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Beschreibung

«So eine Sammlung habe ich mir immer gewünscht. Ich freue mich auf jede Entdeckung! Was für ein herausragendes und sinnstiftendes Buch!» Maria-Christina Piwowarski Welches Buch liebt unsere Lieblingsschriftstellerin, welche Autorin hat ihr eigenes Schreiben begleitet, geformt, verändert? Diese Anthologie tut das, was Männer schon immer, vielleicht auch einmal zu oft gemacht haben: literarische Vorbilder feiern. In Unter Frauen werden jedoch ausnahmslos Autorinnen zelebriert. Schriftstellerinnen schreiben über Schriftstellerinnen, die prägend für ihr eigenes Werk sind, über Bücher, die wir alle lieben, und über welche, die kaum eine von uns in ihrem Bücherregal stehen hat. Ein kleiner Kanon von großen Stimmen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Ein Manifest der weiblichen Solidarität, Bewunderung und Inspiration. A book of one'sown. Mit Beiträgen von Gabriele von Arnim, Simone Buchholz, Ulrike Draesner, Mareike Fallwickl, Yael Inokai, Rasha Khayat, Mirrianne Mahn, Daria Kinga Majewski, Jacinta Nandi, Deniz Ohde, Jovana Reisinger, Ruth-Maria Thomas, Kathrin Weßling und einem Vorwort von Maria-Christina Piwowarski.

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Anna Humbert (Hg.)

Unter Frauen

Geschichten vom Lesen und Verehren

 

 

Über dieses Buch

«So eine Sammlung habe ich mir immer gewünscht. Ich freue mich auf jede Entdeckung! Was für ein herausragendes und sinnstiftendes Buch!»Maria-Christina Piwowarski

 

Welches Buch liebt unsere Lieblingsschriftstellerin, welche Autorin hat ihr eigenes Schreiben begleitet, geformt, verändert? Diese Anthologie tut das, was Männer schon immer, vielleicht auch einmal zu oft gemacht haben: literarische Vorbilder feiern. In Unter Frauen werden jedoch ausnahmslos Autorinnen zelebriert. Schriftstellerinnen schreiben über Schriftstellerinnen, die prägend für ihr eigenes Werk sind, über Bücher, die wir alle lieben, und über welche, die kaum eine von uns in ihrem Bücherregal stehen hat.

 

Ein kleiner Kanon von großen Stimmen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Ein Manifest der weiblichen Solidarität, Bewunderung und Inspiration.A book of one’s own.

 

Mit Beiträgen von Gabriele von Arnim, Simone Buchholz, Ulrike Draesner, Mareike Fallwickl, Yael Inokai, Rasha Khayat, Mirrianne Mahn, Daria Kinga Majewski, Jacinta Nandi, Deniz Ohde, Jovana Reisinger, Ruth-Maria Thomas, Kathrin Weßling und einem Vorwort von Maria-Christina Piwowarski.

Vita

Gabriele von Arnim, Simone Buchholz, Ulrike Draesner, Mareike Fallwickl, Yael Inokai, Rasha Khayat, Mirrianne Mahn, Daria Kinga Majewski, Jacinta Nandi, Deniz Ohde, Jovana Reisinger, Ruth-Maria Thomas, Kathrin Weßling

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juni 2024

Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Covergestaltung Coco Meurer, Berlin

Coverabbildung Shara Hughes, Pop 2021, Courtesy of the artist and Pilar Corrias Gallery

ISBN 978-3-644-02010-8

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Dieses Buch ist eine Schatztruhe

