Auf den Hund gekommen - Sören Prescher - E-Book

Auf den Hund gekommen E-Book

Sören Prescher

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Beschreibung

Dem Nürnberger Kriminalkommissar Mark Richter ist nicht zum Lachen zumute. Er hat einen neuen Partner mit äußerst schlechtem Ruf zugewiesen bekommen. Auf einer Hochzeit gab es einen Mord und der einzige Augenzeuge ist ein Hund, dem jemand als Partygag eine Kamera am Halsband befestigt hat. Als er denkt, es kann nicht noch kurioser werden, stellt er fest, dass kaum jemand gut auf die Tote zu sprechen war und sich sein Partner und er vor Verdächtigen mit Motiv kaum retten können.

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Kurzbeschreibung:

Dem Nürnberger Kriminalkommissar Mark Richter ist nicht zum Lachen zumute. Er hat einen neuen Partner mit äußerst schlechtem Ruf zugewiesen bekommen. Auf einer Hochzeit gab es einen Mord und der einzige Augenzeuge ist ein Hund, dem jemand als Partygag eine Kamera am Halsband befestigt hat. Als er denkt, es kann nicht noch kurioser werden, stellt er fest, dass kaum jemand gut auf die Tote zu sprechen war und sich sein Partner und er vor Verdächtigen mit Motiv kaum retten können. 

Über den Autor:

Sören Prescher wurde am 9. August 1978 in Bautzen geboren, ist verheiratet und wohnt mit seiner Familie in Nürnberg. Er ist Mitglied des 42erAutoren e.V. und des Phantastischen Autoren Netzwerks (PAN). Neben seiner Arbeit für ein internationales Wirtschaftsunternehmen schreibt er Artikel und Berichte für das Nürnberger Musik- und Kulturmagazin RCN. Seit der Jahrtausendwende veröffentlicht er Kurzgeschichten und Gedichte in zahlreichen Anthologien. Dazu sind bisher zwölf Romane aus den Bereichen Thriller und Mystery/Urban-Fantasy in zahlreichen Verlagen erschienen. 

Sören Prescher

Auf den Hund gekommen

Der erste Fall für Mark & Felix

Edel Elements

Edel Elements

Ein Verlag der Edel Germany GmbH

© 2018 Edel Germany GmbHNeumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Copyright © 2019 by Sören Prescher

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Ashera Agentur

Lektorat: Susann Harring 

Korrektorat: Vera Baschlakow

Covergestaltung: Marie Wölk, Wolkenart

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-96215-260-4

www.facebook.com/EdelElements/

www.edelelements.de/

Montag

1

Schon Wochen vor dem großen Tag war Leon Beyer davon überzeugt gewesen, dass keiner der Anwesenden diese Hochzeitsfeier so schnell vergessen würde. Als Trauzeuge des Bräutigams saß er förmlich an der Quelle und hatte einen guten Überblick über all die Streiche, Spiele und Scherze, die die Gäste für das Brautpaar ausgeheckt hatten. Und was das für Sachen waren!

Eine Brautentführung hatte das baldige Ehepaar zwar ausdrücklich verboten, aber diverse Trink- und Geschicklichkeitsspiele, einen massiven Holzklotz, den die beiden gemeinsam durchsägen sollten, oder eine heiter-pikante Raterunde quer durch die Vergangenheit der beiden hatten sie nicht untersagt. Jedenfalls nicht explizit.

„Macht es nicht allzu peinlich für uns“, hatten sie gebeten, und dieser Bitte hatte Leon zähneknirschend zugestimmt. Zumal ja Peinlichkeit eh im Auge des Betrachters lag.

Nun war der große Tag gekommen, und zumindest die zwei wichtigsten Stationen – die standesamtliche und kirchliche Trauung – hatten sie bereits erfolgreich hinter sich gebracht. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr und war erstaunt, dass es schon kurz vor halb vier war. Rein vom Gefühl her hatte er auf maximal zwei getippt.

Er vergewisserte sich kurz, dass es dem Brautpaar momentan an nichts fehlte, und verließ den Festsaal. Draußen stapfte Marina, die Trauzeugin der Braut und damit sein weibliches Gegenstück, an ihm vorbei. Ihr grimmiger Gesichtsausdruck ließ allerdings keinen Zweifel daran, dass es eine schlechte Idee wäre, sie derzeit anzusprechen.

Das war Leon nur recht. Er schlängelte sich an einigen Freibiergesichtern vorbei und sah zu, dass er das Lokal verließ, bevor ihn einer nach dem Ablauf des nächsten Hochzeitsspiels fragen konnte. Nach der zwanzigsten Erklärung begann das allmählich zu nerven.

Auf dem Parkplatz sog er genüsslich die frische Aprilluft ein und beschloss, sich die Beine zu vertreten. In den vergangenen Stunden hatte er die meiste Zeit gesessen. Auch der kleine Imbiss nach der kirchlichen Trauung lag ihm noch schwer im Magen. Wie er nachher Kaffee, Torte und das viergängige Abend-Menü runterbekommen sollte, war ihm ein Rätsel. Aber damit konnte er sich später beschäftigen.

Zu seiner Linken nahm er eine Bewegung wahr und sah, wie sich der dunkelbraune Hovawart-Rüde Felix zwischen den Autos hindurchschlängelte. Der Kläffer gehörte Sybille Kaiser, einer guten Freundin der Braut. Leon musste zweimal hinsehen, um seinen Augen zu trauen. Irgendein Scherzbold hatte allen Ernstes eine Minikamera am Halsband des Hundes befestigt. Eine Sekunde lang war er eifersüchtig, dass ihm diese grandiose Idee nicht gekommen war, dann sagte er sich, dass ein Großteil der Aufnahmen vermutlich eh total verwackelt sein würde. Doch auch das war nicht sein Problem.

Während der Hund mit hängendem Kopf zum Gasthof trottete, stieg Leon auf die kleine Steinmauer am Parkplatz und wagte einen Blick den Hügel hinab. Vor ihm erstreckten sich die Wiesen und Felder des Knoblauchlandes, die nach dem milden Winter schon wieder in satten Grün- und Gelbtönen erstrahlten. Das und der strahlendblaue Himmel gaben ein herrliches Postkartenmotiv ab. Schade, dass er seine Kamera drinnen liegen gelassen hatte. In etlichen Kilometern Entfernung erkannte er ein paar Häuser, die vermutlich zum Fürther Stadtteil Sack oder Ronhof gehörten.

Aus den Augenwinkeln nahm er einige Sträucher wahr – und einen hellen Gegenstand, der nicht ins Bild passte. Für einen Stein war er zu lang, außerdem schien er aufrecht zu stehen. Leon kniff die Augen zusammen, konnte aber nichts Genaueres erkennen.

Neugierig ging er darauf zu. Nach wenigen Schritten schalt er sich selbst einen Idioten, dass er jetzt tatsächlich diesen Abhang hinunterlief. Sicher hatte dort hinten nur jemand seinen Unrat weggekippt. Nicht auszudenken, wenn er deswegen stolperte oder ausrutschte und sich den Anzug versaute. Das blöde dreiteilige Ding hatte eine hübsche Stange Geld und mindestens genauso viele Nerven gekostet. Schließlich musste er als Trauzeuge zwischen all den anderen Gästen hervorstechen. Nur der Bräutigam durfte noch edler aussehen.

Eine Fliege schwirrte vor seiner Nase herum, und in Gedanken ganz bei dem fragwürdigen Gegenstand vor ihm, schlug Leon nach ihr. Ein wirklich hartnäckiges Biest war das. Noch dazu brachten ihn die abrupten Bewegungen tatsächlich einen Atemzug lang ins Schlittern. Aber er erlangte das Gleichgewicht zurück, bevor er sich auch nur vor einem Sturz fürchten konnte.

„Ich sollte einfach umdrehen und zurückgehen“, murmelt er. „Die anderen warten bestimmt schon auf mich.“

Trotzdem ging er unbeirrt weiter, bis er die Sträucher erreichte. Der Gegenstand befand sich direkt zwischen zwei größeren Grasbüschen und sah aus wie die Sohle eines blassen lila Damenschuhs. Nein, stopp, er sah nicht nur aus wie ein Damenschuh, es war tatsächlich einer.

Also doch bloß Abfall.

Er wollte sich schon abwenden, da fiel ihm auf, dass etwas in dem Schuh steckte. Besser gesagt jemand, nicht etwas. Hinter den Büschen lag eine Frau. Er erkannte die helle Haut eines Unterschenkels, ein Knie und darüber etwas, was der Anfang eines purpurnen Rocks sein konnte.

Leon stockte der Atem. Wie in Trance ging er weiter. Eisfinger legten sich um sein Herz und pressten es zusammen. Inzwischen sah er auch das andere Bein, das angewinkelt und irgendwie verdreht nach hinten zeigte.

