Unter Wölfen - James Thayer - E-Book

Unter Wölfen E-Book

James Thayer

0,0
4,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Owen Gray ist Staatsanwalt in New York. Ein Mann mit einer Vergangenheit, über die er nicht spricht: die Zeit als Scharfschütze in Vietnam. Er will vergessen. Vor allem: Er will nie mehr eine Waffe anfassen. Aber eines Tages geschieht Furchtbares: Menschen in seiner nächsten Nähe werden getötet. Ein Phantomschütze legt eine blutige Spur. Was Gray auch tut, er ist im Visier des unsichtbaren Feindes. In den Verstecken finden die Ermittler immer nur eine einzige rotbemalte Patrone – die Signatur des Killers, der wahllos tötet, um Gray herauszufordern und in ein tödliches Duell zu locken. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Leseprobe zu:

James Thayer

Unter Wölfen

Roman

Aus dem Amerikanischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann

FISCHER Digital

Erfahren Sie mehr unter: www.fischerverlage.de

Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Text und Bildern, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen.

© S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main

Inhalt

Erster Teil Lebende SaphireIIIIIIIVVVIVIIVIIIZweiter Teil Brennende KerzenIXXXIXIIXIIIDritter Teil Rätselhafte EdelsteineXIVXVXVIXVIIXVIIIXIXXX

Erster Teil Lebende Saphire

I

Der Stern erschien dort, wo zuvor nichts als Leere gewesen war, erwachte flackernd zum Leben, ließ zarte Ranken aus Licht wachsen. Dann erblühte der Stern zu voller Pracht und erfüllte den Raum mit schillernden Strahlen.

«Ist das dein Ernst?» flüsterte Anna Renthal. «Origami?»

Owen Gray blickte nach unten. Der Stern ruhte in seiner Hand. Erschrocken schnippte er mit den Fingern, und der Stern fiel auf den Tisch, wo er leblos und winzig liegenblieb.

Sie beugte sich am Tisch des Staatsanwaltes leicht zu ihm herüber und beobachtete die Mitglieder der Jury, die in diesem Augenblick hintereinander in den Gerichtssaal marschiert kamen. «Für einen Erwachsenen ist das ein saudämliches Hobby, wenn du mich fragst.» Sie sprach, fast ohne die Lippen zu bewegen, und ihr Blick verfolgte die Geschworenen, die ihre Plätze einnahmen.

«Verdammte Scheiße», sagte Pete Coates, der dritte am Tisch. Auch er flüsterte. «Keiner der Geschworenen hat zu uns herübergeschaut. Wir haben verloren.»

«Nummer acht hat gerade Owen angelächelt», widersprach Anna Renthal.

Coates zischelte. «Nummer acht hat in den letzten sechzehn Wochen jedesmal nasse Hosen bekommen, wenn Owen das Wort ergriffen hat. Sie ist in ihn verknallt. Klar, daß sie ihn anlacht.»

Anna Renthal fragte: «Alles in Ordnung, Owen?»

Gray sah wieder auf den Papierstern. Er konnte sich nicht erinnern, ihn gefaltet zu haben. Der Stern zeigte sich oft in Streßzeiten; er entstand dann aus jedem beliebigen Stück Papier, das vor Grays Nase lag.

Gray schüttelte den Kopf. «Drei Jahre Arbeit, damit der ‹Chinese› seine gerechte Strafe kriegt, und jetzt hängt alles davon ab, ob eine Geschworene mich anlächelt.»

Er fuhr sich mit dem Finger über die Nase. Selbst diese kleine Bewegung war anstrengend. Achtzig Stunden Arbeit pro Woche hatten ihn geschafft. Am Morgen hatte er sich im Spiegel betrachtet. Er schien während des Verfahrens um fünf Jahre gealtert zu sein. Die neuen Fältchen um die Augen sahen aus, als würden sie bleiben. Das schwarze Haar war zwar noch immer dicht gewellt, aber über den Schläfen wurde es dünner. Während des Verfahrens war er so wenig an der Sonne gewesen, daß seine Haut blaß war wie die eines Sträflings. Gray hatte eine dünne, scharfgeschnittene Nase und schiefergraue Augen. Ein Lächeln hätte die markanten Linien seines Gesichts weicher erscheinen lassen, aber vor Geschworenen versuchte er stets, einen unergründlichen Ausdruck zu bewahren.