Ein Vorwort von Maria-Christina Piwowarski

Wann immer ich kann, lasse ich Autorinnen auf mein Leben wirken. Das hat sich bewährt, seit ich lesen kann. Nein, es bewährt sich schon, seit meine Großmutter begonnen hat, mir vorzulesen, und ich Ronja-Räubertochter-Zitate (und ihren Frühlingsschrei) aus Astrid Lindgrens Buch direkt vom Großmutter-Mund in meinen Wortschatz gelegt bekommen habe. Mir ist, als würde sich der Einfluss der Literatur auf mich mit den Jahren verstärken, mit jedem gelesenen Buch, mit jeder Lieblingsfigur noch mehr Raum bekommen. Dabei sind doch da schon so viele – im Herzen, im Kopf, im Regal. Bewunderte Autorinnen, deren Texten und Gedanken ich gebannt folge, wenn sie aus ihrem Leben schreiben oder ihre Protagonist:innen auf Reisen schicken, sie den Alltag und das Abenteuer erleben lassen. Es kommt mir vor, als würde ich den Goldstaub ihrer Gedanken aus den Seiten auf mein Leben rieseln lassen. Ich eigne mir Gewohnheiten an, die mir an Protagonistinnen gefallen – wie Christine Brückners Heldin Maximiliane von Quindt beim Lyriklesen am liebsten in einen Apfel zu beißen, um nur ein Beispiel zu verraten –, benenne den Hund, beruhige das Kind, beschwöre den eigenen Mut so, wie es mir Frauen mit und in inspirierenden Büchern vorgemacht haben. Und immer lasse ich mich davon anregen, was Autorinnen ihre Protagonistinnen lesen lassen, was im Literaturverzeichnis steht, wen sie im Dank oder in der Widmung erwähnen, wen sie im Interview als Quelle für ihr eigenes Schreiben nennen. Wenn Autorinnen, in welcher Form auch immer, literarisch über andere Autorinnen nachdenken, ist mein Glück vollkommen: Virginia Woolf habe ich dank Olivia Laing für mich wiederentdeckt, und Dominique Fortier hat mich wieder Emily Dickinson lesen lassen, von der irischen Dichterin Eibhlín Dubh Ní Chonaill weiß ich überhaupt nur dank des brillanten Buches von Doireann Ní Ghríofa. Es ist eine feministische Erleuchtungskette, die sich da in meinem Regal abzeichnet, sie knüpft sich von einer Autorin zur anderen. Frauen, die das Werk anderer Frauen preisen: mein liebster Göttinnendienst!

Ich weiß, welchen Einfluss das Lesen auf das Leben haben kann, aber wie fühlt es sich wohl an, wie elementar muss es erst sein, als Schriftstellerin andere Schriftstellerinnen zu lesen und eine außergewöhnliche Verbundenheit zu spüren? Sie nicht nur besonders interessiert oder begeistert zu lesen – sie zu verehren! Gemeinschaft zu spüren, manchmal über Jahrzehnte, über Jahrhunderte hinweg, Gemeinschaft im Schreiben, im Denken, im Sehen, im Kämpfen.

Und hier sind sie nun versammelt: Autorinnen unserer Zeit, die über Autorinnen schreiben, die ihnen vorangegangen sind, die sie inspiriert haben, mit deren Worten, deren Werk sie sich verbunden fühlen.

Dieses Buch ist eine Schatztruhe, ein funkelndes Geschenk, ein heiliger Gral (kleiner habe ich es in dem Fall wirklich nicht) für mich. Und ich weiß, wir sind viele, die das Lesen nicht als Hobby bezeichnen, weil es viel eher Bedürfnis als Zeitvertreib ist, weil es uns zusammenhält und weiterträgt, weil es schlicht nicht wegzudenken ist aus unserem Leben.

Autorinnen schreiben über andere Autorinnen! Dieses Buch habe ich mir schon immer gewünscht! Anna Humbert und Linda Vogt haben es möglich gemacht und herausgegeben. Dass es mich so berauschen, so beschenken würde, so glücklich machen und trotz aller Erwartungen so überraschen würde, verzaubert mich. Dreizehn Autorinnen sind hier mehr als nur meine guten Feen. Einige kannte ich zuvor nicht, einige verehre ich schon sehr lange, aber alle haben sie mich begeistert. Auf ganz unterschiedliche Weisen, dank ganz eigener literarischer Herangehensweisen, mit denen sie über ihre Autorinnen schreiben.

Sie schreiben vorsichtige Annäherungen, sie schreiben Oden und Hymnen. Sie schreiben Briefe voller Bewunderung und voller kluger Fragen. Sie kreisen wie in einem Tanz um einen einzelnen Text oder beschwören das ganze Werk. Sie feiern die literarischen Heldinnen ihrer Kindheit oder ein gelesenes Schlüsselerlebnis, das ihnen erst kürzlich eine neue Lieblingsautorin beschert hat. Sie berichten von Entdeckungen und Berührungen, spüren Worten und Zeiten nach. Sie schreiben sehnsuchtsvoll, bewundernd, wütend, poetisch, staunend, ergriffen, dankbar. Sie lassen uns teilhaben an Erinnerungen und Einlesungen. Sie berichten von persönlichen Leseerfahrungen und verbinden sie mit dem Weltgefüge. Sie zeichnen Lebenswege nach und folgen auch den unbequemen Pfaden. Sie werfen den Kanon um und erschaffen ihn neu.

