergessen, sie herauszuholen.
Sonst passierte ihr so etwas eher selten, auch wenn ihr Gedächtnis nicht das Allerbeste war. Oft hatte sie Probleme damit, all ihre Erinnerungen richtig einzuordnen. Es waren zu viele, viel zu viele, als dass sie sich jemals einen perfekten Überblick über ihre Vergangenheit beschaffen konnte. Sie versuchte deswegen, sich selbst mit einer strikten Routine durch den Tag zu bringen. Und trotzdem traten ab und an Fehler wie dieser auf. Als wäre es gar nicht sie selbst, die all diese Tätigkeiten ausführte …
Ashley schüttelte den Kopf, um diesen Gedanken so schnell wie möglich wieder loszuwerden. Hol einfach die Pillen, das ist jetzt erst einmal das Wichtigste.
Sie rannte in den Eingangsbereich der Hütte: ein quadratischer Raum ohne jegliches Dekor, bis auf einen einzigen Kleiderhaken gegenüber der Luftschleuse, an dem – wie an jedem anderem Tag – ihr pinkfarbener Mantel hing.
Sie streckte ihre Hand aus, griff in die Tasche des Mantels und fühlte eine schmale, runde Kapsel. Ohne Zweifel handelte es sich dabei um das aus Kunststoff bestehende Gefäß, in dem sich die Pillen befanden.
Da sie sich ziemlich sicher war, dass sie gestern Abend keine genommen hatte, schluckte sie nun gleich zwei der blau-violetten Kapseln herunter. Es war ihr allemal lieber, eine zu verschwenden, als eine zu wenig zu nehmen. Neue Pillen musste sie sich ohnehin alle fünf Wochen beschaffen, beziehungsweise musste sie sich die wichtigste Substanz – das Eratecytol – alle fünf Wochen beschaffen. Die Pillen stellte sie selbst im Keller her, dem verborgenen, finsteren Schacht, in dem sie all ihre Geheimnisse vor der Welt versteckte.
»Nehmen Sie irgendwelche Medikamente?«, fragte Jensen.
Ashley stutzte. »Was?« Was hatte das denn damit zu tun, was sie gerade eben erzählt hatte?
»Ob Sie irgendwelche Medikamente nehmen.«
Ashley versuchte, der Frage auszuweichen. »Ich verstehe nicht so ganz, was das -«
»Es ist eine reine Routinefrage«, unterbrach Barragan. »Also: Nehmen Sie irgendwelche Medikamente?«
Ashley zuckte möglichst gelassen mit den Schultern. »Nun, nicht, dass ich wüsste.«
Nachdem sie die Pillen geschluckt hatte, spürte sie, wie sich die Spannung aus ihrem Körper allmählich verflüchtigte. Auch die Kopfschmerzen, die sich ihr bis zu diesem Zeitpunkt aufgedrängt hatten, schienen sich nun zurückzuziehen.
Ashley massierte sich die Schläfen, während sie sich wieder in ihr Schlafzimmer begab, um sich für den Tag in der Fabrik fertig zu machen. Daraufhin kehrte sie in den Eingangsbereich zurück, zog sich den Mantel über, überprüfte, ob sie die Pillen wieder in die Tasche zurückgesteckt hatte und gab zuletzt den sechsstelligen Code ein, der die innere Tür der Luftschleuse öffnete.
Die Schleuse bestand aus durchsichtigem Kunststoff, welcher mit einem kaum zu erkennendem Skelett aus Stahl verstärkt war, um den Stürmen standhalten zu können, die einen an manchen Tagen dieser Jahreszeit hier draußen überraschen konnten.
Im Inneren der Schleuse befand sich ein weiteres Bedienfeld, mit dem man die beiden Türen öffnen und schließen konnte. Bevor Ashley sich zu diesem begab, öffnete sie einen kleinen, quadratischen Kasten an der Schwelle der Schleuse, aus dem sie eine Atemmaske sowie einen schwarzen Gurt holte.
Sie stülpte sich die Atemmaske über, verdeckte damit sorgfältig Mund und Nase, verband sich daraufhin mit den beiden an der Seite der Maske hängenden Tuchstreifen das Gesicht und setzte sich zum Schluss die mit einem straffen Band an der Maske befestigte Brille auf, ohne die sie außerhalb der Luftschleuse nicht weiter sehen konnte als ein paar Meter.
Nach diesem recht komplexen Prozedere – was leider jedoch völlig unumstößlich war, wenn man so wie sie außerhalb einer der Sphären lebte – begab sie sich auf das Bedienfeld in der Mitte der Schleuse zu und gab erneut den Sicherheitscode ein, wodurch sich langsam und mit einem lauten Zischen die innere Tür schloss.
Dann kam der zweite Code, siebenstellig. Ein rotes Licht blinkte am Bedienfeld auf, woraufhin ein surrendes Rauschen ertönte. Es war die Luft, die nun aus der Schleuse in eine der beiden Tanks außerhalb ihrer Hütte gesogen wurde, in welchen sie den Tag über gefiltert wurde, um am Abend, wenn Ashley zurückkehrte, wieder in die Schleuse gelassen zu werden.
