Unter Wasser Nacht - Kristina Hauff - E-Book
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Unter Wasser Nacht E-Book

Kristina Hauff

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Beschreibung

Wie lebt man weiter nach einem großen, unerklärlichen Verlust? Mit psychologischem Gespür erzählt Kristina Hauff eine Geschichte voller Hoffnung und Trauer und vom Wert der Freundschaft

In den idyllischen Elbauen im Wendland teilen zwei Paare Hof, Scheune und Kräutergarten - doch ihre einst enge Freundschaft ist zerbrochen. Thies und Sophie trauern um ihren Sohn Aaron, der unter ungeklärten Umständen ertrank. Allein mit ihren Schuldgefühlen müssen sie Tag für Tag Ingas und Bodos scheinbar perfektes Familienglück mit ansehen. Bis ein Jahr nach Aarons Tod eine Fremde in den Ort kommt und ans Licht bringt, was die vier Freunde lieber verschwiegen hätten.

Atmosphärisch und feinfühlig schreibt Kristina Hauff von tiefer Verbundenheit, von schamvollen Geheimnissen und von Schmerz, aus dem neue Hoffnung wächst.

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Über das Buch

Wie lebt man weiter nach einem großen, unerklärlichen Verlust? Mit psychologischem Gespür erzählt Kristina Hauff eine Geschichte voller Hoffnung und Trauer und vom Wert der Freundschaft In den idyllischen Elbauen im Wendland teilen zwei Paare Hof, Scheune und Kräutergarten — doch ihre einst enge Freundschaft ist zerbrochen. Thies und Sophie trauern um ihren Sohn Aaron, der unter ungeklärten Umständen ertrank. Allein mit ihren Schuldgefühlen müssen sie Tag für Tag Ingas und Bodos scheinbar perfektes Familienglück mit ansehen. Bis ein Jahr nach Aarons Tod eine Fremde in den Ort kommt und ans Licht bringt, was die vier Freunde lieber verschwiegen hätten.Atmosphärisch und feinfühlig schreibt Kristina Hauff von tiefer Verbundenheit, von schamvollen Geheimnissen und von Schmerz, aus dem neue Hoffnung wächst.

Kristina Hauff

Unter Wasser Nacht

Roman

hanserblau

Für Euch, Kurt und Lenni

Thies

Unter dem Nebel lauerte das Wasser.

Thies saß auf seinem Stein. Die Elbe überflutete die Auen, nahm Land in Besitz, wie es ihr gefiel. Die neuen Uferlinien verbargen sich im Dunst, und die andere Flussseite war nicht zu erkennen, sosehr er auch die Augen anstrengte. Er gab es auf und lauschte.

Macht dir die Stille Angst?, flüsterte die weißgraue Nebelwand vor ihm. Du weißt nichts über mich, wisperte der Fluss.

Ein Tuten wehte heran, das Nebelhorn der Fähre. Dann hörte Thies auch den Motor tuckern.

Schon so spät.

Er streckte den Rücken durch und stand auf. Der Anleger lag etwa hundert Meter entfernt. Er wollte Edith nicht begegnen. Wenn es jemanden gab, der den Fluss noch mehr hasste als er, dann war sie es, die Fährfrau wider Willen. Er wollte ihre stummen Blicke nicht ertragen. Nicht wissen, was genau sich dahinter verbarg. Unausgesprochenes. Es ging ihm schlecht genug.

Das Lachen einer Frau durchdrang den Nebel. Tief, kehlig. Unwirklich in dieser stillstehenden Welt. Unbekümmert klang es, energiegeladen. Es kam selten vor, dass Edith so früh schon Passagiere hatte. Und noch nie hatte er gehört, dass sie sich mit ihnen unterhielt. Aber da draußen waren zwei Stimmen, leicht zu unterscheiden. Monoton und ausdruckslos die eine, das war Edith. Lebhaft und warm die andere, fremde Stimme. »Komm Joschi, na, komm zu mir!« Sie lockte Ediths alte Hündin, eine Mischung aus Rottweiler und Berner Sennenhund.

Das Geräusch des Motors schwoll weiter an, bis sich die Umrisse des altmodischen weißen Schiffs aus dem Dunst schälten. Edith stand im Führerhaus, ließ, als sie das Ufer erreichten, die Rampe herunterklappen und öffnete die Schranke.

Wenn er sich beeilte, konnte er unbemerkt verschwinden. Stattdessen sank er zurück auf den Stein. Gestand sich ein: Er war neugierig. Der Nebel verwischte alle Konturen, doch je weiter sich die Umgebung auflöste, desto akzentuierter nahm er Geräusche wahr, Satzfetzen.

»… etwas tun, das Ihnen mehr Freude macht«, sagte die unbekannte Stimme.

»Ach, Mädchen … reicht das Geld … bis ich sterbe … machen Sie denn in der Gegend?«

Die Antwort war unverständlich, vermutlich wandte die Fremde ihm nun den Rücken zu.

Erstaunlich klar Ediths nächste Worte: »Hier ändert sich nie etwas.«

Schemen bewegten sich, jetzt sah Thies die beiden deutlicher: Edith ging an Land, streckte der Frau ihre Hand entgegen, die griff danach und setzte einen Fuß ans Ufer. Sie trug Gepäck, stellte es ab. Sie war ein gutes Stück größer als Edith. Die Hündin stakste über die Rampe auf die Wiese. Die Frau beugte sich vor, lockte sie erneut. »Joschi. Komm her.«

»Sie ist fast blind. Und sie mag keine Fremden.«

Die Hündin näherte sich der Frau, die bückte sich und streichelte sie. »Ich mag sie jedenfalls«, sagte sie. Mit einem kurzen Abschiedsgruß schulterte sie den Rucksack.

Edith blickte ihr nach, dabei schüttelte sie den Kopf.

Die Fremde lief an Thies vorbei, sie nahm die Straße in den Ort, einen anderen Weg gab es nicht. Es sei denn, man kannte den Fußpfad durch die Wiesen, der zu Thies’ Hof führte. Zusätzlich zum Rucksack trug sie eine Reisetasche. Sie sah zu ihm herüber. »Morgen.«

Er murmelte einen Gruß.