„Hallo? Alles klar bei Ihnen? Brauchen Sie Hilfe?“

Seine Stimme klang dünn und brüchig, aber das war ihm egal. Er umrundete den Strauch, und es offenbarten sich weitere Details. Eine etwa dreißigjährige Frau in einem lila Kostüm. Sie lag auf dem Rücken. Reagierte nicht. Bewegte sich nicht. Die Augen und der Mund standen weit offen. Ihr Blick, vollkommen ohne Glanz oder Leben, war auf einen unsichtbaren Punkt am Himmel gerichtet.

Leon spürte, wie ihm der Mund trocken wurde. Panik erfasste ihn. Eine Sekunde lang wollte er zurückweichen. Am besten abhauen und so tun, als wüsste er von nichts.

Erst jetzt wurde ihm klar, dass er die Frau kannte. Es war Sybille Kaiser, die beste Freundin der Trauzeugin. Zwar kannte er sie nur flüchtig, erinnerte sich aber daran, dass sie nahe der Nürnberger Innenstadt wohnte und mit ihrem Lebensgefährten Holger zur Feier gekommen war. Aber was tat das in einem Moment wie diesem schon zur Sache?

Tränen schossen ihm in die Augen, und er schnappte nach Luft. Er musste Hilfe holen, auch wenn es so aussah, als käme für Sybille jede Hilfe zu spät.

Hastig eilte er den Hügel hinauf und verschwendete nun keinen Gedanken mehr daran, ob sein Anzug dreckig wurde. Ein befremdlicher Gedanke kam ihm in den Sinn: Dies würde definitiv eine unvergessliche Hochzeitsfeier werden. Es war wie ein blöder Scherz. Doch das Lachen blieb ihm buchstäblich im Halse stecken.

2

Kriminalkommissar Mark Richter ahnte Schlimmes. Statt der erhofften jungen Kollegin aus Erlangen war vorhin ein verlottert aussehender Mittvierziger im schlecht sitzenden Anzug im Präsidium erschienen und direkt im Büro des Chefs verschwunden.

Oh nein, bitte nicht der als neuer Partner, flehte Mark innerlich, spürte aber insgeheim, dass dies vergebliche Mühe war. Es brauchte nicht viel Spürsinn, um hier eins und eins zusammenzuzählen. Warum tat Olaf ihm so was an? Hatte er ihn irgendwie gekränkt?

Dabei hatte Mark so sehr darauf gehofft, dass es die Frau aus Erlangen werden würde. Mit ihr hatte er schon einige Male zusammengearbeitet und sie als ebenso umgängliche wie pfiffige Kollegin erlebt. Der Typ hingegen …

Frustriert lehnte er sich in seinem Schreibtischstuhl zurück und nippte an seinem Kaffee. Der längst kalt war. Passte ja. Angewidert verzog er das Gesicht und sah zu, dass er den Pott wieder abstellte.

Auf dem Flur wurden Stimmen laut, und er sah, wie der Chef mit dem Lotter-Heini das Büro verließ. Sicher würden sie direkt zu ihm kommen.

Verdammt.

Mark sprang auf. Eine Sekunde lang war er drauf und dran, zu seinem Kollegen Jan Schuster zu laufen, um ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Es waren nur wenige Meter bis zum anderen Ende des Großraumbüros. Alles war besser, als hier tatenlos auf die Katastrophe zu warten. Doch Jan griff just in diesem Augenblick nach dem Telefon und schied als Rettungsanker aus. Ansonsten hielt sich niemand im Büro auf. Besonders die gegenüber befindliche leere Hälfte des Doppelschreibtisches bereitete Mark Sorgen. Zweifellos würden der Chef und der neue Kollege genau dahin gehen, damit der Neue seine Sachen dort abladen konnte.

Mark wurde bewusst, dass er sich wie ein kleines Kind aufführte, wofür er mit Mitte dreißig eindeutig zu spät dran war. Nimm es wie ein Mann, ermahnte er sich selbst. Vielleicht ist er ja gar nicht so schlimm.

Beim Betreten des Büros wirkten Olaf und der Neuzugang wie ein eingespieltes Team. Beide hatten die vierzig lange überschritten und schienen keinen besonderen Wert auf ihr Äußeres zu legen. Während der Chef mit einer fliehenden Stirn zu kämpfen hatte, schien dem anderen das immer weiter ergrauende Haar nahezu überall herauszuwuchern. Wie passte da Mark, der als Ausgleich zu seiner Polizeiarbeit zwei-, dreimal in der Woche ins Fitnessstudio tigerte, die blonden Haare möglichst kurz trug und sehr auf Kleidung und Erscheinungsbild achtete, ins Bild? Warum bildeten die anderen zwei nicht ein neues Ermittler-Duo? Sicher wären sie das Dreamteam schlechthin.

Natürlich kamen sie direkt auf ihn zu. Was zwar zu erwarten war, sich aber dennoch wie ein Schlag in die Magengrube anfühlte. Das selbstgefällige Lächeln seines Vorgesetzten glich einem weiteren Fausthieb.

„Mark, darf ich dir deinen neuen Partner vorstellen?“

Acht Worte, die den Untergang besiegelten. Er spürte es deutlich. Lächelnd stürzte er sich ins Messer.

„Hallo, ich bin Kriminalkommissar Mark Richter.“

Er streckte dem Unbekannten die Hand entgegen, die dieser bereitwillig ergriff. Sie fühlte sich knochig und kalt an. Wenigstens nicht feucht.

„Angenehm. Kriminaloberkommissar Dominik Waldmayer.“

Oh, Scheiße, der Neue stand auch noch im Rang über ihm. Das wurde ja immer besser.

„Er kommt direkt aus Aschaffenburg und wurde mir von seinen Kollegen als ausgezeichnete Spürnase empfohlen. Ich bin sicher, dass ihr euch schnell zusammenrauft und gut zusammenarbeiten werdet.“

Als wäre damit alles erklärt, zeigte er Waldmayer seinen Schreibtisch direkt gegenüber Marks und verabschiedete sich dann. Der Chef hatte gut reden. In seinem Einzelbüro mit bestem Blick auf den Jakobsplatz ließ sich bestimmt so einiges leichter ertragen.

„Freut mich, dich kennenzulernen“, sagte der Neue und ließ sich auf seinem Drehstuhl nieder. Irgendwas schien ihn allerdings zu stören, er rutschte unruhig hin und her. „Wir müssen uns übrigens nicht siezen. In der Hinsicht bin ich locker.“

„Ja, klar. Gern. Dann bin ich der Mark.“

„Und ich Dominik.“

Abermals schüttelten sie die Hände, bevor sich der Neue wieder setzte und erneut anfing, auf dem Stuhl herumzurutschen.

Mark runzelte die Stirn, beschloss aber, es zu ignorieren. „Du bist kein gebürtiger Aschaffenburger, oder? Du klingst nicht so.“

„Gut erkannt, Sherlock. Ich bin bloß für einige Monate dorthin abgeordnet worden. Davor war ich in Gunzenhausen und Ansbach.“

„Da bist du ganz schön rumgekommen.“

„Na ja, ich gehe dorthin, wo ich gebraucht werde. Du weißt schon, immer da, wohin der Wind mich weht.“

Oh Gott. Vor seinem geistigen Auge sah er einen bärtigen Hippie in langen Batik-Gewändern, der beschwingt über eine Blumenwiese tänzelte. Mark stöhnte innerlich. Außerdem erinnerte er sich an einen befreundeten Kollegen von der Polizeiinspektion Ansbach, der ihm vor einigen Jahren sein Leid über einen besonders nervigen Partner geklagt hatte. War es möglich, dass es dabei um Dominik Waldmayer gegangen war? Kurz überlegte er, nachher bei ihm anzurufen, beschloss aber nur einen Atemzug später, dass er es lieber gar nicht so genau wissen wollte.

„Bin mal gespannt, wie es jetzt hier in Nürnberg läuft“, fuhr Dominik fort. „So weit im Zentrum von Mittelfranken war ich bisher noch nie. Das spricht man doch so aus: Middelfrrranknnn, oder?“ Er versuchte, das R zu rollen, machte es damit aber nur noch schlimmer.

„Ja, so in etwa.“ Als gebürtigem Nürnberger tat ihm allein die gekünstelte Aussprache in der Seele weh. Mark überlegte, dem Kollegen einige deftige fränkische Redewendungen um die Ohren zu werfen, um ihm zu zeigen, wie man es richtig aussprach, verwarf allerdings auch diese Idee rasch wieder.

Das Klingeln seines Telefons hielt ihn von einer weiteren Antwort ab. Dankbar für die Ablenkung schnappte er sich den Hörer und bellte ein hastiges „Ja“ hinein.