Eine kleine Grafik erschien in der oberen linken Ecke des minimalistischen Monitors, welcher nicht mehr als die Hälfte des Bedienfeldes einnahm. Die Grafik zeigte eine vereinfachte Version des Tanks, der sich zur linken der Luftschleuse befand. Er war nun vollständig aufgefüllt, weshalb die Farbe des Lichts von Rot auf Grün wechselte.
Ashley öffnete die zweite Tür, welche sich automatisch wieder schloss, nachdem sie die Schleuse verlassen hatte.
Auch Jensen machte sich nun einige Notizen, jedoch konnte Ashley auch diese von ihrem Platz aus nicht lesen. Jensen fragte: »Und wie ist es dort so? Dort draußen, meine ich?«
Ashleys Augenbrauen hoben sich überrascht. »Sind Sie denn noch nie außerhalb der Sphäre gewesen?« Bei den meisten Leuten verwunderte sie das nicht allzu sehr, jedoch hatte sie immer gedacht, dass die Leute von der Polizei ständig außerhalb der Sphären zu arbeiten hätten.
Allerdings gibt es da ja auch einige Spezialisten, ging es ihr durch den Kopf, die extra dafür ausgebildet werden. Die zwei hier scheinen ja nur ganz gewöhnliche Ermittlerinnen zu sein.
»Ich bin es einmal gewesen«, meinte Barragan. »Ist schon ein Weilchen her, aber ich erinnere mich noch ganz genau daran. Diese verschmutzte Luft – es ist wie ein dichter Nebel, finden Sie nicht auch? Man fühlt sich fast so, als wäre man blind.«
Ashley nickte. Sie hat keinen Grund, mir diese Information zu geben. Ist das einfacher Smalltalk, um mich in falscher Sicherheit zu wiegen? Oder verbirgt sich doch eine tiefere Bedeutung hinter ihren Worten? Da sie sich nicht genau entscheiden konnte, versuchte sie ihre Antwort möglichst neutral zu halten. »Ja, ich weiß, was Sie meinen. Ich muss mir jeden Morgen eine spezielle Maske anziehen, wenn ich das Haus verlassen will. Mit der dazugehörigen Brille habe ich jedoch eine Sichtweite von ungefähr dreißig Metern.«
»Aber es muss doch trotzdem wirklich furchtbar nervig sein, oder nicht?«, fragte Barragan und lehnte sich leicht nach vorne, den Blick dabei starr auf sie fixiert. »Und dann ist da noch diese Hitze, nicht wahr? Dort draußen ist es unerträglich heiß.«
»Mein Anzug besitzt Kryo-Sensoren«, antwortete Ashley lediglich.
»Natürlich tut er das«, erwiderte Barragan mit einem leichten Nicken, dessen Verständnis mindestens genauso künstlich war wie der Kaffee, der nun halb ausgetrunken auf dem Tisch stand. »Aber es ist doch wirklich unsagbar viel Arbeit, die man sich macht, nur, um dort draußen leben zu können … Das treibt einen mit der Zeit doch sicherlich in den Wahnsinn, oder nicht?«
»Ich -«
»Besonders, wenn man dort draußen ganz alleine lebt – so völlig abgeschieden«, fuhr sie fort.
»Leben Sie alleine?«, hakte Jensen nach, bevor Ashley etwas erwidern konnte.
»Ich ...«
»Ja?«, fragten beide gleichzeitig.
»Ja.« Ashley räusperte sich unbehaglich.
»Schon merkwürdig«, murmelte Barragan. »Ich meine, all das auf sich zunehmen. Wofür schon? Was hat man davon, dort draußen zu leben?«
»Seine Ruhe«, antwortete Ashley. »Man hat seine Ruhe, Detective Barragan.«
Ich drehe noch durch, dachte sich Ashley, als sie die Schleuse verließ und ihre ersten Schritte des Tages über die vertrocknete, weite Ebene machte, deren gräulicher Staub sich scheinbar endlos in alle Richtungen erstreckte.
Aber ich darf nicht durchdrehen. Ich muss mich irgendwie wieder zusammenreißen, für die anderen. Sie dachte darüber nach, einen Psychiater zu besuchen, während sie zu ihrem Speed-Bike ging. Psychiater und Therapeuten gab es in der Sphäre zuhauf, jedoch entschied sie sich nach einer Aneinanderreihung von Pro- und Kontra-Argumenten dagegen, da es letzten Endes keinen Psychiater auf der ganzen Welt gab, der ihr Problem wirklich verstehen, geschweige denn ihr helfen, konnte. Würde sie irgendwem die Wahrheit verraten, dann würde man sie ohnehin nur als Wahnsinnige abstempeln. Oder schlimmer: die AEA würde davon Wind bekommen.
Sie kam an ihrem Speed-Bike an, welches sie ohne die Brille ihrer Maske von der Schleuse aus niemals hätte erspähen können. Während sie sich auf das unechte Leder auf der Oberseite des Bikes schwang und jenes mithilfe einer kleinen blauen Chipkarte, die sich in der vordersten Tasche ihres Anzuges befand, einschaltete, spürte sie, dass auch die Funktionen des Anzuges nun voll und ganz in Gang gekommen waren.
Mit der Brille konnte sie recht klar durch die verschmutzte Luft auf der Ebene sehen, welche eher an einen dichten Nebel erinnerte. Der in der Maske angebrachte Luftfilter ermöglichte es ihr, hier draußen für mindestens zwei Stunden problemlos zu atmen. Und die Sensoren, die sich in ihrem Anzug sowie in den Stofftüchern der Maske befanden, kühlten sie ab, solange die Temperatur um sie herum nicht mehr als sechzig Grad betrug.
