Unter Verdacht - Der vierte Fall für Mark & Felix - Sören Prescher - E-Book
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Unter Verdacht - Der vierte Fall für Mark & Felix E-Book

Sören Prescher

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Beschreibung

Der vierte Fall für Mark & Felix! Ein Notfall zwingt Kommissar Mark Richter und Hovawart Felix vorzeitig zum Dienst zurück: Ihr Freund und Partner Dominik Waldmayer wurde unter Mordverdacht festgenommen. Als Mark erfährt, wen sein Kollege getötet haben soll, weiß er, dass es noch übler als befürchtet aussieht: Es handelt sich um Juliane Gerboth, die Dominik seit Monaten beobachtet und verfolgt. Ist sein Partner diesmal vielleicht zu weit gegangen?

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Kurzbeschreibung:

Ein neuer Fall für Mark & Felix! 

Ein Notfall zwingt Kommissar Mark Richter und Hovawart Felix vorzeitig zum Dienst zurück: Ihr Freund und Partner Dominik Waldmayer wurde unter Mordverdacht festgenommen. Als Mark erfährt, wen sein Kollege getötet haben soll, weiß er, dass es noch übler als befürchtet aussieht: Es handelt sich um Juliane Gerboth, die Dominik seit Monaten beobachtet und verfolgt. Ist sein Partner diesmal vielleicht zu weit gegangen?

Sören Prescher

Unter Verdacht

RomanIns Deutsche übertragen von Sören Prescher

Edel Elements

Edel Elements

Ein Verlag der Edel Germany GmbH

© 2021 Edel Germany GmbHNeumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Copyright © 2021 by Sören Prescher

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Agentur Ashera

Covergestaltung: Marie Becker, Wolkenart 

Lektorat: Susann Harring 

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-96215-378-6

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Inhalt

MITTWOCH

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

DONNERSTAG

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

FREITAG

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

SAMSTAG

Kapitel 18

SONNTAG

Kapitel 19

Kapitel 20

MONTAG

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

DIENSTAG

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

DONNERSTAG

Kapitel 27

Nachwort und Danksagung

Playlist

MITTWOCH

1

Seufzend nippte Mark Richter an seinem Kaffee. Es war bereits die zweite Tasse, aber die Müdigkeit hielt sich hartnäckig. Auch die Dusche vorhin hatte nichts daran geändert. Grund dafür war die zurückliegende Nacht, die mal wieder die Hölle gewesen war. So wie die davor. Und die davor.

Offiziell befand er sich in Elternzeit, was von den Kollegen im Präsidium liebevoll als Urlaub bezeichnet wurde. Dabei war das komplette Gegenteil der Fall. Nach den zurückliegenden sechseinhalb Wochen fühlte er sich reif für einen Urlaub. Dabei blieben ihm bloß noch anderthalb Wochen, bevor es wieder zurück an die Arbeit ginge. Wie das dann werden sollte, vermochte er sich noch nicht einmal auszumalen. Nicht grundlos galt Schlafentzug über einen längeren Zeitraum als Foltermethode.

Wobei er zugeben musste, dass es in den vergangenen Tagen besser geworden war. In der Anfangszeit hatte Caro das Baby ausschließlich gestillt, was für Nathalie offenbar dermaßen anstrengend gewesen war, dass sie nach spätestens einer Viertelstunde oft noch während des Nuckelns eingeschlafen war. Viel getrunken hatte sie bis dahin allerdings nicht, weshalb es in der Regel nicht lang dauerte, bis die Kleine vor lauter Hunger erneut schrie. Tagsüber war das anstrengend und zeitaufwendig, nachts wurde es irgendwann zur Qual.

Irgendwann hatte seine Frau genug von dem Affentanz gehabt und angefangen, dem Baby Milchpulver zuzufüttern. Dadurch trank Nathalie deutlich mehr und rascher, legte an Gewicht zu, und Caro war nicht mehr den ganzen Tag mit Stillen beschäftigt. Dennoch wurde die Kleine mindestens zwei-, manchmal dreimal pro Nacht wach und verlangte nach neuer Nahrung. Während Mark zuvor nicht wirklich eine Hilfe gewesen war – zumindest nicht beim Füttern –, war er bei der Zubereitung der Milchfläschchen nun ebenfalls gefragt. Und so war eine bestimmte Grundmüdigkeit zu einer Art ständigem Begleiter geworden, ganz gleich, wie viel oder wenig er in den vergangenen Tagen geschlafen hatte.

Am liebsten wäre er vorhin deshalb einfach im Bett liegen geblieben. Doch einen gewissen Vierbeiner kümmerte es wenig, wie oft der menschliche Nachwuchs in der Nacht schrie. Wenn die Natur rief, musste der Hund einfach Folge leisten. Also hatte sich Mark möglichst leise aus dem Schlafzimmer geschlichen und Felix sein Geschäft im nahe liegenden Stadtpark erledigen lassen. Früher hatte Mark die Gelegenheit für eine Joggingrunde genutzt, heute fehlte ihm dafür schlichtweg die Kraft. Er war froh, als er danach zurück in die Wohnung gehen konnte. Der schneidend kalte Januarwind hatte die Entscheidung zusätzlich erleichtert. Bei diesem Wetter hielt sich jeder lieber drinnen auf.

Mit der Kaffeetasse in der Hand betrat er das Wohnzimmer. Er räumte Spucktücher, eine Spieluhr und eine Gummigiraffe vom Tisch und Fußboden zusammen, bevor er seufzend aufs Sofa sank. Es war noch nicht einmal elf Uhr, und er fühlte sich schon bereit für den Mittagschlaf.

So kräftezehrend die Zeit seit der Geburt gewesen waren, er wollte sie trotzdem nicht missen. Es war eine unbeschreibliche Mischung aus Stolz, Faszination und Aufregung gewesen. Er war von der ersten Minute an Zeuge davon, wie sich ein neues Leben entwickelte. Wie ein Neugeborenes, das anfangs kaum mehr als die Augen öffnen konnte, von Tag zu Tag ein bisschen aktiver wurde. Die Tatsache, dass es Caros und sein Kind war, setzte dem Ganzen natürlich die Krone auf. So abgedroschen es auch klingen mochte, Nathalie war das Produkt ihrer Liebe. Was konnte es Schöneres geben?

Das Klingeln seines Smartphones riss ihn aus den Gedanken. Mark sprang hoch, und Felix neben ihm zuckte zusammen. Sie schauten sich um. Wo hatte er das blöde Ding vorhin hingelegt? Er musste das Handy rasch finden, bevor es Caro und Nathalie aufweckte!

Der Klingelton führte ihn in die Küche, wo er das Gerät neben dem Herd liegen sah. Zeitgleich fiel ihm auch wieder ein, wie er es vorhin dort abgelegt hatte, um für Felix eine Nassfutterdose aufzumachen. Mit einem irritierten Blick auf das Display nahm Mark das Gespräch an.

„Hallo, Olaf, das ist ja mal ’ne Überraschung.“ Dass ihn sein Chef anrief, kam relativ selten vor. Insbesondere wenn sich Mark im Urlaub befand.

„Ich bin gerade zufällig in deiner Gegend. Hast du Lust auf einen kleinen Spaziergang?“

„Klar, wann denn?“

„Wie wäre es mit jetzt? Ich stehe praktisch vor deiner Haustür.“

Mark hob die Brauen. „Oo-kay. Ich komm runter. Bis gleich.“

Sein Dienstgruppenleiter legte auf, und Mark starrte unschlüssig auf sein Telefon. Hatte Olaf irgendwie anders geklungen als sonst? Irgendwie leiser und bedrückt? Noch merkwürdiger war, dass sich Olaf zufällig in der Nähe aufhielt. An einem Wochentag, wo er normalerweise in seinem Büro sein sollte. Hatte er ihn in den vergangenen Jahren jemals zu Hause besucht? Mark konnte sich nicht entsinnen.

Nachdenklich zog er sich Jacke und Schuhe an. Er warf einen letzten Blick in Richtung Schlafzimmer, wo nach wie vor alles ruhig zu sein schien. Dann verließ er mit Felix leise die Wohnung.

Der Kriminalhauptkommissar hatte untertrieben. Er befand sich nicht praktisch in der Nähe, sondern lehnte betont lässig am Straßenrand an seinem Dienstwagen, als Mark das Treppenhaus verließ. Es glich einem Wunder, dass er überhaupt einen freien Parkplatz direkt vor der Tür gefunden hatte.