Dieses Buch ist eine feministische Doppelhelix der literarischen Entdeckungsfreude: Wir erfahren von einer Autorin über eine andere und möchten, nein müssen sofort beide lesen. Beim Lesen dieser Sammlung macht sich sofort das bemerkbar, was ich so besonders daran liebe: dieses Kribbeln, dieser überspringende Funke der Neugier, des Erstaunens, diese Ungeduld, gleich weiterlesen zu wollen, im Werk der Verehrerin und in dem der Verehrten. Und doch bin ich ganz im einzelnen Text, lese ich mich staunend ein, lese mich fest von einer Verehrung zur nächsten, halte dieses Buch wie einen Strauß, wie ein Geschenk. Von einer Frau an eine andere.

Die brüchige Existenz mit Worten leimen

Gabriele von Arnim über Elizabeth Strout und andere

Wo lesen Sie, fragen mich manchmal Menschen, wenn sie sich umschauen in meiner Wohnung.

Sehr gern im Zug, sage ich dann. Habe es jedenfalls gesagt in Zeiten, als die Bundesbahn einen noch ziemlich zuverlässig und pünktlich von einem Ort zum nächsten brachte.

Ich mag es, im Zug zu lesen. Wenn die Landschaft wie ein bewegtes Bild am Fenster vorbeizieht, ich das Telefon ausgestellt, Franzbrötchen und Tee griffbereit in der Tasche habe, wenn kein Schreibtisch darauf wartet, aufgeräumt zu werden, ich keine Termine habe beim Arzt oder Verabredungen im Cafè, sondern einfach nur Zeit vor mir liegt wie eine große, sanfte Wiese. LeseZeit. Wenn ich aus dem Fenster schaue, erwartungsvoll das Buch aufschlage und allmählich die Menschen neben mir verschwinden und Platz machen für die anderen, für die aus dem Roman.

Die nun einziehen bei mir – in allen möglichen Gestalten, aus allen möglichen Epochen. Alkoholisierte Mütter aus dem 21., Kriegsversehrte aus dem 20. oder herrliche Nonnen aus dem 12. Jahrhundert. Ich lese über Krankheit und Niedertracht, Liebe und Verrat, Freundschaft und Trost. Darf und kann mein Leben verlassen und andere Wirklichkeiten spüren, kann mich grämen und freuen für die Figuren und mit ihnen, darf eklatantes Misstrauen leben und naive Hingabe, darf alles glauben und alles in Frage stellen. Und während ich mich scheinbar aus meiner Welt entferne, fange ich tatsächlich an, schreckverstört oder zärtlichkeitsbetört in mir lebendig zu werden und auch mein eigenes Sein immer wieder ein bisschen mehr zu begreifen.

Lesen ist existentiell für unsere Seelenerkundung. Und in grausamen und zerbrechlichen Zeiten wie diesen erst recht, damit wir den Menschen in seiner Härte und Wut, seiner Verwirrtheit und auch in seiner Liebe und Güte nicht aus dem Blick verlieren.

 

Wenn Züge sich durch die Landschaft bewegen, reise ich in ihnen und in den Büchern. Bin zweigeteilt und glücklich in der Doppelung. Lebe mal hier, mal dort. Manchmal kann das Wetter sich nicht entscheiden zwischen Sonne und Regen. Dann schwimmen auf blauen Himmelsflecken zerzupfte weiße Gebilde – wie ausgehaucht von ihren großen Schwestern, den dickbäuchigen Wolken.

 

Und so habe ich die Frage nach Schriftstellerinnen, die ich besonders gern lese, mitgenommen in die Bahn von Berlin nach Kassel und Kassel nach Köln und Köln nach Basel und …

Joan Didion fiel mir auf jeder Fahrt ein. The year of magical thinking hat mir damals, als ich es las, noch einmal anders als ihre früheren Bücher Augen, Hirn und Herz geöffnet, weil ich diese Mischung aus Emotionalität und Analyse, aus überwältigender Trauer und sezierendem Verstand unwiderstehlich fand und finde. Wie hier das vor Traurigkeit hilflose Individuum ganz selbstverständlich in die Gesellschaft eingebettet und mit kühlem, ja politischem Kopf betrachtet wird, das macht für mich die große Kunst der Joan Didion aus.