Sie blieb stehen. »Der Nebel löst sich auf. Auf der anderen Seite ist es schon klar.«

Nach ihrem Aussehen musste sie Mitte oder Ende vierzig sein. Dunkles, langes Haar fiel über ihre Schultern. Groß war sie wirklich. Sie trug eine kurze, robuste Lederjacke, darunter ein wadenlanges schwarzes Kleid und Stiefeletten.

Er nickte. Sie ging weiter, verschwand hinter der Baumgruppe, dort, wo die Straße sich zum ersten Mal bog.

Als er wieder zum Fluss sah, war der Nebel verschwunden. Sonnenlicht erhellte das Wasser wie Schlieren von Milch. Der leblose Körper trieb vorbei, dicht unter der Wasseroberfläche, sein blaues Superman-T-Shirt blähte sich auf, und für einen kurzen Moment leuchtete ein blondes Büschel Haar im Licht. Thies blinzelte, und der Körper verschwand. Wie immer. Als habe ihn ein Strudel auf den schlammigen Grund gezogen.

Edith sah herüber. Er ließ ihren Blick an sich abprallen.

»Joschi!«

Die Hündin trottete hinter ihr her, zurück auf die Fähre, und legte sich auf ihren Stammplatz vor dem Führerhaus.

Thies verwuchs mit dem Stein, bis er das vertraute Quietschen hörte, mit dem Edith die Rampe hochzog. Sie nahm Kurs auf das andere Ufer. Er ließ sie bis zur Mitte fahren, dann erst stand er auf. Er schlug den Pfad zu seinem Haus ein. Auf halber Strecke drehte er um und ging in die Gegenrichtung. In den Ort.

Sophie

Noch bevor sie wirklich wach war, spürte sie, dass Thies nicht neben ihr lag. Sie legte ihren Arm auf seine Bettseite, das Laken fühlte sich glatt und kühl an. Widerwillig öffnete sie die Augen.

Sonnenlicht flutete ins Zimmer. Nach dem Regengrau der letzten Tage brannten die Farben auf ihrer Netzhaut, das Blumenmuster der Bettwäsche, die blaue Wandfarbe, die sie früher beide geliebt hatten, Thies’ rapsgelber Bademantel, den er über den Korbsessel geworfen hatte.

Sophie warf einen Blick auf ihren Wecker. Sie musste aufstehen, sonst kam sie zu spät ins Labor. Sie blieb liegen und starrte an die Zimmerdecke. Diese Stille im Haus lähmte sie.

Selbst wenn Thies da war, fehlte er ihr.

Er saß bestimmt an der Elbe, Tag für Tag brach er früher auf.

Sie nahm ihren Willen zusammen und kämpfte sich aus dem Bett. Wenn sie nicht stark war, fiel alles auseinander. Die Arbeit half ihr. Mit jeder einzelnen Wasserprobe im Labor lernte sie diesen verfluchten Fluss besser kennen. Wie idyllisch er sich durch die Auenwiesen schlängelte. Wie geschickt er die Menschen täuschte, mit sanften Wellen, die ans Ufer schwappten, mit Schilf, das sich im Wind bog, mit sauberen weißen Vögeln, die über ihm kreisten. Sie jedoch konnte seine Gifte mit Namen aufzählen, und mit jedem Reagenzglas durchschaute sie ihn mehr.

Sie wusch sich und zog sich an. Plötzlich wurde draußen laut Musik aufgedreht. Amy Winehouse. Sophie sah aus dem Fenster.

Der morgendliche Aufbruch der Nachbarn … Bodo wartete schon im Auto vor dem Haus auf Inga und die Kinder, der Motor lief, die Fenster vorn waren heruntergekurbelt. Mit den Fingern einer Hand trommelte er im Takt aufs Lenkrad und sang mit. »There’s nothing you can teach me …«

Lasse, der vorgestern fünfzehn geworden war, kam mit Kopfhörern aus dem Haus und warf sich auf die Rückbank. Er zog sein Smartphone heraus und blickte mit gesenktem Kopf auf das Gerät.

Sophie trat vom Fenster zurück. Ob Aaron heute genauso wäre? So fixiert auf sein Handy wie alle Jugendlichen? Sie hatten versprochen, ihm eines zu kaufen, aber erst zu seinem zwölften Geburtstag. Und wenn er es schon gehabt hätte, an diesem letzten Abend?

Sophie drängte die Gedanken an Aaron beiseite, lief die Treppe hinunter, griff im Flur nach ihrer Tasche, für ein Frühstück blieb keine Zeit mehr. Sie trat vor das Haus, tastete ihre Jacke ab. Wo war nur ihr Fahrradschlüssel?

Bodo drückte kurz auf die Hupe, doch Sophie blickte nicht zu ihm hinüber. Das galt nicht ihr. Aus dem Augenwinkel sah sie Jella zum Auto ihres Vaters schlendern. Ihr blondes Haar glänzte. Dann würde gleich auch ihre Mutter Inga auftauchen, mit den liebevoll bestückten »Green Boxes« aus Holz, für jedes Familienmitglied eine, sie achtete auf Nachhaltigkeit, und niemals hätte sie ihre mundgerecht geschnittenen Obststückchen oder Butterbrote in Plastikdosen transportiert.

Da war Inga. Sie stellte eine Futterschale für die Katzen neben die Treppe zum Eingang. Dann zog sie die Haustür zu und schloss ab.

»Sophie! Willst du mitfahren?«, rief sie zu Sophies Überraschung. Und jetzt kam Inga auch noch auf sie zu!

»Nein, aber lieben Dank für das Angebot!«

Sophie beugte sich über ihr Fahrrad, tat, als würde sie aufschließen, doch schon stand Inga direkt vor ihr. Sophie konnte ihre Nähe kaum ertragen. Gleichzeitig hatte sie Sehnsucht nach ihr, nach ihrer engen Freundschaft. Genauso wie sie Sehnsucht nach Thies hatte. Dem Thies von früher, den es nicht mehr gab.

