Unterwegs mit Thomas Mann -  - E-Book

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Beschreibung

Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur. Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK. »Ich reise gern mit Komfort, besonders, wenn man es mir bezahlt.« – Nicht nur Thomas Mann selbst ist viel gereist, auch die Helden seiner Romane und Erzählungen sind vielfach unterwegs und brechen immer wieder auf: von den Travemünde-Ausflügen der Buddenbrooks über Gustav von Aschenbachs Aufbruch nach Venedig bis hin zu Hans Castorps Fahrt zum ›Zauberberg‹. Der vorliegende Band versammelt die schönsten Reise-Texte Thomas Manns und erzählt nebenbei eine kleine Geschichte über die Eisenbahn, Kreuzfahrtschiffe und andere Fortbewegungsmittel der Moderne.

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Thomas Mann

Unterwegs mit Thomas Mann

Herausgegeben von Lisa Bönsel und Philipp Werner

Anthologie

Fischer e-books

Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur.

Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK.

»Es treibt mich auf den Meeren um, ich bin der Fliegende Holländer.«

Unterwegs

Ich bin unterwegs seit Wochen, die mich wie Jahre dünken. Es treibt mich auf den Meeren um, ich bin der Fliegende Holländer. Ich habe in den Ohren die beiden Motive, mit deren Hilfe Wagner die Gestalt des Unseligen so eindrucksvoll dargestellt hat: das stille, öde, das die einförmige Horizontweite des unbewegten Meeres malt, und das balladeske Hoiho und Hoihe, womit die Ouvertüre beginnt. Ich habe das ewige Meer auf beide Arten erlebt, in Schläfrigkeit und Gebraus, ich habe die Sonne auf seiner Bläue, den Mond auf seiner schlummernden Finsternis spielen sehen und habe stundenlang beim Sausen des Windes und Knallen der Leinwand in seinen Aufruhr geblickt, wenn der Bug des stampfenden und sich bäumenden Dampfers auf seine vom Sturm ihm entgegengewälzten Wogen niederwuchtete und das ganze Vorderschiff von weißem Gischt übersprüht wurde.

»… der erste Frühling, den ich in Italien erleben werde; also der erste, den ich überhaupt erlebe.«

Erkenne dich selbst!

Deine Lieblingseigenschaften am Manne? Geist, Geistigkeit.

Deine Lieblingseigenschaften am Weibe? Schönheit und Tugend.

Deine Lieblingsbeschäftigung? Zu dichten ohne zu schreiben.

Deine Idee vom Glück? Unabhängig und mit mirselbst im Einverständnis zu leben.

Welcher Beruf scheint Dir der beste? Der künstlerische.

Wer möchtest Du wohl sein, wenn nicht Du? Thörichte Frage!

Wo möchtest Du leben? In Rom.

Lebensabriß

Mein vier Jahre älterer Bruder Heinrich, der spätere Verfasser bedeutendster und einflußreichster Romandichtungen, lebte damals, abwartend wie ich, in Rom und schlug mir vor, zu ihm zu stoßen. Ich reiste, und wir verlebten, was wenige Deutsche tun, einen langen, glutheißen italienischen Sommer zusammen in einem Landstädtchen der Sabiner Berge, Palestrina, dem Geburtsorte des großen Musikers. Den Winter, mit seinem Wechsel von schneidenden Tramontana- und schwülen Sciroccotagen, verbrachten wir in der ›ewigen‹ Stadt als Untermieter einer guten Frau, die in der Via Torre Argentina eine Wohnung mit steinernen Fußböden und Strohstühlen innehatte. Wir waren Abonnenten eines kleinen Restaurants namens ›Genzano‹, das ich später nicht wiederfand und wo es guten Wein und vorzügliche ›Croquette di Polio‹ gab. Abends spielten wir Domino in einem Café und tranken Punsch dazu. Wir verkehrten mit keinem Menschen. Hörten wir Deutsch sprechen, so flohen wir. Wir betrachteten Rom als Berge unserer Unregelmäßigkeit, und wenigstens ich lebte dort nicht um des Südens willen, den ich im Grunde nicht liebte, sondern einfach, weil zu Hause noch kein Platz für mich war. Die historisch-ästhetischen Eindrücke, welche die Stadt zu bieten hat, nahm ich ehrerbietig auf, nicht eben mit dem Gefühl, daß sie meine Sache seien und mich unmittelbar zu fördern vermöchten. Die antike Plastik des Vatikans hatte mir mehr zu sagen als die Malerei der Renaissance. Das ›Jüngste Gericht‹ erschütterte mich als Apotheose meiner durchaus pessimistisch-moralistischen und antihedonistischen Stimmung. Mit Vorliebe besuchte ich San Pietro, wenn der Kardinal-Staatssekretär Rampolla in pompöser Demut die Messe las. Er war eine außerordentlich dekorative Persönlichkeit, und aus Schönheitsgründen bedauerte ich es, daß seine Erhebung zum Papst diplomatisch verhindert wurde. –

Der Wille zum Glück

Im vergangenen Jahre nun hielt ich mich in Italien auf, in Rom und Umgebung. Ich hatte die heißen Monate im Gebirge verlebt, war Ende September in die Stadt zurückgekehrt, und an einem warmen Abend saß ich bei einer Tasse Thee im Caffé Aranjo. Ich blätterte in meiner Zeitung und blickte gedankenlos in das lebendige Treiben, das in dem weiten, lichterfüllten Räume herrschte. Die Gäste kamen und gingen, die Kellner eilten hin und her, und dann und wann tönten durch die weit offenen Thüren die langgezogenen Rufe der Zeitungsjungen in den Saal hinein.