 

In Kassel taucht Janet Frame auf. Vielleicht weil der Blick in eine ländliche Idylle aus Gärten, Blumen, Schafen und Wald mich erinnert an den wunderbaren Roman Dem neuen Sommer entgegen, in dem Frame von einem Besuch bei Freunden auf dem Land erzählt – aus zweigeteilter Perspektive. Sie schreibt von sich als der Frau, die sie war, und von sich als der Frau, die sie hätte sein können. Da ist auf der einen Seite die ungelenke, fast abweisende Person, die es kaum schafft, einen lockeren Satz zu sagen, während ihr imaginiertes Selbst ideenreich plaudert, witzig und geistreich sinniert und ihre Gastgeber amüsiert. Die es nur in ihrer Fantasie schafft, dazuzugehören, Teil der Wochenendgesellschaft zu werden – während die Wirklichkeit ganz anders aussieht. Frame interessiert sich für genau diesen Raum zwischen Sein und Wollen, zwischen Ereignis und Trugbild. Sie selbst musste immer wieder die Flucht in erfundene Welten antreten, um der seelenkargen und für sie gefährlichen Lebenswirklichkeit zu entkommen – denn Fantasie galt dort, wo sie herkam, als Krankheit. Und so wurde sie immer wieder in psychiatrische Anstalten gesteckt und grausamen Behandlungen unterzogen.

Janet Frame ist eine Schriftstellerin, die überlebt, weil sie schreibt. Die ihre brüchige Existenz mit Worten leimt, im Schreiben zusammenfügt, was im Leben zersplittert.

 

In Köln, am breiten Rhein, verlangt Elizabeth Taylor genannt zu werden. Nicht die Schauspielerin, sondern die Schriftstellerin, eine Meisterin der eleganten Sottisen, die von vielen als eine der besten englischen Autorinnen des letzten Jahrhunderts genannt wird. Zwölf Romane hat sie geschrieben und zahlreiche Kurzgeschichten. Mrs Palfrey at the Claremont stand auf der Guardian-Liste der 100 besten englischsprachigen Romane des 20. Jahrhunderts,

Auch Taylor beschreibt in ihren Romanen immer wieder den Versuch ihrer Heldinnen, sich aus dem eigenen Leben wegzuschreiben, auszubrechen aus bürgerlicher Langeweile oder kleinstädtischer Enge, weil man manchmal eben nur dort, wo man sich hinschreibt, so sein kann, wie man sein möchte, nur das erlebt, was man erleben möchte. Also erfindet man Abenteuer, ist Schurke oder Heldin, rettet, verrät oder tötet; liebt, ludert oder dämmert dahin in ermüdeter Ehe.

Wie hat Martin Walser – ein Mann, er sei trotzdem zitiert – es einmal so schön gesagt: «Der Anlass zum Schreiben war immer ein Mangel. Mir fällt ein, was mir fehlt.»[1]

Immer wieder beneide ich Schriftsteller:innen darum, beim Schreiben mehrere Leben führen zu können. Das eigene und das ihrer Figuren. Aber Lesen ist immerhin, wie gesagt, der zweitbeste Weg zum DoppelLeben.

 

Auch die von mir so sehr bewunderte Elizabeth Strout hat sich schon als Kind aus ihrer Einsamkeit heraus- und in andere Leben hineinfantasiert.

Viele Stunden, so hat sie es einmal in einem Interview erzählt, habe sie allein auf den Felsen am Meer oder auch im Wald verbracht und sich ein NebenLeben vorgestellt. Das Hinsehen und Hindenken zu anderen habe sie von ihrer Mutter gelernt, die eine ungemein genaue Beobachterin gewesen sei. Manchmal saßen die beiden im Auto in dem kleinen Städtchen, in dem sie wohnten, und haben Menschen angeschaut. Und ihre Mutter hat etwa gesagt:

Oh, die Frau hat es nicht eilig, nach Hause zu kommen.