Gleich darauf wurde sein Lächeln breiter. Neue Arbeit winkte.

„Wir müssen los. Auf einer Hochzeit wurde eine Frau ermordet.“

„Oha, hoffentlich nicht die Braut.“

Würde das einen Unterschied machen? Mark beschloss, auch diesen Kommentar für sich zu behalten. Der Nachmittag war bereits fortgeschritten, und er hatte das Gefühl, dass es ein sehr langer Tag werden würde.

In Marks Dienstwagen, einem dunkelgrünen Passat, tuckerten sie am Nürnberger Altstadtgürtel vorbei in Richtung Randbezirke. Der Verkehr war um diese Zeit die Hölle, und scheinbar jede Ampel schaltete kurz vor ihnen auf Rot, damit sie möglichst viel Zeit gemeinsam im Auto verbrachten. Die ersten Minuten schwiegen sie, bis Mark die Stille nicht mehr aushielt und das Radio lauter drehte. Sein Namensvetter Mark Ackermann vom Sender Wild FM moderierte gerade die aktuelle Single der Foo Fighters an.

Was bei Dominik zu einem irritierten Gesichtsausdruck und bei Mark genau deswegen zu einem zufriedenen Lächeln führte. Offenbar war sein neuer Partner kein großer Rock-Fan. Sofort bedauerte er es, keine AC/DC-CD parat zu haben. Er hätte die Lautstärke aufgedreht, bis die Fensterscheiben vibrierten. Und das, obwohl er die australischen Bierzelt-Rocker nicht einmal mochte. Aber vielleicht würde Dominik dann ja seinen Kram zusammenpacken und Platz für die optisch deutlich wertvollere Kollegin aus Erlangen machen.

Er drehte das Radio noch etwas lauter und freute sich über die sichtliche Irritation auf dem Beifahrersitz. Schließlich wurde es Dominik aber zu bunt, und er reduzierte die Lautstärke auf ein seichtes Dudeln im Hintergrund.

„Eine Hochzeit am Montag – wer macht denn so was?“, startete er einen Gesprächsversuch.

„Vielleicht war nichts anderes frei. Oder der heutige Tag hat eine besondere Bedeutung für sie?“

„Ja, schon, aber Montag?“ Dominik schüttelte den Kopf. „Ist schon bekannt, wer die Leiche gefunden hat? Oder unter welchen Umständen die Frau umgekommen ist?“

„Den Kollegen vor Ort zufolge hat der Trauzeuge sie entdeckt. Wollte sich laut eigener Aussage die Beine vertreten und hat dabei was Verdächtiges in den Büschen entdeckt. Mit Details über die Tote haben sie sich zurückgehalten. Momentan wissen wir nicht, ob es ein Hochzeitsgast oder jemand anderes ist.“

„Muss trotzdem bitter sein, am Hochzeitstag mit so was konfrontiert zu werden. Stell dir mal vor, es wäre tatsächlich die Braut. Für den Gatten bricht die Welt zusammen. Außer natürlich, er hat die Alte selbst umgelegt. Das wäre dann Blitzscheidung Deluxe.“

Ein gequältes Lächeln schlich sich auf Marks Gesicht, obwohl er es gar nicht wollte. Er kannte makabre Gespräche wie diese von anderen Kollegen – und hoffte inständig, niemals so abgebrüht zu werden. Wobei ein schlechter Scherz bloß einen faden Nachgeschmack hinterließ, im Gegensatz zu dem einen alteingesessenen Streifenpolizisten, der direkt neben einem Tatort ungerührt seine Frühstücksbrote ausgepackt hatte.

Von der Erlanger Straße bogen sie zum Stadtteil Buch ab und erreichten wenig später den Gasthof, in dem sich die Hochzeitsgesellschaft zum Feiern eingefunden hatte. Es war ein flacher, einstöckiger Bau, der in Breite das wettmachte, was ihm an Höhe fehlte. Mark schätzte, dass er bestimmt halb so groß wie ein Fußballfeld war. Mehrere Streifenwagen auf beiden Straßenseiten sowie zwei Rettungswagen ließen keinen Zweifel daran, dass sie sich an der richtigen Adresse befanden.

Seufzend parkte Mark direkt hinter dem letzten Fahrzeug und betrat das Grundstück. Dominik folgte ihm einige Schritte dahinter und schob sich irgendwas Kleines aus der Jackentasche in den Mund. Hoffentlich bloß Bonbons und nicht irgendwelche Pharmazeutika, dachte Mark und schaute sich um.

Vor dem Lokal stand eine Traube rauchender Männer und Frauen, alle in edlen Kleidern und mit stoischen Gesichtsausdrücken. Eine blasse Blondine zitterte merklich, während sie an ihrem Glimmstängel nuckelte. Aus dem Inneren des Gasthofs drang ein Wirrwarr verschiedener Stimmen, nach Feiern schien niemandem mehr zumute zu sein.

Auf dem Weg zur Rückseite des Gebäudes trafen sie auf zwei uniformierte Polizisten und zückten ihre Polizeiausweise. Der Kollege nickte und trat beiseite, damit sie den breiten Parkplatz betreten konnten. Mehrere Dutzend Autos standen da, jedes davon auf Hochglanz poliert, sodass der Lack im langsam abnehmenden Tageslicht funkelte. So war das für Feiern wie diese nun mal üblich. Mark fragte sich, ob er jemals an diesem Punkt sein würde. Falls ja, dann bitte ohne derartige Zwischenfälle.

„Hast du eigentlich eine Frau oder Freundin?“, fragte er seinen neuen Partner, obwohl er sich die Antwort denken konnte.

Dominik schüttelte den Kopf. „Nein, mit mir hält es doch keine länger aus. Und wie steht‘s bei dir?“

„Freundin.“

„Kinder?“

„Bisher keine.“

„Ich auch nicht. Na siehst du, und schon haben wir die erste Gemeinsamkeit.“

Mark biss sich auf die Zunge. Ja, sie atmeten beide dieselbe Luft und liefen über dieselbe Erde. Trotzdem machte sie das nicht zu Seelenverwandten oder sonst irgendwas.

Sie ließen eine Steinmauer hinter sich und folgten dem dahinter befindlichen kleinen Abhang zu den Sträuchern. Hier hatten die Kollegen vom KDD längst mit dem sogenannten ‚Ersten Angriff‘ begonnen und angefangen, den Tatort in jeder nur erdenklichen Weise zu sichern. Dazu zählte nicht bloß, das Gebiet nach Beweismitteln abzusuchen, sondern auch eine Spurengasse einzurichten, damit mögliche Beweise weder verfälscht, zerstört noch durch eigene beschädigt wurden. Wichtig dabei war außerdem, sämtliche Zeugen und Schaulustigen hinter die Absperrung zu verweisen und nur noch die Fachleute von der Kripo vorzulassen.

Das Hauptaugenmerk der Spurensicherung schien der Rückseite der Büsche zu gelten, wo Mark die blassen Beine der Toten erkannte. Unweigerlich stellte sich ein flaues Gefühl in der Magengegend ein.

„Servus, Kollegen“, begrüßte er die Spusis und erreichte damit genau die Person, die er sich erhofft hatte: eine knackige Enddreißigerin mit brünettem Pferdeschwanz und Kulleraugen, die sofort auf sie zukam. „Hallo, Mark, ist das die neue Kollegin aus Erlangen?“

„Ja, sie sieht ein bisschen anders aus als erwartet.“

„Wir machen nur Spaß“, sagte sie an Dominik gewandt. „Hi, ich bin Nicole. Dein erster Tag heute hier, oder?“

„Ganz genau. Ich heiße Dominik“, stellte er sich vor. Sie tauschten einige Floskeln über seine früheren Einsatzgebiete aus, bei denen auch die Kollegen um sie herum die Ohren spitzten. Einige kamen sogleich zu ihnen und stellten sich ebenfalls vor. Was angesichts des Tatorts, an dem sie sich befanden, vermutlich nicht nur Mark bizarr vorkam. Entsprechend schnell kamen sie wieder auf den eigentlichen Grund ihres Hierseins zurück.

Die Kommissare zogen sich Gummihandschuhe über und gingen neben dem Leichnam in die Hocke. Mark hielt sich absichtlich etwas seitlich, um den Kollegen nicht zu behindern, der gerade mit dem Schießen der Tatortfotos beschäftig war, und drehte den Kopf so, dass ihn das Blitzlicht nicht ständig blendete. Außerdem wollte er so sicherstellen, dass er keine Luft direkt aus Richtung der Toten einatmete. Wahrscheinlich machte es keinen großen Unterschied. Dennoch widerstrebte ihm allein der Gedanke daran. Dominik schien weder das eine noch das andere zu schaffen zu machen. Selbst als der Fotograf ihm deutlich auf die Pelle rückte, verzog er keine Miene.