Sie dachte daran, wie alles begonnen hatte, in den Tagen, als Bodo und Inga ihnen einen Teil des Grundstücks abkauften und ihr Haus darauf bauten. Die besten Nachbarn der Welt: ihre Freunde. So viele Hoffnungen und Träume hatten sie geteilt. Für Inga hatten sie sich alle erfüllt, für Sophie nicht.

»Hey«, sagte Inga liebevoll.

Ich bin verbittert und ungerecht, dachte Sophie. Niemals hatte sie jemand sein wollen, der auf seine besten Freunde neidisch ist. Und doch war es so gekommen. Sie konnte ihre Gefühle nicht unterdrücken. Und deshalb konnte sie nicht mehr mit Inga befreundet sein.

Inga

In der Küche hing noch der Duft von Kaffee. Inga schob den Leinenvorhang zur Seite und blickte nach draußen. Ein Kaninchen sprang über die Wiese und verschwand unter dem Kirschlorbeer. Vorhin war es neblig gewesen, aber jetzt hatte sich die Sonne durchgesetzt. Sie sah zum Nachbarhaus hinüber, das geschah automatisch. Alles still drüben. Sophies Fahrrad, mit dem sie morgens zum Bahnhof fuhr, um dann den Zug nach Lüneburg zu nehmen, lehnte an der Hauswand. Wenn sie um die Zeit noch zu Hause war, hatte sie wohl Urlaub genommen. Hoffentlich war sie nicht krank.

Inga hörte Schritte auf der Treppe im Flur. Jella kam, ihr Rucksack war prall mit Schulbüchern gefüllt.

»Du kannst ohne Jacke gehen«, sagte Inga. »Es wird warm heute.«

»Beeil dich, Mama.«

Draußen hupte Bodo. Inga ging zurück in die Küche, packte die Brotdosen in eine Papiertüte und füllte Katzenfutter in eine Schale. Von gegenüber nahm sie eine Bewegung wahr. Sophie kam aus dem Haus, die Aktentasche in der Hand. Sie kramte in ihren Jackentaschen. Inga fasste den Griff des Fensters, hielt dann inne.

Lass sie in Ruhe.

Sie trat vor die Tür und schloss ab. Bodo sang lauthals: »They tried to make me go to Rehab, I said no, no, no …« Inga lächelte. Aber Bodo ließ den Motor laufen, und das mochte sie gar nicht. Was sollte diese Drängelei?

Sophie stand noch immer da. Irgendwas stimmte nicht mit ihr. Früher hätte sie Inga sofort verraten, was los war. Doch die Zeiten waren vorbei. Heute wusste Inga, dass sie nicht einmal fragen durfte. Aber sie hielt es nicht aus, nicht, solange sie hier so nah beieinander wohnten.

»Sophie! Willst du mitfahren?«, rief sie.

Jella fuhr ihr Autofenster herunter. »Mama, ich schreibe Mathe in den ersten beiden Stunden!«

Sophie lehnte dankend ab. Natürlich. Ihre Haut sah merkwürdig fleckig aus, und ihre Augen wirkten geschwollen. Hatte sie geweint?

Inga stellte die Papiertüte auf den Boden und schritt auf ihre Freundin zu. Lass es sein. Das bringt nichts, dachte sie gleichzeitig. Doch sie lief weiter. Sie waren seit so vielen Jahren befreundet.

»Hey.«

Sophie sah auf. Sie war ungeschminkt, trug einen unscheinbaren grauen Pullover und Jeans. Keinen Schmuck.

»Los, steig doch ein. Bodo bringt dich zum Labor.«

»Ich komm klar, Inga, wirklich.«

Die Musik wurde abgedreht. Bodo hupte zweimal. Immer noch kurz, aber betont.

Inga suchte Sophies Blick, doch die wich ihr aus.

»Okay. Hab einen schönen Tag.« Inga zögerte noch, dann wandte sie Sophie den Rücken zu, ging zum Auto und stieg auf der Beifahrerseite ein. Die Tür war kaum zugefallen, da gab Bodo schon Gas, der Wagen schoss vom Hof auf die Straße.

»Sag mal, spinnst du?«

»Entschuldige.« Er blickte starr nach vorn durch die Frontscheibe. »Aber was sollte das? Wir hatten besprochen …«

»Ich weiß.« Inga sah in den Seitenspiegel. Sophie folgte auf dem Rad, sie fiel weiter und weiter zurück.

»Mir fällt es doch genauso schwer.« Bodo seufzte. »Ich habe überlegt, ob ich …« Er brach ab.

»Was?«

»Eigentlich muss ich mit den beiden reden.«

Inga warf einen Blick zur Rückbank. Die Kinder hatten Kopfhörer auf den Ohren, die Augen Richtung Smartphone gesenkt.

»Was meinst du? Über die Ermittlung?«

Sie wartete darauf, dass er weitersprach. Seine Fingerknöchel schimmerten weiß, so fest umklammerte er das Lenkrad.

»Bodo?«

»Nein, nichts Neues.«

Er war leitender Ermittler im Fachkommissariat für Wirtschaftskriminalität, kannte aber die Kollegen vom Kommissariat für Tötungsdelikte gut. Hatte Bodo irgendetwas mitbekommen? Sein verdammtes Pokerface mal wieder. Warum sprach er das Thema an, wenn es angeblich nichts zu sagen gab?

»Aarons Tod war ein Unfall. So sieht es nach wie vor aus.« Er starrte auf die Straße, die schnurgerade den Wald zerschnitt.

Inga kannte ihren Mann, und solche kryptischen Bemerkungen bedeuteten: Ihn bedrückte etwas. Sie ließ ihn in Ruhe, kombinierte aber in Gedanken weiter. Jeder Satz, in dem es um ihren Sohn Aaron ging, war wie Dynamit für Thies und Sophie. Sie klammerten sich an die fortlaufende Ermittlung. Was, wenn der Kollege Bodo gebeten hatte, den beiden mitzuteilen, dass sie beendet wurde, und er es nicht übers Herz brachte?

