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Evelyn führt nicht das unbeschwerte Dasein einer normalen Vierzehnjährigen, sondern muss putzen, kochen und den restlichen Haushalt schmeißen. Sie lebt mit ihrem Vater allein in einem bescheidenen Mietshaus in einer Kleinstadt. Davon abgesehen, dass ihr Vater dem Alkohol verfallen und nach der Arbeit aufgrund dessen nicht mehr ansprechbar ist, hat sie auch noch Pech in der Liebe. Nur ihre beste Freundin Maja hilft ihr, den Alltag zu überstehen. Eines Tages findet Evelyn jedoch einen an sie adressierten Brief in einer Schublade, der ihr Leben auf einen Schlag verändert.
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Nadine BuchUnter fernen Wolken
Nadine Buch
Unter fernen Wolken
Roman
© 2023 Nadine Buch Wingertstr. 70 55743 Fischbach Website: www.nadine-buch.de Lektorat: Caroline Löhr Cover: Ria Raven Coverdesign, unter Verwendung von Shutterstock Motiven (riaraven.de) eBook-Formatierung: Stefanie Scheurich Alle Rechte vorbehalten.
Evelyn streckte sich, griff nach ihrem Smartphone und stellte den Wecker aus. Mit einem Auge linste sie auf das Display.
»Sechs Uhr«, murmelte sie verschlafen und schälte sich aus der Bettdecke. Zaghaft erinnerte sie sich daran, dass ihre Oma Heidemarie vor genau einem Jahr gestorben war. Sie wischte die Vorstellung jedoch beiseite, denn sie hatte heute eine wichtige Klassenarbeit und durfte es nicht zulassen, dass ihre Gedanken sie zu sehr vereinnahmten.
Sie schlüpfte in ihre Klamotten, zog sich ihre Sneaker an und ging in die Küche. Walter, ihr Vater, saß bereits am Esstisch, aber er schaute nicht von seiner Zeitung auf, als Evelyn sich setzte.
»Guten Morgen«, sagte sie mit dünner Stimme, rückte ihren Stuhl zurecht und nahm sich eine Scheibe Brot. Den Tisch hatte sie bereits am Vorabend gedeckt, damit ihr Vater dies nicht mehr tun musste. Der Morgen war nicht seine Zeit, und er war jedes Mal aufs Neue schlecht gelaunt und wollte nur einen Kaffee, seine Zeitung und seine Ruhe. Evelyn kam sich überflüssig vor und biss vom Brot ab, das sie mit Nougatcreme bestrichen hatte. Wenigstens ein bisschen Trost zum Tagesbeginn.
»Hast du für heute gelernt?«, fragte Walter, doch mehr beiläufig als wirklich interessiert.
»Ja«, bestätigte Evelyn und nickte nachdrücklich. Sie hätte es sich sparen können, denn das Gesicht ihres Vaters war immer noch hinter den mit Schreckensnachrichten bedruckten Seiten versteckt. Evelyn fragte sich, was man daran finden konnte, sich bereits nach dem Aufstehen mit solcherlei Meldungen zu belasten.
Aber vielleicht verstehe ich es mit meinen vierzehn Jahren einfach nicht.
»Du weißt, dass ich heute Überstunden machen muss?«
Walter schielte über seine Brille.
»Hm«, nuschelte Evelyn mit vollem Mund und würgte ihren Bissen hinunter.
Nach der Uhrzeit, zu der ihr Vater nach Hause kommen würde, brauchte sie gar nicht zu fragen. Sie wusste, dass es eh später werden würde, als er behauptete. Sie war ein sogenanntes Schlüsselkind. Das hatte einmal ihre Lehrerin gesagt, die ihr erklärte, dass es jene Kinder seien, die sich nach der Schule um sich selbst kümmern mussten. Die weder von ihrem Vater noch von ihrer Mutter Zuhause empfangen werden würden. Ja, ihre Mutter …
Evelyn schaute gedankenverloren zu dem gegenüberliegenden Platz. Er war leer. Sie stellte sich gerne vor, dass dort ihre Mutter saß, von der sie nicht einmal wusste, wie sie heute aussah. Denn ihre Mutter war weg. Nicht tot. Sie war einfach nicht da, und keiner konnte ihr sagen, wo sie sich aufhielt. Sie war vor vielen Jahren abgehauen, wie ihr Vater einmal erklärt hatte. Das Einzige, was Evelyn geblieben war, war eine vage Erinnerung an sie.
