Unzähmbare Morgenröte - Melanie Köberl - E-Book

Unzähmbare Morgenröte E-Book

Melanie Köberl

0,0

Beschreibung

Aurora, ein jugendliches Mädchen mit schwarzem Haar, einem Muschelkleid und braunen mandelförmigen Augen lebt in einem Dorf namens Lemniskate. Eine goldene Mauer begrenzt das Dorf und soll es vor dem düsteren fremden Reich schützen. Alle Bewohner leben in Angst und Schrecken, denn ein giftiges Kraut breitet sich immer weiter aus. Aurora sieht nicht nur anders aus als die restlichen Dorfbewohner, sondern verhält sich auch anders. Sie ist aufmüpfig und wurde deshalb in eine Korallenhöhle an den Rand des Dorfes verbannt. Dort sitzt sie jeden Tag einsam und alleine auf einem Korallenbogen und träumte sich in das fremde Land. An ihrem 16. Geburtstag wird sie in die Fremde geschickt, um dort die Perle des Wissens zu finden. Diese trägt nach einer uralten Legende das Wissen des Lebens in sich und soll das Dorf vor dem giftigen Efeu retten. Ob Aurora es schafft, die Abenteuer im fremden Land zu bestehen bleibt ungewiss. Aber eines ist sicher, die Morgenröte wird sie begleiten - jeden Tag auf ein Neues. Unzähmbar wie sie selbst.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 414

Veröffentlichungsjahr: 2023

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Melanie Köberl

Unzähmbare Morgenröte

Danksagung

Vielen lieben Dank meinen drei zauberhaften Söhnen, die jeden Tag zu einem Wunder machen.

Einen weiteren Dank an Stephan, Marina & Friederike. Für eure Unterstützung und euren Glauben an mich.

Und an mich selbst – daran, niemals aufzugeben.

Inhaltsverzeichnis

Lemniskate 7

Aurora 9

Der Eindringling 21

Die acht Rotbärte 25

Das Karamunkel-Efeu 32

Der Gefährte 35

Die knorrigen Bäume 38

Der Weg in die Fremde 44

Die alte Gramurin 56

Niemandsland 62

Tamark 72

Die Blume in der Wüste 80

Die Gormonen 87

Der Pfad des Lichtes 100

Die Frucht und der Gnom 105

Die Dame in der Wand 118

Die seltsame Smorla 135

Die Kammer im Schneckenhaus 155

Das goldene Orakeltor 163

Magia 179

Die Begegnung mit Endura 187

Moras Schattenreich 191

Gefangen im Sumpf von Mora 201

Die Befreiung aus dem Sumpf 214

 Die Verwandlung der Grauschleier 230

  Das Lagerfeuer 245

Molgrov der Herrscher der Dunkelheit 271

Die düstere Unterwelt 275

Die Quelle des Lebens 288

Rückkehr nach Lemniskate 333

Die Welt von Magia…verborgen an einem besonderen Ort….an dem alles und jeder sein darf…..

Lemniskate

Es gab es wirklich, das kleine Dorf im Weißen Land. Die roten Wesen, die dort lebten, nannten es Lemniskate. Sie sahen fast alle gleich aus. Sie hatten feuerrotes Haar, kleine Hände mit rissiger Haut, dünne Ärmchen, einen schmalen Körper und kleine Füße mit noch kleineren Zehen. Ihre Haut war strahlend weiß und leuchtete in der Sonne. Ihre Gesichter waren rundlich, mit grünen leuchtenden Pupillen, Augenbrauen mit einem roten Schimmer, langen feuerroten Wimpern, Lippen in einem intensiven Rot und einer hohen Stirn. Die schmalen Körper der Rotlinge waren mit weißen Leinentüchern umwickelt und sie trugen keine Schuhe. Weil der Erdboden in Lemniskate durch die Sonne stark erhitzt war, hatte sich auf ihren Fußsohlen eine dicke Haut gebildet. Sie waren freundliche, gutmütige, fröhliche und fleißige Wesen. Dort, wo sie lebten, so sagte man, war das Land der Sonne. Dort war der Boden so weiß, dass sich die Sonne in ihm spiegeln konnte und bestand aus feinstem Muschelsand.