Und plötzlich sehe ich, wie ein Herr von meinem Alter sich langsam zwischen den Tischen hindurch und einem Ausgang zu bewegt … Dieser Gang –? Aber da wendet er auch schon den Kopf nach mir, hebt die Augenbrauen und kommt mir mit einem freudig erstaunten »Ah!?« entgegen.

»Du hier?« Wir riefen es wie aus einem Munde, und er fügte hinzu:

»Also wir sind beide noch am Leben!«

Seine Augen schweiften ein wenig ab dabei. – Er hatte sich in diesen fünf Jahren kaum verändert; nur daß sein Gesicht vielleicht noch schmaler geworden war, seine Augen noch tiefer in ihren Höhlen lagen. Dann und wann atmete er tief auf.

»Du bist schon lange in Rom?« fragte er.

»In der Stadt noch nicht lange; ich war ein paar Monate auf dem Lande. Und Du!«

»Ich war bis vor einer Woche am Meer. Du weißt, ich habe es den Bergen immer vorgezogen … Ja, ich habe, seit wir uns nicht sahen, ein gutes Stück Erde kennen gelernt.«-

Und er begann, während er neben mir ein Glas sorbetto schlürfte, zu erzählen, wie er diese Jahre verbracht hatte: Auf Reisen, immer auf Reisen. Er hatte in den Tiroler Bergen gestreift, hatte ganz Italien langsam durchmessen, war von Sizilien nach Afrika gegangen und sprach von Algier, Tunis, Ägypten.

»Schließlich bin ich einige Zeit in Deutschland gewesen« sagte er, »in Karlsruhe; meine Eltern wünschten dringend mich zu sehen und haben mich nur ungern wieder ziehen lassen. Jetzt bin ich seit einem Vierteljahre wieder in Italien. Ich fühle mich im Süden zu Hause, weißt Du. Rom gefällt mir über alle Maßen! …«

Ich hatte ihn noch mit keinem Worte nach seinem Befinden gefragt. Jetzt sagte ich:

»Aus alledem darf ich schließen, daß Deine Gesundheit sich bedeutend gekräftigt hat?«

Er sah mich einen Augenblick fragend an; dann erwiderte er:

»Du meinst, weil ich so munter umherwandere? Ach, ich will Dir sagen: Das ist ein sehr natürliches Bedürfnis. Was willst Du? Trinken, Rauchen und Lieben hat man mir verboten, – irgend ein Narkotikum habe ich nötig, verstehst Du?«

Da ich schwieg, fügte er hinzu:

»Seit fünf Jahren – sehr nötig.« –

[…]

Während des ganzen nächsten Monats habe ich mit ihm die Stadt durchwandert; Rom, dies überschwenglich reiche Museum aller Kunst, diese moderne Großstadt im Süden, diese Stadt, die voll ist von lautem, raschem, heißem, sinnlichem Leben, und in die doch der warme Wind die schwüle Trägheit des Orients hinüberträgt.

Paolos Benehmen blieb immer das gleiche. Er war meistens ernst und still und konnte zuweilen in eine schlaffe Müdigkeit versinken, um dann, während seine Augen aufblitzten, sich plötzlich zusammenzuraffen und ein ruhendes Gespräch mit Eifer fortzusetzen.

Ich muß eines Tages Erwähnung thun, an dem er einige Worte fallen ließ, die erst jetzt die richtige Bedeutung für mich bekommen haben.

Es war an einem Sonntag. Wir hatten den wundervollen Spätsommermorgen für einen Spaziergang auf der Via Appia benutzt und rasteten nun, nachdem wir die antike Straße weit hinaus verfolgt hatten, auf jenem kleinen, cypressenumstandenen Hügel, von dem aus man einen entzückenden Blick auf die sonnige Campagna mit dem großen Aquädukt und auf die Albanerberge genießt, die ein weicher Dunst umhüllt.

Paolo ruhte halbliegend, das Kinn in die Hand gestützt, neben mir auf dem warmen Grasboden und blickte mit müden, verschleierten Augen in die Ferne. Dann war es wieder einmal jenes plötzliche Aufraffen aus völliger Apathie, mit dem er sich an mich wandte:

»Diese Luftstimmung! – Die Luftstimmung ist das Ganze!«

Ich erwiderte etwas Beistimmendes, und es war wieder still. Und da plötzlich, ohne jeden Übergang, sagte er, indem er mir mit einer gewissen Eindringlichkeit das Gesicht zuwandte:

»Sag mal, ist es Dir eigentlich nicht aufgefallen, daß ich immer noch am Leben bin?« –

Ich schwieg betroffen, und er blickte wieder mit einem nachdenklichen Ausdruck in die Ferne.