Je länger sie darüber nachdachte, desto sicherer war sie, dass genau das dahinterstecken musste.

Thies

Die Frau auf der Fähre hatte so zielstrebig ausgesehen. Er hörte noch das rhythmische Klacken ihrer Stiefelabsätze auf dem Asphalt.

Der Nebel löst sich auf. Auf der anderen Seite ist es schon klar.

Floskeln über das Wetter. So kamen ihm die zwei Sätze jetzt vor. Aber vorhin, als sie vor ihm stand, hatten ihre Worte ihn berührt. Als hätte sie nicht einfach die gegenüberliegende Flussseite gemeint. Als wüsste sie etwas von ihm. Etwas, das er selbst noch nicht ahnte.

Der Ortskern von Harlingerwedel lag nun vor ihm, mit seinen Fachwerkhäusern, der Bäckerei, der Apotheke, dem Rathaus mit den gotischen Türmchen. Nur wenige Autos schlängelten sich durch die Gassen, manche Läden öffneten gerade, Leute verließen ihre Häuser auf dem Weg zur Arbeit. Thies kannte die meisten, die ihm auf dem schmalen Bürgersteig begegneten. Aber er war lange nicht im Ort gewesen. Die ihn grüßten, ließen ein Fragezeichen in der Luft hängen, wer ihn ansah, den kostete es Kraft, nicht zu starren. »Thies! Ewig nicht gesehen!« Ihre Anteilnahme, ihr Mitleid, ihre Neugier schnürten ihm die Kehle zu. Er grüßte zurück, brachte jedoch kein Lächeln zustande. In einem Schaufenster sah er sich selbst, sein abweisendes Gesicht. Er hatte mit diesen Menschen sein Leben geteilt, sie begegneten ihm in den Läden, waren Kolleginnen oder Kollegen von der Schule, Aktive gegen die Castor-Transporte im Wendland, Bekannte. Viele waren zu Aarons Beerdigung gekommen. Viele ihrer Kinder hatte er unterrichtet. Die Leute hatten sich nicht verändert. Er war ein anderer geworden. Sein Unglück hatte ihn zum Außenseiter gemacht.

Die Frau von der Fähre war nirgendwo zu sehen. Thies überquerte den Marktplatz, am Steinbrunnen lungerten ein paar Schüler herum und versenkten leere Cola-Dosen im Wasser. Mit ertappten Blicken grüßten sie ihn. »Morgen, Herr Buchholz.«

Er nickte stumm. Sie waren älter, hatten mit Aaron nichts zu tun gehabt.

Die Touristeninformation war noch geschlossen. Wo konnte die Frau sein? Im Café. Er betrat die Backstube, murmelte einen Gruß in Richtung des Verkaufstresens und blickte in den Gastraum. Zwei Rentnerinnen unterhielten sich. Ein Arbeiter im Blaumann frühstückte. Die anderen Tische waren leer. Thies zögerte. Der Duft nach Brotlaiben und Kaffee löste eine diffuse Sehnsucht in ihm aus, erinnerte ihn an früher. An was? An die Kindheit? An die Anfangsjahre mit Sophie?

Er setzte sich ans Fenster. »Cappuccino bitte«, sagte er zu der jungen Frau mit rötlich gefärbtem kurzem Haar, die an seinen Tisch trat. Erst danach fiel ihm ein, dass er kein Geld bei sich hatte.

Als sie ihm die Tasse brachte, zierte den Kaffee ein Herz aus Milchschaum. Er stieß den Löffel hinein. Während er rührte, dann in kleinen Schlucken trank, ließ er die Menschen draußen vorbeiziehen, suchte nach einem bestimmten Kleidungsstück: der schwarzen Lederjacke.

Sein Kaffee war längst leer, Spuren des Schaums trockneten in der Tasse. Wie lange er dagesessen hatte, wusste Thies nicht. Er stand auf und zog sich an, der einzige Gast im Raum.

»Ich bezahle später, heute Nachmittag«, sagte er im Hinausgehen in Richtung des Tresens, dahinter stand nun eine andere Frau, älter und hager.

»Ist gut, Herr Buchholz«, gab sie zurück.

Er sah nicht genau hin, ob er sie kannte. Sie jedenfalls kannte ihn.

Draußen hatte die Sonne eine erstaunliche Kraft entwickelt. Thies blieb auf dem Marktplatz stehen, legte den Kopf in den Nacken und blinzelte. Das grelle Licht schmerzte in den Augen. Was wollte er hier? Warum war er dieser Fremden gefolgt? Er hatte eine Art Dringlichkeit verspürt. Doch jetzt war das merkwürdige Gefühl verschwunden, es hatte sich einfach aufgelöst.

Er schlug den Weg nach Hause ein, als er sie plötzlich entdeckte. Sie kam aus der Gegenrichtung und betrat den Supermarkt. Wo war ihr Gepäck geblieben?

Er setzte sich auf den Rand des Brunnens. Das morgendliche Treiben war abgeebbt, nun prägten ältere Leute das Bild. Ein paar Touristen mit Fahrrädern, bepackt mit Satteltaschen, unterwegs in Richtung Elberadweg. Mütter, die Kinderwagen schoben. Seine zukünftigen Schutzbefohlenen. Wenn er wieder in den Schuldienst zurückkehrte. Er wartete auf einen inneren Widerhall bei dem Gedanken. Freude. Skepsis. Angst.

Nichts. Er spürte nur diese bleierne, lähmende Gleichgültigkeit.

Er war der Frau gefolgt, weil ihre Worte etwas in ihm ausgelöst hatten. Etwas wie Zuversicht. Vielleicht war es auch die Art gewesen, wie sie sich bewegte. Anmutig. Er lächelte. Was für ein altmodischer Ausdruck. Hatte er ihn jemals vorher benutzt? Wie sie Ediths Hand ergriffen hatte, als sie an Land ging — sie hätte keine Hilfe gebraucht, jeder ihrer Schritte war fest und sicher gewesen.