Die Mitglieder der Jury bewegten sich langsamer als in den vergangenen Tagen und Monaten. Sie ließen sich Zeit, genossen ihren bedeutungsschwangeren Einzug. Gray warf einen Blick über die Schulter, auf den Zuschauerraum des Gerichtssaals.

Es war kein Platz mehr frei, sogar die hinteren Reihen waren bis auf den letzten Quadratzentimeter besetzt, und die Zuschauer waren alle mucksmäuschenstill.

Carmine «Chinese» De Sallo waren achtunddreißig Anklagepunkte, von Geldwäscherei über Entführung und Erpressung bis hin zur Bildung einer kriminellen Vereinigung, zur Last gelegt worden. Die Jury hatte acht Tage lang beraten. «Der verdient lebenslänglich auf dem elektrischen Stuhl», hatte Anna Renthal gesagt.

Hinter der Brüstung auf der Seite des Verteidigers drängte sich die versammelte Unterwelt. Auf der anderen Seite, hinter dem Tisch der Anklagevertretung, saßen FBI-Beamte und New Yorker Polizisten.

De Sallo hatte den Gerichtssaal Tag für Tag mit seinen Leuten gefüllt. Auf den dreihundert Tonbandstunden, die sich Owen Gray in Vorbereitung auf den Prozeß angehört hatte, wurden sie als «unsere Freunde» und «nette Burschen» bezeichnet. Pete Coates hatte einmal gesagt, daß nur sechs Stunden übrigblieben, wenn man alles Vulgäre aus den Bändern wegschneiden würde.

Detective Coates war der auf diesen Fall angesetzte Polizeibeamte, und er durfte am Tisch der Anklagevertretung sitzen. Alles in seinem Gesicht war klein; Augen wie Stecknadelköpfe und eine Nase wie ein Knochensplitter, so winzig, daß es aussah, als sei der Kopf um sein Gesicht herum angeschwollen. Sein Haar war mausgrau und so kurz geschnitten wie bei einem Rekrutenausbilder. Sein Brustkorb hatte die Ausmaße einer Öltonne, und die Ärmel seines Jacketts waren fünf Zentimeter zu kurz. Er trug einen ausgebeulten grauen Anzug. Angesichts seiner ansonsten ungepflegten und nachlässigen Aufmachung war die blaugeränderte Brille überraschend schick.

Zum erstenmal seit Beginn der Verhandlung saß außerdem Grays Vorgesetzter Frank Luca, der Oberstaatsanwalt für den südlichen Bezirk der Stadt New York, mit am Tisch. Er hatte nichts gesagt, seit der Vorsitzende das Gericht zur Urteilsverkündung wieder einberufen hatte. Nach Meinung einiger Zeitungskolumnisten hing Lucas politische Karriere vom Ausgang des De-Sallo-Verfahrens ab.

Aber es war Owen Grays Fall. Er war Staatsanwalt und Hauptanklagevertreter, der führende Kopf bei den massiven Bemühungen des Staates, Carmine De Sallo hinter Gitter zu bringen. Anna Renthal war seine fähige Mitanklägerin. Wegen des Verfahrens hatte sie eigens ihre Hochzeit verschoben. Ihr walnußbraunes Haar war zu einem strengen Knoten in den Nacken zurückgekämmt. Sie trug ein graues Kostüm mit einer weißen Baumwollbluse, die bis zum Hals zugeknöpft war. Ihr Lippenstift war neutral, farblos. Zu Beginn des Verfahrens hatte Gray ihr gesagt: «Wenn du willst, daß der Bursche ins Kittchen wandert, sorg dafür, daß die Geschworenen dich nicht für ein Mannequin halten.»

Als das letzte Mitglied der Jury auf der Geschworenenbank Platz nahm, sagte Gray leise: «Als nächsten knöpf ich mir Pots vor. Der Kerl geht mir verdammt auf den Geist.»