Aurora

Dort oben auf dem weißen Bogen aus totem Korallenkalkgestein am Rande des Dorfes saß sie und starrte verträumt in die Ferne. Dorthin war sie von den Dorfältesten verbannt worden, den Rotbärten, denn sie war ganz anders als die Rotlinge im Dorf. Nachdenklich blickte sie in die Ferne und ihr schwarzes, struppiges, buschiges Haar, das ihr bis zur Hüfte reichte, wehte im Wind. Ihre Haut unterschied sich kaum von den Korallen, auf denen sie saß, denn sie glänzte und strahlte im weißesten Weiß. Ihre mandelförmigen Augen blitzten in einem dunklen Braun neckisch unter langen, dunklen Wimpern und geschwungenen Augenbrauen hervor. Ihre Nase und ihr Mund ähnelten jenen einer mutigen Amazone und trotzdem hatte ihr Gesicht die feinsten Züge. Ihre Lippen ließen mit einem Lächeln ihr Gesicht erstrahlen und schimmerten in einem zarten Pastellrosa.

Oberhalb ihres Brustbeins hatte sie sich eine Narbe zugezogen, als sie einmal versucht hatte, die goldene Mauer zu erkunden. Sie hatte damals eine Pflanze zwischen den goldenen Steinen gefunden und diese herausziehen wollen, um sie zu inspizieren, denn in Lemniskate wuchsen keine Pflanzen außer dem giftigen Karamunkel-Efeu und den vertrockneten Bäumen. Die Pflanze in der Mauer war mit schwarzen Dornen besetzt und mit Spinnenhäuten überzogen. Als Aurora neugierig daran zog, machte es einen Schnalzer und sie stürzte rückwärts auf den harten Boden. Die Pflanze riss sie mit sich und diese wirbelte um ihren Körper, als sie fiel. Steif vor Schreck lag sie am Boden und konnte sich nicht rühren. Als sie sich wieder etwas beruhigt hatte, tastete sie ihre Arme und Beine ab, die zum Glück heil geblieben waren. Trotzdem hatte sie das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte. Als sie ihren Körper absuchte, erkannte sie frisches Blut, das ihr Muschelkleid benetzte. Oberhalb ihres Brustbeins hatte sie sich eine Verletzung durch die Dornenranke zugezogen. Langsam setzte sie sich auf und drückte ihre Hand auf die Wunde, um die Blutung zu stillen. Nachdenklich blieb sie noch sitzen und blickte auf das blutige Dornengestrüpp. Auch wenn dieses Erlebnis sie erschreckt hatte, hatte sie die Neugierde gepackt. Seit diesem Zeitpunkt wollte sie wissen, was hinter der goldenen Mauer verborgen war. Das Land, das sie kannte, konnte nicht alles sein. Und auch wenn die Dornen dort eher eine Gefahr vermuten ließen, wollte sie es wissen. Dort musste mehr sein als nur ein Dornengestrüpp. Dort musste auch etwas anderes gedeihen können! Was übrig geblieben war von diesem Tag, war eine Narbe über ihrer Brust.

Noch immer saß sie auf ihrem Korallenbogen, die Beine angezogen und ihren Kopf daraufgelegt. Sie hatte ein Trägerkleid aus weißen feinen Muscheln an, das ihr bis zu den Knien reichte. Die Muscheln raschelten leise, wenn der Wind sanft wehte und sich das Kleid bewegte. So grazil saß sie dort oben und gleichzeitig legte sich eine mysteriöse Aura um sie. Die Rotlinge hatten schon vor Jahren begonnen sie zu meiden. Zuerst hatten ihre Eltern sie in der Hütte, in der sie lebten, versteckt gehalten. Da sie mit ihren dunklen Haaren ganz anders aussah als alle anderen, hatten ihre Eltern ihr die Haare ganz kurz geschnitten und mit roten Federn geschmückt. Eine Zeit lang ließ sich Aurora das gefallen, aber irgendwann wurde sie eigensinnig. Sie begann ungehorsam zu werden, riss sich alle Federn vom Kopf und ließ ihr buschiges schwarzes Haar wieder in aller Fülle wachsen. Sie lief mit ihrem ungezähmten Haar durch das Dorf und die Rotlinge beäugten sie misstrauisch. Sie fanden sie eigenartig und das ganze Dorf begann sie zu meiden. So begab es sich, dass Aurora sich in die Einsamkeit zurückzog. Sie fand Gefallen an der Höhle am Rande des Dorfes, die ebenfalls aus weißen Korallengestein bestand und wo sich im vorderen Teil der Bogen aus Korallengestein gebildet hatte.