Er saß eine ganze Weile vor dem Supermarkt, doch sie kam nicht mehr heraus. Er wechselte auf die andere Straßenseite, es lagen nur ein paar Meter zwischen ihm und dem Laden. Dann öffnete sich die automatische Tür, aber nicht für ihn, er war zu weit entfernt. Ein Mann trat auf den Bürgersteig, und direkt dahinter kam sie, trug drei gut gefüllte Einkaufsbeutel aus Stoff. Ihre Blicke begegneten sich.

»So trifft man sich wieder«, sagte sie.

»Tja, das passiert hier andauernd.«

»Und ich dachte schon, Sie sind mir gefolgt.« Sie lächelte amüsiert.

Thies wich ihrem Blick aus, betrachtete die Taschen. »Sie sehen aus, als könnten Sie Hilfe beim Tragen gebrauchen.«

»So sehe ich ganz bestimmt nicht aus.«

»Stimmt.« Nun lächelte auch er. »Wohin müssen Sie?«

»Bis zum Waldrand.«

Er nickte. Fragte nicht, was sie dort mit ihren Vorräten vorhatte. Es ging ihn nichts an.

»Dann auf Wiedersehen«, sagte er.

»Würde mich freuen.«

Sie wandte sich ab und ging davon, genauso zielstrebig wie bei ihrer ersten Begegnung. Auch Thies trat den Rückweg an. Er drehte sich nicht mehr um, doch nach ein paar Schritten schob er eine Hand unter die Jacke, legte sie auf die Brust. Er spürte den Druck der Finger durch den Pullover. Und darunter sein Herz, schneller, heftiger pochend als sonst.

Sophie

Der Waldweg bestand nur aus Pfützen und war mit dem Fahrrad kaum noch befahrbar. Schlammwasser spritzte auf Sophies Sneakers und ihre Hosenbeine, wenn sie durch die Lachen fuhr.

In Gedanken war sie im Labor, bei der Auswertung der letzten Wasserprobe. Sie hatte erhöhte Schwermetallwerte in das Protokoll eingetragen. Blei, Cadmium, Nickel. Zinnorganische Verbindungen tauchten auf, hochtoxisch, die oft über die Schutzanstriche der Schiffsrümpfe freigesetzt wurden, außerdem chlorhaltige Verbindungen, deren Ursache ihr noch Rätsel aufgab. Sie würde gleich morgen eine Probe aus dem Absetzbecken der Messstelle anfordern und die Schwebstoffe auf partikelgebundene Schadstoffe untersuchen. Und dann konnte sie endlich alle Werte mit denen von vor dreizehn Monaten abgleichen.

Erst als die Tabellen auf dem Bildschirm vor ihren Augen flimmerten und ihr leerer Magen rebellierte, hob sie den Blick wieder. Als sie abschloss, war sie die letzte. Wie meist.

Im Wald durchdrangen nur noch vereinzelte Sonnenstrahlen die Baumkronen. Bald würde es dunkel sein. Sie fuhr schneller, wich einem herunterhängenden Ast aus. Doch sie hatte nicht auf den trügerischen Boden geachtet. Ihr Vorderrad blockierte, sie schrie, flog über den Lenker und schlug auf dem Waldweg auf. Vorsichtig bewegte sie den Kopf. Ihr Rad lag neben der armdicken Baumwurzel, die sie zu Fall gebracht hatte. Kein Schmerz. Sie winkelte die Arme an, hob sie und öffnete den Gurt ihres Helms. Sie nahm ihn ab, wischte sich Schlammwasser aus den Augen. Nichts tat weh. Sie versuchte, sich aufzusetzen. Und schrie wieder auf. Ihr Bein. Das Knie fühlte sich an, als bohre sich ein Messer hinein. Atmen! Sie schnappte nach Luft. Der Schmerz hörte nicht auf. Sie brauchte ihr Handy. Sie musste Thies anrufen. Ihre Aktentasche hatte am Lenker gehangen und war bei dem Sturz ein Stück weggeschleudert worden. Sie tastete mit ausgestrecktem Arm danach, ihre Fingerspitzen berührten fast den Griff, es fehlten nur wenige Zentimeter. Sie drehte sich auf die Seite, so gut es ging, ohne das schmerzende Bein zu belasten, streckte den Arm noch weiter aus und spürte das Leder an der Hand. Sie zog die Tasche zu sich heran, holte das Handy heraus, ihre Finger waren nass und zitterten so, dass es ihr entglitt und in den Matsch fiel. Sie wischte es notdürftig an ihrer Hose ab. Thies war der Erste in der Favoritenliste, sie tippte auf seinen Namen, konzentrierte sich nur darauf, nicht zu weinen, sie musste klare Ansagen machen, beschreiben, wo sie lag. Bis sie die gleichgültige Computerstimme hörte: Hier ist die Mailbox von … Für einen Moment tanzten schwarze Punkte vor ihren Augen, sie schloss die Lider. Der Beep ertönte. »Thies, ich hatte einen Unfall mit dem Rad. Ich kann nicht mehr aufstehen. Ruf mich bitte an!«

»Sind Sie verletzt? Warten Sie, ich helfe Ihnen!«

Als Sophie aufsah, stand eine Frau vor ihr und beugte sich zu ihr herunter. Ihr braunes Haar fiel wie ein Vorhang über ihr Gesicht, sodass Sophie nur einen schmalen Streifen davon sehen konnte.

»Können Sie aufstehen?« Die Frau trug eine Lederjacke und ein elegant fallendes Kleid.

Sophie öffnete den Mund, doch statt eines »Nein!« kam nur ein Stöhnen heraus. Ihr wurde übel. Die Baumkronen drehten sich um sie.

»Wir müssen zur Straße, Hilfe holen. Aber allein kann ich Sie nicht tragen.« Die Frau strich sich das Haar hinters Ohr, ihre Gesichtszüge wirkten angespannt. »Ich bin gleich zurück!« Sie rannte los, den Waldweg entlang, ohne Rücksicht auf die Pfützen, in die sie trat. Sie trug geschnürte Stiefeletten, die bis über die Knöchel reichten. Bald waren ihre Schritte nicht mehr zu hören. Es wurde still, bis auf einzelne Vogelstimmen und das Rascheln der Blätter. Sophie fror.