Olaf Brandtrup war ein hochgewachsener Mann mit fliehender Stirn, der mit raschen Schritten auf die Fünfzig zuging und keinen gesteigerten Wert auf sein Erscheinungsbild legte. Heute trug er einen anthrazitfarbenen, für seine hagere Gestalt viel zu weiten Anzug und ein weißes Hemd mit hellbauen Streifen. Am Kragen waren die Ansätze einer wenig modernen Krawatte zu sehen. Es war irgendetwas Dunkelblaues mit gelben Punkten.

Felix bellte zur Begrüßung und schwänzelte vergnügt zwischen Olafs Beinen umher. Dieser lächelte erfreut. „Hallo, Felix, hallo, Mark, schön, euch zu sehen. Sorry noch mal, dass es so kurzfristig ist. Wie läuft es daheim?“

Sie gingen mit gemütlichen Schritten auf den Stadtpark zu. Dem Chef war deutlich anzusehen, dass dies kein reiner Höflichkeitsbesuch war. Er wirkte gehetzt, blass und voller Sorge. Dennoch wollte Mark ihn nicht drängen, sondern gab ihm die Zeit, die er offenbar brauchte.

„Es ist anstrengend, aber auch schön. Nathalie hat ein paar Probleme mit Blähungen und Schluckauf. Das hält uns etwas auf Trab. Genauso wie das Stillen und dergleichen. Hätte nie gedacht, dass ich mir über so was Gedanken mal machen würde.“

„Das gehört alles dazu. Bevor ich Vater wurde, ging mir das genauso. Gerade warst du bloß für dich und deine Frau verantwortlich, und auf einmal sorgst du dich um wunde Babyhintern, kindersichere Wohnzimmermöbel oder ob die Fontanelle vielleicht zu tief eingesunken sein könnte.“

Mark nickte zustimmend. „Früher dachte ich, es würde bloß eine Art Babygeschrei geben. Inzwischen kann ich zwischen drei oder vier verschiedenen Tönen unterscheiden. Es gibt sogar ein Müdigkeitsschreien.“

„Irgendwie müssen sich die Wonneproppen ja äußern. Reden und zeigen können sie ja noch nicht. Kommt aber alles noch. Wenn deine Tochter laufen kann, beginnt die richtig schöne Zeit. Obwohl du ab dann keine ruhige Sekunde mehr hast, weil sie dir überallhin folgt. Sogar zum Klo. Ich will gar nicht wissen, wie oft ich Gespräche durch die Toilettentür geführt habe.“

Einen Moment lang lächelte Olaf gedankenschwer. Er schien diese Erlebnisse zu vermissen und seinen Kollegen um die neuen Erfahrungen zu beneiden. Dennoch konnte er selbst dabei seine sorgenvolle Miene nicht verbergen.

Das beunruhigte Mark mit jedem Herzschlag mehr. Schließlich hielt er es nicht mehr aus. „Du bist vermutlich nicht bloß vorbeigekommen, weil du Erinnerungen von Vater zu Vater austauschen möchtest, oder?“

Olaf atmete tief und schwer, so als läge ihm ein Zentnergewicht auf der Brust. „Leider nicht.“ Er hielt kurz inne. „Streng genommen weiß ich nicht mal, ob ich dir das überhaupt erzählen darf.“

„Du machst mich nervös. Was ist los?“

Olaf zögerte erneut. „Das ist alles eine ziemlich heikle und vertrackte Situation.“

Diese Andeutung trug ebenfalls nicht dazu bei, dass Mark sich wohler fühlte.

Sein Chef blickte sich unauffällig nach allen Seiten um, bevor er fortfuhr: „Es ist etwas passiert. Dominik ist heute Morgen festgenommen worden. Dringender Tatverdacht.“

Erschrocken riss Mark die Augen auf. Spätestens jetzt war er hellwach. „Das ist ein Scherz, oder?“

„Ich wünschte, es wäre so. Die Informationen sind alle noch ganz frisch, erst wenige Stunden alt. Anscheinend wurden seine Fingerabdrücke an einem Tatort gefunden. Er kannte die Frau und hat zugegeben, dass er sie in den vergangenen Tagen und Wochen verfolgt und beobachtet hat. Dafür gibt es Zeugen. Alles sieht nach einer Affekthandlung aus, nachdem sie ihn bei einem Einbruch in ihre Wohnung ertappt hat.“

„Scheiße. Das kann nicht sein. Das ist ein Irrtum – es muss einer sein.“

Olaf schwieg.

„Wann ist das passiert?“

„Gestern Abend.“

„Wie heißt die Tote?“

„Juliane Gerboth.“

Marks Herz setzte vor Schreck einen Schlag aus. Er kannte den Namen, obwohl er für Details tief in seinen Erinnerungen kramen musste. Es war schon etliche Monate her, dass er ihn gehört und gelesen hatte. Marks Blick wanderte zu einem imaginären Punkt in der Ferne, während seine Gedanken sich überschlugen und in die Vergangenheit abtauchten.

Er reiste zurück zu Dominiks und seinem ersten Fall im April. Dem Hochzeitsmord. Sie beide waren noch dabei gewesen, sich zu beschnuppern und kennenzulernen. Irgendwann waren Mark die vielen Marotten seines neuen Partners zu viel geworden, und er hatte befürchtet, Dominik könnte die Ermittlungen behindern oder sogar Beweise zurückhalten. Also war er ihm einige Male nach Feierabend vom Präsidium aus in die Nürnberger Südstadt gefolgt, wo Dominik ein unscheinbares Mehrfamilienhaus beobachtet hatte – besser gesagt eine Frau. Juliane Gerboth.

Als Mark ihn daraufhin zur Rede stellte, hatte Dominik ihm verraten, dass er die Frau im Verdacht hatte, für eine geheime Organisation zu arbeiten, die in der nationalen und internationalen Politik die Fäden zog. Später in seiner Wohnung hatte Dominik ihm eine Wand voll Fotos, Berichten und Landkartenausdrucken gezeigt. Auch dort hatte der Name Juliane Gerboth gestanden.

O Gott, die Wand des Wahnsinns, schoss es Mark durch den Kopf. Wenn irgendein Außenstehender die sah, wäre das wahrscheinlich der letzte fehlende Beweis für Dominiks Schuld. Sofern der überhaupt noch vonnöten war.

„Wie ist sie ermordet worden?“

„Erdrosselt. Höchstwahrscheinlich mit einem Schal.“

„Scheiße. Was hat Dominik zu den Anschuldigungen gesagt?“

Olaf seufzte schwer. „Du kennst ihn doch. Er hat natürlich alles abgestritten und sofort behauptet, reingelegt worden zu sein. Dass alles eine weitreichende Verschwörung sei, weil er hinter irgendwelche dunklen Machenschaften gekommen ist. Er habe zu viel darüber herausgefunden, und jetzt wollen sie ihn mundtot machen, um ihn endlich loszuwerden. Das Ganze hört sich an wie ein Spionagethriller von John Le Carré.“

Sie nahmen die Südroute durch den Park, vorbei am Ärztehaus und am Berliner Platz, und schlugen die Richtung des ehemaligen Parkcafés ein, das jetzt als Eventlocation PARKS bekannt war. Ohne es zu merken, hatten sie sich für Marks und Felix’ übliche Joggingstrecke entschieden.

„Wer wird die Ermittlungen leiten?“

„Genau das ist das Problem. Nachdem du in Elternzeit gegangen bist, hatte ich Dominik ja Jan Schuster als vorübergehenden Partner zugeteilt. Eigentlich hätten die beiden den Fall also übernommen. Was jetzt logischerweise vom Tisch ist. Dominik sitzt in U-Haft, und Jan musste ich vom Fall abziehen, weil er als sein Partner zu befangen wäre.

An der Stelle kommst du ins Spiel. Das ist eine ziemlich einmalige Situation. Technisch gesehen bist du ja nicht mehr beziehungsweise vorübergehend nicht Dominiks Partner. Dadurch kann ich dich auch nicht wegen Befangenheit von den Ermittlungen abziehen. Trotzdem kennst du Dominik besser als jeder andere. Ich für meinen Teil traue dir durchaus zu, dass du die Sache objektiv betrachten kannst. Aber das ist meine persönliche Einschätzung. Daher meine ganz direkte Frage: Wenn du daran beteiligt wärst: Könntest du die Ermittlungen unparteiisch und ohne Vorbehalte führen?“

„Selbstverständlich kann ich das“, erwiderte Mark, ohne nachzudenken. Fast hätte er noch hinzugefügt: Schließlich ist Dominik mein Partner. Doch das wäre in dem Fall der falscheste Nachsatz überhaupt gewesen.