Ihre Eltern waren froh darüber, dass ihre Tochter sich in die Höhle zurückzog, denn sie fürchteten sich vor den heiligen Rotbärten. Die Rotbärte waren acht Männer, welche in Lemniskate die Führung übernommen hatten. Sie bestimmten, was richtig und falsch war, und wohnten im heiligen Tempel. Dies war ein bis in die Wolken hochragendes Gebäude aus Holz inmitten von Lemniskate. Deshalb wurden sie auch die acht heiligen Männer von Lemniskate genannt. Sie beobachteten das Mädchen mit grimmiger Miene und verfolgten sie und ihre Eltern. Oft lauerten sie ihnen auf oder statteten ihnen überraschende Besuche ab, bei welchen sie die Eltern über ihre Tochter ausfragten. Die Rotbärte erwarteten von ihnen, dass sie ihr weiterhin die Haare abschnitten und sie mit roten Federn schmückten. Für Aurora war dies eine große Demütigung. Es fühlte sich an, als würden sie ihren Körper verstümmeln und sie vor allen anderen Bewohnern des Dorfes bloßstellen. Sie war sich sicher, dass ihr Wille irgendwann so stark sein würde, dass sie sich nicht mehr mit Federn schmücken ließe.

Aurora tollte auch im Schatten der dunklen Bäume herum, und keiner konnte sie davon abhalten. Sie kletterte auf die Bäume und genoss es, sich von Ast zu Ast zu schwingen. Auch wenn ihre Eltern versuchten, sie zur Vernunft zu bringen, ließ sie sich nicht davon abhalten. Immer wieder begab sie sich zu den Bäumen und verbrachte dort Zeit. Sie verstand nicht, weshalb das ein schlechter Ort sein sollte, denn sie hatte keine Angst dort. Wenn sie im Wald war, fühlte sie sich frei und verbunden mit den knorrigen Bäumen. Ihr gefiel es, die Bäume zu berühren und den kühlen Schatten zu genießen. So lag sie oft stundenlang im Schatten der Bäume oder lehnte sich an einen dicken, kräftigen Stamm an. Sie spürte die Rinde an ihrem Rücken und konnte die knorrigen Äste der Baumkrone ansehen. Wenn noch ein leichter Wind wehte, war es ein wunderbares Erlebnis. Manchmal legte sie auch ein Ohr ganz fest an die Rinde und hörte in den Baum hinein. Oft kam es ihr so vor, als würde sie kleine Käfer im Baum herumkrabbeln hören.

Die Rotbärte waren darüber erbost und ihr Zorn wurde immer stärker. Sie kamen täglich zu Auroras Eltern und bedrängten sie, dem Mädchen zu verbieten, die Bäume zu besuchen. Eines Abends kamen alle acht Männer zur Hütte der Familie und einer klopfte dreimal mit dem schweren Messingring an die Tür. Die Rotlinge lebten in Stelzenhäusern aus Holz hoch über dem Boden, um von der Hitze des weißen Erdbodens geschützt zu sein. Zaghaft öffnete Auroras Vater die Tür und erschrak, als er alle acht Priester mit ernster und grimmiger Miene sah. In diesem Moment wusste er, dass es nun so weit war. Sie wollten ihre Tochter holen. Vier der Männer setzen sich, ohne zu fragen, auf die Felle, die am Boden lagen, und die restlichen vier gingen in der Wohnung herum und schauten sich um. Zwei von ihnen packten die Eltern an den Schultern und zwangen sie, sich ebenfalls auf die Felle zu den anderen Rotbärten zu setzen. Aurora war in der Zwischenzeit im Nebenraum in ihrem Bett. Sie hatte geschlafen und wachte nun auf. Sie zitterte am ganzen Leib, als sie mitbekam, was im Wohnzimmer vor sich ging. Vor Angst konnte sie sich nicht bewegen und blieb still in ihrem Bett liegen.