Ohne den Anzug konnte sie hier draußen nicht länger als ein paar Minuten überleben; das Maximum betrug, falls sie sich da richtig entsann, zehn Minuten für den Durchschnittsmenschen. Einmal – es musste ungefähr zwanzig Jahre her sein – hatte es ein Mann aus der Alpha-Sphäre geschafft, ganze zwanzig Minuten ohne seine Atemmaske auf der Ebene zu überleben. Jedoch hatte er, falls Ashley nicht alles täuschte, daraufhin nur noch ein halbes Jahr gelebt, da die Schäden, die seine Lunge davongetragen hatte, zu gravierend gewesen waren.
Außerhalb der Sphären war das Überleben also praktisch unmöglich – solange man nicht sein eigenes Haus mit Luftschleuse besaß, so wie Ashley. Allerdings sagte man sich, dass es dort draußen auch einige Dörfer gab, deren Filter so heruntergekommen waren, dass sich die Bewohner mit der Zeit zumindest teilweise an die Luft gewöhnt hatten – nicht genug, um ohne jeglichen Schutz außerhalb ihrer Eigen-Sphären leben zu können, jedoch hielten sie es angeblich wesentlich länger aus als die Menschen, die in den größeren Sphären lebten.
Ashley fuhr los. Das Geräusch, das das Bike von sich gab, als es rasend und mit nur minimalem Abstand zum Boden über die Ebene hinweg schwebte, war absichtlich etwas zu laut, damit andere Fahrer (als ob es davon hier draußen wirklich welche geben würde) sie hören konnten, bevor sie einander zu nahe kamen.
Zwar lebte noch eine ganze Handvoll anderer Leute außerhalb der Delta-Sphäre, jedoch waren es bei weitem nicht genug, als dass sie sich hier draußen jemals durch Zufall begegnen würden. Zumindest war es Ashley in all den Jahren, die sie schon auf der Ebene lebte, noch nicht ein einziges Mal passiert.
Während das Bike sanft über die Ebene glitt, dachte Ashley über ihre Pillen nach. In der Box sind nur noch einundzwanzig Stück – damit halte ich gerade mal eine weitere Woche durch. Es wurde wieder Zeit, Nachschub zu beschaffen.
Ihr Problem war, dass es jedes Mal gefährlicher wurde, etwas von dem Eratecytol zu stehlen. Die Kontrollen wurden zurzeit immer strenger, da in der Delta-Sphäre immer größere Rohstoff-Knappheit vorlag. Und falls jemand herausfinden sollte, dass sie sich nicht nur einmal, sondern über den Verlauf von mehreren Jahren, nachts in die Halle geschlichen hatte, um drei bis vier Fläschchen voll mit Eratecytol zu entwenden, dann … Ashley wollte am liebsten gar nicht erst darüber nachdenken. Wie so oft schüttelte sie ihren Kopf, um die Gedanken loswerden zu können, und konzentrierte sich auf den Weg vor ihr, der durch Leuchtsäulen, die in zehn Meter Abständen im Boden verankert waren, gekennzeichnet wurde.
Es wird schon nichts passieren. Bisher hat ja auch alles geklappt, also, irgendwie … Was soll jetzt schon groß anders sein?
»Haben Sie sonst noch Fragen an mich?« Ashley konnte dem Druck nicht länger standhalten. Sie dachte an ihren panischen Anfall von heute Morgen – vielleicht hatte sie ja unterbewusst schon gespürt, dass das hier heute passieren würde.
»Ja, das haben wir. Bleiben Sie bitte noch sitzen«, antwortete Barragan erbarmungslos. Jensen machte sich ein paar weitere Notizen.
Verdammt nochmal, dachte sich Ashley erschöpft und rückte mit dem Stuhl wieder näher an den Tisch heran, da sie bereits dabei gewesen war, aufzustehen.
Als sie die Fabrik betrat, wusste sie sofort, dass irgendetwas nicht stimmte. Es war wesentlich ruhiger als sonst – und vor allem leerer. Wo waren alle geblieben? Sie war genau um dieselbe Zeit von ihrem Haus losgefahren wie an jedem anderen Tag, also konnte es doch kaum sein, dass sie so viel früher – oder später? – als üblich hier angekommen war.
Sie durchquerte die große Halle, in der die Fließbänder, an welchen für gewöhnlich auf Hochtouren gearbeitet wurde, heute still standen. Entspannt und ohne jegliche Bewegung reihten sie sich vor ihr auf, als würden dadurch für diesen Tag nicht zehntausende von B-rs verloren gehen. Zweieinhalb Tonnen Salzsäure, drei Tonnen Natronlauge, eineinhalb Tonnen Natriumcarbonat, Silicium und Aluminiumhydroxid: beides zusammen fast eine Tonne, plus sämtliche organischen Grundchemikalien: Alles verloren.
Was ist hier nur los? Und warum musste dafür gleich die gesamte Produktion aufgehalten werden?
Ashley erreichte das Ende der Halle. Sie bog in einen der Dutzend kleinen Flure ab, die sich hinter der Halle wie ein Spinnennetz durch den Rest des Gebäudes zogen.