„Mir ist bewusst, dass das eine schwierige Situation ist. Aber du weißt ja, dass Dominik bei manchen Kollegen einen etwas schweren Stand hat. Er ist ihnen zu abgedreht. Wenn ich denen die Ermittlungen überlasse, befürchte ich, war es das für ihn. Dann hat Dominik keine Chance mehr. Schon jetzt sieht es nicht besonders gut aus. Die aktuell vorliegenden Beweise sprechen alle gegen ihn.“

„Das muss alles nichts zu bedeuten haben! Ich hab schon viele vermeintlich eindeutige Fälle auf dem Tisch gehabt, bei denen es letztendlich ganz anders gewesen ist.“

„Ich auch. Genau aus dem Grund bin ich heute hier. Wenn einer Dominik aus diesem Schlamassel rausboxen kann, dann du. Du bist ein fähiger Kommissar, einer der besten bei uns. Du schaust genauer hin und bildest dir erst ein Urteil, wenn du sämtliche Fakten kennst. Das haben andere nicht ganz so gut drauf. Aber nur, damit wir uns richtig verstehen: Ich will nicht, dass du hier irgendwelche Indizien ignorierst oder unter den Teppich kehrst. Wenn Dominik den Mord tatsächlich begangen hat, wandert er dafür lebenslang in den Bau. Sollte er unschuldig sein, möchte ich, dass du genau das lückenlos nachweist und den wahren Täter überführst. Daher fragte ich lieber noch mal ganz explizit: Traust du dir das zu? Kannst du hier wirklich unparteiisch sein?“

„Ja, das kann ich.“

„Gut. Dann haben wir jetzt nur noch ein Problem: Offiziell befindest du dich die kommenden anderthalb Wochen noch in Elternzeit. Kannst du die wegen eines dringlichen beruflichen Notfalls aufschieben?“

„Natürlich.“

„Sag das mal nicht so vorschnell. Von der rechtlichen Seite her kriegen wir das schon geregelt. Ich meinte damit eher die andere Seite. Caro. Deine Chefin. Du hast ihr versprochen, dass du sie acht Wochen lang unterstützt. Es dürfte ihr nicht gefallen, wenn du vorzeitig das Feld räumst und sie mit dem Baby allein lässt.“

Das war in der Tat ein wunder Punkt. „Ich kläre das mit ihr.“

„Okay. Ich will nicht, dass bei euch deswegen der Haussegen schiefhängt. Nüchtern betrachtet lässt du sie hängen, um früher wieder arbeiten zu gehen. Das findet nicht jede junge Mutter so prickelnd. Gelinde ausgedrückt. Vor allem in der Anfangszeit.“

„Ich kläre das mit ihr“, versicherte er erneut. „Sie wird das verstehen. Sie kennt und mag Dominik.“

Zumindest hoffte er, dass sie es verstehen würde. Zwar hatten sie sich schon mal darüber unterhalten, wie es nach dem Ende der Elternzeit weitergehen sollte, aber das war alles noch ziemlich unkonkret gewesen, weil sie beide davon ausgegangen waren, dass Mark bis Ende Januar daheimbleiben würde.

Inzwischen lag das PARKS lange hinter ihnen, und sie passierten einen Spielplatz. Felix schnüffelte links und rechts des Weges, hielt sich jedoch immer in ihrer Nähe auf. Der Wind blies ihnen dermaßen eisig ins Gesicht, dass Mark das Gefühl hatte, ihm würden die Ohren und die Nase einfrieren. Er war dankbar für jeden warmen Sonnenstrahl, der ihn traf. Auch Olaf hatte den Kopf eingezogen und hielt die Hände tief in den Manteltaschen vergraben, um dem Wind möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten.

„Gut. Dann kläre das ab und gib mir Bescheid, ab wann du anfangen kannst. Ich bespreche das dann mit der Personalabteilung. Bis zu deiner Rückkehr dürften auch die Berichte der Spurensicherung und der Rechtsmedizin vorliegen. Damit du direkt durchstarten kannst.“

Sie ließen die Spielplätze hinter sich und schritten weiter nach Westen. Unterwegs sprachen sie weiter über den Fall und darüber, dass Dominik bisher einen ziemlich gefassten Eindruck gemacht hatte. Zwar war er separat untergebracht, dennoch würde es vermutlich nicht lang dauern, bis sich unter den anderen Häftlingen herumgesprochen hatte, dass der neueste Zugang ein Polizist war. Was die Situation hinter Gittern sicher nicht vereinfachen würde. Allein deswegen war Eile geboten.

Eine halbe Stunde später kehrten Felix und er in die Wohnung zurück. Als Mark die Tür öffnete, kam ihm Caro mit Nathalie auf dem Arm im Flur entgegen. Seine Frau lächelte und schwenkte das Baby vergnügt durch die Luft. Nathalie gluckste vor Freude.

„Hat euch das Telefon geweckt?“, erkundigte er sich.

„Was glaubst du denn? War es was Wichtiges?“

„Olaf war dran. Er wollte sich mit mir treffen.“

Caro blickte ihn fragend an.

„Ich bin gerade mit ihm unten im Park gewesen. Er hat mir von einer heiklen Sache erzählt.“

Er zögerte, und sie wurde neugieriger. „Von der die Kollegen im Präsidium nichts mitbekommen sollen?“

Mark nickte. „Dominik sitzt in U-Haft. Er wird verdächtigt, eine Frau getötet zu haben.“

Caros Lächeln erstarb. „Wie bitte? Wen? Warum?“

„Viele Einzelheiten kenne ich noch gar nicht. Ich weiß nur, dass er alles abstreitet und behauptet, reingelegt worden zu sein. Olaf hat mich gefragt, ob ich die Ermittlungen übernehmen würde.“

„Was hast du gesagt?“

„Dass ich das mit dir besprechen werde. Eigentlich habe ich ja noch anderthalb Wochen Elternzeit.“

Sie schüttelte den Kopf. „Das ist doch jetzt egal. Mit Nathalie komme ich schon klar. Sieh zu, dass du in die Gänge kommst und Dominik da rausboxt!“

Ihre Stimme und ihr Blick waren fordernd und duldeten keine Widerworte. Nichts lag Mark ferner. Ein Stein fiel ihm von Herzen. Gleichzeitig war ihm danach, seine Frau in die Arme zu schließen. Stattdessen drückte er ihr und Nathalie einen dicken Schmatzer auf. „Danke, dass du das mitmachst.“

„Das ist ja wohl klar. Und jetzt leg mal einen Zahn zu. So ein Fall löst sich nicht von alleine!“

Lächelnd eilte er los, um sich zuerst etwas weniger Legeres anzuziehen und anschließend seinen üblichen Krimskrams zusammenzusuchen: Dienstausweis, Handschellen, Stift und Notizbuch. Normalerweise steckten diese Dinge in der Innenseite seines Mantels. Allerdings hatte dieser einige Tage in der Reinigung verbracht – was besonders dem Notizbuch nicht besonders gut bekommen wäre. Daher lagen sie nun stattdessen auf dem Schreibtisch im Kinderzimmer Schrägstich Gästezimmer.

Er schaute sich um und überlegte, ob er etwas übersehen hatte. Seine Dienstwaffe war es jedenfalls nicht. Die hatte Mark vor Antritt der Elternzeit in seinem Spint im Präsidium eingeschlossen. Er war nicht davon ausgegangen, sie in den kommenden acht Wochen zu benötigen. Aber das war nicht die einzige Sache, die er bei der Verabschiedung Ende November für unmöglich gehalten hatte.

Als er in den Flur zurückkehrte, hörte er links und rechts von sich Geräusche. Irritiert schaute er nach und sah Nathalie auf einer Spieldecke im Wohnzimmer liegen und Caro in der Küche hantieren. Er ging zu seiner Frau, der ein weißes Stofftuch über der Schulter hing und die gerade dabei war, Milchpulver in den Portionierer abzufüllen.

„Dauert bestimmt nicht mehr lang, bis sie wieder Hunger hat“, erklärte Caro. „Dann will ich vorbereitet sein. Ich muss ja jetzt alles alleine machen.“

„Äh … Ich kann Olaf auch absagen.“

„Hey, das war ein Scherz. Du gehst jetzt da raus und schaust, was überhaupt los ist. Vielleicht entpuppt sich ja alles als großes Missverständnis. Ist zwar nicht besonders wahrscheinlich, aber man weiß ja nie. Du kannst dich ja zwischendurch mal melden, wenn du was Genaueres weißt.“

„Selbstverständlich. Danke, dass du mich das tun lässt. Du bist eine tolle Frau.“

„Ich weiß. Und jetzt ab mit dir.“

Mark zog sie so plötzlich zu sich heran, dass ein Teil des Milchpulvers neben die bunten Portionierkammern fiel. Darüber beschweren konnte sie sich nicht, weil seine Lippen bereits auf ihren lagen. Er fühlte, wie herrlich weich sie waren, schmeckte ihre Süße. Mark schloss die Augen und genoss den Moment. Der viel zu schnell vorüber war.

