UNTERGRUND GEWINNEN - Peter Kessner - E-Book

UNTERGRUND GEWINNEN E-Book

Peter Kessner

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Beschreibung

Andy und Susanne müssen auf einmal lachen, beide zusammen. "Es macht richtig Spaß mit dir zu diskutieren", sagt sie und schaut ihm einen Moment länger in die Augen. Ihre Hand dort kommt ihm nun wie die eigene vor. Susanne hat die Brause erfasst. Zuerst spült sie sich den Schaum aus Haar und Gesicht. Die Augen sind zu. Nur zwei Zitate aus einem novellen-artigen Roman, der Elemente aus Geschichtsroman, Spionage-Krimi, Kurzgeschichten-Puzzle und spannender Menschenbeschreibung aufnimmt: vor und nach der politischen Wende in der DDR, mit westdeutschen Einsprengseln, überraschend verwoben, anfangs ist noch nicht merkbar, wie alles ausgeht. Die Leute schießen aufeinander - oder lernen sich lieben - und begegnen sich immer (wieder) überraschend - jedenfalls unvorhergesehen wie bei Alice Munro; stimmt: dafür muss man keine tausend Seiten schreiben.

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Seitenzahl: 112

Veröffentlichungsjahr: 2015

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UNTERGRUND GEWINNEN

Deutsch-deutsches Zeiten- und Personen-Puzzle

Peter Kessner

(ein Roman: kurz und spannend)

Impressum:

© 2015 Peter Kessner

Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

ISBN 978-3-7375-8046-5

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Inhaltsverzeichnis

Thomas 1

Andy 1

Christian 1

Micha 1

Christian 2

Andy 2

Stefan 1

Andy 3

Wolfgang 1

Thomas 2

Wolfgang 2

Thomas 3

Wolfgang 3

Christian 3

Stefan 2

Christian 4

Micha 2

Christian 5

Christian 6

Andy 4

Stefan 3

Stefan 4

Micha 3

Christian 7

Thomas 1

Die Polen sind schon cool. Dass die das alles immer noch so schaffen. Trotz all der Schwierigkeiten, die die haben. So lange ist die Verhängung des Kriegsrechts schließlich auch noch nicht her. Aber die kommen hier einfach so die hundert, hundertfünfzig Kilometer herüber gefahren und können sich Autos kaufen. Einfach so, denkt Thomas: Direkt über die Mauer hinweg habe ich dagegen noch keine Kiste losgebracht. Da braucht man echte Verbindungen. Das dauert wohl noch eine Weile, bis die da sind. Und außerdem kaufen die da drüben wohl auch nur ihre eigenen Sachen, echte Deutsche eben. Da kann ich in dieser Scheißstadt mit meinen kleinen Geschäften grau werden; grau wie der Tag heute.

Gestern war’s auch schon derart; aber übers Wetter zu lamentieren, das überlässt Thomas Kitty. Kitty hat sowieso an allem etwas auszusetzen, seit sie ihr Kind bekommen hat. Ist vielleicht damit ein wenig überfordert, hat für ihn seitdem auch nicht mehr viel übrig. Warum ist er überhaupt noch mit ihr zusammen? Es ist gar nicht sein Kind. Das ist erwiesen. Das kann kein Frauenarzt abstreiten. Eine Frau kann nämlich keine fünfzehn Monate schwanger sein. Die hätte es bis zur Geburt aber gebraucht, wenn es damals “draußen” mit ihm passiert wäre. Denn im Gefängnis läuft gar nichts. Außerdem: Sein eigenes Kind heißt Mandy und lebt bei Birgit; um das kümmert er sich auch nicht und Birgit ist’s egal. Emanzipation wird das wohl genannt. Ihm soll’s recht sein.

     Ob das endlich Liebe ist, ich meine, die wahre Liebe, sinniert Thomas. Kitty hat etwas, was ich bei keiner anderen gespürt habe. Um Gottes Willen, nicht sentimental werden. Mache dir klar, dass du hier einfach nur wartest – wieder einmal warten musst. Warum werde ich immer dann besonders ungeduldig, wenn ich gerade ein Geschäft tätigen will? Thomas ist gereizt.