»Mir – ja«, fuhr er langsam fort. »Ich wundere mich im Grunde jeden Tag darüber. Weißt Du eigentlich, wie es um mich steht? – Der französische Doktor in Algier sagte zu mir: ›Der Teufel begreife, wie Sie noch immer umherreisen mögen! Ich rate Ihnen, fahren Sie nach Hause und legen Sie sich ins Bett!‹: Er war immer so geradezu, weil wir jeden Abend zusammen Domino spielten.

Ich lebe doch noch immer. Ich bin beinahe täglich am Ende. Ich liege abends im Dunkeln, – auf der rechten Seite, wohlgemerkt! – Das Herz klopft mir bis in den Hals, es schwindelt mir, daß mir der Angstschweiß ausbricht, und dann plötzlich ist es, als ob der Tod mich anrührte. Es ist für einen Augenblick, als stehe alles still in mir, der Herzschlag setzt aus, die Atmung versagt. Ich fahre auf, ich mache Licht, ich atme tief auf, blicke um mich, verschlinge die Gegenstände mit meinen Blicken. Dann trinke ich einen Schluck Wasser und lege mich wieder zurück; immer auf die rechte Seite! Allmählich schlafe ich ein.

Ich schlafe sehr tief und sehr lange, denn ich bin eigentlich immer todmüde. Glaubst Du, daß ich, wenn ich wollte, mich hier einfach hinlegen könnte und sterben?

Ich glaube, daß ich in diesen Jahren tausendmal schon den Tod von Angesicht zu Angesicht gesehen habe. Ich bin nicht gestorben. – Mich hält etwas. – Ich fahre auf, ich denke an etwas, ich klammere mich an einen Satz, den ich mir zwanzigmal wiederhole, während meine Augen gierig alles Licht und Leben um mich her einsaugen ...... Verstehst Du mich?«

Er lag regungslos und schien kaum eine Antwort zu erwarten. Ich weiß nicht mehr, was ich ihm erwiderte; aber ich werde niemals den Eindruck vergessen, den seine Worte auf mich machten.

Und nun jener Tag – oh, mir ist, als hätte ich ihn gestern erlebt!

Es war einer der ersten Herbsttage, jener grauen, unheimlich warmen Tage, an denen der feuchte, beklemmende Wind aus Afrika durch die Straßen geht und abends der ganze Himmel unaufhörlich im Wetterleuchten zuckt.

Am Morgen trat ich bei Paolo ein, um ihn zu einem Ausgange abzuholen. Sein großer Koffer stand inmitten des Zimmers, Schrank und Kommode waren weit offen; seine Aquarellskizzen aus dem Orient und der Gipsabguß des vatikanischen Junokopfes waren noch an ihren Plätzen.

Er selbst stand hoch aufgerichtet am Fenster und ließ nicht ab, unbeweglich hinauszublicken, als ich mit einem erstaunten Ausruf stehen blieb. Dann wandte er sich kurz, streckte mir einen Brief hin und sagte nichts als:

»Lies.«

Ich sah ihn an. Auf diesem schmalen, gelblichen Krankengesicht mit den schwarzen, fiebernden Augen lag ein Ausdruck, wie ihn sonst nur der Tod hervorzubringen vermag, ein ungeheurer Ernst, der mich die Augen auf den Brief niederschlagen ließ, den ich entgegengenommen hatte. Und ich las:

»Hochgeehrter Herr Hofmann!

Der Liebenswürdigkeit Ihrer Herren Eltern, an die ich mich wandte, verdanke ich die Kenntnis Ihrer Adresse, und hoffe nun, daß Sie diese Zeilen freundlich aufnehmen werden.

Gestatten Sie mir, hochgeehrter Herr Hofmann, die Versicherung, daß ich während dieser fünf Jahre stets mit dem Gefühl aufrichtiger Freundschaft Ihrer gedacht habe. Müßte ich annehmen, daß Ihre plötzliche Abreise an jenem für Sie und mich so schmerzlichen Tage Zorn gegen mich und die Meinen bekunden sollte, so wäre meine Betrübnis darüber noch größer, als das Erschrecken und tiefe Erstaunen, das ich empfand, als Sie bei mir um die Hand meiner Tochter anhielten.

Ich habe damals zu Ihnen gesprochen als ein Mann zum andern, habe Ihnen offen und ehrlich, auf die Gefahr hin, brutal zu erscheinen, den Grund mitgeteilt, warum ich einem Manne, den ich – ich kann es nicht genug betonen – in jeder Beziehung so überaus hochschätze, die Hand meiner Tochter versagen mußte; und ich habe als Vater zu Ihnen gesprochen, der das dauernde Glück seines einzigen Kindes im Auge hat und der das Aufkeimen von Wünschen der bewußten Art auf beiden Seiten gewissenhaft vereitelt hätte, wenn ihm jemals der Gedanke an ihre Möglichkeit gekommen wäre!