Selbst die Flure waren verlassen, vollkommen vereinsamt. Der Boden schien noch kälter und härter als sonst, die Wände gräulicher. Ashleys Blick wanderte nervös umher. Als sie nach unten sah, konnte sie ihr eigenes Spiegelbild in den schwarz-grauen Fliesen erkennen – verzerrt, als wäre sie nicht mehr ganz sie selbst.
Aber das ist ja nichts Neues …
Sie hielt an.
Fast war sie an den Umkleidekabinen angekommen, doch war da etwas am anderen Ende des Flures. Eine Gestalt, die auf sie zukam.
Ashley kniff die Augen zusammen. Licht war in den Fluren eine Rarität. Es gab hier keinerlei Fenster, und da der Strom an allen Ecken gespart werden musste, leuchteten in diesen langen Gängen nur eine Handvoll schwacher Lampen.
Gepackt von der finsteren Atmosphäre, spürte Ashley, wie ihr Herz erneut anfing zu rasen. Das sind sie, das sind sie! Sie haben mich erwischt, wissen, dass ich es bin. Sie wissen alles, vielleicht haben sie das Haus längst durchsucht, und jetzt -
»Ash!«, rief die Gestalt mit einer hellen, unerwartet fröhlichen Stimme.
Es war Tamina.
Ashley atmete tief aus, spürte, wie die Anspannung bereits zum dritten Mal an diesem Morgen ihren Körper verließ. Mein Gott! Ich muss wirklich mal lernen, die Ruhe zu bewahren.
»Ash?« Tamina blieb vor ihr stehen und winkte mit der Hand vor ihren Augen, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen.
Ashley kam wieder ins Hier und Jetzt zurück und erwiderte ihren Blick. »Ja?«
»Geht es dir gut?«, fragte Tamina besorgt. »Du wirkst etwas abwesend.«
Ashley schmunzelte. Ihr entgeht aber wirklich nichts. Tamina kannte sich gut mit Menschen aus, ganz im Gegensatz zu Ashley, und dass, obwohl sie um einige Jahre jünger war – erst achtundzwanzig. »Ich bin nur noch etwas verschlafen, keine Sorge. Aber ist hier denn alles in Ordnung? Ich hatte schon Angst, dass heute ein Feiertag ist.«
Tamina neigte ihren Kopf fragend zur Seite. »Feier-?«
»Vergiss es einfach«, unterbrach Ashley nicht unfreundlich. Richtig, das Wort kennt sie sicherlich gar nicht. »Also, sag schon: Was ist hier los? Du weißt doch bestimmt mehr als ich.«
Tamina nickte. »Ich bin schon vor einer Viertelstunde angekommen. Die anderen warten alle im Versammlungsraum auf die letzten zehn Leute: Rusco und seine Freunde. Du weißt ja, dass die immer erst auf den letzten Drücker kommen.«
»Ja ...«, meinte Ashley, wobei sie gar nicht mehr genau wusste, wer Rusco überhaupt war. Der Typ aus der Logistikabteilung, dessen Overall jeden Tag wie neu aussah, oder doch nur einer der anderen Fabrikanten? Vielleicht war es sogar derjenige, der direkt gegenüber von ihr an Fließband Nummer vierzehn arbeitete. Sie konnte sich nicht mehr genau erinnern.
»Na ja, jedenfalls konnte ich mir ja schon denken, dass du jeden Moment kommen wirst«, sprach Tamina weiter. »Ich wollte dir nur Bescheid geben. Zieh dich schnell um und komm dann in den Versammlungsraum – ich halte dir den Platz neben mir frei.«
Was für ein Glück sie doch hatte, Tamina zu haben! Vermutlich wäre sie hier völlig verloren, wenn sie auf sich allein gestellt wäre. Tamina war die einzige Person, die ihr wirklich etwas bedeutete, jedoch machte sie sich deswegen nur umso mehr Sorgen darüber, dass ihrer Freundin eines Tages etwas aufgrund ihrer Probleme zustoßen würde. »Okay, danke sehr. Dann bis gleich.«
»Bis gleich«, antwortete Tamina lächelnd und drehte sich wieder um, um sich mit einem leisen Summen auf den Weg zurück zum Versammlungsraum zu machen.
Für Ashley grenzte es an ein Wunder, dass jemand aus der heutigen Zeit, in dieser grauen Welt, in der sie lebten, noch so viel Optimismus in sich tragen konnte. Zwar war es ihrer Auffassung nach vollkommen unverständlich, doch konnte sie sich gleichzeitig wohl kaum mehr darüber freuen. An vielen Tagen kam es ihr so vor, als teilte Tamina ihre Zuversicht mit ihr, was wohl der einzige Grund dafür war, warum Ashley bis zu diesem Punkt noch nicht aufgegeben hatte.
Während die Silhouette ihrer Freundin auf ihrem Weg zum Ende des Flures immer kleiner und kleiner wurde, betrat Ashley den Umkleideraum zu ihrer Linken. Uninteressiert lief sie an einer Reihe von grau bemalten Bänken und Spinden vorbei, wobei ihre Schritte in der vollkommen leeren Kabine für einen leichten Hall sorgten, bis sie an Spind Nummer vierundzwanzig ankam.