Nein, das ist es nicht wirklich, sagt er sich. “Aber dass ich ständig auf diese Arschlöcher aus Zehlendorf warten muss, bis die sich bequemen, ihren bestellten Wagen abzuholen”, murmelt er vor sich hin. Dabei haben die es doch überhaupt nicht nötig, ihre fahrbaren Untersätze auf diese Art einzukaufen. Auf ein paar Tausender mehr oder weniger beim Preis kommt es denen doch gar nicht an. Wahrscheinlich juckt die bloß der Nervenkitzel. Den könnte ich mir allerdings ersparen, wenn es nach mir ginge. Doch mich fragt ja keiner.

Endlich ist es soweit, da kommt Bodo. Und Thomas brüllt ihn fast an: “Sag mal, meinst du, ich bin nur für dich da?”

     “Jetzt mal halblang, sonst geht das nächste Ding an dir vorüber!”

“Interessiert mich nicht das geringste. Ich hätte in dieser Zeit schon zwei, wenn nicht drei Autos in dieser läppischen Klasse verkauft.”

“Gar nicht dumm, der Kleine. Genau darum geht’s ja beim nächsten Ding, das wir drehen; alles soll mal ‘ne Klasse höher laufen. Oder was meinst du, für was ich deine Schrotthaufen brauche? Du sollst dich endlich mal nützlicher machen können, als uns lediglich schon polizeibekannte Blechkisten aufzutischen.”

“Ist mir scheißegal, ich mach nur Sachen, bei denen ich mich auskenne.”

“Sollst du ja auch. Ist dir eigentlich aufgefallen, wie nervös und geschäftig die Russen zur Zeit vorm Brandenburger Tor rumschwirren?”

“Ach, vorm Brandenburger Tor: Dann soll ich wohl eine Fahr-Rampe über die Mauer bauen?”

“Quatschkopp, ich meine doch auf unserer Seite. Wohl noch nie mit ‘nem Offizier von denen vor dem Museums-Panzer geredet, wa’?”

“Du meinst beim Ehrenmal – ne’, die wagen es gar nicht, Kontakt aufzunehmen. Die haben doch Schiss und werden selbst die ganze Zeit kontrolliert – wenn nicht von ihren eigenen Leuten, dann heimlich von irgendwelchen Amis oder Engländern. Und mit denen möchte ich erst recht nichts zu tun haben, sind nämlich schlechte Kunden. Außerdem habe ich keinen Bock auf politische Scherereien.”

“Spring einfach mal über deinen Schatten. Meinst du, ich würde dich fragen, wenn’s nach purer Sympathie ginge? Spaß beiseite, ich habe noch keinen entdeckt, der sich wie du die Mühlen holt, die er braucht – wenn er nur richtig will.”

“Komm endlich zur Sache, oder hau mit dem Kasten hier, dem einzig wirklichen im Augenblick, endlich ab.”

“Okay, okay, weißt du, auf was die Russen wirklich scharf sind? Das sind nicht Daimler oder BMW, sondern die größeren unter den Volkswagen, für die sie von den Chinesen Ersatzteile kriegen. Santana, Passat – verschwinden alle nach Sibirien. Da hinten muss es ‘ne Lücke in der Grenze geben; ich meine, für die kleinen Dinge, die man sonst so am Auto braucht. Was glaubst du, wie so ein Wagen nach Tausenden von Kilometern aussieht? Und wir hier kommen zur Zeit mit dem Nachschub nicht nach. Wo doch die ganze Sache erst seit kurzem läuft. Jetzt sollen wir mit den Russen zusammen eine große Lücke für die Autos schaffen, verstehst du? Da tut sich, wenn alles klappt, ein riesenhafter Deal auf – und alles, ohne dass unsere Polizei irgendwas verfolgen kann.”

“Also keine Rampe über die Mauer, sondern gleich ein Loch in die Mauer. Wo lebt ihr eigentlich? Das Ding steht, seit ich denken kann, und wird wohl stehen bleiben.”

“Quatschkopp, kann ich da nur wieder sagen. Ist dir schon einmal aufgefallen, dass Berlin nicht nur aus der Mauer besteht? Dass etwa unser Müll zum Teil das schafft, was du nur unter Kontrollen kannst: nämlich die Stadtgrenze passieren!”

“Wie willst du denn einen Santana in ‘nen Mülllaster kriegen, ohne ihn nicht vorher eine Schrottpresse sehen zu lassen?”

“Das ist es ja eben; wir hoffen, dass es auch so geht. Irgendwas spielt sich da drüben zur Zeit ab, die sind mit allem möglichen beschäftigt, nur nicht mit der Verteidigung des Sozialismus. Das heißt, wir könnten aus der Stadt ausreisen: mit Auto – und ohne wieder einreisen.”