Der oberste Priester mit dem längsten und dichtesten roten Bart begann mit tiefer und harscher Stimme zu sprechen: „Ihr dummen Eltern von Aurora. Jetzt waren wir schon einige Male hier bei euch und haben versucht mit euch zu reden, um Aurora zu bändigen. Wir wollen nur das Beste für euch und eure Tochter. Und natürlich für Lemniskate. Aber es wird gefährlich. Es wird äußerst gefährlich mit eurem Kind. Ihr wisst, dass eure Tochter anders ist, und ein Mädchen, das anders ist, wird eine Gefahr. Ihr werdet sehen, in einigen Jahren erkennt ihr eure Aurora nicht mehr wieder. Sie wird sich verändern. Ihre Andersartigkeit wird ihr innerstes Wesen bestimmen und sie wird boshaft werden. Verdorben wird sie werden. Ein dunkler böser Drache sitzt in ihr und wird wachsen. Ihr seid törichte Eltern und könnt euch nicht ausmalen, wie sie uns alle mit ins Verderben führen wird. Ihr müsst uns jetzt glauben, denn wir kennen die Wahrheit!“

„Nein!“, schrie der Vater. „Ihr bekommt meine liebe Aurora nicht, ihr ach so heiligen Priester. Ihr bringt uns das Unheil durch euren Aberglauben!“

„Niemals lasse ich dies zu!“, schrie er weiter.

„Nur die Ruhe“, sagte die Mutter leise. „Wir werden schon eine Lösung finden. Bitte nehmt uns nicht unsere liebe kleine Tochter.“

„Es ist entschieden, ihr dummen Eltern. Wir tun es im Glauben an ein vollkommenes Lemniskate. Das könnt ihr natürlich nicht verstehen, denn dazu fehlt es euch an Klugheit!“, sagte der oberste Priester wieder bestimmend. Ein anderer der Rotbärte mischte sich nun ein: „Keine Widerworte mehr, wir haben einen Befehl für euch und dieser muss befolgt werden, sonst landet ihr mit eurer Tochter im Exil. Und zwar für immer. Wollt ihr an diesen grausamen Ort? Der rote Kreis wird euch vernichten. Ihr habt keine Wahl mehr.“

Die Eltern erschraken, denn damit hatten sie nicht gerechnet. Sie konnten kaum glauben, dass die Priester so weit gehen und sie ins Exil schicken würden. Die Mutter ließ sich auf den Boden fallen und begann laut vor sich hin zu schluchzen. Sie weinte und rief immer wieder: „Aurora, nehmt mir nicht meine liebe Aurora!“ Der Vater schaute ins Leere mit einem glasigen Blick. Er fühlte sich hilflos und spürte Resignation, die sich in ihm breit machte. Nichts konnte er mehr tun, es war geschehen. Sie mussten ihre Tochter opfern, weil sie anders war. Lange hatten sie an ihrem Glauben festgehalten, dass die Rotlinge Aurora irgendwann akzeptieren würden. Nun mussten sie feststellen, dass ihre Hoffnung erloschen war. Es war vorbei.

Wieder ergriff der oberste Rotbart das Wort: „Bis morgen habt ihr Zeit, euch von Aurora zu verabschieden. Ihr bringt sie zu der Höhle am Rande des Dorfes, in die sie sich gelegentlich zurückzieht. Wir haben beschlossen, dass sie dort ihr Dasein fristen soll. Dort, am Rand von Lemniskate, darf sie sich aufhalten. Dort könnt ihr sie mit Nahrung und Wasser versorgen. Nirgendwo anders darf sie hin und ihr dürft sie auch nicht mehr sehen. Euch ist es nur erlaubt, ihr Essen und Trinken zu bringen, und dann müsst ihr sofort wieder verschwinden. Der Kontakt zu eurer Tochter ist euch strengstens untersagt und sie darf die Höhle niemals verlassen. Sie ist ab jetzt eine Aussätzige und soll auch so behandelt werden. Ich werde alle Dorfbewohner von Lemniskate morgen bei einer Versammlung informieren. Aurora ist böse und keiner darf in ihre Nähe, sonst muss er ins Exil. Sie ist und bleibt eine Gefahr für unser Dorf!“

Nach diesen Worten standen die Männer auf und verließen das Haus, ohne die Eltern noch eines Blickes zu würdigen. Sie hinterließen einen zu Tode betrübten Vater und eine in Tränen aufgelöste Mutter. Und am schlimmsten war, dass ein verängstigtes und eingeschüchtertes Mädchen im Nebenraum das alles mitangehört hatte. Aurora saß aufrecht in ihrem Bettchen und hatte das Gespräch verfolgen können. Sie zitterte am ganzen Körper.