Wie, wieso, warum, woher weißt du das, fragt ihre Tochter Elizabeth begierig.

Na ja, sagt die Mutter, schau doch mal, der hängende Saum ihres Mantels ist schon lange nicht umgenäht worden.

Es waren die Details, sagt Elizabeth Strout. Und schon wollte das Mädchen, das sie war, mit der fremden Frau nach Hause gehen, wollte herausfinden, wie ihre anderen Kleider und Jacken aussehen, wie das Wohnzimmer, die Küche.

Schon damals wollte Strout unbedingt wissen, wie es ist, ein anderer Mensch zu sein. «Ich habe nie ein besonders starkes Ich-Gefühl gehabt», sagt sie in einem Interview mit Susanne Kippenberger, «mich interessiert es mehr, auf andere zu gucken, ihre Erlebnisse aufzusaugen. Ich bin sehr porös.»[2] Diese Neugier, dieses wachsame Ausspähen und Erkennen von Menschen in ihrem DaSein, hat die Autorin sich bewahrt. Sie achtet auf alles, Gesichter, Blätter, Wolkenbilder, ausgelatschte Schuhe, verschattete Augen, hängende Säume. Vor allem achtet sie auf Gesten, auf kleine Gesten, kleine Blicke, kleine Szenen.

 

Hinsehen. Zuhören.

 

Strout hat ihre Kunst, Menschen zuzuhören und sie zu erspüren, schreibend zur Vollendung gebracht.

Und so ist die 1956 in Portland, Maine, geborene Autorin zu einer Meisterin der Ausmessung der Räume zwischen Wirklichkeit und Erwartung, zwischen Erinnerung und Hoffnung geworden.

 

«Wer so gut schreibt», hat Hilary Mantel einmal über Strout gesagt, «und die Welt so genau beobachtet, hat mehr als nur Talent: das ist eine Tugend.»

Elizabeth Strout habe, so noch einmal Mantel: «the perfect attunement to the human condition.»

 

Und der Mensch an sich ist ja wahrlich ein weites Feld. Aber ein nicht zu weites Feld für Strout, die sich couragiert hineinwirft in die Freudenräume und Seelenkerker ihrer Figuren, egal ob sie Banker oder Hausmeister sind, Näherinnen oder aus sogenanntem gutem Hause.

Die große Kunst der Elizabeth Strout ist es, nicht nur KrimsKramsErlebnisse des Alltags, sondern auch Traumatisierendes aus der Kindheit – oder auch dem späteren Leben – in einem so selbstverständlichen, beinahe leichthändigen Ton zu erzählen, dass man fast die Härte der Wirklichkeit überlesen könnte – wenn man sie überlesen will, weil man Angst hat, weil das Leben wehtut, weil man nicht hinsehen will.

Nie urteilt Strout oder verurteilt. Sie erzählt. Alles. Auch das elende, das gewalttätige, das schmuddelige Leid des Lebens. Erzählt es so zupackend und genau, so leise wie leidenschaftlich. Und wenn die Spannung, die Anspannung, im Text zu zerreißen droht wie ein zu fest gezogener Faden, dann kommen die besänftigenden, die poetischen Betrachtungen. Dann schreibt sie über polierte Mahagoniknöpfe am alten Bett, den Blick durch ein Bogenfenster auf eine Steinmauer im Abendlicht oder über weite Sojabohnenfelder; malt eine Vase mit Pfingstrosen ins Geschehen, führt uns in die lichtgetüpfelte Welt des Waldes oder lässt einen Kolibri an die Pergola schwirren – und dann eine Meise.

 

Wir Leserinnen und Leser folgen der Autorin wie gebannt auf ihren Wegen, freuen uns und fürchten uns, wollen bleiben bei den Figuren, und wenn sie hinter Wänden kargen, hämmern wir auf diese ein, damit sie bitte zerbersten und die von innen oder außen verriegelten Menschen ins Licht treten können. Denn es geht hier um alles. Um Ausbruch und Befreiung, um Einsamkeit und Nähe, um schräge Liebe und Mut.

 

Manchmal hält man inne mitten in der Lektüre, schaut aus dem Fenster, wandert ein Stück mit den Wolken am Himmel – und schaut in sich hinein.