Joseph «Pots» Asperanti befand sich wie immer direkt hinter De Sallo. Er trug eine Brille mit gelbbraunen Gläsern, und ein Seidentaschentuch ragte aus der Brusttasche seines Anzugs. Einmal im Monat lud er zu einer Pokerrunde ein, und wenn er sein gesamtes Bargeld verloren hatte, machte er seine Frau zum Spieleinsatz. Der Gewinner verschwand dann für zwanzig Minuten im Schlafzimmer, um seinen Gewinn bei Pots’ Frau einzulösen. Jedesmal, wenn Owen Gray während des Verfahrens in Pots’ Richtung blickte, hauchte der ihm einen Kuß zu.

Neben Pots saß Danny Garbanto, auch bekannt unter dem Namen «Bootsmann», weil er, wie man annahm, De Sallos Motorboot steuerte, von dem aus Leichen vor Howard Beach in der Jamaica Bay versenkt wurden. FBI-Leute nannten die Bay den Jamaica-Friedhof. Außerdem war Luigi Massarli anwesend, einer von De Sallos Leuten, der angeblich eine Sammlung von viertausend Handfeuerwaffen besaß. Daneben saß Dominick «Vier Neunen» Rompuni, ein Geldschieber, der zahllose Transaktionen in Höhe von 9999 Dollar tätigte. Das war genau ein Dollar unter dem Mindestbetrag, bei dem die Banken der gesetzlichen Meldepflicht unterlagen.

Ein Dutzend weiterer Ganoven hatten tagtäglich den Zuschauerraum bevölkert, aber De Sallo war eindeutig der Star, und er hatte dafür gesorgt, daß er stets im Rampenlicht stand. Jeden Tag hatte er mit seinem gemessenen Gang, seinem gebieterischen Nicken und heiteren Lächeln dem Publikum und den Geschworenen zu verstehen gegeben, daß er felsenfest mit einem Freispruch rechnete. Er würde nicht jene Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen wie Vito Genovese und Anthony Salerno, die gezwungen waren, ihre Organisationen vom Gefängnis aus zu leiten.

Der Ursprung von De Sallos Spitznamen war bei Staatsanwaltschaft, Polizei und FBI Gegenstand endloser Spekulationen gewesen. Schließlich hatte der Informant BQ6675-TR (BQ für das Brooklyn-Queens-Büro des FBI und TR für Toprang, die höchste Stufe, die das FBI einem Informanten zuordnete) die Lösung geliefert. Der Informant war inzwischen fast achtzig Jahre alt und gehörte demselben Jahrgang an wie De Sallos Vater. 1966 hatten der Vater und der Informant Carmine im St.-Luke’s-Krankenhaus besucht, wo Carmine ein von Krebs befallener Hoden entfernt worden war. Das erste, was Carmines Vater zu seinem Sohn sagte, war: «Tja, mein Junge, jetzt werden wir dich eben ‹Chinese› nennen müssen. Ho Den Weg. Kapiert? Hoden weg.» Den Namen wurde er nicht mehr los.

Jeder Anzug von De Sallo kostete mehr, als Gray im Monat verdiente, und der Gangster trug ausschließlich Schuhe aus dem Leder irgendwelcher bedrohter Tierarten. Ein Ring am kleinen Finger war sein einziges Schmuckstück. Ein von der New Yorker Polizei aufgenommenes und vergrößertes Foto ließ erkennen, daß es sich um einen Klassenring der Harvard-Universität handelte, was recht ungewöhnlich war für einen Mann, dessen schulische Laufbahn nach nur zweieinhalb Jahren an einer Hauptschule in Brooklyn endgültig vorbei gewesen war.

Bei der Polizei kursierten Gerüchte, daß De Sallo vier Toupets besaß, deren jeweilige Haarlänge leicht variierte. Er wechselte sie wöchentlich, damit der Eindruck entstand, daß sein Haar zwischen den angeblichen Friseurbesuchen länger wurde. Ein Schönheitschirurg hatte sein Kinn geglättet und eine leichte Kerbe eingefügt. Die Augen mit den langen Wimpern wirkten feminin. Er schien sich die Augenbrauen zu zupfen. De Sallos empfindsame Augen hatten seine Feinde in der Unterwelt gelegentlich dazu verleitet, Fehler zu begehen, die normalerweise tödlich waren.