Sie spürte, wie eine tiefe Traurigkeit in ihr aufstieg. Eine Sehnsucht, über die sie nicht mit ihrem Vater sprechen konnte.
Warum kann ich nicht auch eine Familie haben, wie alle anderen Mädchen, dachte sie und spürte, wie ein Kloß im Hals es ihr erschwerte, das Brot hinunterzuschlucken.
Sie schlürfte an ihrem kalten Kakao und genoss es, wie die Flüssigkeit ihre Kehle hinabrann.
Walter faltete umständlich die Zeitung zusammen, legte sie auf den Tisch und schob unter lautem Gepolter seinen Stuhl zurück. Das Zeichen, dass er zur Arbeit aufbrach. Evelyn atmete auf.
Evelyn stand vor dem Spiegel und betrachtete ihre Haare. Sie ärgerte sich jeden Morgen aufs Neue darüber, dass sie in alle Richtungen abstanden. Maja, ihre beste Freundin und Klassenkameradin, bewunderte sie immer für ihre dunklen Wellen, da sie ihre blauen Augen so schön betonten. Doch bis die Strähnen erst einmal richtig lagen und glänzten, kostete es Evelyn Mühe und Nerven.
Eine Viertelstunde hatte sie noch Zeit, bis sie zum Schulbus aufbrechen musste. Der Weg bis dorthin war nicht weit. Nur die Straße runter, um die Kurve und dann war sie da. Sie freute sich bereits auf die Schule. Es war die Zeit am Tag, in der sie endlich jemanden zum Reden hatte, ein Ort, an dem sie wahrgenommen wurde – und die Lehrer nahm sie dafür gerne in Kauf. Nachdem sie ihre Mähne gebändigt hatte, legte sie zarten Lipgloss auf.
Ihr Handy brummte.
Mit flinken Fingern öffnete Evelyn die Chatnachricht.
Hey Evy, denkst du bitte an das Shirt, das du mir leihen wolltest? Bis gleich, Maja!
Evelyn warf einen letzten Blick in den Spiegel, kokettierte mit sich selbst und eilte aus dem Bad. Im Schlafzimmer schnappte sie sich ihre Tasche und das Shirt und ging mit schnellen Schritten die Treppe hinab. Ihr Vater würde nicht mitbekommen, dass sie erst am Nachmittag abräumte. Also ließ sie alles stehen, wie es war, nahm den Schlüssel von der Kommode und warf die Haustür hinter sich zu.
»Na, heute siehst du aber müde aus. Schlecht geschlafen oder nur zu viel geträumt?«, meinte Maja und schaute Evelyn von der Seite her kritisch an.
»Geht so. Ich habe echt Angst vor der Arbeit. Zum Glück ist sie gleich in der ersten Stunde. Weißt du alles?«, fragte sie und zupfte an ihrem Oberteil. Verstohlen schaute sie sich auf dem Vorplatz der Schule um.
»Klar, ich habe mir aber zur Sicherheit einen Spickzettel geschrieben. Du weißt, Frau Schlotterbeck stellt ihre Fragen immer sehr genau. Eigentlich muss man das ganze Buch auswendig kennen, das ist mir einfach zu viel.«
Evelyn schüttelte ihren Kopf, dennoch grinste sie.
»Und wenn sie dich erwischt?«
»Ach, das wird sie nicht. Sie ist doch immer in irgendwelche Unterlagen vertieft, wenn sie Arbeiten schreiben lässt.«
»Warte, ich will mir noch einen Kakao ziehen«, meinte Evelyn und blieb am Getränkeautomaten stehen. Sie wühlte in ihrer Tasche nach Kleingeld, wurde fündig und fummelte die Münzen in den Schlitz des Automaten. Als sie sich mit dem dampfenden Becher umdrehte, musste sie sich zusammenreißen, um nichts von dem heißen Getränk über ihre Hand zu schütten. Denn nicht weit von ihr stand Jannis.