Schließlich hörte sie ein Auto. Scheinwerfer blendeten auf, die grellen Lichtkegel hüpften auf und ab, als der Wagen über die Schlaglöcher rumpelte. Er kam näher, bremste kurz vor Sophie. Die Frau in der Lederjacke sprang heraus, auf der Fahrerseite stieg ein Mann aus, den Sophie nicht kannte.

»Sie kann nicht aufstehen.«

»Hallo.« Der Fahrer lächelte besorgt. »Wir versuchen ganz vorsichtig, Sie hochzuziehen. Ist das okay? Ich bringe Sie ins Krankenhaus.«

Sophie nickte. Sie fassten sie unter die Achseln, jeder auf einer Seite, zogen sie hoch. Sophie schrie auf, als sie versuchte, das Bein zu belasten.

»Langsam!« Die Frau stützte Sophie, sodass sie auf einem Fuß zum Wagen hüpfen konnte.

»Wollen Sie nicht mitfahren?«, fragte der Mann die Fremde, nachdem Sophie auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte. Die Antwort bekam Sophie nicht mit, und dann fuhren sie schon los, ohne die Frau. Sophie hatte sich nicht mal bei ihr bedankt.

Sophie

Es war elf Uhr abends, als sie mit dem Taxi auf dem Hof ankam. Sie hatte Stunden in der Notaufnahme in Dannenberg verbracht, war untersucht und geröntgt worden. Glück gehabt, nichts war gebrochen, nur eine Prellung der Kniescheibe. Sie stieg ohne Hilfe aus, humpelte zur Haustür.

Im Nachbarhaus brannte in allen Zimmern Licht. Sophie sah eine Bewegung am Fenster. War das Inga, die den Wagen gehört hatte? Schnell wandte Sophie sich ab. Sie schloss auf.

»Thies?«

Es war kalt im Inneren. Und still. Sie sah sein Handy auf dem Schlüsselschrank liegen, nahm es in die Hand. Ihre Anrufversuche und Nachrichten leuchteten auf dem Display.

Draußen das Rasseln eines Schlüsselbunds, die Tür ging auf. Thies war zurück.

»Hey. War das ein Taxi?«

Sie schaltete das Deckenlicht im Flur ein, drehte sich zu ihm um. Sein Blick wanderte an ihrer schlammbespritzten Jacke abwärts. »Was ist passiert?«

»Ein Unfall.«

Sie berichtete ihm von dem Sturz, vom Krankenhaus, und die Besorgnis auf seinem Gesicht tat gut. Die Bemerkung, dass sie versucht hatte, ihn anzurufen, als sie im Wald lag, schenkte sie sich. Er würde es ja sehen. Sie fragte nicht, wo er gewesen war. Er hielt es zu Hause nicht aus, streifte durch die Elbauen. Wie an dem Abend, an dem Aaron verschwunden war.

Vielleicht sollte sie fragen. Vielleicht war es falsch, immer darüber hinwegzugehen. Sie schonten sich gegenseitig. Flüchteten in ihre eigenen Welten. Sophie hatte ihre Arbeit. Was hatte er? Sie wusste nicht, woran er sich festhielt.

»Trinkst du noch was mit mir?«, fragte sie.

»Klar.« Er ging voraus ins Wohnzimmer, machte Licht, drehte die Heizung auf.

Sie ließ sich aufs Sofa sinken und murmelte »danke«, als er ihr ein Glas Grappa reichte. Einen doppelten. Das, was sie brauchte.

Thies setzte sich neben sie, mit einem Whiskey in der Hand. Sophie spürte den Alkohol heiß und brennend in ihrer Speiseröhre. Er würde schnell wirken, auf ihren leeren Magen.

»Da war eine Frau im Wald«, sagte sie. »Sie stand vor mir, wie aus dem Nichts. Sie hat ein Auto für mich angehalten.«

»Warum nimmst du nicht die Landstraße bei diesem Matsch überall?«

»Ich habe nicht nachgedacht. Ich war mit den Gedanken bei der Arbeit. Erinnerst du dich? Vor einem Jahr hatten wir genauso viel Regen.«

Er runzelte die Stirn.

»Ich habe heute die Schnackenburg-Probe des Laborbusses ausgewertet. Einige Schwermetallwerte sind höher als normal. Die Pegelstände steigen weiter. Noch müssen wir kein Extremmessprogramm wegen Hochwasser starten. Aber Sedimente aus tieferen Schichten des Flussbettes werden aufgewirbelt. Kontaminierte Sedimente — das Gedächtnis des Flusses.«

Thies schüttelte fast unmerklich den Kopf, doch sie hatte es gesehen. Eine winzige Bewegung, die seinen Unwillen, ihr weiter zuzuhören, zeigte.

Sie hob die Stimme: Sie wollte weiterreden, auch wenn sie wusste, dass sie ihn damit quälte. »Ich werte in den nächsten Tagen zusätzlich Schwebstoffproben aus und vergleiche mit den chemischen Vorgabewerten, aber ich bin sicher, dass wir Parallelen zu der Zeit vor dreizehn Monaten …«

»Sophie«, unterbrach er sie. »Warum machst du das?«

»Willst du sagen, das hätte keine Bedeutung?«

»Genau das. Es hilft mir nicht weiter. Und dir auch nicht. Du kannst Daten sammeln, so viel du willst, aber das bringt uns der Wahrheit keinen Schritt näher.«

Sophie nickte. Sie war selbst schuld. Wieso versuchte sie immer wieder, ihn in ihre Gedankenwelt einzubeziehen? Vielleicht war es der Schreck von vorhin, der sie seine Nähe suchen ließ. Der Sturz hatte sie mehr durcheinandergebracht, als sie sich eingestanden hatte.