Die Frau war schätzungsweise um die dreißig. Sie hatte brünette, schulterlange Haare und eine recht sportliche Figur. Obwohl sie mit der linken Gesichtshälfte nach unten lag, erkannte Mark sofort, dass sie ein hübsches Gesicht mit vollen Lippen, einer kleinen spitzen Nase sowie akribisch gezupften Augenbrauen besaß. Zu Lebzeiten war sie definitiv eine Augenweide gewesen. Ihr Hinterkopf wirkte eingedrückt. Vorsichtig tastete er mit den Fingern darüber und spürte massive Knochenbrüche. Sein Magen zog sich auf die Größe einer Walnuss zusammen. An Momente wie diese würde er sich nie gewöhnen. Am liebsten hätte er die Hand sofort zurückgezogen, aber er tastete noch kurz weiter, auf der Suche nach kantigen Abdrücken. Es gab keine.

„Offenbar ein stumpfes Schädeltrauma“, sagte er an Dominik gewandt. Dieser berührte ebenfalls den Hinterkopf und nickte zustimmend. Ihm schien eine Bemerkung auf der Zunge zu liegen, doch bevor er die aussprechen konnte, trat ein grauhaariger Mann in den Vierzigern mit fliehender Stirn und länglichem Gesicht an sie heran. Mark kannte ihn von früheren Einsätzen. Der Notarzt.

„Sehe ich genauso. Der Temperatur zufolge ist sie noch nicht lange tot.“

„Sie hieß Sybille Kaiser“, sagte Nicole hinter ihnen. „Alter: 32. Wohnhaft am Prinzregentenufer.“ Sie gab Mark das Portemonnaie und den Personalausweis der Frau. Er überflog die Daten auf dem Ausweis, ohne etwas Auffälliges festzustellen, und reichte beide Sachen an Nicole zurück. Mit den Habseligkeiten der Toten würde er sich später genauer befassen.

„Das hier dürfte nicht der Tatort, sondern lediglich der Auffindeort sein. Offenbar wurde der Körper nach der Ermordung bewegt“, sagte Nicole, während sie die Tasche der Frau in eine Beweismitteltüte steckte. „Es gibt Schleifspuren im Gras. Blut hingegen haben wir bei den Büschen kaum gefunden.“

Dominik stand auf und schaute sich um. „Und wie kam die Tote hierher? Mit einer ganzen Hochzeitsgesellschaft im Nacken wird der Täter sie wahrscheinlich nicht einmal quer über den Parkplatz geschleppt haben.“

Nicole nickte zustimmend. „Ich glaube, der eigentliche Tatort ist der Hof auf der Rückseite des Gebäudes. Normalerweise haben Gäste dort gar keinen Zutritt, weil es nahe vom Lieferanteneingang liegt und noch dazu dort gerade Baustelle ist. Die Kollegen untersuchen gerade alles.“

„Habt ihr schon etwas entdeckt, was als Tatwaffe infrage kommt?“

„Soweit ich weiß, nicht.“

„In Ordnung, dann lass uns mal zum Tatort gehen. Wenn ihr mit den Fotos und der Spurensicherung fertig seid, könnt ihr den Leichnam in die Rechtsmedizin schicken. Hoffentlich liefert uns die Obduktion ein paar konkrete Hinweise.“

Der Fotograf nickte und beugte sich über die Leiche, um weitere Bilder zu knipsen. Kurz schielte er skeptisch zu Dominik, was aber außer Mark niemandem auffiel.

Nicole trat kurz zu einem ihrer Kollegen, sprach dort allerdings so leise, dass sie kein Wort verstanden. Nach wenigen Sekunden war das Gespräch beendet, und sie führte die Kommissare über die Spurengasse den Berg hinauf. Oben angekommen, stapften sie am Parkplatz vorbei zur Gebäuderückseite, wo weitere Absperrbänder und uniformierte Polizisten sie erwarteten.

Der Hinterhof war ein zur Hälfe gepflasterter Platz von vielleicht 30 Quadratmetern Größe. Dahinter lag ein geteertes Wegstück, das die wenigen Meter bis zur Straße führte. Die schmale Einfahrt wurde durch dichte Sträucher abgegrenzt und war sicherlich nicht der offizielle Eingang . Unwahrscheinlich, dass da jemandem was aufgefallen war. Rechterhand gab es einen breiten Wiesenstreifen mit Laubbäumen, der sich bis zu den Feldern erstreckte. Mit Zeugen brauchte man da eher nicht zu rechnen.

Besser sah es da beim angrenzenden Lokal auf der linken Seite aus. Es gab mehrere Fenster, und auch wenn die meisten davon mit Jalousien oder Gardinen behängt waren, bestand zumindest der Hauch einer Chance, dass einer im richtigen Moment nach draußen geschaut hatte. Entweder dort oder durch eine der beiden Glastüren, die ins Haus führten.

Sein Blick folgte einem schnurrbärtigen Mann von der Spurensicherung, der zwischen zwei hüfthohen Erdhaufen hindurch zu einem Bretterstapel ging. Daneben befanden sich drei Paletten voll mit grauen Pflastersteinen. Ob sich hier irgendwo die Tatwaffe befand? Mark hatte da so seine Zweifel. Unweigerlich dachte er an die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen.

„Ich befürchte, hier werden die Spusis noch ein Weilchen zu tun haben“, sagte Dominik und stemmte die Hände in die Hüften. „Da will man nicht tauschen.“

Mark ignorierte die Bemerkung und folgte Nicole zu den Erdhaufen. Die Rückseite des linken Hügels war eingedrückt, der Boden davor übersäht von dunkelbrauner, halb feuchter Erde. Schwer zu sagen, ob sich dazwischen auch Blutspritzer befanden. Auf den ersten Blick wirkte alles gleich. An drei Stellen standen weiße Kärtchen mit Nummern darauf. Weitere steckten im Erdhaufen. Eine dralle Rothaarige schoss gerade Fotos davon.

„Wir sind zwar mit der Auswertung noch lange nicht fertig, aber wenn mich jetzt einer um eine Einschätzung bitten würde, würde ich sagen, genau hier ist sie erschlagen worden.“

Mark suchte die Stelle noch einmal nach verdächtigen Indizien ab und versuchte sich auszumalen, wie die Tote hier auf ihren Mörder getroffen war. Hatte sie ihn gekannt? Waren die beiden in Streit geraten oder war die Frau vorsätzlich ermordet worden? Noch war es viel zu früh, um sich ein Bild vom Tathergang zu machen.

„Ja, sieht ganz danach aus. Da frage ich mich natürlich, warum der Täter die Leiche nicht liegen lassen hat.“ Er schaute sich um, so als könnte die Antwort irgendwo in der Nähe liegen. „Hatte er Angst, dass sie so noch früher gefunden werden würde?“

„Es könnte auch ein erster Hinweis darauf sein, dass der Täter den Mord geplant hatte und sich den Auffindeort vorab ausgewählt hatte“, gab Dominik zu bedenken.

Mark nickte und drehte sich wieder zu Nicole. „Hast du mitbekommen, wer zuerst am Tatort war?“

„Ein Typ in unserem Alter. Heißt Leon Beyer. Er stand vorhin bei der Streife, oben am Parkplatz. Soll ich dich hinführen?“

Er winkte ab. „Das finde ich schon.“ Aus den Augenwinkeln heraus linste er nach Dominik. Bei ihm war er sich da nicht so sicher. Im Moment schien er abgelenkt zu sein. Sollte er ihn einfach stehen lassen? Eine Sekunde lang fand er die Idee sehr reizvoll. „Bist du so weit?“, fragte er dann.

„Natürlich.“ Langsam wie zähflüssiger Honig wanderte Dominiks Blick vom Erdhügel zu Mark und weiter zu Nicole. „Danke für die kleine Führung. See you later.“

Mit einem Schmunzeln folgte er ihm in Richtung der Autos. „Die ist nicht unflott.“

Unflott? Oh Mann. Mark verdrehte die Augen und sah zu, dass sie rasch den Parkplatz erreichten.

Neben dem grün-weißen VW-Transporter waren die beiden Streifenpolizisten nicht zu sehen. Er war ein hochgewachsener Typ um die vierzig mit zurückgegelten Haaren, der mit einem Fuß im Innenbereich des Wagens stand. Sie war deutlich kleiner, aber ungefähr im gleichen Alter und mit blonder Kurzhaarfrisur, und lehnte mit nachdenklicher Miene an der offenen Schiebetür. Mark kannte sie beide, konnte sich aber an keine Namen erinnern. Als sie ihn bemerkten, stellten sie sich richtig hin.