»Oh, dein Schwarm. Fall mir bloß nicht in Ohnmacht«, witzelte Maja und knuffte ihre Freundin in die Seite. »Ehrlich gesagt weiß ich überhaupt nicht, was du an dem findest. Er wäre mir ja zu prollig. Sollen wir uns eigentlich später im Schwimmbad treffen?«
Doch Evelyn reagierte nicht.
»Erde an Evy. Hallo, hörst du mir zu?«
Maja schnippte mit den Fingern vor Evelyns Augen.
»Nein, später kann ich nicht. Ich muss noch Zuhause aufräumen, und dann will mein Vater zu Abend essen. Da ist es schon gut, wenn ich da bin.«
Maja zuckte mit den Schultern.
»Aber Morgen müsste es gehen. Morgen Nachmittag ist mein Vater beim Arzt und wir haben nur sechs Stunden.«
»Okay, dann morgen.«
Die Mädchen schlenderten in ihre Klasse und setzten sich umständlich auf ihre Stühle.
»Ich hoffe, ihr habt alle schön gelernt. Holt leere Blätter und einen Kugelschreiber raus, alles andere kommt vom Tisch!«, säuselte Frau Schlotterbeck, die in die Klasse geschneit kam und ihre Tasche auf das Pult hievte.
»Meine Güte, sie ist wieder die Freundlichkeit in Person. Richtig eingebildet, findest du nicht?«, fragte Maja hinter vorgehaltener Hand. »Schau mal, wie sie guckt. Sie erinnert mich an meine Nachbarin. Die trägt auch immer so ein Kostüm und hat knallroten Lippenstift auf dem Mund. Weißt du noch, als der Jens letzten Sommer den Fisch hinter der Heizung versteckt hatte? Wie dieser wochenlang vor sich hingammeln konnte und es am ersten Schultag so gestunken hat? Frau Schlotterbeck ist fast ausgeflippt.«
Maja konnte sich vor Lachen kaum mehr bremsen.
»Meine Damen, was gibt es denn so Lustiges? Meinen Sie nicht, dass der Zeitpunkt für Albernheiten ungünstig ist? Los, holt eure Blätter raus«, mahnte Frau Schlotterbeck, als sie am Tisch der Mädchen stand. Mit einem strengen Blick, die Hände in die Hüften gestemmt, schaute sie auf die Freundinnen herab. Unter Aufbietung aller Mühe unterdrückte Maja ihr Kichern und wühlte geschäftig in ihrer Tasche, bis sie ihren Block gefunden hatte. Zufrieden schnaufte Frau Schlotterbeck und stöckelte zurück ans Pult.
»Die kann einem ja richtig die Laune verderben«, raunte Maja Evelyn zu und rümpfte ihre Nase, als Zeichen für ihr Missfallen über die Parfumwolke, die die Lehrerin hinterlassen hatte.
Nachdem die Arbeitsblätter ausgeteilt waren, war es gespenstisch still in der Klasse. Hin und wieder hörte man ein Husten oder Räuspern. Am Pult saß Frau Schlotterbeck und konzentrierte sich auf ihre Unterlagen, doch nicht, ohne hin und wieder einen wachsamen Blick auf ihre Schüler zu werfen. Evelyn wurde das Gefühl nicht los, dass die Lehrerin besonders sie im Auge hatte. Sie neigte ihren Kopf und schrieb fleißig weiter. Zum Glück war Biologie eines ihrer Lieblingsfächer, in dem sie am Schuljahresende mit einer guten Note glänzen wollte. Apropos Schuljahresende: Evelyn wurde es flau in der Magengrube bei der Vorstellung, den ganzen Tag Zuhause sein zu müssen. Ohne ihre Freundin Maja und die Ablenkung, die ihr die Schule bot. Und sie würde Jannis sechs Wochen lang nicht begegnen. Sie spürte ein inneres Zittern in sich aufsteigen, denn in der Pause sah sie ihn bestimmt wieder. Ein kleines Lächeln huschte über ihr Gesicht, und schon spürte sie neue Energie in sich aufsteigen. Der Kugelschreiber flog nur so über das Papier.