Sie verstaute darin ihre Maske, die sie bis zu diesem Zeitpunkt in der linken Hand gehalten hatte, dann kam ihre Tasche, gefolgt von ihrem pinkfarbenen Mantel und dem Outdoor-Anzug. Flink nahm Ashley den hellgrauen Arbeits-Overall von dem minimalen Haken an der Innentür des Spinds, zog ihn sich über ihre Alltagskleidung und verschloss zu guter Letzt wieder den Spind – eine weitere Abfolge von Bewegungen, die sie mittlerweile aufgrund der täglichen Wiederholungen im Schlaf ausführen konnte.
»Natürlich war heute alles etwas anders als sonst«, fügte Ashley hinzu. »Ich bin zwar zum selben Zeitpunkt wie normalerweise angekommen – exakt acht Uhr, falls Sie das interessiert –, aber sonst sind hier um diese Zeit bereits alle schwer am Arbeiten, wobei heute hingegen ...« Sie ließ den Satz unbeendet.
»Wofür genau sind Sie zuständig?«, fragte Jensen.
»Ich arbeite an einer der Verpackungsstationen, eigentlich nichts besonders Schwieriges. Das einzige Problem ist die Geschwindigkeit der Fließbänder«, antwortete Ashley und zählte nachdenklich an ihren beiden Händen ab, froh darüber, endlich etwas erzählen zu können, das zweifellos der Wahrheit entsprach. »An meiner Station arbeiten insgesamt drei- oder vierzehn Leute, genau kann ich es Ihnen zugegebenermaßen nicht sagen.«
Barragan nickte. »Das ist nicht weiter wichtig. Uns interessiert, wie lange Sie arbeiten und wann Ihre Pausen sind.«
»Nun, normalerweise arbeite ich bis halb sieben – abends, selbstverständlich – ähm … und meine Pausen sind um elf Uhr und um fünfzehn Uhr. Beide sind jeweils eine Viertelstunde lang.«
»Haben die anderen, die mit Ihnen an der Station arbeiten, zur selben Zeit ihre Pausen?« Jensen.
»Soweit ich weiß: ja.«
Jensen blickte in ihre Notizen: »Gerade eben sagten Sie: ›normalerweise‹«, sie machte Anführungszeichen mit ihrer rechten Hand, »was genau meinten Sie damit?«
»Ich, nun, manchmal b-bin ich hier auch für die Spätschichten eingeteilt«, gab Ashley zu. So gerne sie es auch für sich behalten hätte: letzten Endes würden die Ermittler es ohnehin aus ihrer Akte herauslesen können, falls sie nach dieser in der Verwaltungsabteilung verlangten.
»Und Ihnen ist hier nie etwas Verdächtiges aufgefallen?«, fragte Jensen, welche von den beiden Ermittlerinnen, wie Ashley in diesem Moment klarwurde, definitiv die beharrlichere Stimme besaß. Sie drang auf unangenehme Art in ihre Ohren ein, zwang sie, mehr zu sagen, als sie eigentlich wollte. Ob jahrelanges Training bei der Polizei der Delta-Sphäre tatsächlich eine solche Fähigkeit erschaffen konnte? Ashley war sich nicht sicher. Ein weiteres Mal in der Befragung kamen ihr Zweifel an den Worten ihrer gegenüber auf – zumindest, was deren Motivation anging. Was, wenn sie nicht die einzige war, die hier nur halbe Wahrheiten erzählte? Woher wollte sie schon genau wissen, dass die beiden vor ihr wirklich für die Polizei arbeiteten und nicht für eine andere Organisation wie beispielsweise die AEA?
Nicht zu vergessen der Dritte, Flynn, welcher noch immer draußen wartete. Was, wenn er den Raum in Wahrheit nur verlassen hat, um bereits ihren Vorgesetzten Bescheid zu geben?
Ashley biss sich auf die Zunge, als Ausgleich dafür, dass sie die Fäuste nicht zusammenballen konnte, ohne dass die beiden Ermittlerinnen davon mitbekamen. Na ganz toll, und was mache ich jetzt? Eigentlich gab es nur noch eine einzige Option: Darauf hoffen, dass sie sich irrte. Dass ihre Überlegungen wiedermal nur einem Ausbruch von Paranoia verschuldet waren und in keinerlei Verbindung zur Realität standen. Mit anderen Worten: Sie musste wohl oder übel weitermachen wie gehabt, denn sehr viel mehr anderes blieb ihr ohnehin nicht übrig.
»Ms. Loza, ist Ihnen jemals irgendetwas Verdächtiges aufgefallen?«, wiederholte Barragan die Frage ihrer Kollegin, als Ashley ihnen keine Antwort gab.
Ashley atmete tief ein. Okay, ich hab mich wieder. Beantworte einfach die Fragen und verlasse dich auf die Sicherheitsvorkehrungen. »Ich denke nicht. Allerdings bin ich bei meinen Nachtschichten ja auch nie alleine gewesen. Wenn jemand von uns irgendetwas Auffälliges getan hätte, hätte das doch sofort jemand bemerkt, meinen Sie nicht? Ich glaube kaum, dass die Diebstähle während der Nachtschichten stattgefunden haben können – wenn ich das so anmerken darf. Immerhin waren ich und die anderen bei unseren ›Nachtschichten‹ ja auch nie länger in der Fabrik als bis halb zehn – etwas, dass man von manchen Leuten in der Verwaltungsabteilung nicht behaupten kann.« So, das habt ihr nun davon. Überlegt euch über diese Antwort doch, was auch immer ihr wollt.