Als das Sonnenrot am nächsten Morgen Lemniskate erhellte, war es so weit. Aurora lag noch immer in ihrem Bett und hatte sich in ihr Fell hineingekuschelt. In der Nacht hatte sie kaum ein Auge zugemacht. Als es hell wurde, war Aurora klar, dass sie nun in die Abgeschiedenheit gehen musste. Vater und Mutter hängten ihr eine braune Ledertasche um, welche sie mit gebratenen Fischen und einem gläsernen Wassergefäß gefüllt hatten. Auch Auroras Lieblingsfelldecke gaben sie in die Tasche. Sie nahmen ihr Kind an der Hand und gingen mit ihr gemeinsam zur Korallenhöhle. Dort angekommen sagte der Vater zu ihr: „Mein liebes Mädchen. Es ist an der Zeit, dich zu verlassen. Nun musst du versuchen, dein Leben hier in dem Korallengestein ohne deine Eltern zu leben. Ab jetzt bist du auf dich allein gestellt. Und wage es nicht, dich von diesem Platz wegzubewegen, denn dann werden sie dich holen. Die bösen Männer werden dich holen. Vergiss das nicht, mein kleines Mädchen! Kein Kontakt zu irgendwem! Wir dürfen dir nur Nahrung und Wasser bringen. Es tut uns leid, nun müssen wir gehen. Befolge das, was wir dir gesagt haben! Sei stark und tapfer, meine kleine Aurora!“

Die Mutter umarmte Aurora ganz fest und flüsterte: „Ich liebe dich, meine Tochter.“ Mit Tränen in den Augen verließen die Eltern das Mädchen und gingen von der Höhle weg. Dort blieb ein verängstigtes Kind zurück. Aurora setzte sich in eine Ecke und zog die Beine an. Ihren Kopf legte sie auf ihre Knie und begann vor sich hin zu schluchzen. „Was ist bloß passiert?“, dachte sie. „Warum zwingen die Rotbärte meine Eltern zu einer solchen grausamen Tat?“