In den gleichen Eigenschaften, mein verehrter Herr Hofmann, spreche ich auch heute zu Ihnen: als Freund und als Vater. – Fünf Jahre sind seit Ihrer Abreise verflossen, und hatte ich bis dahin noch nicht Muße genug zu der Erkenntnis gehabt, wie tief die Neigung, die Sie meiner Tochter einzuflößen vermochten, in ihr Wurzel gefaßt hat, so ist kürzlich ein Ereignis eingetreten, das mir völlig darüber die Augen öffnen mußte. Warum sollte ich es Ihnen verschweigen, daß meine Tochter im Gedanken an Sie die Hand eines ausgezeichneten Mannes ausgeschlagen hat, dessen Werbung ich als Vater nur dringend befürworten konnte?

An den Gefühlen und Wünschen meiner Tochter sind diese Jahre machtlos vorübergegangen, und sollte – dies ist eine offene und bescheidene Frage! – bei Ihnen, hochgeehrter Herr Hofmann, das Gleiche der Fall sein, so erkläre ich Ihnen hiermit, daß wir Eltern dem Glücke unsres Kindes fernerhin nicht im Wege stehen wollen.

Ich sehe Ihrer Antwort entgegen, für die ich Ihnen, wie sie auch lauten möge, überaus dankbar sein werde, und habe diesen Zeilen nichts hinzuzufügen, als den Ausdruck meiner vollsten Hochachtung.

Ergebenst

Oskar Freiherr von Stein.«

– Ich blickte auf. Er hatte die Hände auf den Rücken gelegt und sich wieder dem Fenster zugewandt. Ich fragte nichts als: »Du reist?«

Und ohne mich anzusehen, erwiderte er:

»Bis morgen früh müssen meine Sachen bereit sein.«

Der Tag verging mit Besorgungen und Kofferpacken, wobei ich ihm behilflich war, und abends machten wir auf meinen Vorschlag einen letzten gemeinsamen Spaziergang durch die Straßen der Stadt.

Es war noch jetzt fast unerträglich schwül und der Himmel zuckte jede Sekunde in jähem Phosphorlichte auf. – Paolo schien ruhig und ermüdet; aber er atmete tief und schwer.

Schweigend oder in gleichgültigen Gesprächen waren wir wohl eine Stunde umhergewandert, als wir vor der Fontana Trevi stehen blieben, jenem berühmten Brunnen, der das dahineilende Gespann des Meergottes zeigt.

Wir betrachteten wieder einmal lange und mit Bewunderung diese prächtig schwungvolle Gruppe, die, unaufhörlich von grellblauem Leuchten umspielt, einen nahezu zauberhaften Eindruck machte. Mein Begleiter sagte:

»Gewiß, Bernini entzückt mich auch noch in den Werken seiner Schüler. Ich begreife seine Feinde nicht. – Freilich, wenn das Jüngste Gericht mehr gehauen als gemalt ist, so sind Berninis Werke sämtlich mehr gemalt als gehauen. Aber gibt es einen größeren Dekorateur?«

»Weißt Du eigentlich«, fragte ich, »was für eine Bewandtnis es mit dem Brunnen hat? Wer beim Abschied von Rom daraus trinkt, der kehrt zurück. Hier hast Du mein Reiseglas –« und ich füllte es an einem der Wasserstrahlen – »Du sollst dein Rom wiedersehen!«

Er nahm das Glas und führte es an die Lippen. In diesem Augenblick flammte der ganze Himmel in einem blendenden, lang anhaltenden Feuerscheine auf, und klirrend sprang das dünne Gefäßchen am Rande des Bassins in Scherben.

Paolo trocknete mit dem Taschentuch das Wasser an seinem Anzug.

»Ich bin nervös und ungeschickt«, sagte er. »Gehen wir weiter. Hoffentlich war das Glas nichts wert?«

Am nächsten Morgen hatte sich das Wetter aufgeklärt. Ein lichtblauer Sommerhimmel lachte über uns, als wir zum Bahnhof fuhren.

Der Abschied war kurz. Paolo schüttelte schweigend meine Hand, als ich ihm Glück wünschte, viel Glück.

Ich sah ihm lange nach, wie er hochaufgerichtet an dem breiten Aussichtsfenster stand. Tiefer Ernst lag in seinen Augen – und Triumph.

Was habe ich noch zu sagen? – Er ist tot; gestorben am Morgen nach der Hochzeitsnacht, – beinahe in der Hochzeitsnacht.

Es mußte so sein. War es nicht der Wille, der Wille zum Glück allein, mit dem er so lange den Tod bezwungen hatte? Er mußte sterben, ohne Kampf und Widerstand sterben, als seinem Willen zum Glück Genüge geschehen war; er hatte keinen Vorwand mehr zu leben.