„Servus, Leute“, begrüßte er sie. „Ihr wart als Erstes hier?“

Die Frau nickte. „Über Funk hieß es, jemand hat eine vermutlich tote Frau im Gebüsch gefunden. Wir waren gut eine Viertelstunde später da, und er hat uns zum Auffindeort geführt. Wir haben nach Vitalzeichen gesucht, aber es gab keine mehr.“

„Wie heißt der Bursche, der die Frau gefunden hat?“

Sie zeigte auf einen aschfahlen Mann in den Dreißigern im eleganten dreiteiligen Anzug, der neben einer Frau mit hochgesteckten schwarzen Haaren stand und geistesabwesend an einem Kaffeebecher nippte.

„Leon Beyer. Gehört zur Hochzeitsgesellschaft. Ist der Trauzeuge des Bräutigams.“ Während sie sprach, fischte Dominik ein eselohriges Notizbuch aus der Jackentasche. Für die Uniformierten das Zeichen, ebenfalls auf ihre Aufzeichnungen zurückzugreifen. „Er wollte sich laut eigener Angabe bloß draußen kurz die Beine vertreten. Das war so gegen 15 Uhr.“

Mark schaute auf seine Uhr. Inzwischen war es kurz nach fünf. Vor drei Stunden war die Welt für den Finder und auch für die Frau noch in Ordnung gewesen. Erschreckend, wie rasch und vor allem wie massiv sich alles verändern konnte. Gerade eben lebte man noch sein normales Leben – dann passierte so etwas.

„Hat er jemanden in der Nähe des Auffindeorts gesehen?“, fragte Dominik.

„Soweit wir wissen, nicht. Als wir ihn danach fragten, war er noch ziemlich durch den Wind. Am besten redet ihr noch mal mit ihm.“

„Hatten wir ohnehin vor. Kennt er die Tote?“

„Mehr oder weniger“, antwortete die Frau. „Sie war offenbar eine recht guten Freundin der Braut und ist mit ihrem Lebensgefährten Holger Janssen zur Feier gekommen. Er dürfte im Gasthaus zu finden sein. Insgesamt sind ungefähr sechzig Leute auf der Hochzeit. Wird ein Weilchen dauern, die alle zu befragen.“

Da wollte Mark nicht widersprechen. „Wer hat überhaupt geheiratet? Die Frage ging im ganzen Trubel bisher völlig unter.“

„Das Hochzeitspaar heißt Stephanie und Alexander Hohenberg“, las der männliche Streifenpolizist ab. „Wir haben vorhin kurz mit beiden gesprochen. Sie haben von der ganzen Sache überhaupt nichts mitbekommen. Als sie davon erfuhren, wollten sie es gar nicht wahrhaben. Sie kommen sich noch immer vor wie im falschen Film.“

„Redet bitte trotzdem noch mal mit ihnen. Ebenso mit den anderen Gästen. Habt ihr schon Verstärkung angefordert? Vielleicht gibt es ja abgesehen von der Braut weitere Leute, die die Tote kannten, und/oder etwas gesehen haben. Ihr wisst ja, wir sind für jeden Hinweis dankbar. Außerdem sollten wir für alle Fälle sämtliche Personalien festhalten. Nicht bloß die der Gäste, sondern auch vom gesamten Personal.“

„Es sind noch drei Streifenwagen gekommen“, sagte der Mann. „Eventuell kriegen wir später noch einen vierten. Die Jungs haben aber noch in Kalchreuth zu tun.“

„Erkundigt euch am besten nach jedem, der heute Zugang zum Grundstück hatte“, schob Dominik im Oberlehrerton hinterher. „Und wenn es bloß der Konditor-Azubi ist, der die Hochzeitstorte vorbeigebracht hat. Jeder könnte was mitgekriegt haben.“

„Natürlich“, bestätigte der Polizist. Die mangelnde Begeisterung stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. „Ich informiere die Kollegen. Dann legen wir gleich los.“ Widerwillig setzten sich er und seine Partnerin in Bewegung.

„Super. Danke“, rief Mark hinterher, um die Situation zu entschärfen. Auch er hatte Dominiks schroffe Art nicht besonders prickelnd empfunden. Auf diesem Wege würde er sich bestimmt keine Freunde machen. Nicht, dass Mark das störte. Von ihm aus könnte der Neue gleich wieder seine Sachen packen und die Kollegin aus Erlangen nachrücken lassen.

Sofern Dominik wider Erwarten mit Abreiseplänen spielte, ließ er sich davon nichts anmerken. So als besäße er bereits den kompletten Durchblick, stapfte er auf Leon Beyer zu. Mark beeilte sich damit, Schritt zu halten. Auf keinen Fall wollte er Dominik mit ihm allein reden lassen.

„Wir sind die Kommissare Waldmayer und Richter von der Kripo Nürnberg“, stellte Dominik sie in überraschend sanftem Tonfall vor. „Sie sind Leon Beyer?“

Der Befragte nickte zögerlich. Die Frau neben ihm griff nach dessen Hand, so als könnte sie ihm dadurch Kraft für alles gleich Folgende schenken. Beide waren nach wie vor sehr blass, was bei ihr durch die schwarzen Haare noch deutlicher hervorstach.

„Wie fühlen Sie sich?“

„Na ja, geht so. Den Umständen entsprechend.“

„Erzählen Sie uns bitte noch mal alles. Von Anfang an.“

Er tat wie geheißen. Seine Freundin, die sich als Katrin Schwind vorstellte, hielt die ganze Zeit über seine Hand. Als Leon auf die Tote zu sprechen kamen, seufzte sie einige Male tief. Er hingegen wirkte relativ gefasst.

Pro forma notierte sich Mark das Gesagte in Kurzform, merkte jedoch schnell, dass ihnen das meiste davon nicht weiterhelfen würde. Für alle Fälle erkundigte er sich noch einmal nach dem Zeitrahmen, bekam aber auch da bloß die Angaben der Streifenpolizisten bestätigt: kurz vor 15 Uhr.

„Erinnern Sie sich an irgendetwas Ungewöhnliches kurz vor oder nachdem Sie die Tote gefunden haben?“, hakte er weiter nach.

Leon Beyer schüttelte zuerst zögerlich den Kopf, sagte dann allerdings: „Wobei … da waren zwei etwas komische Sachen …“ Er ließ den Blick in die Ferne schweifen. Mark sog aufgeregt den Atem ein. Würden sie gleich eine erste Spur bekommen?

„Zuerst war da Marina, die Trauzeugin von Steffy“, fuhr Leon nach einigen Sekunden fort. „Als ich nach draußen wollte, kam sie mir auf dem Flur entgegen. Keine Ahnung, woher sie kam oder ob sie überhaupt draußen war. Auf jeden Fall sah sie recht grimmig aus. Irgendwas schien sie mächtig verärgert zu haben.“

Mark fühlte ein wohliges Kribbeln im Bauch. Er warf einen kurzen Blick zu Dominik, der mit dem Schreiben kaum hinterherkam. Vermutlich spürte er es ebenfalls.

„Marina – wie heißt sie weiter?“

„Marina Friedlein.“

„Wissen Sie, wo wir sie finden können?“

Leon schaute sich kurz auf dem Parkplatz um und zuckte mit den Schultern. „Ist vermutlich drinnen, bei Steffy und Alex. Dem Brautpaar.“

„Wie sieht sie aus?“ Dominik schaute hinter seinem Notizbuch auf, hielt den Kuli aber bereit, um gleich weiterschreiben zu können. Sein Gegenüber zögerte und schaute ratsuchend zu seiner Freundin.

„Sie ist etwas kräftiger gebaut“, half diese aus. „Mit violett-braunen Haaren, breitem Kreuz und äh … noch breiterem Hintern.“

Nur schwer verkniff sich Mark ein Grinsen. „Eine wirklich … äh … bildhafte Beschreibung. Das dürfte die Liste ziemlich einschränken.“ Einen Moment lang trafen sich ihre Blicke. Auch ihre Mundwinkel zuckten leicht. Die Frauen waren offenbar nicht unbedingt das, was man beste Freunde nannte.

„Wissen Sie, ob sich die Trauzeugin und die Tote kannten?“, fuhr Dominik ungerührt fort. Er schien von alledem überhaupt nichts mitbekommen zu haben.

Jetzt war es wieder Leon, der antwortete: „Mit Sicherheit. Marina ist eine gute Freundin von Steffy. Und Sybille ist … war … es auch. Ich weiß aber nicht, wie viel sie miteinander zu tun hatten. Das ist nicht ganz meine Baustelle.“

„Was war denn das zweite Ungewöhnliche, das Ihnen aufgefallen ist?“, fragte Mark.