Der Eindringling

Eines Tages trug es sich zu, dass sich in die Hütte eines älteren Rotlingpaars ein seltsames Wesen verirrte, ein eigentümliches Federvieh. Als die beiden schliefen, krachte es durch das offene Fenster und sie wurden von dem Lärm geweckt. In Lemniskate gab es in den Stelzenhäusern nur offene Fenster ohne Glasscheibe, da die goldene Mauer schon genug Schutz bot und verhinderte, dass Eindringlinge zu ihnen kamen. Aber eben genau an diesem Tag wurde den Rotlingen aufgezeigt, dass die Mauer sie nicht in jedem Fall beschützen konnte. Der eigenartige Vogel trug rosarote Federn mit goldenen dazwischen. Er hatte einen langen, gebogenen und zitronengelben Schnabel und machte seltsame Geräusche. Es klang wie ein Gurren in den unterschiedlichsten Tönen. Erschrocken wollten die zwei den Vogel im Mondlicht fangen, aber sie konnten ihn nicht schnappen, denn er rannte kreischend und aufgeregt von einer Ecke zur anderen. In der hintersten Ecke der Hütte verkroch er sich und pfauchte sie an, als sie sich annäherten. Die beiden fürchteten sich vor dem fremden Wesen  und verkrochen sich ebenfalls in einer Ecke der Hütte. Sie warteten auf den nächsten Morgen und als es hell wurde, liefen sie zu den Rotbärten, um sie um Hilfe zu bitten. Als sie unten am Tempel ankamen, riefen sie die Rotbärte zu sich, indem sie mit der Silberglocke klingelten. Niemand in Lemniskate durfte die Leiter zur Tempeletage ohne Ankündigung betreten. Also standen sie bei der Glocke und klingelten aufgeregt, indem sie an der Schnur rüttelten. Der älteste der Rotbärte sah etwas erbost nach unten, da er in diesen frühen Morgenstunden ungern geweckt wurde. Als er sah, wie aufgeregt die beiden waren, kletterte er sofort die Leiter nach unten und rief die restlichen sieben Rotbärte. Als alle unten standen, berichtete das Paar, was sich in der Nacht zugetragen hatte. Die Rotbärte bekamen einen grimmigen Blick und sie alle machten sich sofort auf den Weg zur Hütte des Paares. Sie holten sich eines der Fischernetze, die verwendet wurden, um aus löchrigen Stellen im Erdboden tote Fische zum Essen zu holen. Tief unten in den Löchern befand sich Wasser und an dessen Oberfläche schwammen schon seit ewigen Zeiten tote Fische. Keiner im Dorf wusste, wie diese dorthin gekommen waren. Aber es war das einzige Nahrungsmittel der Rotlinge, die die Fische an offenen Feuerstellen brieten. Auch das Wasser holten sie mit Holzeimern aus der Tiefe der Löcher, um es zu trinken. Die Rotbärte gingen also, mit einem Fischernetz bepackt, zu der Hütte des Rotlingpaars. Sie stiegen die Leiter zur Holztür hinauf und betraten den Eingangsraum. Das Paar blieb ängstlich unten am Boden vor der Hütte stehen und hielt sich an den Händen. Dann hörten sie im Inneren die Schritte der Rotbärte, Holzdielen krachten und die heiligen Männer jubelten. Zwei der Männer traten durch die Tür und hielten den rosaroten Vogel, den sie mit dem Fischernetz gefangen hatten, in ihren Händen. Sie kletterten die Leiter der Hütte hinunter. Der Vogel strampelte und pfauchte, aber die Rotbärte konnten ihn mit ihren starken Armen bändigen. Dann holte ein anderer von ihnen ein rotes Tuch unter seinem Mantel hervor und warf es über den Vogel im Netz. So trugen sie den Vogel weg von dem Rotlingpaar in das Dorf und die restlichen Rotbärte kletterten die Leiter der Hütte hinunter. Sie erklärten den zwei Rotlingen, dass sie den schrecklichen Vogel gefangen hatten und diesen nun wegbringen mussten. Gefährlich sei es gewesen, ihn zu schnappen, denn er habe scharfe Zähne in seinem langen Schnabel. Sie traten auf wie die Retter von Lemniskate und gingen stolz wieder zu ihrem Tempel zurück. Die Kunde darüber verbreitete sich rasch im Dorf. Bis der Bericht auch beim letzten Rotling angekommen war, veränderten sich immer mehr Details der Geschichte. Aus den scharfen Zähnen wurde ein Vogel mit einem Raubtierkopf und dem Gebiss eines wilden Tieres. Auf Nachfrage der Dorfbewohner erzählten die Rotbärte, dass der Schreckensvogel es irgendwie über die goldene Mauer geschafft hatte. Sie beschrieben diesen mit der Größe eines Mammuts, den Zähnen eines Raubtiers und einem giftigen, bannenden Blick. Auch von ihrer Rettung des Rotlingpaars erzählten sie und wie gefährlich es für sie gewesen war, das fremde Federvieh einzufangen und wegzubringen. Raus aus Lemniskate an einen Ort, an welchem es dem Dorf keinen Schaden mehr zufügen konnte. Nähere Details, wo sie es hingebracht hatten, nannten sie aber nicht. Die Dorfbewohner waren alle froh, dass die Rotbärte ihr Dorf vor dem Schreckensvogel gerettet hatten. Nur dem Rotlingpaar kamen die Beschreibungen der Rotbärte etwas eigenartig vor, aber sie sagten nichts dazu und hüllten sich in einen Mantel des Schweigens.

Seit diesem Tag herrschte noch mehr Angst in Lemniskate. Die Rotlinge trauten sich nicht mehr aus ihren Hütten und sperrten sich Tag und Nacht ein, bis irgendwann ihr Durst und Hunger zu groß wurden und sie zu einer Wasserstelle gehen mussten, um sich Fische und Wasser zu holen. Alle hatten Angst, dass es wieder eine Schreckensgestalt aus der Fremde über die goldene Mauer schaffen und sie bedrohen würde.

Die acht Rotbärte

Die acht heiligen Männer im Dorf stammten von den Rotlingen ab, unterschieden sich aber von den anderen Männern im Dorf durch ihre bis zum Bauchnabel gekräuselten Bärte, die den Mund und den Hals verdeckten. Ihre vor Kraft strotzenden Körper waren im Unterschied zu den Leinengewändern der Rotlinge in weite, dunkelrote Mäntel aus Samt gehüllt.