Fragen, Gedanken, Erinnerungen schwirren durch den Kopf. Habe ich, was hier geschrieben steht, auch schon mal gewusst und vielleicht verdrängt, kenne ich solche LebensPein und eine solche SeelenKraft.

Kenne ich solche Menschen –

und was für ein Mensch bin ich?

Wer Strout couragiert liest, liest stets sich selber mit.

 

Und genau das hat die Autorin im Sinn.

Denn sie hat ihren Roman Oh, William! zwar ihrem Mann gewidmet. Aber geschrieben, so heißt es, sei das Buch «für alle, die es vielleicht brauchen können».

Sie fühle sich, so sagt sie, beim Schreiben verantwortlich für uns Lesende.

 

Der große Durchbruch gelang der Autorin 2008 mit dem dritten Roman: Olive Kitteridge. Für den sie 2009 den renommierten Pulitzerpreis gewann und der über eine Million Bücher verkaufte. Es gab sogar eine HBO-Miniserie mit der wunderbaren Frances McDormand in der Hauptrolle.

 

Olive Kitteridge, die dem Buch den Originaltitel gab, ist kein liebliches Menschenexemplar, mit dem man durch die Seiten tingelt, aber diese kratzbürstige, verletzliche, aggressive, grobknochige, bärbeißige, seelenwunde Person, die ihre eigenen Gefühle nicht begreift und oft die der anderen erst recht nicht, ist so herrlich räudig und zart, so barsch und liebeshungrig, so lebensnah in ihrer Widersprüchlichkeit, dass das eigene Herz ein Stück größer wird, um sie dort hineinnehmen zu können.

 

Olive ist Mathematiklehrerin und Henry, ihr fast zermürbend gutmütiger Mann, Apotheker. Der sich einmal – ganz zart und ahnend nur – in seine junge Angestellte verliebt. Schwebend und mit wunderbar sanfter Ironie und Diskretion lässt Strout ihn sein Sehnen und Leiden genießen. Einmal hebt er den heruntergefallenen Handschuh der heimlich Gehuldigten auf und schaut leicht bebend zu, wie sie ihn über ihre zarten Finger zieht. Mehr Nähe gönnt Strout ihm nicht und lässt ihn sittsam bei seiner Olive bleiben. Seiner dicken, rabiaten, unverblümten, grimmigen, unangepassten Gefährtin – die sein Leben ist. Und die fast alles falsch macht, was man als Frau und Mutter nur so falsch machen kann. Sie tyrannisiert ihren Mann, schreit herum, dominiert und treibt ihren Sohn hinein in eine Angst, die sie nicht erkennt.

 

Als Christopher erwachsen ist, baut Olive ihm ein Haus, in dem sie ihn wohl am liebsten einmauern würde, damit er ihr nur ja nicht entkommt. Als er zu ihrem Schrecken heiratet – natürlich die falsche Frau –, dringt sie während der Hochzeitsfeier ins Schlafzimmer des jungen Paares ein, klaut eine Sandale, einen Büstenhalter und beschmiert einen hellen Pullover der Braut mit einem dicken schwarzen Filzstift.

Das ist eine so hinreißend hinterhältige und im Subtext so verzweifelte Szene über eine Frau, die nicht weiß, wohin mit den Verlassenheitsängsten, die toben in ihr wie angeleinte Hunde und kläffend losrennen wollen. Olive hat ein gutes Herz, in dem es wüst zugeht.

«She is an awful lot to take»,[3] hat die Autorin über ihre Heldin gesagt. Und deshalb schrieb Strout Episoden, schrieb einen ReigenRoman, in dem Olive meist Hauptakteurin, manchmal aber nur Randfigur ist, Besucherin bei anderen oder eine Frau, der man zufällig auf der Straße begegnet. Und so entsteht in 13 Kapiteln mit so lapidaren Überschriften wie Apotheke, Auftrieb oder Fluss ein vielseitiges Porträt von Olive und zugleich das Porträt einer Kleinstadt.

Vielleicht wird man als Leserin und Leser dieser so rüden Figur ja sogar ein wenig barmherziger mit sich. Denn kennen wir es nicht auch, gefangen zu bleiben in hilfsbedürftiger Verstocktheit und auszubrechen in Wutgeheul, wenn die anderen nicht verstehen, warum wir sie vor den Kopf stoßen?