Der «Chinese» war eins fünfundneunzig groß und wog zwischen 135 und 160 Kilo. Im Büro der Staatsanwaltschaft hatte man Wetten abgeschlossen, wie schwer er bei der Einlieferung ins Gefängnis sein würde. Gray hatte fünf Dollar gesetzt, und falls De Sallo bei der medizinischen Untersuchung durch den Gefängnisarzt 155 Kilo auf die Waage brächte, hätte Gray 500 Dollar gewonnen.

Auf der anderen Seite des Ganges im Gerichtssaal saßen die FBI-Leute und Polizisten; die Leiter der von der Drogen- und Steuerfahndung eingesetzten Sonderkommission, Beamte aus dem Büro des Bezirkspolizeichefs, der Leiter der Abteilung zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens und mindestens zwei Dutzend Beamte aus den FBI-Büros von Manhattan und Queens-Brooklyn. An den Ermittlungen hatten neunzig FBI-Agenten mitgearbeitet, ein Viertel aller in New York mit Verbrechensbekämpfung befaßten Mitarbeiter der Behörde. Dazu kamen zwanzig Detectives der Polizei von New York, und die meisten von ihnen waren im Gerichtssaal. Darüber hinaus befanden sich Vertreter der italienischen Steuerfahndung und der italienischen Anti-Mafia-Kommission im Zuschauerraum. In allen Winkeln des Raums drängten sich Reporter, bereit, Funktelefone aus den Taschen zu ziehen, um ihre Redaktionen anzurufen.

Der Richter fragte den Sprecher der Jury: «Sind Sie zu einem Urteil gekommen?»

Gray wandte sich erneut den Geschworenen zu. Sein Atem ging flach, und er hatte das Gefühl, sein Jackett sei drei Nummern zu klein. Er flüsterte: «Es ist soweit, Anna.»

Der Sprecher, Geschworener Nummer drei, antwortete: «Jawohl, Euer Ehren.»

Der längste Strafprozeß, der je im südlichen Bezirk von New York abgehalten worden war, ging zu Ende. Richter Robert Kennelly war im Verlauf des Prozesses welker und kleiner geworden. In letzter Zeit erinnerten die Säcke unter seinen Augen immer stärker an schwarze Austern. «Bitte übergeben Sie das Urteil dem Gerichtsschreiber.»

Der Gerichtsschreiber ging zur Geschworenenbank.

«Bitte, Gott», hauchte Anna Renthal, die Augen im Gebet geschlossen. «Ruf meine geliebten Eltern noch heute heim in dein Reich, wenn es denn sein muß, aber erkläre diesen Scheißkerl für schuldig. Mom und Dad wohnen Harrison Street 1141 in East Orange, o Herr.»

Das FBI, die Drogenfahndung, die New Yorker Polizei, alle hatten die Augen auf De Sallo gerichtet. Der Gesichtsausdruck des Gangsters, wenn ihm klar würde, daß er nie wieder seine geliebten Straßen von Brooklyn terrorisieren könnte, würde sie für ihre jahrelange harte Arbeit entschädigen.

Der Gerichtsschreiber bekam vom Sprecher ein Blatt Papier überreicht und ging damit zu der erhöhten Richterbank. Richter Kennelly beugte sich vor und nahm das Blatt. Mit routiniert unbewegtem Gesicht faltete er es auseinander und las.

Anklagepunkt Nummer eins lautete auf Bildung einer kriminellen Vereinigung und hatte der Anklagevertretung am wenigsten Schwierigkeiten bereitet. Falls De Sallo in diesem Punkt freigesprochen wurde, würde er in allen Punkten freigesprochen werden. Das wußte jeder im Saal.