Während Caro das weiße Pulver mit der Hand aufkehrte, ging Mark ins Wohnzimmer, um sich von seiner Tochter zu verabschieden und auch ihr einen Kuss aufzudrücken. Er spürte ein kleines Stechen in der Herzgegend, als er mit Felix die Wohnung verließ.

2

Vom Stadtpark aus waren es selbst zur Spätmittagszeit nur wenige Fahrminuten bis zum Präsidium am Jakobsplatz. Der Verkehr hielt sich in Grenzen, was Mark sehr gelegen kam. Er nutzte die Zeit, um über die Freisprecheinrichtung des Handys Olaf anzurufen. Sein Dienstgruppenleiter war nach dem ersten Klingeln am Apparat und freute sich, dass Mark so rasch anfangen konnte. „So schnell hatte ich ehrlich gesagt gar nicht damit gerechnet. Aber schön, dass es geklappt hat. Halte mich über den Fall bitte auf dem Laufenden. Wenn du irgendwas brauchst oder auf unerwartete Schwierigkeiten stößt, gib mir Bescheid. Vielleicht kann ich etwas tun.“

„Werde ich machen. Gibt es schon Infos, wann Dominik dem Haftrichter vorgeführt wird?“

„Bisher nicht. Wahrscheinlich sind noch alle dabei, die Fakten zusammenzutragen. Besonders eilig wird es die Staatsanwaltschaft vermutlich nicht haben. Außer es ist irgendein jungdynamischer Durchstarter, der sich unbedingt profilieren will. Dazu habe ich noch nichts gehört. Irgendwann im Laufe des Tages wird es wohl soweit sein. Ansonsten passiert es morgen. Du kennst ja die Strafprozessordnung; der Festgenommene muss spätestens am Tag nach der Festnahme dem Richter vorgeführt werden.“

„Vielleicht haben wir Glück. Die Festnahme könnte für ungültig erklärt werden oder Dominik wird für die Dauer der Ermittlungen erst mal nur suspendiert.“

„Darauf würde ich nicht wetten. Wie gesagt, die Beweislage ist ziemlich eindeutig. Sofern du nicht auf die Schnelle ein echt gutes Kaninchen aus dem Hut zaubern kannst, wird sich Dominik auf einige Zeit im Café Viereck einstellen müssen. Kannst ja später mal in der Bärenschanzstraße vorbeischauen.“

Mark bog mit seinem Passat von der Pirckheimer Straße aus links in die Bucher Straße ab und folgte dem Berg hinauf in Richtung Kaiserburg. Grelles Sonnenlicht strahlte ihm entgegen und raubte ihm für eine Sekunde die Sicht. „Hatte ich ohnehin vor. Das ist alles ein Riesenhaufen Bockmist.“

„Wem sagst du das? Zurzeit ist gerade ziemlich wenig los in der Stadt. Wenn wir Pech haben, dreht uns die Presse dafür durch den Fleischwolf. Dass ein Polizist wegen Mordverdacht einsitzt, dürfte ein Fest für sie sein. Der Pressesprecher wird diesbezüglich natürlich keine Gerüchte streuen. Der hält uns erst mal den Rücken frei. Trotzdem sickert so was auf kurz oder lang immer durch. Und dann gnade uns Gott.“

Außer ich habe bis dahin schon seine Unschuld bewiesen, lag es Mark auf der Zunge. Er besann sich rechtzeitig eines Besseren. Mit solchen Versprechen oder Behauptungen sollte man immer vorsichtig sein. Insbesondere wenn man sich noch nicht einmal mit den Fallakten vertraut gemacht hatte. Deshalb sagte er lediglich. „Wir sollten uns also ranhalten, damit wir gerüstet sind, wenn die tückischen Fragen kommen.“

„Was das Ranhalten betrifft: Wahrscheinlich würdest du schneller vorankommen, wenn du einen Partner an deiner Seite hättest. Die meisten Kollegen sind zwar mit anderen Fällen beschäftigt und/oder nicht ganz unvoreingenommen, aber eine der Neuankömmlinge vom KDD könnte ich dir zur Seite stellen. Die meisten von denen sind ziemlich auf Zack.“

Mark verzog das Gesicht. Keinen Zweifel, es gab unter den Jungen einige recht fähige Kolleginnen und Kollegen. Jemand, der noch nicht lange als Kommissar arbeitete, würde vermutlich auch nicht viel auf die im Präsidium kursierenden Gerüchte über schrullige bis nervige Oberkommissare geben. Dennoch verspürte Mark wenig Lust darauf, den Babysitter zu spielen und einem unerfahrenen Partner ständig auf die Finger zu schauen. Dafür fehlte ihm jetzt schlichtweg die Zeit. „Erst mal lieber nicht. Wenn ich mit der Arbeit nicht hinterherkomme, melde ich mich. Für den Moment reicht mir die normale Unterstützung durch Spurensicherung, Rechtsmedizin und IT. Mit deren Hilfe bin ich recht gut aufgestellt.“

Dazu kam noch ein weiterer Grund, den Mark jedoch lieber für sich behielt: Normalerweise herrschte unter Polizisten ein uneingeschränkter Korpsgeist. Wenn einer von ihnen Probleme hatte, hielten alle zusammen und ignorierten gelegentlich sogar das eine oder andere Indiz. Hier war das nicht der Fall gewesen. Im Gegenteil, sein Partner war praktisch unmittelbar nach dem Auffinden der ersten Spuren festgenommen worden. Bloß die Tat eines überkorrekten Beamten … oder steckte mehr dahinter?

Wäre dies hier ein knackiger Krimi von Michael Connelly oder Don Winslow könnte auch irgendein Kollege falsche Beweise am Tatort platziert haben, um Dominik loszuwerden. Sonderlich beliebt war er mit seiner unangepassten Art ja nicht. Allerdings war das Fingieren von Beweisen eine schwere Straftat. Würde jemand tatsächlich solch drastische Mittel ergreifen? Immerhin war es von Auf die Nerven gehen bis zu Er muss weg war es ein gehöriges Stück. Wie Mark aus den Erzählungen seines Partners wusste, war Dominik noch nie nach jedermanns Geschmack gewesen. Sicher gab es etliche, die alles andere als traurig wären, wenn ein gewisser Kriminaloberkommissar mindestens versetzt werden, wenn nicht gar komplett aus ihrem Dunstkreis verschwinden würde. Bis zu einem gewissen Grad konnte Mark diese Ablehnung nachvollziehen. Sein Partner war schwierig, und auch Mark hatte einige Zeit gebraucht, um sich daran zu gewöhnen. Ganz zum Anfang ihrer Partnerschaft hatte es Momente gegeben, da hatte er es ernsthaft in Betracht gezogen, dass Dominik einige Warnschüsse auf ihn abgegeben hatte. Heute wusste er, dass das Unsinn war, und schämte sich, an so etwas überhaupt nur gedacht zu haben. Dennoch bewies diese kurze Phase des Zweifelns deutlich, dass bezüglich Dominik nicht alles ganz so einfach und eindeutig war.

Ob Olaf diese Bedenken teilte oder ob er als Chef so etwas nicht mal denken durfte, wusste Mark nicht. Allein deswegen musste dieser Punkt unausgesprochen bleiben. Vor allem bei einem Gespräch übers Mobiltelefon, das jeder mit der entsprechenden Ausrüstung abhören und mitschneiden konnte, sollte man derlei Dinge nicht offen besprechen. „Okay. Wie du meinst. Ist deine Entscheidung“, lautete dessen knappe Antwort.

Inzwischen hatte Mark den Spittlertorgraben erreicht und wechselte nach links zur Mohrengasse und dahinter die Grillenberger Straße hinauf. Tausendmal war er diese Strecke gefahren, und nie war sie ihm so heikel wie heute vorgekommen. Er hatte keine Ahnung, wie die Beweise gegen Dominik an den Tatort gelangt waren, und konnte deshalb von vornherein nichts ausschließen. Auch nicht, dass andere Kollegen eventuell involviert waren. Gut möglich, dass das zu abwegige Gedanken waren, die eher zu Dominik als zu ihm gepasst hätten. Offenbar färbte die Paranoia seines Partners allmählich auf Mark ab. So oder so, er ermahnte sich, auf der Hut zu bleiben. Man konnte ja nie wissen …

Als das Präsidium in Sicht kam, verabschiedete Mark sich von Olaf und bog auf den Parkplatz im Hinterhof ab. Wie durch ein Wunder gab es einen freien Platz, auf dem er seinen Passat abstellen konnte. Mit Felix an seiner Seite und einem unguten Gefühl in der Magengegend betrat Mark das Gebäude.