Thies begriff nicht, dass ihr die Messwerte halfen. Ihr ein Gefühl von Kontrolle zurückgaben. Der Fluss war gefährlich, schnell, tückisch. Bei Flut betrug die Fließgeschwindigkeit bis zu sechs Kilometer pro Stunde. Man sah kaum etwas im Wasser, die Sichttiefe belief sich gerade mal auf fünfzig Zentimeter. Watete man hinein, konnte man auf dem unebenen Grund den Halt verlieren, in Untiefen versinken oder mitgerissen werden, von der Strömung, vom Schwell und Sog der Schiffe.

Sie wertete Wasserproben aus und füllte Tabellen mit Daten. Es betäubte ihren Schmerz.

»Es tut mir leid«, sagte sie schließlich. »Gibst du mir noch einen Schluck? Ich komm hier sowieso nicht mehr hoch.«

Er holte die Flasche, schenkte nach und setzte sich. »Ich bin draußen herumgelaufen und hab die Zeit vergessen. An das Handy hab ich nicht gedacht. Wenn ich geahnt hätte …«

Sophie ließ seine Worte unkommentiert im Raum stehen. Sollte er ruhig ein schlechtes Gewissen haben.

»Das Ganze war schon merkwürdig«, meinte sie dann. »Die Frau hab ich noch nie gesehen. Sie war nicht angezogen wie jemand von hier. Sie hatte ein schwarzes, elegantes Kleid an. Und eine Lederjacke.«

Thies stand auf und blickte nach draußen in die Wiesen. »Stoßen wir auf sie an«, sagte er, ohne sich zu ihr umzudrehen. »Da hast du wirklich großes Glück gehabt.«

Zwei Tage später

Thies

Der Aufsitzrasenmäher sprang sofort an. Thies steuerte ihn auf die Wiese hinter dem Gemüsegarten. Das uralte Gerät hatte dem Bauern gehört, der den Hof früher bewirtschaftet hatte. Es wurde vor allem von Bodo liebevoll gepflegt und tat seinen Dienst zuverlässig. Es gab viele Dinge, die sich die Familien seit Langem teilten: die Scheune aus Fachwerk und roten Steinen mit zwei einander zugewandten Pferdeköpfen als Giebelschmuck, in der sie Fahrräder, Gartenmöbel und Gerätschaften unterstellten. Die Wäschespinne, die Schubkarren und Leitern. Bodo und er hackten ihr Kaminholz auf demselben Block, Sophie und Inga ernteten Rosmarin, Salbei und Thymian von denselben Kräuterbüschen. Sie besaßen ein gemeinsames Gemüsebeet, auf dem Kartoffeln, Zucchini und Salat gewachsen waren. Im letzten Jahr hatte Inga sich noch halbherzig darum gekümmert, doch in diesem Frühjahr hatte niemand mehr etwas gepflanzt.

Während Thies über die unebene Wiese rumpelte und sich der Behälter hinter ihm mit Gras, den gelben Köpfchen vom Löwenzahn und den lila Blüten der Brennnesseln füllte, nahm er im Augenwinkel eine Bewegung wahr. Es war Bodo. Der lief zielstrebig auf die Windanlage zu und kletterte an ihrem Gerüst hoch. Der Bauer hatte sie damals abreißen wollen, doch Thies hatte der zehn Meter hohe Mast mit dem Kreis aus hölzernen Flügeln gefallen, der aussah wie ein Requisit aus einem amerikanischen Western. Außerdem war die Anlage nützlich. Eine Kolbenpumpe, die von dem Rotor mechanisch angetrieben wurde, förderte Wasser aus einem unterirdischen Brunnen. Sie bewässerten damit das Grundstück. Leider fehlten seit einem Sturm ein paar Flügel, und die Windfahne war ziemlich verbogen. Das war zu einer Zeit passiert, als er und Bodo die gemeinsamen Projekte bereits aufgegeben hatten. Und so war die Anlage nicht mehr repariert worden.

Bodo war eindeutig der begabtere Handwerker und Tüftler von ihnen. Wollte er es nun allein versuchen?

Thies erreichte die Eiche am Ende der Wiese. An den mächtigen Stamm gelehnt, stand die Holzbank, auf der sie abends oft ein Bier getrunken hatten, Bodo und er. Sophie und Inga kochten zu der Zeit noch zusammen, Ingas berühmte Cannelloni aus dem Backofen, alles, was die Kinder gern aßen. Leben in Bullerbü, witzelten die Freunde, die aus Hamburg zu Besuch kamen, ein bisschen schwang Neid dabei mit. Denn sie hatten wirklich in einer Idylle gelebt. So lange, bis Aaron laufen konnte.

Die Hälfte der Wiese war gemäht. Thies würgte den Motor ab, stieg vom Sitz und streckte sich. Er wollte nicht an Aaron denken. Oder um Vergangenes kreisen, das nicht mehr zurückzuholen war.

Bodo klammerte sich zehn Meter über ihm an den Mast der Windanlage und schraubte an etwas herum, vermutlich an der Rotorachse. Jetzt sah er zu Thies herüber. Thies zögerte. Er konnte hingehen, seine Hilfe anbieten, wie früher. Er wandte sich ab.

Bodo war ein enger Freund gewesen. Sie hatten in einer WG zusammengelebt, gemeinsam Bahnschienen blockiert, bei jedem Castor-Transport, der anrollte. Sie saßen in Gorleben auf der Straße, auf der Zufahrt zum Verladekran. ›X-tausendmal quer‹ hieß das Motto. Sich von der Polizei wegtragen lassen, um direkt wieder aufzumarschieren, tagelang ging das Spiel, der Nervenkrieg, durchnässt von den Wasserwerfern, erstarrt von der Winterkälte. Bis an die Grenze der physischen Kräfte, ihrer eigenen, aber auch jener der Einsatzkräfte. Damals hatte Thies gedacht, dass nichts seine und Bodos Freundschaft zerstören könnte. Er hatte sich getäuscht.

Aus dem Augenwinkel sah er, dass Bodo herabkletterte, seine Hände an einem Lappen abwischte. Und auf ihn zukam. Thies öffnete den Deckel des Grasbehälters, der erst halbvoll war. Bodo sollte sehen, dass er beschäftigt war und nicht auf ihn wartete.