»Und Sie sind sich auch ganz sicher, dass Sie selbst zu diesen Zeiten niemals etwas anderes getan haben, als am Fließband zu arbeiten?«, fragte Barragan weiter.
Ein ironisches Lächeln wollte sich über Ashleys Lippen ausbreiten, jedoch hielt sie es zurück. »Ja, Detective Barragan, ich kann Ihnen versichern, dass ich mich zu keinem Zeitpunkt mit etwas anderem als meiner Arbeit beschäftigt habe.«
Der größte der acht Zeiger des Lügendetektors schlug aus.
Der Versammlungsraum – oder besser, wenn man die Größe betrachtete: die Versammlungshalle – wurde von dem verwirrten Gemurmel der insgesamt vierhundertsiebenundsechzig Arbeitskräfte aus Fabrikhalle Nummer Eins gefüllt. Auch wenn die Fragen, die sie einander stellten und nicht zu beantworten wussten, nur äußerst leise und zurückhaltend ausgesprochen wurden, so ließen sich die Fragezeichen in ihren Gesichtern doch umso einfacher erkennen.
Ashley suchte die Halle nach Tamina ab und wurde glücklicherweise schnell fündig, da sich diese in eine der hintersten Reihen nahe einem der beiden Eingänge gesetzt hatte. Als Tamina Ashley auf sich zukommen sah, winkte sie ihr freundlich zu.
»Du hättest dich gar nicht so beeilen müssen«, meinte sie. »Es fehlen immer noch ein paar andere.«
»Ich glaube nicht, dass die auf alle warten werden.«
»Nicht?«, fragte Tamina verwundert.
Ashley schüttelte den Kopf. »Nein. Wir haben ohnehin schon genug Zeit verschwendet. Du musst bedenken, wie viel Geld mit jeder einzelnen Minute, die wir hier länger warten gelassen werden, verloren geht.«
»Du meinst also, dass es jeden Moment losgehen könnte«, meinte Tamina. »Ja, da könntest du wohl recht haben. Immerhin wollen die uns vermutlich so schnell wie möglich wieder an die Fließbänder schicken.«
»Genau das meine ich«, bestätigte Ashley. »Wurde denn bisher schon irgendetwas Interessantes bekannt gegeben?«
»Nur, dass der Grund, aus dem wir hier sind, irgendetwas mit der Polizei zu tun hat«, antwortete Tamina, als wäre es nichts weiter Besonderes.
Ashley riss die Augen weit auf, überspielte ihre erschrockene Miene jedoch gleich wieder mit einem Ausdruck von unwissender Neugier. »Was, wirklich?«, fragte sie so gelassen wie möglich.
Tamina nickte. »Ja, aber es wurde noch nicht gesagt, worum genau es geht. Deshalb sind hier alle gerade so aufgekratzt. Die hören Polizei und denken direkt an das Schlimmste.«
Zurecht, dachte sich Ashley, obwohl, na ja, eigentlich müssten die anderen hier ja keinen Grund haben, deswegen nervös zu sein. Es sei denn … »Aber wenn die Polizei involviert ist, dann kann es ja auch nichts allzu Gutes sein.«
»Ja, natürlich«, stimmte Tamina zu, »aber ich glaube wohl kaum, dass hier letzte Nacht jemand umgebracht worden ist.«
»Nein, das wohl kaum«, meinte Ashley. So ein Mist! Und das ausgerechnet jetzt. Hätten die nicht noch eine Woche warten können?
Mit einem Mal wurde es still in der Halle. Ein Mann betrat das flache Podium vor ihnen, an dem sich ein kleines Mikrofon befand, welches von Ashleys Platz aus wie nicht mehr als ein grauer Fleck erschien.
Der Mann hob sich durch seine Kleidung klar von dem Rest der Versammlung ab. Offensichtlich handelte es sich bei ihm um jemanden aus der Verwaltungsabteilung, in der nicht die grauen Overalls, sondern etwas teurere weiße Hemden in Kombination mit dunkelgrauen Hosen getragen wurden. Sogar Ashley wusste, dass es sich bei ihm um den Leiter von Halle Nummer Eins hielt. Er war ein hochgewachsener Mann mit aufrechter Haltung, jedoch wurde dadurch nur umso deutlicher, dass er ebenso hager war wie der Rest von ihnen. Menschen in seiner Position gehörten der oberen Mittelschicht an, welcher es allerdings auch nicht sehr viel besser als der schlechter verdienenden Bevölkerung ging. Ein paar Extra-Privilegien vielleicht. Nicht jeden Tag mit öffentlichen Verkehrsmitteln hierherkommen, eine eigene Wohnung nahe der Innenstadt statt einer geteilten oder einer Ein-Person-Box, aber das war’s auch schon. Keine zusätzlichen Lebensmittelrationen und nicht genug Geld, um irgendwen in den Versorgungscentern um seltene Ware zu bestechen.
Bei seinem Anblick verspürte sie Mitleid. Wie er mit erschöpfter Miene auf dem Podium stand – augenscheinlich gestresst und überarbeitet, weil die Besitzer der Fabrik ihm das Leben aus irgendeinem geheimnisvollen Grund schon seit ein paar Tagen zur Hölle machten. Und es ist meine Schuld. Wenn … falls es hier wirklich um das Eratecytol geht, dann ist es einzig und allein meine Schuld.