Über das Treppenhaus machte er sich auf den Weg in den zweiten Stock, wo sich das Großraumbüro befand, das er sich mit etlichen weiteren Kommissaren teilte. Dominiks und sein Doppelschreibtisch stand im hinteren Teil des Raums, und allein die Strecke dorthin kam Mark sehr, sehr lang vor.

Unterwegs traf er auf etliche Kollegen, die über sein vorzeitiges Auftauchen größtenteils verwundert reagierten. Viele erkundigten sich nach Nathalie und Caro, ganz so, als wäre der gesamte Polizeiapparat eine große glückliche Familie, in der jeder an Freud und Leid des anderen teilnahm. Möglicherweise war dem auch so. Heute allerdings hinterließ es bei Mark einen faden Nachgeschmack auf der Zunge. Deshalb reagierte er etwas einsilbig und zeigte Babyfotos nur all jenen Kollegen, mit denen er sich seit Urzeiten blendend verstand und für die er beide Hände ins Feuer gelegt hätte.

Die Nachricht über Dominiks Festnahme hatte selbstverständlich längst die Runde gemacht. Viele verstanden, dass Mark deswegen früher aus der Elternzeit zurückgekommen war und sich um den Fall kümmerte. Kommentare wie „Box ihn da raus“ und die angebotene Unterstützung taten Mark gut.

Es gab allerdings auch Kollegen, die skeptisch auf Marks Teilnahme an den Ermittlungen reagierten. Was ebenso gerechtfertigt war. Umgedreht hätte er vermutlich genauso Zweifel, wie unvoreingenommen jemand sein konnte, der monatelang der direkte Partner des Hauptverdächtigen war. Besonders ihnen wollte Mark beweisen, wie falsch sie lagen.

Überraschenderweise sah sein Schreibtisch ziemlich aufgeräumt aus. Weder hatten sich in seiner Abwesenheit Berge unerledigter und ungelesener Memos und Akten aufgetürmt, noch hatte Dominik die andere Hälfte des Doppelschreibtischs als Ablagefläche seines eigenen Krimskrams missbraucht. Gleich ans Werk machen konnte sich Mark trotzdem nicht. Nach sechs Wochen im ausgeschalteten Zustand brauchte seine Computer einige Zeit, um wieder auf Touren zu kommen und all die verpassten Updates zu installieren. Notgedrungen nutzte Mark die Zeit, um sich einen Kaffee für sich und eine Schüssel frisches Wasser für Felix zu holen. Der Hovawart schien ebenfalls etwas unschlüssig zu sein und spazierte minutenlang schnüffelnd um seinen Stammplatz herum, bevor er sich endlich auf seiner Decke niederließ. Auch danach wirkte er ziemlich angespannt und auf der Hut. Zweifellos spürte der Hund mit seinen übersensiblen Sinnen, dass momentan etwas im Argen lag. Unter Umständen fehlte ihm auch der komisch angezogene und permanent quasselnde Kollege seines Herrchens.

Drei Neustarts und zig Aktualisierungen später war der PC einsatzbereit. Was nicht bedeutete, dass er dadurch schneller lief. Irgendwas ratterte beharrlich im Hintergrund und bremste sämtliche Anwendungen aus. Selbst das Laden der E-Mails dauerte eine gefühlte Ewigkeit. Doch auch mit dem Fuß auf der Bremse stand irgendwann fest, dass kein Report von der Spurensicherung vorlag. Dr. Ziegler hatte das Rennen, das eigentlich gar keines war, dieses Mal gewonnen. Sein vorläufiger Obduktionsbericht war vor weniger als fünf Minuten eingetroffen. Die elektronische Tinte war praktisch noch feucht. Mark war beeindruckt. Offenbar hatte der Rechtsmediziner sich unverzüglich an die Arbeit gemacht. Eine solche Eile und Dringlichkeit war alles andere als selbstverständlich.

Also beschäftigte sich Mark zuerst mit Zieglers Untersuchungsergebnissen. Denen zufolge war die 47-jährige Juliane Gerboth gestern in den frühen Abendstunden in ihrer Wohnung gestorben. Anhand der Körpertemperatur vermutete er einen Zeitraum zwischen 21:30 und 22:30 Uhr. Todesursache war eine hypoxisch-hyperkapnische Erstickung, ein Todesfall durch Sauerstoffmangel, der durch Behinderung beziehungsweise Blockade der Sauerstoffzufuhr- oder -aufnahme sowie durch Behinderung der CO2-Abatmung im Organismus verursacht wurde. Kurz: Sie war stranguliert worden. Höchstwahrscheinlich durch einen am Tatort sichergestellten, etwa einen Meter langen weinroten Stoffschal.

Weitere Anzeichen waren Einblutungen in die Halsweichteile und die Kehlkopfmuskulatur, eine Fraktur des Kehlkopfes sowie petechiale Blutungen an Bindehäuten und Mundschleimhaut.

Bis zu ihrem Tod war Juliane Gerboth bei relativ guter Gesundheit gewesen. Mehrere frische Hämatome und Kratzer legten die Vermutung nahe, dass sich das Opfer im Todeskampf zur Wehr gesetzt hatte. Unklar waren einen Bluterguss am Steißbein und zwei an den Unterarmen, die offenbar post mortem entstanden waren. Sie könnten durch ein Bewegen des Leichnams entstanden sein. Allerdings wies nichts darauf hin, dass das Opfer außerhalb seiner Wohnung getötet worden sein könnte.

In den Stunden vor dem Eintritt des Todes hatte Juliane Gerboth keinen Geschlechtsverkehr gehabt, auch post mortem war nichts dergleichen geschehen. Spermarückstände waren keine zu finden. Das Opfer war nicht schwanger gewesen und hatte nie ein Kind geboren.

Gewebe, Blut- und Urinproben hatte Dr. Ziegler ins forensische Labor geschickt, deren Ergebnisse allerdings noch unbestimmte Zeit auf sich warten lassen würden. Die inneren Organe befanden sich in einem dem Alter der Frau entsprechenden, sehr guten Zustand. Nichts wies auf eine chronische oder akute Erkrankung hin.

Mark griff nach seinem Notizbuch und notierte sich: zwischen 21:30 und 22:30 Uhr. In die Zeile darunter schrieb er: roter Schal. Dieser befand sich, wie der Rechtsmediziner weiter unten im Text geschrieben hatte, derzeit ebenfalls auf dem Weg in ein Labor, um den Stoff auf Faserrückstände und sonstige Spuren zu untersuchen. Im Anhang zum Bericht hatte Ziegler ein Foto des Schals beigefügt, das Mark einen Moment lang aufmerksam betrachtete. Es war ein längliches Modell aus dünn aussehendem Stoff. Der Rotton war kräftig und mit einem schmalen Zickzackmuster versehen. Beim Anblick des Schals dachte vermutlich keiner daran, dass es das Werkzeug eines Mordes gewesen war.

Weitere Fotos zeigten das Opfer auf der metallenen Bahre liegen. Eine grüne Decke bedeckte den Teil unterhalb ihrer Schultern. Andere Bilder zeigten den Hals mit den Strangulationsmalen aus der Nähe sowie das schmale Gesicht der Toten. Juliane Gerboth hatte schmale und leicht kantige Züge besessen, mit hohen Wangenknochen, einer spitzen Nase und dünnen Lippen. Mark betrachtete ihr Gesicht einige Sekunden lang. Er hatte Schwierigkeiten, sie mit der Frau von Dominiks heimlichen Schnappschüssen in Verbindung zu bringen. Keine Frage, es handelte sich um dieselbe Person, doch auf Dominiks Bildern war die Frau vital, immer unterwegs und in Eile gewesen, hatte ihre Umwelt mit skeptischem, leicht abschätzigem Blick betrachtet. Jetzt waren ihre grünen Augen matt und hatten jeglichen Glanz verloren.

Nach den Bildern und Zieglers vorläufigem Bericht aktualisierte Mark noch einmal sein Postfach. Nichts Neues von der Spurensicherung. Die Berichte der Streifenpolizisten, die die Nachbarn und Anwohner befragt hatten, lagen ebenfalls noch nicht vor. Wobei fraglich war, ob diese überhaupt schon wussten, dass Mark mittlerweile mit der Untersuchung betraut worden war. Was genauso fehlte, war ein Bericht über den bisherigen Stand der Ermittlungen und den Ablauf des Vorfalls. Normalerweise wurden die Kommissare nach ihrer Ankunft am Tatort von den bereits vor Ort befindlichen Kollegen unterrichtet und machten sich anschließend selbst ein Bild. Letzteres würde Mark nachholen. Dennoch würde es nicht mehr dasselbe sein wie eine Tatortbegehung unmittelbar nach dem Eingang der entsprechenden Meldung. Inzwischen waren bereits sämtliche Spuren markiert und der Körper der Ermordeten in die Rechtsmedizin gebracht worden. Gerboths Wohnung war jetzt nur noch ein lebloser, leerer Platz ohne relevante Gegenwart.