»Noch zehn Minuten, dann ist es Zeit abzugeben«, erinnerte Frau Schlotterbeck. Der Genuss in ihrer Stimme war nicht zu überhören. Sie schien Freude daran zu haben, wie sich die Schüler in den letzten Minuten damit überschlugen, noch so viele Wörter wie möglich aufs Papier zu bringen.
Evelyn war fertig und legte ihr Schreibwerkzeug demonstrativ zur Seite. Kurz darauf klingelte es zur Pause.
»Ich glaube, es wird diesmal nix mit einer guten Note. Den Spicker konnte ich auch nicht nutzen. Die Schlotterbeck hat die ganze Zeit in meine Richtung geschaut«, seufzte Maja und biss in ihr Sandwich.
»Warten wir es ab. Es sind ja bald Ferien, dann haben wir erst mal Ruhe. Was machst du eigentlich in den sechs Wochen?«, fragte Evelyn und schaute sich nach Jannis um. Doch er war nirgends zu sehen.
»Ich weiß noch nicht. In den Urlaub fahren wir diesmal nicht. Letztes Jahr waren wir ja in Spanien, daher können wir uns so einen Ausflug nicht nochmal leisten. Ich dachte an ein paar Shopping-Tage. Wir beide. Wir könnten auch jeden Tag Eis essen gehen oder hin und wieder ins Schwimmbad. Kino wäre auch toll. Da war ich schon lange nicht mehr.«
»Ja, klingt super. Ich kann nur hoffen, dass mir mein Vater das auch erlaubt. Letztes Mal, als ich länger wegbleiben wollte, war er nicht gerade froh darüber.«
»Evy, du musst dich mehr durchsetzen. Er kann dir deine Freunde nicht verbieten, nur weil er keine hat. Oder willst du seinen tristen Alltag nachleben?«
Maja hatte recht. Sie musste ihrem Vater verdeutlichen, was sie sich wünschte. Auch wenn er nicht wütend reagierte, so wirkte er doch traurig, wenn sie abends nicht bei ihm war. Seit Oma Heidemarie nicht mehr lebte, war es besonders schlimm geworden. Er verzog sich immer vor den Fernseher, schwieg und trank seine Feierabendbiere. Dass er trank war jedoch nichts Ungewöhnliches. Er hatte immer eine Bierflasche neben sich stehen, solange Evelyn denken konnte. Ihr drängte sich deutlich das Bild auf, wie sich das Leergut im Flur zur Besenkammer sammelte. Auch zwang sich der ekelhafte Geruch des Alkohols in ihre Nase. Ihr wurde schlecht.
Sie biss sich auf die Lippe und fragte sich, wie sie das alles nur anstellen konnte. Wie sollte sie ihm sagen, dass sie keine Lust mehr darauf hatte, den ganzen Nachmittag und Abend Zuhause herumzusitzen. Wenigstens in der Ferienzeit hatte sie es sich doch verdient, Spaß zu haben.
Der Gong läutete und rief die Schüler zurück in ihre Klassen. Enttäuscht darüber, Jannis diesmal nicht begegnet zu sein, nahm sich Evelyn vor, den Rest des Schultages einfach nur noch zu überstehen.
Es war bereits nach sechs Uhr, als Walter den Schlüssel im Schloss herumdrehte und zur Tür hereinkam.
Evelyn hatte die Wohnung auf Hochglanz gebracht, aufgeräumt und das Abendessen vorbereitet. Gesund und abwechslungsreich zu kochen war ihr zwar wichtig, aber es blieb nur bei einfachen Gerichten. Ihrem Vater schienen sie jedoch zu genügen. Im Stillen dankte sie ihrer Oma Heidemarie, dass sie sie bereits früh in die Kochkünste eingewiesen hatte.
»Na, was gibt es denn heute?«, raunte Walter und stellte seine Tasche in die Ecke. Er roch verschwitzt und seine Kleidung war dreckig vom Bau.
»Fischstäbchen, Kartoffelpüree und Spinat«, antwortete Evelyn, die genau wusste, dass die Essenszeit die einzige Gelegenheit war, zu der sie ein Gespräch mit ihrem Vater führen konnte, und wo er noch nicht vom Alkohol vernebelt in seinem Sessel einnickte.
