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Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur. Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK. Salomonsohn erwacht mit Schmerzen. Er meint, seine Tochter in ein fremdes Hotelzimmer schlüpfen zu sehen, und plötzlich fabuliert sich der Kranke in eine ganz eigene Welt voller Intrige und Betrug. Heftig richtet sich sein plötzlicher Hass gegen die eigene Familie, schließlich gegen sein gesamtes Umfeld. Mit psychologischem Feinsinn und großer sprachlicher Suggestivkraft beschreibt Stefan Zweig das Entstehen von Gefühlen und die Explosivkraft von verdrängten Leidenschaften, die ein ganzes Leben für immer verändern können.
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Seitenzahl: 63
Veröffentlichungsjahr: 2012
Stefan Zweig
Erzählungen
Reihengestaltung: bilekjaegerCovergestaltung: Ingrid Lutterbeck
Coverabbildung: Archiv S. Fischer Verlag
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
Unsere Adresse im Internet:
www.fischerverlage.de
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402350-2
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Untergang eines Herzens
Anhang
Editorische Notiz
Daten zu Leben und Werk
Stefan Zweig
Zu entscheidender Erschütterung eines Herzens bedarf das Schicksal nicht immer wuchtigen Ausholens und schroff verstoßender Gewalt; gerade aus flüchtiger Ursache Vernichtung zu entfalten, reizt seine unbändige Bildnerlust. Wir nennen dies erste leise Berühren in unserer dumpfen Menschensprache Anlaß und vergleichen erstaunt sein winziges Maß mit der oft mächtig fortwirkenden Gewalt; aber so wenig eine Krankheit mit ihrem Kenntlichwerden, so wenig beginnt das Schicksal eines Menschen erst, sobald es sichtbar und Geschehnis wird. Immer, im Geist und im Blute, waltet das Schicksal längst innen, eh es von außen die Seele berührt. Sich-Erkennen ist schon Sich-Wehren, und ein vergebliches zumeist.
Der alte Mann – Salomonsohn hieß er und durfte sich daheim Geheimer Kommissionsrat nennen – wachte nachts im Hotel von Gardone, wohin er seine Familie anläßlich der Ostertage begleitet, infolge eines heftigen Schmerzes auf: der Leib war ihm wie mit scharfen Dauben umschnürt, kaum rang sich der Atem durch die angespannte Brust. Der alte Mann erschrak, litt er doch häufig an Gallenkrämpfen, und gegen den Rat der Ärzte hatte er statt der verordneten Karlsbader Kur um seiner Familie willen den südlichen Aufenthalt gewählt. Einen Anfall jener gefährlichen Art befürchtend, betastete er ängstlich seinen breiten Leib, um aber bald – erleichtert, mitten im noch fortquälenden Schmerz – festzustellen: nur der Magen drückte ihn hart, offenbar infolge der ungewohnten italienischen Kost oder einer jener leichten Vergiftungen, wie sie dortzulande häufig den Reisenden befallen. Aufatmend fiel die zitternde Hand zurück, aber der Druck blieb und hemmte den Atem: so stöhnte sich der alte Mann schwerfällig aus dem Bett, um ein wenig Bewegung zu machen. Und tatsächlich: im Stehen und noch mehr im Gehen ward der Druck matter. Aber das dunkle Zimmer bot wenig Raum, zudem fürchtete er, die im Schwesterbett schlafende Frau aufzuwecken und unnötig in Sorge zu setzen. So warf er sich den Schlafmantel um, zog Filzpantoffeln über die nackten Füße und tastete vorsichtig in den Korridor, dort ein wenig auszuschreiten und die Beklemmung zu lindern.
Im Augenblick, da er die Tür gegen den dunklen Gang öffnete, hallte durch die breit aufgetanen Fenster die Stunde vom Kirchturm: vier erst wuchtige und dann weich über den See zerzitternde Glockenschläge: vier Uhr morgens.