Die heiligen Männer waren in Lemniskate an der Macht, seitdem es die heilige Schrift gab, und sie lebten im höchsten Gebäude im Dorf, dem Tempel. Dieser bestand aus mehreren Etagen mit Holzbrettern aus edlem Pinienholz, die wie alle anderen Gebäude von Stelzen getragen wurden. Eine Leiter führte zur ersten Plattform und verband alle weiteren Etagen. Bis zur letzten Etage hoch oben in den Wolken erreichte der Tempel schwindelerregende Höhen. Wollten Rotlinge mit den Priestern sprechen, mussten sie an der Glocke läuten, und die Rotbärte ließen sich dann zu ihnen hinab, um das Gesuch des jeweiligen Rotlings abzuklären. War es etwas von immenser Wichtigkeit, durfte der Rotling den Tempel betreten und die Rotbärte lasen aus der heiligen Schrift vor. Diese war das Heiligtum von Lemniskate, denn darin stand, was gut und schlecht für die Dorfbewohner war, was sie tun und was sie besser unterlassen sollten. Die Rotlinge kamen meistens zum Tempel, wenn sie ein schlechtes Gewissen hatten, weil sie etwas falsch gemacht hatten, oder wenn sie Angst vor der Fremde hatten. Wie etwa, wenn sie nicht wussten, ob sie sich genügend oft bedankt haben bei den Rotbärten, oder wenn sie einen Tag zu wenig freundlich gewesen waren und sich schuldig fühlten.

Die Rotbärte werden von den Stammesältesten der Rotbärte auserkoren, um Teil ihrer Gemeinschaft zu werden. Immer, wenn einer der alten Rotbärte verstirbt, kommt ein neuer nach. Ausgesucht wird dieser in mehreren Kämpfen mit anderen Rotlingsmännern. Verstirbt ein Rotbart, rufen die heiligen Männer mit einem Trompetenhorn die Kämpfe zur Priesterweihe aus. Dann dürfen die stärksten Männer gegeneinander antreten. Sie müssen dabei unbewaffnet und nur mit ihren Fäusten aufeinander losgehen. Die Arena dafür befindet sich vor dem Tempel, und während der Kämpfe versammeln sich die Dorfbewohner dort. Die Rotbärte bleiben auf der ersten Etage ihres Tempels und begutachten das Geschehen von oben. Als besiegt gilt ein Rotlingsmann, wenn er am Boden liegt und nicht mehr aufkommt. Oft gehen diese Kämpfe blutig aus und der Rotling am Boden muss danach seine Wunden versorgen lassen. Trotzdem applaudieren die Dorfbewohner und die Kämpfe sind für sie ein Fest. An diesen Tagen dürfen sie ausgelassen sein und müssen sich um keine Regeln kümmern, denn dies hatten die Rotbärte ihnen erlaubt. Der Rotlingsmann, der den Kampf gewinnt, darf gegen den nächsten antreten, und der nächste Sieger wieder gegen einen auserwählten Rotlingsmann. Bis am Ende nur mehr ein Sieger übrig bleibt, welcher dann in die Gemeinschaft der Rotbärte aufgenommen wird. Dies geschieht über die Priesterweihe am darauffolgenden Tag. Wieder versammeln sich dann alle Dorfbewohner am Tempel. Der Sieger wird von dem Ältesten der Rotbärte nach dem Kampf vor dem Tempel abgeholt. Gemeinsam klettern sie die Leiter des Tempels hinauf und auf einer der obersten Etagen, wird dem Rotlingsmann der roten Umhang aus Samt überreicht. Einen ganzen Monat darf dieser dann den Tempel nicht verlassen, denn er wird in die heilige Schrift eingeführt und muss sich einen Rotlingsbart wachsen lassen. Verschiedenste Kräutertinkturen werden ihm verabreicht und gemeinsam mit den anderen Priestern führt er Rituale in den obersten Etagen des Tempels durch. Dies soll den Bartwuchs anregen und beschleunigen, damit der kräftige Rotlingsmann am Ende des Monats aussieht, wie es einem Rotbart gebührt, und zu ihnen gehört. Dann wird er in den Kreis der heiligen Männer aufgenommen und der Mann darf nie wieder mit seiner Familie sprechen, denn er hat sich ganz den Priestern im Tempel und der heiligen Schrift verschrieben.