Wie sehr wünschte sie sich, dass ihre gesamte Familie am Tisch sitzen würde. Doch der Platz ihrer Mutter blieb leer. Und der ihrer Oma auch. Für immer.
Sie verdrängte ihre Traurigkeit und lächelte.
»Klingt gut. Ich geh dann mal duschen. Wenn du magst, kannst du ruhig schonmal auftischen. Ich brauche nicht länger als zehn Minuten.«
Evelyn freute sich über jedes seiner Worte, denn Walter sprach nicht viel. Einsilbige Antworten waren Standard; selbst von seiner Arbeit wollte er nichts berichten. Sie tröstete sich mit dem Bild von der glücklichen Familie. Immerhin gab es sie. Sie sah sie, wenn sie einkaufen fuhren, sie begegnete ihr in der Stadt, im Schwimmbad – überall. Nur nicht im Hause Blum.
Sie räumte die Teller aus dem Schrank und platzierte sie auf dem Tisch, stellte die Töpfe auf Untersetzer, legte große Löffel daneben und wartete mit den Fischstäbchen, bis ihr Vater wieder in der Küche erschien. Sie wollte nicht, dass sie auf dem Teller lagen und kalt wurden.
Kurze Zeit später saßen Vater und Tochter am Tisch, doch das Einzige, was man hörte, war das Kratzen von Besteck und hin und wieder ein leises Schlürfen, wenn jemand trank. Selbst das Schlucken wirkte laut.
»Die Klassenarbeit lief gut«, versuchte Evelyn das Schweigen zu brechen, hoffte sie doch, wenn auch vergeblich, auf ein Lob oder einen anerkennenden Blick. Walter nahm es nickend zur Kenntnis. Das war´s.
Evelyn kämpfte nicht nur mit ihren Tränen, sondern mit ihrem Wunsch, mehr Zeit für sich haben zu dürfen. Sie wollte ihm sagen, dass sie nicht nur kochen und putzen wollte, sondern sich auch mal abends mit einer Freundin treffen und quatschen. Doch sie verschluckte ihre Worte, so sehr sie ihr auf der Zunge lagen und schaute auf ihren halb leeren Teller. Sie beschloss, nach dem Essen direkt in ihr Zimmer zu gehen. Die Musik an- und die Welt ausschalten.
Die Sonne war noch nicht untergegangen, da war Evelyn bereits im Bett. Sie lag auf dem Rücken und hatte die Arme hinter ihrem Kopf verschränkt, als sie spürte, wie ihr eine Träne die Schläfe hinabrann.
Nicht mal ein Wort zu Heidemarie hatte ihr Vater beim Essen verloren. Dabei war sie seine eigene Mutter gewesen. Evelyn wusste, dass sie nicht so kaltherzig sein würde, wenn ihre eigene Mutter versterben oder ihr Todestag nahen würde. Doch würde sie je erfahren, wann dieser Zeitpunkt eintraf?
Evelyn rieb sich mit dem Handrücken über ihre Augen, drehte sich zur Seite und zog, trotz der Sommerhitze, die Bettdecke hoch bis zu den Ohren. Sie beschloss, am nächsten Tag eine weiße Rose zu kaufen und diese auf das Grab von ihrer Oma zu legen.
Die Nacht war erholsam, doch das Frühstück mit ihrem Vater wie immer: Er sprach nichts, nippte an seinem Kaffee, knitterte mit dem Zeitungspapier und machte sich lautstark auf den Weg zu seiner Arbeit.
Evelyn hatte, trotz ausreichendem Schlaf, keinen guten Tag. Es störten sie diesmal nicht nur ihre Haare, sondern auch ihre Nase. Viel zu groß, dachte sie und drehte und wandte ihren Kopf vor dem Spiegel, um ihr Riechorgan genauer zu betrachten. So langsam wunderte sie sich nicht, dass Jannis sie nicht beachtete. Wer mochte schon ein Mädchen, das eine Nase wie eine Kartoffel hatte?