Der Angeklagte und seine Anwälte erhoben sich. De Sallo stand so gerade, als hätte er einen Stock verschluckt. Sein Gesichtsausdruck zeugte von erhabener Zuversicht, als ob die Jury, der Richter, das Gebäude und alles andere ihm gehörten. Er hatte ein ganzes Bataillon von Anwälten aufgeboten, die Gray in Reih und Glied an dem Tisch gegenüberstanden. Jeder von ihnen hatte einen makellosen britischen Akzent und einen Stundensatz von 200 Dollar.

«Ach, du Scheiße», zischte Coates. «Nummer zehn hat diesem Dreckstück von ‹Chinesen› gerade zugezwinkert.»

«Die hat Schwierigkeiten mit ihren Kontaktlinsen», flüsterte Gray hoffnungsfroh. «Schon die ganze Zeit.»

Der Richter gab dem Gerichtsschreiber das Blatt zurück. «Sie können das Urteil verlesen.»

Gray warf seinem Vorgesetzten Frank Luca einen Blick zu. Der Oberstaatsanwalt senkte den Kopf. «Himmel», dachte Gray. «Er beobachtet mich, nicht De Sallo. Drei Jahre Arbeit, und jetzt kommt es auf diese Sekunde an.»

«In Sachen Vereinigte Staaten gegen Carmine De Sallo», leierte der Gerichtsschreiber. «In Punkt eins der Anklage befinden wir, die Geschworenen, den Angeklagten …»

Frank Luca holte tief Luft, das erste Geräusch, das er seit seiner Ankunft am Tisch der Anklagevertretung von sich gab.

«… nicht schuldig.»

Der ganze Gerichtssaal stöhnte auf. Dann trat benommene Stille ein. Schließlich explodierte der Saal förmlich. De Sallos Männer johlten und pfiffen und applaudierten. Ein Anwalt der Verteidigung riß die Arme in die Luft wie ein Sprinter, der als erster über die Ziellinie geht. Journalisten griffen nach ihren Telefonen. Ein anderer Anwalt umarmte De Sallo behutsam. Mehrere Zuschauer fingen an, rhythmisch zu klatschen und dabei «Chinese, Chinese, Chinese» zu skandieren. Einige Geschworene grinsten. Andere weinten.

Owen Grays Gesicht rötete sich so schnell, daß es sich wie geschwollen anfühlte. Er ließ sich in seinen Sessel fallen.

«Bootsmann» Garbanto schrie: «Sauber, Boß.»

Luigi Massarli grölte: «Denen hast du’s gezeigt, Boß.»

Pots Asperanti warf Gray einen besonders deftigen Kuß zu.

Das heißt, die Hälfte des Gerichtssaals explodierte. Die FBI-Leute und die Cops sackten in sich zusammen. Manche beugten sich vor, stützten die Arme auf die Rückenlehne der Sitzgruppe vor ihnen, die Hände schlaff. Manche schlossen die Augen.

«Ich könnte kotzen», murmelte Pete Coates. «Der Scheißkerl kommt davon.»

Der Richter klopfte mit einem Hammer auf den Tisch. Nach einigen Augenblicken kehrte im Gerichtssaal wieder halbwegs Ruhe ein.

Der zweite Anklagepunkt lautete auf Schutzgelderpressung. Der Gerichtsschreiber verlas: «In Punkt zwei der Anklage befinden wir den Angeklagten nicht schuldig.»

Wieder donnernder Applaus. De Sallo hob den Arm, um einen Blick auf seine Armbanduhr zu werfen, als ob er noch etwas Wichtigeres vorhabe, eine beeindruckende Demonstration seiner Unverfrorenheit.

Als nächstes kam die Entführung. «In Punkt drei der Anklage befinden wir den Angeklagten nicht schuldig.»

Gray trat Schweiß auf die Stirn, die Erniedrigung ließ seine Ohren dröhnen, übertönte die restliche Aufzählung des Gerichtsschreibers. Anna Renthal lehnte sich unwillkürlich gegen ihn. Zu schwach, um sie zu stützen, gab er ihrem Druck nach.