Da Mark nicht selbst vor Ort gewesen war (geschweige denn heute Morgen überhaupt davon gewusst hätte, dass dies einmal sein Fall werden würde), wäre es gut, sich mit jemandem zu unterhalten, der nach Eingang der Telefonmeldung zum Tatort gefahren war. Im Idealfall einer der beiden Kommissare, die ursprünglich mit der Ermittlung beauftragt worden waren. Unweigerlich wanderte Marks Blick von Dominiks zu Jan Schusters Schreibtisch. Beide waren verwaist. Der eine saß in U-Haft, der andere wurde vermutlich gerade von der Abteilung für interne Ermittlungen in die Mangel genommen. Mit Jan würde er sich also ebenfalls erst später unterhalten können.

Was die Zahl der möglichen nächsten Schritte ziemlich einschränkte. Im Augenblick tappte Mark gleich in mehrfacher Hinsicht im Dunkeln, und alles, was er tun konnte, war, die fehlenden Einzelheiten Schritt für Schritt ans Tageslicht zu befördern. Er wusste auch schon, wer ihm dabei behilflich sein konnte. Er gab Felix ein Zeichen, ihm zu folgen, und verließ das Büro.

Die Abteilung Spurensicherung befand sich ebenfalls im Präsidium, allerdings eine Etage tiefer. Bereits auf dem Flur im ersten Stockwerk kamen ihm mehrere SpuSi-Kollegen in weißen Laborkitteln entgegen. Mark grüßte sie höflich und unterhielt sich mit einigen von ihnen. Zweien zeigte er die erst vorgestern geknipstem Handyfotos von Natalie in ihrem rot-weißen Winterstrampler und freute sich über die unvermeidlichen Ohs und Ahs. Die verzückten Reaktionen ließen auch ihn sofort wieder strahlen. Eine Sekunde lang bedauerte Mark es sogleich, jetzt nicht bei seiner Tochter sein zu können.

Er betrat das Büro von Nicole Rösler im gleichen Moment, wie ein Bär von einem Mann es verlassen wollte. Der Kollege hatte einen fein rasierten Vollbart und Schultern, breit genug, um Kühlschränke darauf zu balancieren. Mark ließ ihm gerne den Vortritt.

Nicole Rösler saß an ihrem Schreibtisch in der Zimmermitte, umgeben von zahlreichen Schränken und Regalen, die mit allerlei Untersuchungs-Zubehör gefüllt waren. Links befanden sich Gerätschaften wie die Abstand- und Tiefenmesser sowie zwei Koffer mit Pinseln, Kreide und sonstiger Ausrüstung, die er schon mehrmals an Tatorten in Benutzung erlebt hatte. Weiter hinten standen mehrere unterschiedlich große Gläser und Dosen, die Chemikalien enthielten. Manche der chemischen Formeln konnte er noch entschlüsseln, an andere erinnerte er sich nur noch rudimentär aus den Unterrichtsstunden seiner Ausbildungszeit.

„Hallo, Mark, hallo, Felix“, rief die Kollegin und stand auf. Sie war Ende dreißig, einen Kopf kleiner als er, mit brünettem Pferdeschwanz und braunen Kulleraugen. Unter ihrem weißen Laborkittel trug sie eine purpurne Bluse und eine schwarze Stoffhose. „Ich hab mich schon gefragt, wann ihr hier auftauchen würdet.“

Sie umarmte Mark und versah anschließend den Hovawart mit ausgiebigen Streicheleinheiten. Dreimal hatte Nicole sie in den vergangenen Wochen daheim besucht, und selbst dort war das innige Begrüßungsritual zwischen ihr und Felix jedes Mal das Gleiche gewesen.

Wenn der Berg nicht zum Propheten kommt, lag es Mark als Erwiderung auf der Zunge. Diese Floskel hatte Dominik bei ihrem letzten gemeinsamen Fall Ende November verwendet, als sie einige wichtige Informationen von der Spurensicherung benötigten, Nicole sich jedoch nicht auf ihre Etage verirrt hatte. Wehmut überkam ihn, die er jedoch rasch beiseiteschob. Ebenso wie die Worte auf seiner Zunge.

Sein Zögern blieb Nicole nicht verborgen. Noch während sie Felix streichelte, schaute sie mit ernster Miene auf. „Ist ’ne schöne Scheiße, das Ganze, oder?“

„Ich hätte es nicht so blumig ausgedrückt, aber: ja. Ich weiß noch nicht mal, was überhaupt passiert ist.“

„Das weiß niemand so richtig.“

„Nein, ich meine: Ich habe nicht mal ’ne Ahnung, was die Fakten vor Ort betrifft. Alles, was mit vorliegt, ist eine ultrakurze Zusammenfassung von Olaf und Zieglers vorläufiger Untersuchungsbericht.“

Nicole klopfte dem Hovawart abschließend auf den haarigen Rücken, bevor sie aufstand. „Ich kann dir gerne das Wenige schildern, was ich von meiner Warte aus mitbekommen habe. Vielleicht hilft dir das weiter.“

„Danke, das wäre toll“, sagte Mark leise.

Vermutlich hörte Nicole es nicht mal. Sie richtete ihren Blick auf eine Zimmerecke und überlegte kurz: „Mal schauen, ob ich das halbwegs chronologisch hinkriege: Ich habe ja diese Woche die Frühschicht und bin gerade auf dem Weg zum Präsidium gewesen. Da hat mich einer der Kollegen angerufen und gesagt, dass wir gleich nach meiner Ankunft ausrücken müssen. Das war so gegen halb sieben. Also hab ich mir hier meinen Kram geschnappt und bin mit den anderen SpuSis zu einer Adresse in der Südstadt gefahren.

Ich weiß noch, dass es über die Pillenreuther Straße zum Annapark und dann in eine ruhigere Wohngegend ging. Es war irgendein Mehrfamilienhaus mit vier oder fünf Stockwerken. Genaue Adresse gebe ich dir nachher. Als wir dort eintrafen, waren vier Kollegen von der Streife vor Ort, unter anderem die, die den Leichenfund gemeldet hatten. Die zwei haben uns rauf in den dritten Stock begleitet.

Dort saß auf den Stufen vor der Wohnung eine ziemlich blasse Blondine in Lycra-Klamotten. Die hatte den Kopf auf den Armen abgestützt und sah völlig fertig aus. Sie war es, die die Tote gefunden und die 110 gewählt hatte. Weil sie und das Opfer zum Joggen verabredet gewesen waren. Als die Freundin nicht kam, ist sie nachschauen gegangen.

Noch während wir mit der Frau redeten, traf der Sanka an. Ein Sanitäter hat sich um die Freundin gekümmert, und der Notarzt ist mit uns in die Wohnung rein. Ob die Frau später noch eine Zeugenvernehmung ausgefüllt hat, kann ich dir nicht sagen. Die Tote lag im Wohnzimmer, zwischen Sofa und Fenster, mit dem Bauch nach oben. So genau habe ich mir die Leiche nicht angeschaut, das muss ich nicht unbedingt haben. Der Arzt ist zu ihr gegangen und hat den Tod offiziell festgestellt. Wir haben uns derweil die Schutzanzüge übergezogen und an die Arbeit gemacht.“

„Wann sind Jan und Dominik aufgetaucht?“, fragte Mark. Nebenbei streichelte er Felix, der zwischen ihnen beiden umherschwänzelte.

„Das hat noch gedauert. Ist ja meistens so, dass sich die werten Kommissare etwas Zeit lassen. Man muss ja erst noch in Ruhe frühstücken und so.“

Obwohl es als Scherz gemeint war, wollte Mark protestieren. Nicole winkte feixend ab und fuhr mit ihrem Bericht fort. „Als deine Kollegen eingetroffen sind, waren wir mit der Spurensicherung im Wohnzimmer fast fertig. Ziegler hatte auch längst mit seiner Leichenschau vor Ort begonnen. Dominik sah mal wieder recht zerknirscht aus, aber das ist bei ihm morgens ja normal.

Jan und er hatten sich gerade ihre Handschuhe übergezogen, da sind von hinten auf einmal zwei Leute von der Streife aufgetaucht und haben Dominik gebeten, mitzukommen. Ich wusste zuerst überhaupt nicht, was los ist. Dominik genauso wenig. Dann hieß es auf einmal, dass er den Tatort nicht betreten dürfte und mit raus auf die Straße kommen soll. Hat ihm natürlich überhaupt nicht geschmeckt. Er hat protestiert, und als die Uniformierten ihn rausbegleiten wollten, ist es recht laut geworden. Jan hat Dominik gut zugeredet, dass hier vermutlich irgendein Sesselfurzer aus der Chefetage etwas falsch gedeutet hat. Aber so war es nicht.