»Hey.«

»Na?« Thies richtete sich auf.

Bodo zeigte auf die Wiese. »Deine gute Tat heute?«

Thies zwang sich zu einem Lächeln. »War höchste Zeit. In ein paar Tagen wäre das Gras so lang gewesen, dass unser Schätzchen hier versagt hätte.« Er klopfte mit den Fingerkuppen auf den Mäher.

Bodo nickte. »Dieses Jahr wuchert alles wie wahnsinnig.«

Thies nickte ebenfalls. »Bei dem Regen kein Wunder.«

Sie vermieden direkten Blickkontakt. Nicken musste reichen. Thies betrachtete die Büsche und Hecken, die auf die Schere warteten.

»Es ist jetzt so weit«, sagte Bodo.

Thies wusste sofort, dass er nicht mehr von den Pflanzen sprach.

Bodo massierte mit zwei Fingern seine Nasenwurzel. »Die Kollegen haben mich gebeten, euch zu informieren. Einfach, weil ich vor Ort bin. Es kommt aber auch noch schriftlich.«

Thies nahm die betont neutrale Formulierung zur Kenntnis. Weil ich vor Ort bin. Nicht etwa: Weil wir befreundet sind.

»Ich verstehe es nicht«, brachte er heraus.

»Na ja …« Bodo stützte sich mit einer Hand auf dem Mäher ab. »Sie haben, ehrlich gesagt, schon eine wahnsinnig lange Zeit ermittelt für die wenigen Ansätze, die sie hatten. Und es bedeutet ja nichts Endgültiges. Wenn sich neue Aspekte ergeben sollten …«

»Warum geht ein Elfjähriger mit T-Shirt, Hose und Schuhen in die Elbe?«, unterbrach Thies ihn. »Wer hat ihn im Gesicht verletzt? Es gibt keine Antworten auf diese Fragen. Wie kann man da aufhören, zu ermitteln?«

Bodo schob die Hände in die Taschen seiner Jeans. »Du kennst meine Meinung zu den Kratzern. Aaron ist oft ausgerastet, selbst ältere Kinder hatten Angst vor ihm.« Er holte Luft. »Es ist gut möglich, dass sich mal jemand gewehrt hat, in der Schule, auf dem Nachhauseweg …«

»Es gab keine Hinweise darauf. Niemand hat etwas in dieser Richtung beobachtet, geschweige denn ausgesagt.«

Thies ahnte, was Bodo jetzt dachte. Vielleicht haben die Kinder sich zusammengetan. Und sich gefreut, dass sie ihrem Peiniger auch einmal wehtun konnten.

»Die Kollegen machen es sich ein bisschen zu leicht, meinst du nicht?«, setzte Thies nach.

Bodo verlagerte sein Gewicht aufs andere Bein. »Er war zwei Tage und Nächte in der Elbe. Du weißt, es können Treibverletzungen sein.«

»Das haben sie bei der Obduktion nicht so gesehen.«

»Sie haben es nicht ausgeschlossen.«

»Und das Armband? Woher hatte er das?« Thies lachte auf. »Klar, es war gestohlen! Was anderes käme bei Aaron ja nicht infrage. Aber wo? Von wem?« Er schüttelte den Kopf. »Sie haben nichts. Sie wissen nichts.«

Ihre Blicke trafen sich. Und er wusste abermals, was Bodo gerade dachte. Nicht mal, wo du an dem Abend warst, Thies.

Thies wollte die Unterhaltung jetzt abbrechen. Sie drehten sich im Kreis, wie jedes Mal. Was an dem Tag geschehen war, an dem Aaron verschwand, hatten sie so oft durchgekaut, dass nur ein fader, grauer Erinnerungsbrei übrig geblieben war.

Einer der ersten warmen Abende. Der Tisch auf der Terrasse war lieblos gedeckt gewesen. Brot, Butter, Wurst, Käse, in der Plastikverpackung hingeworfen. Niemand hatte Lust gehabt, etwas zu kochen. Thies und Sophie am Ende ihrer Kräfte. Vorwürfe, Schuldzuweisungen, Streit. Und dann war Thies aufgestanden, gegangen, ziellos herumgelaufen. Am Fluss entlang? Oder durch die Auen, den Wald? Er wusste es nicht. Wie lange war er unterwegs gewesen? Er hatte keine Erinnerung. Laut Sophie mindestens zwei Stunden. Zwei Stunden mit einer Endlosschleife verzweifelter Fragen in seinem Kopf. Zwei Stunden, in denen Aaron vielleicht gestorben war.

Thies zuckte zusammen, als Bodo ihm die Hand auf die Schulter legte.

»Du hast recht. Sie wissen nicht viel. Außer, wie schwer das für euch sein muss. Es tut allen wahnsinnig leid.«

Das klang versöhnlich. Aber entsprach es Bodos wahren Gefühlen? Warum schaffte es Bodo nicht, ihm ins Gesicht zu sehen? Er hatte niemals angesprochen, dass Thies zum Kreis der Verdächtigen gehörte. Genau wie Sophie verdächtig war. Hatte sie wirklich den ganzen Abend auf der Terrasse gesessen, wie sie es ausgesagt hatte? Sie war allein gewesen, so wie er.

Thies hätte bei der ersten Aussage bereits lügen, den Ermittlern irgendeinen konkreten Weg beschreiben können, den er gelaufen war. Wer hätte seine Worte bezweifeln sollen? Zeugen gab es nicht, niemand hatte ihn gesehen. Das Wendland war eine der am spärlichsten besiedelten Gegenden Deutschlands. Abends um neun niemandem zu begegnen, war kein Kunststück. Doch Thies entschied sich für die Wahrheit: Er hatte keine Ahnung, wo er gewesen war. Mit dem Ergebnis, dass sein bester Freund ihn seitdem verdächtigte.

»Entschuldige. Ich mach mal voran«, sagte er und stieg wieder auf den Rasenmäher.