Ich habe mich gefragt, ob er schlecht gehandelt, bewußt schlecht an der, welcher er sich verband. Aber ich habe sie gesehen bei seinem Begräbnis, als sie zu Häupten seines Sarges stand; und ich habe auch in ihrem Antlitz den Ausdruck erkannt, den ich auf seinem gefunden: den feierlichen und starken Ernst des Triumphes.

An Otto Grautoff

[Neapel, 8. November 1896]

 

Was mich betrifft, so habe ich Venedig am 1ten des Monats verlassen, bin zu Schiff nach Ancona und von dort nach Rom gegangen. Ich habe dort mit einem tiefen Enthusiasmus die Stätten wiedergesehen, die vor einem Jahre den stärksten Eindruck auf mich gemacht. Aber es litt mich auch dort noch nicht. Nach allen ermüdenden und strapaziösen Erlebnissen, in die ich mich mit einer bedauerlichen Energie vertieft habe, wie ich sie meiner Jugend zugutehalten muß, war in mir Ein großer Instinkt und Trieb stark: mich so weit nämlich wie nur immer möglich aus deutschem Wesen, deutschen Begriffen, deutscher »Kultur« in den fernsten, fremdesten Süden auf- und davonzumachen … Ich bin, während mein Bruder in Rom blieb, nach Neapel gegangen, von dem ich mir eine ausgesuchte Mischsensation aus Rom und Orient versprach.

Ich bin nicht enttäuscht worden. Die orientalische Note klingt hier vernehmlich mit, – was freilich die stolze Vornehmheit beinahe ausschließt, die für Rom charakteristisch ist, – diese majestätische Stadt par excellence. Neapel ist pöbelhafter, – aber von einer naiven, lieben, graziösen und ergötzlichen Pöbelhaftigkeit. Es hat nicht das kühne und hoheitsvolle Cäsarenprofil Roms, es hat eine Physiognomie mit etwas aufgestülpter Nase und etwas aufgeworfenen Lippen aber sehr schönen, dunklen Augen … Ich betrachte sie seit vier Tagen aufmerksam diese Physiognomie; ihre sinnliche, süße, südliche Schönheit ergreift mich mehr und mehr.

Die Via Santa Lucia, an der ich wohne, hat vielleicht das urwüchsigste und ungenierteste Volksleben. Das ist nicht mehr Europa, – endlich nicht mehr Europa! … Jenseits der Bucht beginnt, während ich schreibe, der Vesuv zu erglühen.

Ich sehe allem zu, still, nachdenklich und ein wenig müde vor Einsamkeit. Meine Gedanken gleiten hin und wieder, gleich jenem Licht auf dem Wasser, das auf der dunklen Fläche etwas zu suchen scheint. Ich denke an mein Leiden, an das Problem meines Leidens. Woran leide ich? An der Wissenschaft … wird sie mich denn zu Grunde richten? Woran leide ich? An der Geschlechtlichkeit … wird sie mich denn zu Grunde richten? – Wie ich sie hasse, diese Wissenschaft, die selbst die Kunst noch zwingt, sich ihr anzuschließen! Wie ich sie hasse, diese Geschlechtlichkeit, die alles Schöne als ihre Folge und Wirkung für sich in Anspruch nimmt! Ach, sie ist das Gift, das in aller Schönheit lauert! … Wie komme ich von der Wissenschaft los? Durch die Religion? Wie komme ich von der Geschlechtlichkeit los? Durch Reisessen? – –

***

Abends.

Ich habe diniert und in der Galleria Umberto den Kaffee getrunken. Was für ein Leben! Musik, Gedränge, Geschrei: Cerini! Giornali! Ein paar zerlumpte Jungen versammeln sich um meinen Tisch und flehen beinahe fußfällig um meinen Zucker. Und als sie ihn bekommen, welch ein Glück! Grazie tanto, tanto, signore! Sie beißen und schlucken mit Wollust. Aber nun ist großer Auflauf, denn ein Bersaglieri und ein Civilist sind mit Messern an einandergeraten. Es hilft nichts, man muß sie arretieren. Die Musik jubelt und schmettert dazu.

Und draußen auf dem »Toledo«! Wagen und Menschen, Wagen und Menschen. Hier und da, unter tausend anderen Verkäufern, schlau zischelnde Händler, die einen auffordern, sie zu angeblich »sehr schönen« Mädchen zu begleiten, und nicht nur zu Mädchen … Sie lassen nicht ab, sie gehen mit und preisen ihre Waare an, bis man grob wird. Sie wissen nicht, daß man beinahe entschlossen ist, nichts mehr als Reis zu essen, nur um von der Geschlechtlichkeit loszukommen! …

Den Vorzug der Billigkeit hätte es auch, das Reisessen, denn was denkst Du eigentlich über meine »pekuniären Verhältnisse«? Daß ich preisgekrönt werde, ist doch viel mehr, als zweifelhaft; wenn der Simplicissimus meinen »Tod« einfach ankauft, so will ich mich freuen, und wenn Fischer 50 Mark für den kleinen Herrn Friedemann bezahlt, so ist das viel. Woher sollen die »vielen Hunderte« kommen? Mit wenig mehr, als 400 Franken soll ich noch volle zwei Monate leben. Sei also wirklich so gut, Deine Briefe auch fernerhin zu frankieren. Es geht nicht anders, und ich sehe ja, daß es geht.