“Und du meinst, die fragen nicht nach, wo denn das Auto geblieben ist, wenn du in die Bundesrepublik gehst oder zurück nach Berlin kommst?”

“Genau. Dabei wollen uns ja die Russen helfen.”

“Und du glaubst denen?”

“Da gibt es wohl einige, habe ich das Gefühl, die möglichst schnell aus Mitteleuropa wegkommen wollen – aber nicht ohne fette Beute in der Hand. Wie gesagt, etwas braut sich da gegenwärtig zusammen. Und denen ist kein Weg zu teuer.”

“Mit was wollen die eigentlich bezahlen? Mit ein paar schlecht tauschbaren Rubelchen?”

“Nein, mit Gold.”

“Klingt schon interessanter.”

“Du bist also mit dabei?”

“Kann schon sein. Möchte allerdings noch mehr Infos bekommen, bis ich zusage. Und vor allem aus sicherer Hand. Du weißt, was es bedeutet, wenn man auf seinen Kisten sitzen bleibt!”

“Das Ding ist totsicher, glaub mir. Auf alle Fälle werde ich mich wieder bei dir melden, wenn ich mehr rausgebracht habe. Wäre doch gelacht, wenn wir das Kind nicht schaukeln. Und auf der anderen Seite: Wer weiß schon, wie lange es diese schrecklich schöne Stadt noch gibt.”

“Jedenfalls glaube ich, dass jetzt genug gefaselt wurde. Ich gehe, hab schließlich noch was anderes zu tun.”

“Grüß Kitty von mir!”

“Was willst du von Kitty?”

“Abwarten – aber eigentlich rein gar nichts.”

Andy 1

Er nimmt jeden Morgen seinen Stamm-Sitzplatz ein: in der Mitte einer langen Sitzreihe, mit dem Rücken zum Fenster, dort wo die im Berufsverkehr später zusteigende, sehr hektische Laufkundschaft am wenigsten stört. Wo er einsteigt, in Hönow, da kann er noch wählen, wo genau er sitzen will – oder neben wem. Doch ihn selbst, Andy, soll früh morgens bloß keiner wagen anzusprechen. So jedenfalls ist das lange Zeit tagein, tagaus gegangen, ohne dass ihn irgend eine Person auch nur im entferntesten näher interessiert hätte.

Dann passierte es: Zum ersten Mal sah er sie in der U-Bahn, ja morgens, Richtung Alexanderplatz. Sie stieg an der Haltestelle Samariterstraße ein und setzte sich direkt ihm gegenüber hin – auf der anderen Fensterreihe. Nichts besonderes eigentlich. Eine schöne Frau wie viele andere auch. Er schaute sie kurz an, dann wichen seine Augen den ihren aus und streiften die sehr viel weniger interessanten Kacheln des U-Bahnhofes entlang. Sie stieg nach nur zwei Haltestellen wieder aus.

Am folgenden Tag war sie wieder in seinem Abteil; diesmal weiter entfernt und vor der Tür stehend. Sie schien ihn nicht wahrzunehmen. So konnte er sie in Ruhe beobachten, sogar eingehend betrachten. Sie war wirklich schön. Das waren zwar einige. Aber irgendwas hatte sie, was er bei andern jungen Frauen noch nicht gesehen hatte – jedenfalls schon lange nicht mehr. Als sie ausstieg, trafen sich ihre Augen kurz, mehr nicht – und nichts besonderes in U-Bahnen, wo sich aller Leute Augen zwangsläufig einmal treffen müssen.

Sie war jetzt jeden Tag in seiner U-Bahn. Jeden Morgen um die gleiche Zeit. Manchmal sah er sie nur von weitem, manchmal saß sie in seiner Nähe. Nie aber wieder ihm direkt gegenüber. Weitere Tage vergingen, Wochen folgten. Auf den Herbst folgte der Winter – und dieser sorgte komischerweise jedes Jahr dafür, dass die U-Bahnen mit jedem Haltepunkt immer voller wurden. Sie bekam auf einmal keinen Sitzplatz mehr und stand ab da ständig vor der Tür; wollte ja sowieso immer nach kurzer Strecke aussteigen. Manchmal war ihm, als ob sie zu ihm herschaute. Er versuchte einmal zu lächeln. Aber die Reaktion war negativ und das verunsicherte ihn. Die kommenden Tage ignorierte er sie, als ob er sich an ihr rächen wollte und könnte.