Der Mann zog das Mikrofon mit dem teleskopartigen Gestell so weit heraus wie möglich, blickte in die fragenden Gesichter seines durch und durch grauen Publikums, sah dann auf das digitale Klemmbrett in seiner rechten Hand und hob schließlich seine linke Hand, um selbst den letzten noch so leisen Flüstergesprächen in der Halle ein Ende zu bereiten.
Seine Stimme hallte leicht verzehrt durch die Lautsprecher des Raums: »Können mich alle verstehen? Gut, dann kommen wir direkt zur Sache – es sollte nicht noch weitere Arbeitszeit verloren gehen. Also, der Grund, warum Sie alle hier sind: In diesem Raum befindet sich ein Verbrecher der schlimmsten Art, und es ist bisher noch unbekannt, um wen es sich dabei handeln könnte. Einer oder Eine von Ihnen hat das Unternehmen bestohlen. Und das im buchstäblichsten aller Sinne: Aus unserer Fabrikhallen wurden einige wichtige chemische Stoffe entwendet.«
Das war zu viel. In der Halle brach verbales Chaos aus. Wild redeten die Arbeiter und Arbeiterinnen durcheinander, schockiert, fassungslos. Ein Dieb. Ein Dieb unter ihnen.
Auch wenn es heutzutage die am häufigsten auftretende Art von Verbrechen war, so war es doch gleichzeitig die, die für sie alle moralisch nicht verwerflicher hätte sein können. Selbst Mord konnten sie besser verarbeiten. Selbstverständlich würde fast keiner von ihnen jemals auf die Idee kommen, selbst einen zu begehen, und natürlich war man jedes Mal sprachlos, wenn man davon hörte oder las, dass es jemanden erwischt hatte: insgeheim jedoch machte sich Erleichterung in einem breit. Dieses Gefühl war einer einfachen, grauenhaften Formel geschuldet. Einer Formel, die sie alle nur zu gut kannten: Je mehr Tote es gab, desto mehr Ressourcen blieben für die Lebenden. Bei Diebstahl verhielt es sich jedoch genau umgekehrt, was das Entsetzen in den Gesichtern der Arbeiter um sie herum nur umso verständlicher machte.
Tamina sah Ashley mit einer klar definierten Unruhe an, welche sich in jedem einzelnen ihrer Gesichtszüge widerspiegelte.
Auch Ashley war unruhig. Sie kannte die Antwort auf die Frage, die sie sich alle stellten, was es ohne Zweifel nur noch schlimmer für sie machte.
»Bitte beruhigen Sie sich alle wieder«, ertönte die Stimme des Hallenleiters durch die Lautsprecher.
Beruhigen. Wie soll man sich denn unter solchen Umständen beruhigen?, fragte sich Ashley, und dann die Antwort: Er hat gesagt, dass sie nicht wissen, wer der Dieb ist – noch nicht. Das war ihr Vorteil. Der wohl einzige, den sie nun besaß.
Es dauerte einige Minuten, doch zog schließlich wieder Stille in die Halle ein.
»Ich weiß: es sind schockierende Neuigkeiten – ich habe es am Anfang selbst kaum glauben wollen«, sagte der Hallenleiter, an dessen Namen sich Ashley einfach nicht erinnern konnte. »Hören Sie jetzt alle genau zu. Die Polizei ist hier, um Sie alle deswegen zu befragen. Dafür werden Sie in Gruppen aufgeteilt – das ist der eigentliche Grund, warum wir Sie hier versammelt haben. Ich zähle nun die Abteilungen und die zugehörigen Gruppierungen auf, also passen Sie genau auf.«
Er fing an, die Liste auf dem Bildschirm des Klemmbretts vorzulesen. Ashley und Tamina wurden der zweiten Gruppe zugeteilt. Wenig Zeit, um mich vorzubereiten und viel Zeit, um mich selbst nervös zu machen.
Ashley kalkulierte bereits, wie viel Zeit ihr zur Flucht blieb, sobald man herausfand, dass sie die Diebin war.
»Und hier ist noch eine persönliche Nachricht an den Dieb«, sagte der Hallenleiter, und für den Bruchteil einer Sekunde meinte Ashley, dass er in der großen Menge von finsteren Gesichtern und blassen Overalls genau sie anblickte. »Falls Sie Ihre Tat bereuen, dann haben Sie jetzt die Gelegenheit, vorzutreten und sie zu gestehen. Ich verspreche Ihnen, bei der Polizei ein gutes Wort für Sie einzulegen, damit Ihre Strafe verringert wird.«
… Ashley blieb sitzen.
Chemiekurs A, Jahr 7
Eratecytol
Era · te · cy · tol
Ein äußerst seltener chemischer Stoff, welcher in nur drei der fünf Großsphären hergestellt wird. Eratecytol besteht aus: Mentosal, Carbinium, Zell-fluid sowie einer speziellen Mischung verschiedener allg. bekannter chemischer Stoffe. Besonders die Beifügung des Fluids differenziert es von anderen in den großen Chemiefabriken verarbeiteten Stoffen. Es findet seine Verwendung hauptsächlich im Bereich der Pharmazie. Zurzeit wird in vielen Laboren die Beifügung verschiedener Nährstoff-Substanzen getestet, um einen sinnvollen Ersatz für Lebensmittel und Vitamin-Tabletten zu finden. Die Produktion ist jedoch äußerst kostspielig, weswegen davon abzusehen ist, dass es in Zukunft massenweise hergestellt werden kann.