Mein Kollege René Birkner, das ist so ein übereifriger Neuer, den wir erst seit Jahresbeginn im Team haben, war für das Sichern der Fingerabdrücke zuständig. Er hat die Sachen nicht nur gesichert, sondern gleich mit dem mobilen Lesegerät eingescannt. Vermutlich, um die Nachforschungen zu beschleunigen, damit deine Kollegen gleich loslegen können.

Dummerweise hat der Scanner Dominiks Namen als Treffer ausgespuckt. Du weißt ja, dass die Fingerabdrücke all unserer Leute standardmäßig im System sind, damit sie gleich von Anfang an von der Spurensicherung als Treffer ausgeschlossen werden können. Das Problem hier war nur, dass die Abdrücke alle genommen wurden, bevor deine Kollegen aufgetaucht sind. Sprich: Da hätten von Dominik gar keine Spuren sein dürfen. René hat daraufhin gleich Panik gekriegt und in der Zentrale angerufen. Dort ist das Thema dann schnell hochgekocht, und es ging die Meldung raus, dass Dominik mindestens vom Fall abgezogen wird.“

„Vielleicht hat das Gerät einfach ’nen Fehler macht?“, überlegte Mark.

„Das dachte ich anfangs auch. Und René wahrscheinlich genauso. Wir haben das deswegen mehrmals überprüft. Ich selbst habe es wiederholt. Aber das Ergebnis war jedes Mal das Gleiche. Dann haben wir in der Nähe der Leiche ein paar weiße Stofffasern gefunden, die mit Dominiks Wintermantel auffällig übereinstimmen. Und was noch schlimmer ist: Halb unter dem Sofa lag die Verpackung eines verschreibungspflichtigen Medikaments. Ebenfalls mit seinen Fingerabdrücken drauf. Was ein weiteres starkes Indiz ist.“

„Was für ein Medikament?“

„Ein leichtes Antibiotikum gegen Halsbeschwerden. Genau diese Tabletten habe ich Dominik erst neulich einnehmen sehen. Als wäre das nicht schon alles übel genug, sind auf einmal zwei Leute von der Internen aufgetaucht …“

„Noch am Tatort?“

Nicole nicke. „Das hat mich auch gewundert. Offenbar sind die sofort hellhörig geworden, als die Meldung mit den Fingerabdrücken im Präsidium ankam. Die Internis haben sich Dominik gleich geschnappt und zur Rede gestellt. Dabei ist ihm rausgerutscht, dass er das Opfer tatsächlich gekannt hat. Damit war der Ofen endgültig aus. Er musste Ausweis und Dienstwaffe abgegeben, und die Internis haben ihn von einer Streife ins Präsidium bringen lassen. Jan haben sie ebenfalls gleich abgezogen. Er musste mit seinem Wagen dem Auto der Innenrevision hinterherfahren. Alle haben absolutes Kontaktverbot erteilt bekommen.

Soweit ich weiß, ist Dominik hier dann ’ne Stunde lang verhört worden und anschließend in U-Haft gekommen. Das ging Schlag auf Schlag. Echt krass, wie schnell das alles abgelaufen ist. Da kommt man sich vor wie in ’nem Thriller. Mir jagt sofort wieder ein Schauer über den Rücken, wenn ich daran denke.“

Mark nickte zustimmend und versuchte, das Gehörte zu verarbeiten. Sein Schweigen schien Nicole gleich noch nervöser zu machen. „Ich habe keine Ahnung, was hier los ist. Dass Dominik die Frau tatsächlich umgebracht hat, kann ich nicht glauben. Aber wie sind seine Spuren dann an den Tatort gelangt? Von uns hat keiner bei der Sicherung geschlampt oder sie dort platziert.“

„Bist du dir da sicher?“

„Hundertprozentig. Auch für den Neuen würde ich mich verbürgen. Dem kann man allerhöchstens vorwerfen, dass er ein bisschen vorschnell reagiert hat. Wahrscheinlich wollte er alles ultrakorrekt machen, damit ihm daraus später kein Strick gedreht wird. Du weißt ja, wie pingelig die Internis manchmal sein können.

Aber selbst, wenn bei den Spuren am Tatort irgendwas schiefgelaufen ist, wie erklärst du dir dann, dass Dominik zugegeben hat, die Frau gekannt zu haben? Offenbar gibt es sogar Zeugen, die ihn in den vergangenen Tagen in der Nähe der Wohnung gesehen haben. Vielleicht war das ja alles ganz harmlos, aber ganz ehrlich: So sieht das nicht aus. Nicht mit den ganzen Spuren am Tatort. Sag mir, wie passt das denn alles ins Bild?“

„Ich habe keine Ahnung. Aber ich werde es herausfinden.“

„Davon bin ich überzeugt. Ich hoffe nur, du verbrennst dir dabei nicht die Finger. Wenn die Innenrevision mit im Spiel ist, nehmen die alles genau unter die Lupe. Da kann es schnell kompliziert und unangenehm werden. Wie ein ständiger Stein im Schuh.“

„Keine Sorge. Ich halte mich an die Vorschriften und passe auf.“

„Gut. Wenn ich dir irgendwie helfen kann, lass es mich wissen. Dominik ist zwar etwas neben der Spur, aber er ist ein Kollege, und ich mag ihn. Wenn er unschuldig ist, müssen wir das beweisen.“

Die Entschlossenheit in ihren Worten freute ihn. Nicht jeder im Präsidium würde in Momenten wie diesen zu ihm – und vor allem zu Dominik – halten. „Du könntest mir mit einem vorläufigen Bericht der Spurensicherung helfen.“

Nicole stöhnte. „Ja, ich weiß. Der ist auch schon in Arbeit. Ein bisschen brauche ich aber noch. Wir sind vorhin erst zurückgekommen und sondieren noch die Fakten.“

„Kannst du mir für den Anfang zumindest einen groben Überblick geben? Irgendwas, damit ich eine ungefähre Ahnung von der Sache kriege?“

„Das sollte kein Problem sein.“ Nicole ging zu ihrem Schreibtisch, und Felix, der treulose Patron, blieb nicht bei seinem Herrchen, sondern begleitete sie. Als sie sich setzte, stellte er sich direkt neben ihren Stuhl, damit sie mit der einen Hand an ihrem Computer arbeiten und mit der anderen den Hovawart streicheln konnte. Erschreckenderweise ging der Plan auf.

„Also, ich gebe dir mal grob wieder, was meine Kollegen und ich uns notiert haben. Manches davon wird später auch so im Bericht stehen: Im Wohnzimmer gab es mehrere Anzeichen für einen Kampf, die restlichen Zimmer befanden sich in annehmbarem Zustand. Keine Verwüstungen, keine aus den Schränken gezogenen Sachen oder so. Da sieht es bei Dominik zu Hause wahrscheinlich schlimmer aus. An der Tür, dem Schloss und dem Türrahmen haben wir zwar einige Kratzer und Schrammen gefunden, allerdings sehen die alle schon älter aus. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass die Tür gestern Abend aufgebrochen wurde.

Was gestohlene Gegenstände betrifft: Wir kennen zwar nicht das gesamte Inventar, aber nachdem der Schmuck in den Schatullen in Wohn- und Schlafzimmer nicht mal angerührt wurde und sich auch Geld und Kreditkarten in der Brieftasche des Opfers befinden, würde ich Raub als Motiv ausschließen. Ob irgendwelche anderen Wertgegenstände oder Besitztümer fehlen, müssen später die Angehörigen abklären.

Wie üblich haben wir in der Wohnung haufenweise Fingerabdrücke gefunden. Die meisten vom Opfer selbst. Im Wohnzimmer waren die, die Dominik zum Verhängnis geworden sind. Dazu kommen einige andere, die wir stellenweise noch zuordnen müssen. Ein paar vereinzelte sind von Gerboths Noch-Ehemann, der Rest stammt vermutlich von Nachbarn, Freunden und Kollegen. Das Übliche …“

Nicole hielt inne und scrollte durch die restlichen Daten auf dem Bildschirm. Ihr Gesichtsausdruck blieb angespannt, was vermutlich auch mit dem Multitasking zusammenhing. Nach wie vor streichelte sie den Hund. Der hier hoffentlich nicht auf den Geschmack kommen und danach bei jeder Computerarbeit auch neben Marks Schreibtisch auftauchen würde. In der Hinsicht war Nicole so was wie die Oma, bei der die Kinder mehr Freiheiten hatten und mehr Geschenke als daheim bekamen.