Übrigens beklage Dich nicht immer über die Kürze meiner Briefe. Wenn ich vier Seiten schreibe, so ist das immer noch mehr, als wenn Du sechs schreibst. Nein, bitte: auch quantitativ!! –

Ganz der Deine.

T. M.

An Otto Grautoff

[Rom, 13. Januar 1897]

 

Mein Leben in Rom ist noch das relativ angenehmste, das ich leben kann, zumal meine litterarische Verbindung mit Deutschland nicht abgebrochen ist und die interessanten Bücher und Journale mir zugänglich sind. Glücklich? ach nein, glücklich bin wohl auch ich nicht, sondern im Gegenteile bis zu einem hinlänglichen Grade gereizt, verdüstert und müde; aber zu reich gleichwohl noch immer an Moquerie und objektiver Überlegenheit, als daß ich imstande wäre, eine gewisse Art von larmoyanten Briefen mit »mein teurer Freund« und »Dein unglücklicher Freund« zu schreiben … aber das ist kein Vorwurf! – Gewöhnt übrigens daran, das Pantheon vor der Hausthür zu haben und vom Pincio über die majestätische Stadt nach Sankt Peter blicken zu können, ängstige ich mich wie vor einem bösen Schicksal davor, im nächsten Jahre in Münchens Schwanthaler-Öde zurückzukehren, – auf die Gefahr hin, zwischen den Leistungen dieses furchtbaren Bildhauers in blau und rotem Rock, wenn der Stabsarzt mich acceptiert, einhermarschieren zu müssen. –

Wir haben hier, solange die Tramontana anhielt, verhältnismäßig kaltes Wetter bei blauem Himmel gehabt; nun wird der Scirokko wohl bis Ende Februar die Herrschaft behalten, denn im März beginnt ohnehin der Frühling, – der erste Frühling, den ich in Italien erleben werde: also der erste, den ich überhaupt erlebe. Im Sommer muß man für ein paar Monate die Stadt verlassen; wir werden wohl wieder nach Palestrina gehen, vielleicht auch nach Neapel und Umgegend. Aber darüber ist noch nichts entschieden. –

An Paul Ehrenberg

[München, 26. Mai 1901]

 

Von meiner Florenzfahrt bin ich beladen mit einem Sack voll Erlebnisse und so angeregt-befriedigt zurückgekehrt, wie noch niemals von einer Reise. Alle Bedingungen, Witterung, Wohnung u.s.w., waren ungewöhnlich günstig, und die Stadt selbst ist wohl die liebenswürdigste der Welt. Alles riecht nach Blumen und Kuchen, und man geht beständig in einer Stimmung umher, alsob man Geburtstag hätte. Hinzu kommt, daß nirgends auf so engem Raume so viele schöne Sachen bei einander zu finden sind, wie dort. Ich bin natürlich hauptsächlich in Fra Girolamo’s Spuren gewandelt, war schließlich im Kloster San Marco ganz zu Hause und habe überhaupt Manches profitirt. Die Möglichkeit, einen Savonarola zu schreiben, ist mir entschieden näher gerückt, wenn ich vorderhand auch noch Anderes zu thun habe. – Das mit der kleinen Engländerin, die aussah, alsob sie von Botticelli wäre, nur viel lustiger, war anfangs ein sorgloser Flirt, nahm aber später einen ganz merkwürdig seriösen Charakter an – und zwar (o Staunen!) beiderseits. Der Abschied war beinahe bühnenfähig, – obgleich es eigentlich gemein ist, in diesem Tone davon zu sprechen; aber ich spekulire auf Deine angeborene Herzenskälte. Übrigens kann es gern sein, daß in dieser Sache das letzte Wort noch nicht gesprochen ist. Aber wenn Du den Mund nicht hältst, Du Lackl, Du sechsecketer, so dinge ich Meuchelmörder.

Unsere Heimreise ging über Mailand und Riva am Gardasee, wo wir uns, weil es so hübsch ist, ein paar Tage aufhielten. Nun bin ich hier schon vollständig wieder eingelebt und in eine ganze Menge Arbeit hineingeraten.

An Otto Grautoff

[München, 6. November 1901]

 

Ich denke mir, daß Deine Ankunft in Florenz sich wohl ein bischen verzögert haben wird; wenn aber diese Begrüßungszeilen am Arno eintreffen, werden sie Dich hoffentlich dort vorfinden.