Dann folgte dieser Montag, an dem Andy morgens in aller Frühe bereits müde war wie sonst nur abends am letzten Tag der Woche. Ob das wohl an Saschas alias Paschas Geburtstag lag, der nicht enden wollte? Andy saß in der U-Bahn, seiner U-Bahn, ihrer inzwischen fast gemeinsamen U-Bahn, und döste vor sich hin. Er träumte, er musste träumen, weil er in seinem Zustand höchstens träumen konnte. Er sah dabei in die Augen einer wunderbaren Frau und sah auch sich selbst wie selbstverständlich lächeln. Er beherrschte auf einmal etwas, was er an anderen – vor allem bei seinen Freunden – bisher immer beneidet hatte. Er genoss seine Lage und kam sich toll vor. Die schöne Frau lächelte zurück, beider Augen trafen sich und blieben aufeinander haften.

Schlagartig wurde Andy bewusst, dass er gar nicht träumte. Er schaute wirklich in die Augen einer schönen Frau, der schönen Frau schlechthin, dieser Frau, die ihm jetzt schon täglich auffiel. Und er wurde nicht einmal rot, und er musste auch nicht wegschauen, um es zu verhindern. Und beide mussten plötzlich herzhaft lachen, nicht laut, nur jeweils für sich, andere Leute bekamen überhaupt nichts mit. Aber dieser Moment schenkte Andy die beste Laune, die er sich nur für diesen Tag hätte wünschen können.

Aus irgendeinem Grund hielt die U-Bahn länger als sonst an der Samariterstraße – wer weiß, wie viel Zeit das schon gekostet hat. Andy träumte wieder. Danach mussten die Augen von Mann und Frau sich voneinander gelöst haben, denn die schönste aller U-Bahn-Frauen war nicht mehr da, als er aufwachte. Klar, ihre gewohnte Haltestelle war bereits passiert worden. Zu dumm auch! Ob er sie jemals wiedersehen wird? Klar wird er, wenn nicht morgen, dann übermorgen: am selben Ort, zur selben Zeit.

Christian 1

Missmutig schmeißt sich Leutnant S. auf seine Matratze. S. wie Starlinberg (vom Vornamen ganz zu schweigen, den kann er hier sowieso vergessen). Aber sie werden – irgendwo im nördlichen Teil des Bezirks Cottbus – alle nur mit Rang und Initial angeredet. Bei Dopplungen gibt’s zusätzlich Nummern, jedoch erst ab der zweiten Person mit dem gleichen Anfangsbuchstaben, die zur Einheit kommt. Drei von zwanzig Lexikon-Bänden fangen mit “S” an, aber hier war er eigenartiger Weise zuerst da. Also hat er, S., keine Nummer. Und er ist im gemeinsamen Quartier wegen seiner Zuverlässigkeit nach wie vor der erste. Ansonsten gibt es hier inzwischen einen weiteren S., und der heißt folgerichtig S. II. Warum bis heute keine Decknamen eingeführt worden sind, weiß keiner genau. Wohl weil sich Elite-Einzelkämpfer im freien Feld sowieso nie treffen sollen; da braucht’s dann auch keine weiteren Bezeichnungen.

Auf Übung hätte er heute gehen sollen, S. – aber nein, Leutnant D. III war plötzlich dran. An sich ist S. froh, nicht ausrücken zu müssen. Und Befehl ist zudem Befehl; nur nicht groß auffallen! Aber früher sagen hätten sie’s ihm können.

Still ist es geworden, auch die anderen aus dem Quartier haben noch eine Aufgabe erhalten. Jedenfalls für heute. Und wann die einzelnen zurückkehren, ist zuvor nie bekannt. Keiner weiß von keinem. Wahrscheinlich heißen sie deswegen Solitäre.

S. geht zu seinem Spint, er hat sich etwas zu essen drin aufgehoben. Manchmal ist es einfach besser, mit viel Zeit richtig satt zu werden. Das Essen ist nach der Ausbildung besser geworden. Außerdem hat die Schlamm-Robberei aufgehört; jedenfalls fast: Es kann schon noch ab und zu vorkommen, dass er durch den Morast muss. Aber dann hat er ihn sich selbst ausgesucht, weil es nach seinem eigenen Gutdünken bei einem Auftrag keinen anderen Weg gibt. Gehorsam wird bei ihnen im Gegensatz zum Rest des Volkes nicht beaufsichtigt. Kann er gar nicht: Selbst der Marxismus-Leninismus muss bei Einzelkämpfern Vertrauen üben.