Evelyn griff tiefer in ihre Trickkiste und legte nicht nur Lipgloss auf, sondern auch Wimperntusche. Stärker durfte sie sich nicht schminken, so hatte Walter entschieden. In Evelyns Kopf hallten immer noch seine Worte: Du musst auf dich aufpassen.
Ganz klar waren sie ihr nicht. Worauf aufpassen? Wozu? Sie wusste, dass bereits einige Mädchen auf ihrer Schule einen Freund hatten. Sie missgönnte ihnen ihr Glück nicht, jedoch sehnte sie sich danach, sich ebenfalls anlehnen zu können. Jemanden zu haben. Von daher machte es sie eher stolz, wenn Jungs nach ihr schauten. Besonders Jannis. Doch für ihn war sie offensichtlich unsichtbar, egal wie sehr sie versuchte, in seine Nähe zu kommen.
Evelyn griff erneut zu ihrem Lipgloss und legte eine zweite Schicht auf.
»Fertig, schöner werde ich heute nicht«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild, überprüfte, ob ihr Shirt ihre mädchenhaften Kurven vorteilhaft in Szene setzte und verließ das Bad. Ein Blick auf ihr Smartphone vernichtete jedoch die Illusion, jemals so schön auszusehen, wie die Popstars, die im Internet abgebildet waren.
Im Schulbus setzte sich Evelyn an die Fensterseite. Sie wollte heute mit niemandem reden und hielt ihren Blick starr auf die Gehwege gerichtet, die an ihr vorbeirauschten. Die Menschen, die darauf unterwegs waren, schauten angespannt und ernst, und so fragte sich Evelyn zum ersten Mal, ob es die glückliche Familie wirklich gab.
Der Bus hielt und die Türen öffneten sich zischend. Evelyn wartete, bis die anderen Schüler an ihr vorbeigestürmt und ins Freie getreten waren. Sie hatte keine Nerven für das Gedrängel und Geplärre der Kinder. Zum Glück war sie aus dem Alter raus. Auf direktem Weg machte sie sich auf zur Sporthalle. Sie hasste es, wenn in den ersten beiden Stunden Sport war, da sie sich zu dieser frühen Uhrzeit noch nicht in der Lage fühlte, sich mehr als nötig zu bewegen. Ihr war schlecht und kalt, und überhaupt … es war heute einfach nicht ihr Tag.
»Hey, wieso so grimmig? Bald sind Ferien und dann lassen wir es uns gutgehen. Hast du deinem Vater mal gesagt, dass du gerne mehr Zeit für dich hättest?«, fragte Maja fröhlich.
Evelyn blickte sie mit zerknirschtem Gesichtsausdruck an.
Wie kann man vor acht Uhr so lebendig sein, dachte sie.
»Nein, ich kam nicht dazu, es ihm zu sagen. Im Übrigen war gestern der Todestag meiner Oma. Und soll ich dir was sagen? Walter hat ihn vergessen.«
»Das glaube ich nicht. Sie war doch seine Mutter. Den Tag vergisst man doch nicht.«
»Sagst du. Aber bei uns ist alles anders als bei anderen Leuten.«
Evelyn unterdrückte die aufkeimende Scham und stieß die Eingangstür zur Sporthalle auf. Ohne auf Maja zu warten, ging sie in die Umkleidekabine, zog sich um und ignorierte die schimpfende Nina, mit der sie zusammenstieß, als sie sich an ihr vorbeiquetschte. Nina war ihr sowieso unsympathisch. Sie hatte blonde Haare, die stets zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden waren, trug künstliche Fingernägel und hatte die dickste Schminke von Allen auf ihrem Gesicht. Puppe, nannte Evelyn sie insgeheim. Heute hätte sie es ihr am liebsten laut gesagt.
»Mensch, was ist denn mit dir los? Du bist doch sonst nicht so«, flüsterte Maja, die sich Mühe gab, ihrer Freundin zu folgen. »Du weinst ja.«
Maja griff Evelyn an der Schulter, drehte sie zu sich um und nahm sie in die Arme.