„Na ja, da war noch die Sache mit dem Hund.“

„Die Sache mit dem Hund?“

„Auf dem Parkplatz habe ich Sybilles Hund gesehen. So eine Art dunkler Golden Retriever. Keine Ahnung, welche Rasse genau.“

„Was war denn daran ungewöhnlich?“, hakte Dominik, ohne aufzuschauen, nach. „Dass der Hund alleine draußen war? Oder dass es der von Sybille war?“

„Eigentlich meinte ich damit die Kamera.“ Kurze Pause, so als müsste Leon Beyer in seiner Erinnerung kramen, um wirklich sicherzugehen. „Wenn mich nicht alles täuscht, hatte jemand dem Hund eine Kamera ans Halsband geheftet.“

„Bitte was?“ Mark hatte zwar die Worte gehört, brauchte aber einige Sekunden, um sie richtig zu begreifen.

„Nageln Sie mich nicht darauf fest. Mir kam es so vor, als hätte er so was umhängen. Vielleicht habe ich mich auch getäuscht. Es waren bloß ein oder zwei Sekunden. Danach war das mit Sybille. Ich bin mir nicht mehr sicher, was ich da gesehen habe.“

„Was war es für eine Kamera?“, fragte Dominik hinter seinem Block.

„Ein Camcorder, glaube ich.“

Ein weiteres Mal spürte Mark das wohlige Kribbeln in seinem Magen, nur diesmal deutlich stärker als zuvor. Der Hund des Opfers. Mit vielleicht laufendem Camcorder. In der Nähe des Tatorts. Uff ... konnten sie tatsächlich so viel Glück haben?

Vorsichtig schaute er sich um. Kein Vierbeiner in Sicht. „Ich nehme an, der Hund ist ebenfalls drinnen?“

Erneutes Schulterzucken von Leon. „Wahrscheinlich.“

„Ist Ihnen noch was aufgefallen?“

„Es gab keine weiteren Tiere, falls Sie darauf hinauswollten.“

„Nicht direkt. Wissen Sie, ob sich noch jemand draußen aufgehalten hat?“

„Auf dem Parkplatz habe ich niemanden gesehen. Darauf habe ich aber ehrlich gesagt auch nicht geachtet. Ich wollte ja bloß frische Luft schnappen.“

„Und nachdem Sie die Tote fanden?“

„Auch da habe ich draußen niemanden gesehen. Drinnen auf dem Flur standen ein paar Leute, aber wer das genau war? Keine Ahnung! Ich war völlig perplex, bin bis in den Festsaal gelaufen und hab mich dann erst gefragt, was ich da will.“ Er nickte mit dem Kopf in Richtung seiner Freundin. „Katrin kam auf mich zu und hat mich gefragt, was los ist.“

„Er war kalkweiß“, erklärte sie.

Ist er noch, lag es Mark auf der Zunge.

„Ich hab ihr gesagt, was los ist, und die Polizei angerufen. Den Rest kennen Sie.“

Das stimmte mehr oder weniger. Mark bedankte sich für die Informationen und reichte dem Mann eine Karte mit seinen Kontaktdaten. „Für den Moment wäre das alles. Falls Ihnen noch etwas einfällt, melden Sie sich bitte. Außerdem möchten wir Sie bitten, morgen ins Präsidium zu kommen. Die Kollegen vom KDD brauchen Ihre schriftliche Aussage für den Tatortbericht. Außerdem müssen Sie die Zeugenvernehmung unterschreiben.“

Leon nickte zustimmend.

3

„Wen nehmen wir uns zuerst vor? Die Dicke, das Brautpaar oder Schäubles Überwachungshund?“, fragte Dominik, nachdem sie einige Meter gegangen waren. Sein Notizbuch schwenkte er arbeitslustig hin und her, so als könnte er es kaum erwarten, eine neue Befragung zu starten.

Mark schaute nachdenklich zu der kleinen Menschentraube auf dem Parkplatz. Es war knapp ein Dutzend Leute. Zwei uniformierte Streifenpolizisten hatten gerade angefangen, sie zu befragen. Dabei mitmischen brauchten sie sicherlich nicht. „Ich würde sagen, wir gehen erst mal rein. Die meisten Leute scheinen eh drinnen zu sein.“

„Von mir aus gerne. Das mit dem Kläffer ist schon etwas verrückt. Wer kommt denn auf so was?“

„Ich finde die Idee gar nicht schlecht. Und das nicht bloß von unserer jetzigen Warte aus betrachtet. Auf manchen Feiern gibt es Einwegkameras. Das ist wahrscheinlich bloß die logische Weiterentwicklung.“

„Und was folgt danach? Implementieren von Kameras direkt unter die Haut?“

„Das würde unsere Arbeit gehörig erleichtern.“

„Jaja. Die Frage ist nur, zu welchem Preis. Ich möchte nicht Tag und Nacht überwacht werden.“

„Wer will das schon?“

„Da wüsste ich einige. Politiker. Polizisten. Selbst manche Arbeitgeber würden allein bei der Vorstellung einen Ständer kriegen.“

Schöne Wortwahl, fand Mark. Als sie den Flur betraten, schlug ihnen ein Schwall abgestandener Luft entgegen. Es roch nach den verschiedensten Gerichten. Die wahrscheinlich fertig gekocht oder gebacken in der Küche standen und vergeblich darauf warteten, serviert zu werden. Mark tat vor allem das Hochzeitspaar leid. Der schönste Tag ihres Lebens hatte sich in einen kompletten Albtraum verwandelt.

Der schmale Gang führte in eine Kurve, und sie folgten einem roten Teppich zum Festsaal. Eine Handvoll Männer und Frauen standen draußen und beobachteten neugierig jeden ihrer Schritte. Keine Sorge, ihr kommt auch noch dran, dachte Mark und lächelte ihnen freundlich zu.

Im Festsaal duftete es nach Kaffee, Kuchen und etwas Süßlichem, das ihn an Zuckerwatte erinnerte. Das fiel ihm als Erstes auf. Erst danach bemerkte er, wie hell es in dem großen Raum war, allerdings nicht wegen der zahlreichen Deckenleuchten, sondern wegen der vielen, mit hauchdünnen weißen Gardinen behangenen Fenstern. Einziges Manko daran: Die Fenster zeigten allesamt auf die entgegengesetzte Richtung des Abhangs und des Hinterhofs. Trotzdem musste das nicht durchweg schlecht sein. Vermutlich hatte man von hier aus einen hervorragenden Überblick, wer auf der nicht weit entfernten Straße vorbeifuhr. Das hieß, sofern man sich bei einer Hochzeitsfeier für so etwas interessierte.

Mark linste an den im vorderen Teil des Saals stehenden Gästen vorbei und scannte die aneinandergereihten Tische dahinter, die zusammen ein gewaltiges U ergaben. Er brauchte nur einen Moment, um die Trauzeugin zwischen den anwesenden Personen auszumachen. Sie war die einzige Frau mit lila Haaren. Noch dazu stand sie direkt neben dem Brautpaar.

Leons Freundin Katrin hatte nicht übertrieben. Die Frau besaß einen Hintern, bei dessen Anblick selbst Rapper Ice-T neidisch geworden wäre und seine Coco in den Wind geschossen hätte.

„My dear Mister-Singing-Club“, murmelte Dominik, dem offenbar das Gleiche ins Auge gestochen war.

Mark ersparte sich einen Kommentar und ging auf die Trauzeugin zu. Das hieß, er hatte die Absicht. Dann stach ihm jedoch etwas anderes ins Auge: In der Ecke zwischen zwei beiseitegeschobenen Tischen mit Hochzeitsgeschenken hatte jemand eine Stoffdecke ausgebreitet. Darauf lag ein Hund.

Der Hund.

Eine Kamera entdeckte Mark allerdings nicht mehr. Er hoffte, dass einer der Streifenpolizisten dafür verantwortlich war.

Apropos verantwortlich: Die dunkle Fellnase lümmelte ziemlich betrübt herum. Was in Anbetracht der Tatsache, dass sein Frauchen ermordet worden war, wenig verwunderlich war. Oder doch? Waren Hunde zu solchen Empfindungen überhaupt fähig? Mark war sich nicht sicher. Er war kein großer Hundefreund, wusste nur, dass die Tiere angeblich kein Fernsehen schauen konnten, weil sie bloß zweidimensional sahen. Ihm fiel auf, dass sich im Moment niemand für den Vierbeiner zuständig fühlte.

Sicherlich kein gutes Zeichen.

Mark dachte da in erster Linie an sich. Es war nicht so, dass er Angst vor dem angeblich besten Freund des Menschen hatte. Eigentlich respektierte er alle Arten von Haustieren (von Schlangen einmal abgesehen), blieb aber trotzdem auf Abstand und war nach jeder Hundebegegnung froh, wenn er weder abgeschleckt noch gebissen worden war.