- Plakat von B. Gehry, 13
Kapitel 2:
Sind sie trügerisch – ihre ersten Berichte
Das kalte Wasser klatschte leise gegen sein Gesicht.
Seine blasse Haut nahm das erfrischende, wenn auch leicht schmerzende Gefühl, dankbar an. Die eisige Kälte biss sich durch seine Poren, drang mit brennendem Nachdruck in seine gereizten Augen, welche mittlerweile von unzählig vielen kleinen roten Äderchen überzogen waren.
Ich sehe furchtbar aus, dachte er sich, glitt mit der Hand über den Regler des Wasserhahns und spritzte sich erneut eine Handvoll ins Gesicht, wusch es sich gründlich, obwohl er genau wusste, dass es ihm nichts brachte, und schaltete das Wasser daraufhin mit einem knappen Wink wieder ab.
Aaron O’Meara betrachtete sich im Spiegel. Leicht vorgebeugt stand er da, die Hände, welche aus seinem feinsten Anzug mit den langen Ärmeln gerade so noch hervorblitzten, auf das veraltete, eckige Waschbecken vor ihm gestützt. Seine blauen Augen, kalt und von Erschöpfung gezeichnet, warfen einen prüfenden Blick auf die Züge seines Gesichts. Analytisch untersuchte er die nahezu lilafarbenen Ringe unter seinen Augen, die breite Nase, an der noch ein paar letzte Tröpfchen des Wassers herunterglitten, sowie die noch schwach ausgeprägten Falten auf seiner Stirn, die sich dort innerhalb der letzten drei Jahre gebildet hatten.
Er suchte sein Gesicht nach Anzeichen von Müdigkeit ab, machte sich dabei unbewusst die akribische Art zu schaffen, die ihm so eigen war. Die Art, die ihm schon so viele Male in seinem Leben geholfen hatte, ihm bereits so viele Schwierigkeiten bereitet hatte, und ohne die er nun sicherlich nicht die Position innehalten würde, die er innerhalb ihrer Organisation besaß.
Aaron griff zu dem Kamm neben dem Waschbecken und fuhr mit einigen schnellen, präzisen Bewegungen durch sein helles Haar. Danach öffnete er vorsichtig die Flasche mit der Gesichtsfarbe. Die Oberfläche des Deckels war geriffelt und so rau wie das Innere seiner trockenen Kehle. Ich habe viel zu viel geredet, ging es ihm bei dem Gedanken daran durch den Kopf. Unwillkürlich räusperte er sich. Nächstes Mal muss ich ihm mehr Zeit lassen. Viel zu viele Worte wurden gesprochen, ohne dass wirklich etwas gesagt wurde. Und nun … wenn das so weitergeht, dann war’s das bald.
Ein unwohles Gefühl stieg in ihm auf. Aaron wusste genau, dass ihm nicht mehr viele Versuche blieben, bis einem der wenigen Leute über ihm der Geduldsfaden riss. Die AEA war nun zwar schon seit einigen Jahren unabhängig, jedoch hieß das nicht, dass sich die Sphären-Regierung nicht doch einmischen konnte, falls ihr gewisse Handlungen der Organisation zuwider wurden. Bei dem Gedanken daran durchfuhr ein unangenehmes, mittlerweile jedoch viel zu vertrautes Zittern seine Beine, welches er augenblicklich unterdrückte.
Komm schon, beruhige dich! Drei tiefe Atemzüge. Wie geübt atmete er dreimal hintereinander tief ein und aus, die Abstände exakt und regelmäßig wie immer. Sein Herzschlag beruhigte sich allmählich. Erneut blickte er sich selbst entgegen.
Wie lange machen wir das jetzt schon? Es mussten an die drei Tage am Stück sein, in denen er wohl nicht mehr als zwei Stunden Schlaf bekommen hatte.
Er darf es mir nicht anmerken, sagte Aaron sich und tupfte sich mit Zeige- und Mittelfinger langsam die Gesichtsfarbe über die Augenringe. Er wusste von den letzten paar Malen genau, wie behutsam er dabei vorgehen musste, damit die etwas zu dunkle Farbe sich der seiner Haut genau anpasste.
Gerade, als er die Flasche wieder zugedreht und sich die Finger abgewaschen hatte, ertönte ein Klopfen hinter ihm.
»Kommen Sie ruhig herein«, meinte er möglichst gelassen. »Die Tür ist offen.«
Ein ihm vertrautes Klicken erklang, woraufhin die schwere, metallene Tür von außen geöffnet wurde.
Ein Mann von weniger als dreißig Jahren trat ein. Er hatte blondes Haar und einen besorgten Blick, welcher ihn zu jeder Zeit begleitete. Selbst Aaron, der sonst ein recht guter Menschenkenner war, konnte sich nicht genau erschließen, worum genau sich dieser Mann rund um die Uhr den Kopf zerbrach. War es nur er selbst, um den er sich sorgte? Oder doch alles andere?
Nevio Porter, ging es Aaron durch den Kopf,