»Komm, heute Nachmittag machen wir es uns im Schwimmbad gemütlich. Das Wetter soll richtig gut werden. Es ist jetzt schon warm, später wird die Sonne vom Himmel brennen und uns auf die Haut. Soll ich mal mit deinem Vater reden?«
»Maja, das bringt doch nichts. Ich will auch nicht, dass du zu uns nach Hause kommst. Du weißt doch …«, sagte Evelyn und wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln.
»Dass dein Vater trinkt, und dass es in eurer Wohnung nicht so schön eingerichtet ist, dafür kannst du doch nichts. Da musst du dich vor mir nicht genieren«, munterte Maja sie lächelnd auf.
»Ich weiß, aber ich will es einfach nicht.«
Damit war das Thema beendet.
Evelyn zog den Sportunterricht durch, als gäbe es kein Morgen mehr. Sie ließ all ihren Frust heraus. Da sollte mal jemand sagen, dass Mädchen kein Fußball spielen können.
Evelyn spürte, wie sie sich langsam entspannte. Sie hielt die Augen geschlossen und lauschte dem Kinderlachen und dem Geräusch von Wasser, während sich Menschen vom Sprungbrett in die Tiefe stürzten.
Ihr gingen die Bilder der letzten Stunden durch den Kopf, vor allem, als sie mutterseelenallein am Grab ihrer Oma gestanden hatte. Niemand hatte eine Blume für sie niedergelegt, und Evelyn fragte sich, ob überhaupt jemand an sie gedacht hatte. Die Familie Blum war nicht groß, die wenigen Angehörigen weit verteilt. Dennoch, nach dem Tod in Vergessenheit zu geraten war eine schreckliche Vorstellung.
»Magst du auch ein Eis? Ich gehe schnell zum Kiosk und hole welches.«
Evelyn öffnete müde ihre Augen und schaute direkt in Majas Gesicht. Sie hätte gerne so eine Nase wie sie. Sie war schmal und klein, schaute nicht wie der Pariser Eiffelturm hervor und warf keinen deutlichen Schatten. Generell wäre sie lieber so wie Maja. Maja war perfekt. Sie hatte goldblondes glattes Haar, Rehaugen und eine tolle Figur. Ihr Leben war nicht weniger schön. So hatte sie einen Vater, eine Mutter und zwei ältere Geschwister. Sogar einen Hund. Wie sehr hatte sich Evelyn immer einen Hund gewünscht. Wenn du groß bist, kannst du dir einen holen, erklärte ihr Vater einmal, nachdem sie den Wunsch auf ihre Liste zu Weihnachten geschrieben hatte. Als sie noch ganz klein war, hatte sie einen Hamster. Leider lebte er nur ein Jahr und war tagsüber nie zu sehen. Nachts hingegen lief er stundenlang in seinem Rad und nagte am Gitter. Evelyn wurde erst viel später bewusst, wie unglücklich das Tier in seinem kleinen Käfig gewesen sein musste.
»Ja, kannst mir gerne eins mitbringen. Aber das mit der Schokolade drum herum. Ich komme gerade nicht darauf, wie es heißt.«
»Ich weiß, welches du meinst. Bringe ich mit«, sagte Maja und war verschwunden.
Evelyn räkelte sich auf ihrem Badetuch und ließ ihre Handflächen über das Gras gleiten. Das Kitzeln der Halme brachte ihre Gedanken zur Ruhe, während das Spiel zwischen Licht und Schatten hinter ihren verschlossenen Lidern sein Übriges tat. Das Rauschen des Windes, der durch das Blätterdach der Bäume streifte, ließ Evelyn in einen leichten Schlaf verfallen.
Bis sie eine bekannte Stimme vernahm.
Jannis!
Mit einem Schlag war Evelyn hellwach und schaute sich um. Tatsächlich, da war er, und er war nicht allein. Er war in Begleitung seiner Freunde. Sie alberten herum und lachten, unwissend, dass Evelyn sie beobachtete. Sie wollte schon aufstehen, und – natürlich völlig unbeabsichtigt – vor Jannis´ Augen herumlaufen, als sie erkannte, wer sich ihm näherte. Es war ein Mädchen mit einem blonden Pferdeschwanz, perfekter Figur und dem knappsten Bikini im ganzen Schwimmbad.