 

Es geht bei Strout um den scheinbar banalen Alltag. Und tatsächlich um nichts weniger als um unsere Existenz. Das Drama des normalen Lebens.

Es ist daher kein Wunder, dass eine der ersten Lobpreisungen von Alice Munro kam, der Altmeisterin im Schreiben über den Wahnsinn der Normalität, das Lauern der Lebensverheerung hinter glatten Fassaden, den Schmerz im trivialen Dasein.

Der Mensch, das weiß auch Strout, zerbricht nicht nur an der großen Tragödie, er wird auch verbraucht von gänzlich unspektakulärer Eintönigkeit und wird zermalmt vom Neid oder auch nur verblichener Hoffnung.

Wie frei, wie gefangen sind wir, wie lieben, wie verraten wir, wieviel Sehnsucht können wir ertragen und wie viele Enttäuschungen.

Und wie Heiterkeit finden. Denn das durchzieht Strouts Romane wie ein Mantra – das Ringen um Zuversicht, um Licht, um Liebe auch in welken Herzen. Und immer tröstet diese Autorin uns mit der Schönheit der Natur, der Schönheit der kleinen Augenblicke. Dann lässt sie uns in glimmende Sonnenstrahlen auf Birkenzweigen schauen oder Möwen beobachten, die flügelwippend über einem Hummerboot fliegen, lässt uns Wellen hören, die gegen Felsen schlagen.

 

Es sind die kleinen Dinge, die Trost geben. Die zufälligen Begegnungen, das heitere Geplauder an der Straßenecke, das mit einem kräftigen Händeschütteln eingeleitet und auch beendet wird.

Manchmal steckt ein halbes Leben in einem Halbsatz. Und man hält inne, sinnt hinein in die Leerstellen.

Und ist es nicht genau das, was Lesen auch so faszinierend macht – diese Balance zwischen blanker Leere, in die wir unsere eigenen Vermutungen und Hoffnungen hineinlesen dürfen, und facettengenauer Beschreibung.

 

Es steckt ein tiefes Wissen um uns Menschen in Strouts Schreiben. Ein Wissen, das es so nur geben kann, wenn Gefühle und Gefühligkeit nie verwechselt werden, wenn nicht Pathos sich plustert, sondern nüchterne Empfindsamkeit und kluge Ehrlichkeit sich verbinden. Denn nur so kann man den wasserhellen Raum des Lebens auch in seinen tintenschwarzen Untiefen erzählen. Nur so folgen wir der Autorin in die erzählten LebensRäume.

 

Ihre zweite große Figur neben Olive Kitteridge heißt Lucy Barton. Über die sie inzwischen schon vier Romane geschrieben hat.

Lucy Barton hat sich aus schwierigsten Familienverhältnissen – und das ist eine milde Beschreibung ihrer Kindheit – gelöst, ist in die Welt geflohen und eine erfolgreiche Schriftstellerin geworden. Aber die Vergangenheit ist immer wieder Zumutung. «Vermutlich», heißt es an einer Stelle, «schlingern die meisten so durch ihr Leben, halb wissend und halb blind, bedrängt von Erinnerungen, die unmöglich wahr sein können.»[4]

 

Lucys Vater hat Schreckliches im Krieg erlebt und ist ein schrecklicher Mann. Der zwanghaft masturbierend durchs Haus läuft, womöglich ein Brandstifter ist – und was sagt sein Sohn über ihn nach seinem Tod:

Er war anständig, ein anständiger Mann.

 

Das Leben ist vielschichtig. Und der Mensch darin ist es auch. Es gibt Gut und Böse – aber sie mischen sich. Sind beide in einem Menschen in verwirrendem Widerstreit lebendig.

Lucys Mutter hat ihre Kinder gezwungen, das Essen, das sie heimlich ausgespuckt haben, aus dem Müll zu klauben und es aufzuessen. Und dieselbe Mutter sitzt in einem der nächsten Romane fünf Tage lang am Bett ihrer inzwischen erwachsenen schwer erkrankten Tochter Lucy, erzählt von früher, ist manchmal sogar selbstkritisch, wenn auch nicht einsichtig – aber vor allem ist sie jetzt einfach nur da für ihr krankes Kind.

 

Unversehrt geht hier keiner durchs Leben. Aber will man das? Schmerzfrei durchs Leben gleiten und somit ahnungslos.