Ich beneide Dich. Du weilst an den Stätten, um die mein Geist jetzt fast unaufhörlich sinnend streicht: denn man muß mit Kraft das Ganze erfassen, wenn man auch nur einen kleinen Ausschnitt, ein winziges Kulturbildchen nachzuschaffen und mit eigenem Leben und Denken zu durchtränken sich sehnt. Dich grüßt die bunte Herrlichkeit des Doms, die verführerischen Wunder der Uffizien, des Bargello und des Palazzo Pitti sind Dein, und von San Marco zum Signoren-Palast führt Dich, wie einst meinen düsteren Helden, die schöne Straße …

Der Tod in Venedig

Mehrere Geschäfte weltlicher und literarischer Natur hielten den Reiselustigen noch etwa zwei Wochen nach jenem Spaziergang in München zurück. Er gab endlich Auftrag, sein Landhaus binnen vier Wochen zum Einzuge instandzusetzen und reiste an einem Tage zwischen Mitte und Ende des Mai mit dem Nachtzuge nach Triest, wo er nur vierundzwanzig Stunden verweilte und sich am nächstfolgenden Morgen nach Pola einschiffte.

Was er suchte, war das Fremdartige und Bezuglose, welches jedoch rasch zu erreichen wäre, und so nahm er Aufenthalt auf einer seit einigen Jahren gerühmten Insel der Adria, unfern der istrischen Küste gelegen, mit farbig zerlumptem, in wildfremden Lauten redendem Landvolk und schön zerrissenen Klippenpartien dort, wo das Meer offen war. Allein Regen und schwere Luft, eine kleinweltliche, geschlossen österreichische Hotelgesellschaft und der Mangel jenes ruhevoll innigen Verhältnisses zum Meere, das nur ein sanfter, sandiger Strand gewährt, verdrossen ihn, ließen ihn nicht das Bewußtsein gewinnen, den Ort seiner Bestimmung getroffen zu haben; ein Zug seines Innern, ihm war noch nicht deutlich, wohin, beunruhigte ihn, er studierte Schiffsverbindungen, er blickte suchend umher, und auf einmal, zugleich überraschend und selbstverständlich, stand ihm sein Ziel vor Augen. Wenn man über Nacht das Unvergleichliche, das märchenhaft Abweichende zu erreichen wünschte, wohin ging man? Aber das war klar. Was sollte er hier? Er war fehlgegangen. Dorthin hatte er reisen wollen. Er säumte nicht, den irrigen Aufenthalt zu kündigen. Anderthalb Wochen nach seiner Ankunft auf der Insel trug ein geschwindes Motorboot ihn und sein Gepäck in dunstiger Frühe über die Wasser in den Kriegshafen zurück, und er ging dort nur an Land, um sogleich über einen Brettersteg das feuchte Verdeck eines Schiffes zu beschreiten, das unter Dampf zur Fahrt nach Venedig lag.

Es war ein betagtes Fahrzeug italienischer Nationalität, veraltet, rußig und düster. In einer höhlenartigen, künstlich erleuchteten Koje des inneren Raumes, wohin Aschenbach sofort nach Betreten des Schiffes von einem buckligen und unreinlichen Matrosen mit grinsender Höflichkeit genötigt wurde, saß hinter einem Tische, den Hut schief in der Stirn und einen Zigarettenstummel im Mundwinkel, ein ziegenbärtiger Mann von der Physiognomie eines altmodischen Zirkusdirektors, der mit grimassenhaft leichtem Geschäftsgebaren die Personalien der Reisenden aufnahm und ihnen die Fahrscheine ausstellte. »Nach Venedig!« wiederholte er Aschenbachs Ansuchen, indem er den Arm reckte und die Feder in den breiigen Restinhalt eines schräg geneigten Tintenfasses stieß. »Nach Venedig erster Klasse! Sie sind bedient, mein Herr.« Und er schrieb große Krähenfüße, streute aus einer Büchse blauen Sand auf die Schrift, ließ ihn in eine tönerne Schale ablaufen, faltete das Papier mit gelben und knochigen Fingern und schrieb aufs neue. »Ein glücklich gewähltes Reiseziel!« schwatzte er unterdessen. »Ah, Venedig! Eine herrliche Stadt! Eine Stadt von unwiderstehlicher Anziehungskraft für den Gebildeten, ihrer Geschichte sowohl wie ihrer gegenwärtigen Reize wegen!« Die glatte Raschheit seiner Bewegungen und das leere Gerede, womit er sie begleitete, hatten etwas Betäubendes und Ablenkendes, etwa als besorgte er, der Reisende möchte in seinem Entschluß, nach Venedig zu fahren, noch wankend werden. Er kassierte eilig und ließ mit Croupiergewandtheit den Differenzbetrag auf den fleckigen Tuchbezug des Tisches fallen. »Gute Unterhaltung, mein Herr!« sagte er mit schauspielerischer Verbeugung. »Es ist mir eine Ehre, Sie zu befördern … Meine Herren!« rief er sogleich mit erhobenem Arm und tat, als sei das Geschäft im flottesten Gange, obgleich niemand mehr da war, der nach Abfertigung verlangt hätte. Aschenbach kehrte auf das Verdeck zurück.