Die Stimme des Schreibers schien von weit her zu kommen. «Nicht schuldig … nicht schuldig …»

«Mein Gott», stöhnte Anna. Ihr Gesicht hatte eine gelbliche Färbung angenommen. «Ich glaube, ich muß mich übergeben.»

Carmine De Sallo achtete nicht auf den Gerichtsschreiber, sondern zog ein Foto seiner Tochter aus der Brieftasche, um es einem seiner Anwälte zu zeigen.

Richter Kennelly drehte wütend seinen Hammer in der Hand. Als auch für den letzten Punkt der Anklage der Freispruch verlesen worden war, sagte der Richter: «Ich halte eine Einzelbefragung der Geschworenen für angebracht. Geschworener Nummer eins, ist das Ihr Urteil und das Urteil der Jury?»

«Ja, Euer Ehren.»

Kennelly ging die Liste der Geschworenen durch. Jeder bestätigte das Urteil.

Dann sagte einer von De Sallos Anwälten: «Euer Ehren, ich beantrage, die Kaution zu erlassen.»

«Stattgegeben. Mr. De Sallo, Sie sind frei.» Der Richter dankte den Geschworenen und fragte dann: «Liegen noch weitere Anträge vor?»

«Jawohl, Euer Ehren», sagte Pots Asperanti. «Ich beantrage, daß der Hauptankläger, unser Mr. Gray, in Urlaub fährt, vielleicht ins Märchenland nach Florida.»

Die eine Hälfte des Gerichtssaals fand das überaus witzig, und das Gelächter färbte Grays Gesicht noch dunkler.

Der Richter, schon auf dem Weg zur Tür, entließ die Geschworenen und verschwand so schnell in seinem Zimmer, daß der Gerichtsdiener nicht mehr rechtzeitig: «Bitte erheben Sie sich!» rufen konnte.

Gray drückte Anna Renthals Hand. Er verstaute seine Notizen in der ledernen Aktentasche. Er riskierte einen Seitenblick auf den Sessel, wo sein Chef gesessen hatte. Frank Luca war bereits aus dem Gerichtssaal geschlüpft.

Pete Coates war Grays Blick gefolgt. «Luca will den Reportern aus dem Weg gehen. Cleverer Bursche.»

Der Detective klopfte Gray auf die Schulter, dann ging er zu den anderen Cops und FBI-Beamten, die gerade den Saal verließen. Gray und Anna folgten ihnen. Der Papierstern blieb auf dem Tisch der Anklagevertretung liegen.

Die Menge staute sich, weil Reporter De Sallo in dem Augenblick, als er den Korridor erreichte, ihre Mikrofone unter die Nase hielten. Ein Blitzlichtgewitter brach los. De Sallo schob sich nach vorn, seinen Trupp im Schlepptau.

Reporter schrien Fragen durcheinander, und die Menge schob sich den mit Marmor ausgelegten Korridor entlang. De Sallo sagte nichts, winkte aber unablässig. Gray und Anna Renthal gingen bedrückt hinter der Menge her.

[...]

Über James Thayer

James Thayer, geboren 1949, ist Rechtsanwalt und Romanautor.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Über dieses Buch

Owen Gray ist Staatsanwalt in New York. Ein Mann mit einer Vergangenheit, über die er nicht spricht: die Zeit als Scharfschütze in Vietnam. Er will vergessen. Vor allem: Er will nie mehr eine Waffe anfassen.

 

Aber eines Tages geschieht Furchtbares: Menschen in seiner nächsten Nähe werden getötet. Ein Phantomschütze legt eine blutige Spur. Was Gray auch tut, er ist im Visier des unsichtbaren Feindes. In den Verstecken finden die Ermittler immer nur eine einzige rotbemalte Patrone – die Signatur des Killers, der wahllos tötet, um Gray herauszufordern und in ein tödliches Duell zu locken.

Impressum

Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.

 

Erschienen bei FISCHER Digital

© 2018 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main

 

Copyright © 1995 by James Thayer

Published by Arrangement with James Thayer

 

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen

 

Covergestaltung: buxdesign, München

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

 

 

Impressum der Reprint Vorlage

ISBN dieser E-Book-Ausgabe: 978-3-10-562263-6