Auch jetzt drückte er sich lieber mit einigen Zentimetern Abstand an der Nische vorbei und behielt die Decke genauestens im Auge. Dominik entpuppte sich auch diesmal als Haubentaucher und war dermaßen auf das vor ihm befindliche Brautpaar und die Trauzeugin konzentriert, dass ihm der Vierbeiner offenbar nicht mal aufgefallen war.

„Sind Sie Marina Friedlein?“, fragte er an die Frau mit den lila Haaren gerichtet.

„Ja, wieso?“

In bester Columbo-Manier hob er sein Notizbuch und tat so, als würde er auf den Seiten nach einem bestimmten Vermerk suchen.

Mark verdrehte innerlich die Augen. „Ich bin Kriminalkommissar Richter, das ist mein Kollege Waldmayer. Dürften wir uns kurz mit Ihnen unterhalten?“

„Ja, klar.“ Sie atmete schwer und tupfte sich die Augen ab. „Das ist alles so schrecklich. So unfassbar.“

„Sie kannten Sybille Kaiser also gut?“

„Natürlich. Sie war eine Freundin von Steffy und mir.“ Sie schaute in Richtung der Braut, so als müsste sie sich diesen Punkt von ihr bestätigen lassen. Wie auf Stichwort nickte diese zustimmend.

„Wie war denn Ihr Verhältnis zu ihr?“

„Normal, denke ich. Wir haben uns nicht so häufig gesehen. Aber wenn wir zum Beispiel abends zusammen ausgegangen sind, dann hatten wir meist recht viel Spaß miteinander.“

„Nur Sie beide?“

„Nein, in größerer Gruppe. Steffy war auch dabei. Und einige andere Mädels.“

„Wann und wo haben Sie Frau Kaiser heute zuletzt gesehen?“

„Das war hier, im Lokal. Aber wann? Puh …“ Sie blähte die Wangen auf. „Vielleicht so gegen zwei, halb drei?“

„Also nicht lange, bevor sie getötet wurde?“

„Ich … ich weiß nicht, wann sie getötet wurde. Moment mal! Denken Sie etwa, ich hätte was damit zu tun?“

„Im Augenblick denken wir noch gar nichts. Wir sind gerade dabei, den Nachmittag zu rekonstruieren und uns ein eigenes Bild von der ganzen Sache zu machen. Also: Wo genau haben Sie sie zuletzt gesehen?“

„Ich glaube, es war draußen auf dem Flur. Die exakte Uhrzeit weiß ich nicht. Darauf habe ich nicht geachtet. Es war auch bloß flüchtig. Sie telefonierte mit jemandem, und auch ich hatte genug andere Sachen um die Ohren.“

Das mit dem Telefon war ein gutes Stichwort. Bei der Leiche hatte er nichts dergleichen gefunden. Mark nahm sich vor, Nicole später darauf anzusprechen. „Was für Sachen waren das?“

„Alles Mögliche. Organisatorische Sachen. Als Trauzeugin bin ich mit dafür verantwortlich, dass alles glatt läuft.“

„Natürlich. Noch mal die Frage: Was für Sachen haben Sie da gerade zu tun gehabt?“

Die Trauzeugin runzelte die Stirn.

„Ich … äh …“ Sie schien ernsthaft darüber nachdenken zu müssen.

„Wolltest du nicht wegen des Brunnen schauen?“, mischte sich die Braut mit brüchiger Stimme ein. Ihr Make-up war komplett verlaufen, und auch sonst wirkte sie wie ein Häufchen Elend. Wer konnte es ihr verdenken?

Ein erleichtertes, gleichzeitig fast schon verlegenes Lächeln huschte über Marinas Gesicht. „Stimmt, das war es. Fürs Nachmittagsbüffet sollte ein Schokobrunnen da sein. War er aber nicht. Ich habe geschaut, ob der Kerl endlich kommt, und dann versucht, die Firma anzurufen, die den anliefern sollte, aber da ging keiner ran.“

Mark schaute fragend zu Dominik. Dieser kritzelte fleißig in sein Notizbuch. Was auch sonst?

„Und bis wohin sind Sie gegangen, um nach dem Fahrer zu suchen?“, fragte Mark.

„Bloß auf den Parkplatz. Wenn er gekommen wäre, hätte er sicherlich da gehalten.“

„Was ist mit der anderen Einfahrt auf der Rückseite?“

„Es gibt noch eine?“ Sie wirkte sichtlich überrascht.

„Ja, direkt beim Hinterhof. Dort, wo es auch zum Mitarbeitereingang geht. Wäre es nicht logischer, wenn er mit dem Brunnen dort anliefern würde?“

„Ja, schon, aber ... ich wusste nicht, dass es noch eine Einfahrt gibt.“ Das Blut schoss ihr ins Gesicht. Ein Zeichen dafür, dass sie gerade log? Vielleicht auch der Beweis für das Gegenteil. „Also waren Sie vorhin nur deswegen draußen?“

„Ja …“

„Es heißt, Sie waren ziemlich aufgebracht, als sie wieder reingingen.“

„Na, ist das denn verwunderlich? Da plant man wochenlang, damit alles perfekt läuft, und irgendeine Pfeife macht einem trotzdem einen Strich durch die Rechnung. Sehen Sie, der verfluchte Schokobrunnen fehlt immer noch! Nicht, dass wir ihn noch brauchen würden. Aber bei so was geht es ums Prinzip!“

Sie musste sich sichtlich zügeln, um nicht noch mehr in Rage zu geraten. Immer wieder warf sie entschuldigende Blicke zur Braut, die wieder die Hände vor das Gesicht geschlagen hatte und schluchzte.

„Was haben Sie nach Ihrer Rückkehr hierher getan?“, fragte Mark.

Erneut ein kurzer Blick zur Braut. Doch bevor diese es überhaupt bemerkte, erinnerte sich Marina Friedlein selbst: „Ich habe meinen Frust in Sekt und Apfelschorle ertränkt. Das heißt, ich habe es versucht. Nach wenigen Minuten kam Leon völlig bleich zurück. Dann ging es auf einmal drunter und drüber.“ Sie atmete schwer und tupfte sich ebenfalls einige Tränen weg. Mark wandte sich dem Brautpaar zu. „Entschuldigen Sie bitte, dass wir Sie an Ihrem großen Tag mit so was behelligen müssen. Hätten Sie kurz Zeit für einige Fragen?“

Zustimmendes Kopfnicken von beiden. „Haben Sie schon eine Spur, wer es getan hat?“, fragte die Braut. Dicke Tränen standen in ihren Augen, und ihre Unterlippe zuckte unkontrolliert.

„Dafür ist es viel zu früh“, sagte Mark leise. Gerne hätte er ihr etwas Positiveres berichtet.

„Sie waren vermutlich die ganze Zeit über hier im Saal, oder?“, fragte Dominik.

Wieder war es die Braut, die antwortete: „Eigentlich sogar die meiste Zeit hier am Tisch. Kaum ist ein Gast aufgestanden, kam der nächste, um mit uns anzustoßen. Sie wollten alle mit uns feiern …“ Ein weiteres Schluchzen hinderte sie am Weiterreden.

„Selbst aufs Klo schafft man es kaum“, sagte der Bräutigam, während er ihr tröstend über den Rücken strich. Wahrscheinlich waren seine Worte zur Auflockerung gemeint. Die Braut lachte sogar traurig auf. „Du hast leicht reden. Du könntest ja wenigstens, wenn du wolltest. Ich mit meinem Kleid hingegen – ohne Hilfe läuft da nichts. Im wahrsten Sinne des Wortes!“

„Stimmt!“ Die Trauzeugin schnippte mit den Fingern. „Auf dem Klo waren wir vorhin auch noch kurz. Entschuldigen Sie, das hatte ich vergessen zu erwähnen.“

„Danke für diese Information“, sagte Mark, ohne sich umzudrehen. „Wird selbstverständlich sofort notiert.“ Er blickte zu Dominik, der tatsächlich nach wie vor in seinem Büchlein herumkritzelte.

„Wann haben Sie Frau Kaiser zuletzt gesehen?“, fragte Mark.

Wieder war es die Braut, die zuerst antwortete: „Es war irgendwann hier im Saal. Sie und Holger waren kurz an unserem Tisch, aber ich weiß beim besten Willen nicht mehr, wann das war.“

„Das war nicht lang nach unserer Ankunft. So gegen eins, halb zwei“, überlegte der Bräutigam. „Was die beiden danach gemacht haben, haben wir nicht mitgekriegt. Wie gesagt, wir hatten ständig Leute um uns herum.“

„Bei Holger handelt es sich um …“, hakte Mark nach.