Der lange Korridor lag vollkommen dunkel. Aber aus deutlicher Erinnerung des Tages wußte der alte Mann ihn geradeausgehend und tiefräumig: so schritt er, ohne der Beleuchtung zu bedürfen, stark atmend von einem Ende zum andern, und nochmals und nochmals, zufrieden gewahrend, daß allmählich jene Klammer um die Brust sich löste. Schon bereitete er sich vor, durch die wohltuende Übung des Schmerzes fast vollkommen entledigt, wieder in sein Zimmer zurückzukehren, als ein Geräusch ihn erschreckt innehalten ließ. Geräusch: ein Wispern von irgend nah her in der Dunkelheit, dünn und doch unverkennbar. Etwas knackte im Gebälk, etwas flüsterte, rührte sich, und schon schnitt für eine Sekunde aus spaltbreit geöffneter Tür ein schmaler Kegel Licht das formlos Finstere durch. Was war das? Unwillkürlich drückte sich der alte Mann in eine Ecke, keineswegs aus Neugier, sondern einzig dem leichtverständlichen Gefühl der Beschämung nachgebend, bei so absonderlich nachtwandlerischem Gebaren ertappt zu werden. Aber wider seinen Willen fast hatte er in dieser einen Sekunde, wo das Licht den Gang überblitzte, wahrzunehmen vermeint, daß aus jenem Zimmer eine weißgekleidete weibliche Gestalt herausglitt und gegen das Ende des Korridors zu verschwand. Und wirklich, dort an einer der letzten Türen des Ganges knackte jetzt eine leise Klinke. Dann alles wieder dunkel und atemstill.
Der alte Mann begann plötzlich zu taumeln wie von einem Stoß gegen das Herz. Dort am äußersten Ende des Ganges, dort, wo jene Klinke verräterisch sich geregt, dort waren … dort waren doch nur seine eigenen Zimmer, das dreiräumige Appartement, das er für seine Familie gemietet. Seine Frau, sie hatte er vor wenigen Minuten noch schlafatmend verlassen, so konnte – nein, eine Täuschung war unmöglich – diese weibliche Gestalt, die abenteuernd von fremdem Zimmer zurückkehrte, niemand anderes gewesen sein als Erna, seine Tochter, die kaum neunzehnjährige.
Der alte Mann schauerte am ganzen Leib, so durchfrostete ihn das Entsetzen. Seine Tochter Erna, das Kind, das helle übermütige Kind – nein, das konnte nicht möglich sein, er mußte sich getäuscht haben. – Was sollte sie denn da tun im fremden Zimmer, wenn nicht … Wie ein böses Tier stieß er den eigenen Gedanken von sich weg, aber herrisch krallte sich das spukhafte Bild der fliehenden Gestalt in die Schläfen, nicht loszureißen mehr, nicht mehr abzutun: er mußte Gewißheit haben. Keuchend tastete er die Wand des Korridors entlang bis zu ihrer Tür, nachbarlich der seinen. Aber entsetzlich: gerade hier, gerade bei dieser einen Tür im Gange, dieser einzigen Tür, zitterte ein dünner Faden Licht durch die Fuge, und aus dem Schlüsselloch stach verräterisch-weißer Punkt: um vier Uhr morgens hatte sie noch Licht in ihrem Zimmer! Und neues Zeugnis: eben knackte innen der elektrische Kontakt, der weiße Faden Licht fiel spurlos ins Schwarze – nein, nein, hier half kein Sichselbstbelügen – Erna, seine Tochter, sie war es, die da nächtlich aus fremdem Bett in das ihre schlich.
Der alte Mann zitterte vor Grauen und Kälte; gleichzeitig brach ihm Schweiß aus dem Leibe und überschwemmte die Poren. Die Tür einschlagen, mit den Fäusten sie zerprügeln, die Schamlose, war sein erstes Gefühl. Aber die Füße schwankten unter dem breiten Leib. Kaum noch fand er Kraft, sich in sein Zimmer und zum Bett zu schleppen; dort fiel er mit dumpfen Sinnen in die Kissen wie ein gefälltes Tier.
Der alte Mann lag reglos in seinem Bett; seine Augen starrten offen in das Dunkel. Neben ihm ging unbesorgt und satt der Atem seiner Frau. Erster Gedanke war, sie wachzurütteln, die schreckhafte Entdeckung zu berichten, sich das Herz auszuschreien, auszutoben. Aber wie das aussprechen, laut in Worten, das Entsetzliche? Nein, nie, nie käme ihm dies Wort über die Lippe. Aber was tun? Was tun?