Einen Arm auf die Brüstung gelehnt, betrachtete er das müßige Volk, das, der Abfahrt des Schiffes beizuwohnen, am Quai lungerte, und die Passagiere am Bord. Diejenigen der zweiten Klasse kauerten, Männer und Weiber, auf dem Vorderdeck, indem sie Kisten und Bündel als Sitze benutzten. Eine Gruppe junger Leute bildete die Reisegesellschaft des ersten Verdecks, Polesaner Handelsgehilfen, wie es schien, die sich in angeregter Laune zu einem Ausfluge nach Italien vereinigt hatten. Sie machten nicht wenig Aufhebens von sich und ihrem Unternehmen, schwatzten, lachten, genossen selbstgefällig das eigene Gebärdenspiel und riefen den Kameraden, die, Portefeuilles unterm Arm, in Geschäften die Hafenstraße entlang gingen und den Feiernden mit dem Stöckchen drohten, über das Geländer gebeugt, zungengeläufige Spottreden nach. Einer, in hellgelbem, übermodisch geschnittenem Sommeranzug, roter Krawatte und kühn aufgebogenem Panama, tat sich mit krähender Stimme an Aufgeräumtheit vor allen andern hervor. Kaum aber hatte Aschenbach ihn ein wenig genauer ins Auge gefaßt, als er mit einer Art von Entsetzen erkannte, daß der Jüngling falsch war. Er war alt, man konnte nicht zweifeln. Runzeln umgaben ihm Augen und Mund. Das matte Karmesin der Wangen war Schminke, das braune Haar unter dem farbig umwundenen Strohhut Perücke, sein Hals verfallen und sehnig, sein aufgesetztes Schnurrbärtchen und die Fliege am Kinn gefärbt, sein gelbes und vollzähliges Gebiß, das er lachend zeigte, ein billiger Ersatz, und seine Hände, mit Siegelringen an beiden Zeigefingern, waren die eines Greises. Schauerlich angemutet sah Aschenbach ihm und seiner Gemeinschaft mit den Freunden zu. Wußten, bemerkten sie nicht, daß er alt war, daß er zu Unrecht ihre stutzerhafte und bunte Kleidung trug, zu Unrecht einen der ihren spielte? Selbstverständlich und gewohnheitsmäßig, wie es schien, duldeten sie ihn in ihrer Mitte, behandelten ihn als ihresgleichen, erwiderten ohne Widerwillen seine neckischen Rippenstöße. Wie ging das zu? Aschenbach bedeckte seine Stirn mit der Hand und schloß die Augen, die heiß waren, da er zu wenig geschlafen hatte. Ihm war, als lasse nicht alles sich ganz gewöhnlich an, als beginne eine träumerische Entfremdung, eine Entstellung der Welt ins Sonderbare um sich zu greifen, der vielleicht Einhalt zu tun wäre, wenn er sein Gesicht ein wenig verdunkelte und aufs neue um sich schaute. In diesem Augenblick jedoch berührte ihn das Gefühl des Schwimmens, und mit unvernünftigem Erschrecken aufsehend, gewahrte er, daß der schwere und düstere Körper des Schiffes sich langsam vom gemauerten Ufer löste. Zollweise, unter dem Vorwärts- und Rückwärtsarbeiten der Maschine, verbreiterte sich der Streifen schmutzig schillernden Wassers zwischen Quai und Schiffswand, und nach schwerfälligen Manövern kehrte der Dampfer seinen Bugspriet dem offenen Meere zu. Aschenbach ging nach der Steuerbordseite hinüber, wo der Bucklige ihm einen Liegestuhl aufgeschlagen hatte und ein Steward in fleckigem Frack nach seinen Befehlen fragte.

Der Himmel war grau, der Wind feucht. Hafen und Inseln waren zurückgeblieben, und rasch verlor sich aus dem dunstigen Gesichtskreise alles Land. Flocken von Kohlenstaub gingen, gedunsen von Nässe, auf das gewaschene Deck nieder, das nicht trocknen wollte. Schon nach einer Stunde spannte man ein Segeldach aus, da es zu regnen begann.

In seinen Mantel geschlossen, ein Buch im Schoße, ruhte der Reisende, und die Stunden verrannen ihm unversehens. Es hatte zu regnen aufgehört; man entfernte das leinene Dach. Der Horizont war vollkommen. Unter der trüben Kuppel des Himmels dehnte sich rings die ungeheure Scheibe des öden Meeres. Aber im leeren, im ungegliederten Raume fehlt unserem Sinn auch das Maß der Zeit, und wir dämmern im Ungemessenen. Schattenhaft sonderbare Gestalten, der greise Geck, der Ziegenbart aus dem Schiffsinnern, gingen mit unbestimmten Gebärden, mit verwirrten Traumworten durch den Geist des Ruhenden, und er schlief ein.