„Ihren Lebensgefährten. Holger Janssen.“

Das deckte sich mit dem, was Nicole gesagt hatte.

Der Bräutigam zeigte auf einen einige Meter entfernt sitzenden Mann mit kurzen dunklen Haaren, der ein Whiskyglas in der Hand hielt und mit versteinerter Miene vor sich hinstarrte. Selbst die Anwesenheit der Kripo schien er bisher nicht bemerkt zu haben.

„Dann sollten wir uns am besten mit ihm unterhalten“, sagte Mark. „Eine Frage habe ich noch: Uns ist zu Ohren gekommen, dass jemand Frau Kaisers Hund eine Kamera ans Halsband geheftet hat. Haben Sie davon etwas mitbekommen?“

„Oh Gott, wer macht denn so was?“, rief die Braut sofort. Sie wirkte regelrecht entrüstet. „Das kann ja wohl bloß ein schlechter Scherz sein.“

Der Bräutigam hatte bei der Erwähnung der Hundekamera kurz geschmunzelt, wurde jetzt aber sofort wieder ernst.

„Ich fürchte, nicht“, sagte Mark.

„Wir haben davon jedenfalls nichts gewusst. Meine Güte, auf was für Ideen die Leute kommen!“ Die Braut schüttelte den Kopf. „Felix, der arme Hund. Nun ist auch noch sein Frauchen tot.“

Sie schaute bedauernd in Richtung des Hundes.

„Wissen Sie etwas darüber?“, fragte Mark die Brautzeugin, doch die Frau mit den lila Haaren verneinte ebenfalls. Nichts anderes hatte Mark erwartet. „Falls Sie dazu etwas hören sollten oder Ihnen noch andere Dinge einfallen, die uns weiterhelfen könnten …“ Ein weiteres Mal überreichten Dominik und er Visitenkarten und bedankten sich für die Hilfe.

„Ich hätte da noch eine Frage“, begann der Bräutigam. „Hätten Sie was dagegen, wenn wir die Hochzeitsfeier beenden? Nach Feiern ist hier sowieso keinem mehr zumute.“

„Das liegt ganz bei Ihnen. Wir fänden es allerdings gut, wenn fürs Erste alle hierbleiben und Ruhe bewahren würden. Wenigstens bis meine Kollegen und ich mit unserer Befragung fertig sind.“

„Was schätzen Sie, wie lange das dauert?“

„Schwer zu sagen. Einige Stunden bestimmt noch.“

„Sie könnten ja das Essen servieren und dergleichen“, schlug Dominik vor. „Bestellt haben Sie es ja ohnehin. Vielleicht sorgt das für etwas Ablenkung oder Entspannung.“

Die Eheleute schauten ihn an, so als wüssten sie nicht, ob dies als Scherz gemeint war. Als Dominik nichts mehr hinzufügte, ließ sich die Braut auf ihren Stuhl plumpsen und nahm einen großen Schluck aus einem Bierglas. Mark konnte ihr auch das nicht verübeln. Von allen Tagen war ein Todesfall an einem Hochzeitstag vermutlich das Schlimmste überhaupt.

Zögernd gingen sie weiter zum Lebensgefährten. Mark hatte es nicht eilig, ihn zu erreichen. Das Schluchzen der frisch gebackenen Ehefrau hallte noch genug in seinem Ohr wider. Angenehm war das nicht gewesen. Und besser würde es auch jetzt nicht werden. Vor Gesprächen mit Angehörigen graute es ihm immer etwas. Man wusste nie, wie sie mit der Todesnachricht umgingen. Einmal war der Ehemann einer verstorbenen Rentnerin auf ihn losgegangen und hatte versucht, ihn mit sich zu Boden zu reißen. Er hoffte, dass es zu keinem weiteren solchen Erlebnis kam.

„Entschuldigung, sind Sie Holger Janssen?“, fragte Mark daher möglichst behutsam.

Keine Reaktion. Erst als er die Frage wiederholen wollte, drehte sich der Mann schwerfällig um. Vermutlich war er Anfang bis Mitte vierzig, aber der Schock und die Traurigkeit ließen ihn im ersten Moment zehn Jahren älter wirken. Er hatte dunkle Haare mit leichtem Grauschimmer und war von schlanker Statur. Sein eng sitzender Nadelstreifenanzug ließ darauf schließen, dass ihm sein Erscheinungsbild wichtig war. Ein bisschen erinnerte er an den FDP-Chef Christian Lindner. Bloß der Dreitagebart fehlte. „Und Sie sind?“

Sie zeigten die Dienstausweise und stellten sich vor. Holger Janssen nickte seufzend. Er schien sie bereits erwartet zu haben.

„Sind Sie der Lebensgefährte von Sybille Kaiser?“, vergewisserte sich Dominik und nahm wieder seine übliche Schreibposition ein. Die Kugelschreibermine glühte sicherlich schon.

„Der bin – oder besser: war – ich.“

„Mein Beileid zu Ihrem Verlust“, übernahm Mark das Gespräch.

Erneutes Nicken und Seufzen.

„Haben Sie eine Ahnung, wer das getan haben könnte?“

„Natürlich nicht.“

„Hatte Frau Kaiser irgendwelche Feinde? Beziehungsweise stand sie mit jemandem im Streit?“

„Nicht, dass ich wüsste.“

„Wissen Sie, weshalb sie nach draußen gegangen ist?“

„Sie wollte sich kurz die Beine vertreten.“

„Wann war das in etwa?“

„So gegen zwei vielleicht? Ich hab nicht auf die Uhr geschaut.“

„Wirkte sie irgendwie anders als sonst?“

„Nicht wirklich. Ich hatte ihr angeboten, sie zu begleiten. Sie lehnte ab und meinte, sie wäre eh gleich wieder da. Sie bräuchte bloß einen Moment Ruhe.“

Der letzten Satz ließ Mark aufhorchen. „Ist sie davor sehr beschäftigt gewesen?“

„Bloß mit Sekttrinken und im Internet surfen.“

„Was für ein Telefon war es denn?“

„Ein rotes iPhone X.“

„Haben Sie eine Ahnung, wo es sich befinden könnte?“

„Sie hat es mitgenommen. Eigentlich geht sie nirgendwo ohne hin. Ich meine, sie ging. Ist ja jetzt Vergangenheit. Oh Mann, was für eine Scheiße.“

Kopfschüttelnd nahm er einen Schluck aus seinem Whiskyglas.

„Wie hat sie sich verhalten, als Sie das letzte Mal mit ihr gesprochen haben?“

„Wie immer. Sybbi war jetzt auch nicht so die emotionale Frau. An neunundneunzig von hundert Tagen war sie gleich darauf. Sie besaß ein gutes Pokerface, wenn Sie verstehen, was ich meine.“

„Was haben Sie gemacht, während Ihre Frau draußen war?“

„Lebensgefährtin, nicht Frau. Wir waren nicht verheiratet. Niemand hätte Sybbi so einfach einen Ring anstecken können. Und meins ist das auch nicht. Die Ehe ist nicht mehr zeitgemäß.“

Und das erzählt er mir auf einer Hochzeit, dachte Mark, sagte aber nichts. Er fand den Mann von Minute zu Minute unsympathischer. Allein die Art, wie er sich bewegte und redete, hatte etwas Aalglattes an sich. Gegen ihn konnte selbst Dominik noch trumpfen.

„Was Ihre Frage betrifft: Ich war eigentlich durchgängig hier. Ich bin mal kurz aufs Klo und einmal zur Bar, um noch ein Bier zu ordern, aber im Großen und Ganzen habe ich den Raum nicht verlassen.“

„Haben Sie sich nicht irgendwann gefragt, wo Ihre Lebensgefährtin so lange steckt?“

Janssen hielt inne und dachte über die Frage nach. „Irgendwann, natürlich. Aber da kam Leon schon in den Saal gelaufen. Ich wusste sofort, dass was nicht stimmte. Als er Sybbis Namen sagte, bin ich zu ihm gelaufen. Und danach weiter nach draußen zu den Büschen. Ich musste es mit eigenen Augen sehen.“

„Sie waren bei ihr?“, entfuhr es Dominik. „Haben Sie sie angefasst?“

„Natürlich nicht. Ich bin doch kein Idiot. Außerdem kamen da gleich noch andere Leute nach und haben mich wieder ins Lokal gezogen. Gegen meinen Willen übrigens. Ich wäre gern bei ihr geblieben, bis Ihre Leute da waren. Das hatte sie nicht verdient, dort so alleine zu liegen.“

„Also haben Sie nichts berührt oder verändert?“, hakte Dominik nochmals nach.

„Nein, sagte ich doch schon. Verdammt noch mal!“