„Das war es so im Großen und Ganzen. Ansonsten kann ich nicht viel berichten.“

„Wie wäre es mit Gerboths Adresse?“

„Stimmt, da war was. Sie wohnte in der Gudrunstraße.“ Nicole griff nach einem Zettel und notierte die komplette Anschrift. Sie reichte ihn Mark zusammen mit einem kleinen, durchsichtigen Plastikbeutel, der den Haustür- und Wohnungsschlüssel enthielt. „Damit dürftest du recht weit kommen. Kann ich sonst noch etwas für dich tun?“

„Da ist tatsächlich etwas. Ich würde gern rüber zur JVA fahren und Dominik besuchen. Wie du weißt, sind Hunde dort nicht erlaubt. Könntest du daher kurz auf Felix aufpassen? Ihr scheint ja heute ohnehin wieder ein Herz und eine Seele zu sein.“

„Das sind wir immer. Zwischen uns passt kein Blatt Papier. Er weiß eben, wer es gut mit ihm meint. Von mir aus kann Felix gerne eine Weile hierbleiben. Aber dann beschwer dich nicht, wenn sich dein Bericht weiter verzögert, weil ich mich die ganze Zeit um den Wauzi kümmern musste.“

„Habe ich mich denn jemals bei dir beschwert?“

„Nein, und das möchte ich dir auch geraten haben.“ Sie hielt eine Millisekunde lang inne, bevor sie etwas leiser fortfuhr: „Ansonsten findet man am nächsten Tatort vielleicht deine Fingerabdrücke.“

Es war ein Scherz, keine Frage. Dennoch wusste Mark nicht, ob er darüber lachen sollte. Oder durfte.

„Ist noch zu früh für solche Witze, oder?“, fragte Nicole, als sie sein Zögern bemerkte.

„Ein bisschen vielleicht. Lass uns mit so was lieber abwarten, bis Gras über die Sache gewachsen ist. Danke für die Infos und deine Hilfe.“

Mark drehte sich um und ging zur Tür. Was auch Felix nicht verborgen blieb. Jetzt kam er wieder zu ihm getrottet. Jetzt. „Tut mir leid, Kumpel, du musst noch kurz bei der bösen alten Katzenlady bleiben. Da, wo ich hingehe, sind keine Tiere erlaubt. Nicht mal Polizeihunde.“

„Ich geb dir gleich böse alte Katzenlady. Ich bin weder alt noch böse! Aber böse werde ich gleich.“ Sie funkelte Mark übertrieben grimmig an. Gleichzeitig machte sie mit der Zunge für Felix Schnalzlaute und klopfte sich geräuschvoll mehrfach gegen den Oberschenkel. Für den Hovawart das Zeichen, abermals zu ihr zu trotten. Er drehte sich nicht mal mehr um. Mark war fast ein bisschen beleidigt deswegen, beeilte sich aber lieber, die Bürotür hinter sich zu schließen, bevor der Hund auf Gedanken kam.

3

Die Justizvollzugsanstalt Nürnberg lag gut einen Kilometer westlich vom Stadtzentrum, nicht weit von den Pegnitzwiesen entfernt. Früher hatten die Insassen von ihren Fenstern aus einen Blick auf die Hauptverkehrsstraße und Teile des grünen Flussufers werfen können. Inzwischen versperrte ein wuchtiger, mehrstöckiger Neubau der Feuerwehrwache die Sicht. Vermutlich sehr zur Freude der Häftlinge.

Der JVA-Komplex selbst teilte sich in zwei abgetrennte Bereiche mit separaten Eingängen: zum einen das normale Zuchthaus, erreichbar über die Mannertstraße, zum anderen die Untersuchungshaft in der Bärenschanzstraße, direkt neben dem Nürnberger Justizpalast. Mark kannte zwar beide Areale, betrat jedoch vorwiegend das der U-Haft.

Wie üblich meldete er sich im Eingangsbereich an und wurde vom wachhabenden Beamten mit Namen und Ausweisnummer erfasst, bevor er Handy und Autoschlüssel abgeben musste. Hätte er seine Dienstwaffe bei sich getragen, wäre sie ebenfalls hier verwahrt worden. Nach unzähligen Besuchen im U-Haft-Bereich wusste Mark um das gesamte Prozedere und hatte allein aus dem Grund seine Pistole gleich im Präsidium gelassen.

Ein uniformierter Vollzugsbeamter mit breitem Schnauzer und lockigem Haupthaar führte ihn in den Besucherraum, der dank seiner zwei Fenster und des länglichen Tisches an die Miniaturform eines Klassenzimmers erinnerte. Es roch nach Reinigungsmittel und Schweiß.

Der Aufseher verabschiedete sich mit den Worten, dass es nicht lang dauern würde, bis der Häftling zu ihm gebracht wurde. Mark nickte dankend und nutzte die Wartezeit, um Notizbuch und Kugelschreiber vor sich auf dem schweren Holztisch bereitzulegen. Wenig später ging die Tür wieder auf, und Dominik betrat in Begleitung des Schnurrbartmannes den Raum.

Statt Handschellen und Gefängniskleidung trug er sein normales Straßenoutfit. Das war zwar etwas verknittert. Doch so sah der werte Kollege auch an anderen Tagen aus. Dennoch war ihm auf den ersten Blick anzusehen, dass nicht alles seinen üblichen Gang lief. Sein Gesicht war ungesund blass und zeigte dunkle Augenringe. Außerdem wirkte Dominik erschöpft, als wäre er in den vergangenen Stunden ohne Unterlass verhört worden. Und das nicht gerade auf die zimperliche Art und Weise. Beim Anblick seines Partners tanzte sich trotzdem sofort ein Lächeln in Dominiks Mundwinkel.

„Dich kann man auch keine sechseinhalb Wochen alleine lassen“, begrüßte Mark ihn, nachdem Dominik ihm gegenüber Platz genommen hatte. Es war beinahe so wie an ihrem Doppelschreibtisch im Büro. „Wobei, es waren nicht mal sechseinhalb Wochen. Du hast uns ja zwischendurch zweimal daheim besucht.“

Dominiks Lächeln wurde breiter und wanderte schief nach rechts. „Eigentlich hatte ich ja gehabt, dich heute mit der Familie in den Zoo einzuladen, aber dann haben mir die Jungs von der Internen dazwischengefunkt. Ein richtig unfairer Haufen ist das.“

„In der Regel sind sie das nicht grundlos. Also: Was zum Geier ist passiert?“

„Nichts ist passiert! Ich bin reingelegt worden.“

„Ich will gar nicht wissen, wie oft diese Sätze in dem Raum schon gefallen sind.“

„Bei mir ist es die Wahrheit. Ich habe die Frau nicht umgebracht. Das wäre auch vollkommen unlogisch. Sie war meine heiße Spur zu den Pantokratoren. Mein Ticket in den inneren Bereich.“

„Stattdessen darfst du dich jetzt hier im inneren Bereich rumtreiben. Dass du Juliane Gerboth kennst, wissen wir beide. Seit mindestens April letzten Jahres. Außerdem hast du das schon bei der Internen zugegeben.“

„Aber nur weil ich jemanden kenne, heißt das nicht, dass ich ihn umlege. Oder sie. Ich hab auch schon dem Oberbürgermeister die Hand geschüttelt. Und der erfreut sich meines Wissens bester Gesundheit.“

„Was hast du gestern Abend gemacht? Die Rechtsmedizin schätzt, dass die Frau zwischen halb zehn und halb elf getötet wurde.“ Mark griff nach seinem Stift und machte sich bereit, mitzuschreiben.

„Houston, hier haben wir vielleicht ein kleines Problem: Ich war gestern in der Gudrunstraße. Zwar nicht unmittelbar vor dem Haus der Toten, aber schon ziemlich in der Nähe und mit gutem Blick auf den Eingang. Aber ich habe niemanden gesehen, der zu der Zeit dort ein- und ausgegangen ist.“

„Du hast direkt davorgesessen und nichts mitgekriegt?“

„Wie gesagt, nicht direkt vor dem Haus.“

„Das ist jetzt nebensächlich. Bei deinem Glück gibt es bestimmt mehrere Zeugen, die dich dort gesehen haben.“

„Das … na ja … könnte sein. Ich hab mich zwar auch bei meinen Rundgängen möglichst unauffällig verhalten, aber ganz unsichtbar kann ich mich natürlich nicht machen. Trotzdem: Ich war es nicht. Ich hab die Alte nicht mal angerührt.“

„Wie erklärst du dann, dass deine Fingerabdrücke in der Wohnung gefunden wurden?“