Die Dorfbewohner waren verpflichtet, den Rotbärten zu dienen. Sie mussten an einer Stelle im Dorf mit Schaufeln nach Gold graben. An diesem einen Platz am Rande des Dorfes war der weiße Erdboden durchsichtig und die Rotlinge hatten vor einigen Hundert Jahren einen goldenen Glanz darunter entdeckt. Von Neugierde gepackt hatten die Rotbärte damals den Befehl erlassen, dass die Männer des Dorfes dort zu graben hatten. Und siehe da, als sie schon einige Meter in den weißen, harten Untergrund gegraben hatten, stießen die Rotlinge auf Gold. Damit konnten sie auf einen weiteren Befehl der Priester die goldene Mauer bauen. Nur die mutigsten der Männer wurden auf Einweisung der heiligen Männer hinter die dunklen Bäume gelassen, um die Mauer zu erbauen. Dafür bekamen sie eine Belohnung und durften sich statt der Ration von zwei Fischen pro Tag einen dritten nehmen. Die Männer, die für den Mauerbau zuständig waren, mussten sich den Priestern gegenüber verpflichten, niemandem im Dorf davon zu erzählen, wie es hinter den Bäumen aussah, damit sie keinen der Rotlinge beunruhigten. Die Priester betonten immer wieder, wie sehr sie um die Sicherheit des Dorfes und den Frieden besorgt waren. Den Mauerbau verkündeten sie im Dorf als Zeichen des Schutzes des Dorfes vor der bösen, fremden Welt hinter den Bäumen. Auch als der Bau der Mauer beendet war, gruben die Männer stetig weiter und immer wieder wurden die schwächeren unter ihnen durch stärkere ersetzt. Das Gold wurde dann zu Schmelzöfen gebracht, welche die Rotlinge mit den weißen Steinen des Untergrunds auf Anweisung der Rotbärte gebaut hatten, und dort eingeschmolzen. Die Männer brachten das Gold danach zu ihren Hütten, damit die Frauen es dort weiterverarbeiten konnten. Sie hatten spitze Eisenstäbe, um das Metall zu formen und zu bearbeiten. Die Frauen durften aber nur im Auftrag der Rotbärte verschiedenste vorgegebene Ornamente anfertigen und am häufigsten die Gestalten und Gesichter der Rotbärte auf dem Gold anbringen. Diese goldenen Schmuckstücke wurden dann von den Frauen zur Leiter des Tempels gebracht und von den Priestern abgeholt. Keiner der Dorfbewohner wusste genau, was mit den angefertigten Schmuckstücken im Tempel geschah.

Die Bewohner des Dorfes waren über den Bau der Mauer sehr froh, denn nun fühlten sie sich noch sicherer und beschützt. Sie vertrauten den Rotbärten ganz und waren sich sicher, dass nichts Böses mehr von der fremden Welt außerhalb der goldenen Mauer zu ihnen vordringen konnte. Dies hatte aber auch zur Folge, dass die Rotbärte immer mehr Macht über die Rotlinge bekamen. Alle hielten sich strikt an ihre Anweisungen und fühlten sich bei den kleinsten Verfehlungen schuldig. Dann zeigten sie Reue und die Priester lasen ihnen wie immer aus der heiligen Schrift vor. Die acht heiligen Männer bestimmten gänzlich über das Dorf und die Dorfbewohner hatten sich an ihre Befehle zu halten. Die Herrschaft von Lemniskate gehörte ab dem Bau der goldenen Mauer ganz den acht Rotbärten. Und keiner der Rotlinge wagte es, dies zu hinterfragen.

Kam es aber doch dazu, dass sich Rotlinge weigerten, den Priestern zu gehorchen, kamen sie ins Exil. Dies war ein roter Kreis, der hinter einem Felsvorsprung am dem Tempel entgegengesetzten Ende des Dorfes aufzufinden war. Dorthin wurden die aufsässigen Rotlinge verbannt und durften nicht mehr zurück ins Dorf. Ein großes Unheil würde passieren, so stand es in der heiligen Schrift, wenn sie den Kreis wieder verließen und die rote Linie überquerten, ohne dass die Rotbärte ihnen ihr Einverständnis gaben. Die aussätzigen Rotlinge mussten so lange dortbleiben, bis sie kurz vorm Verhungern oder Verdursten waren. Dann bekamen sie die Erlaubnis der Priester, wieder zurück ins Dorf zu gehen, und sagten nie wieder ein falsches Wort.

Das Karamunkel-Efeu

In Lemniskate gab es außer den kargen dürren Bäumen am Dorfrand noch eine weitere Pflanze. Weder die Dorfbewohner noch die Priester wussten, woher sie kam. Nur diese eine Pflanze konnte unter den widrigen Bedingungen in Lemniskate überleben. Es war das giftige Karamunkel-Efeu.

Diese Pflanze wurde zu einer richtigen Plage für das Land der Rotlinge, denn sie wucherte an vielen Stellen im Dorf. Aber das war noch nicht alles, denn ein Unkraut wäre nur halb so schlimm für Lemniskate. Das Karamunkel-Efeu war eine robuste Pflanze mit zackig-ovalen, dunkelgrünen Blättern, kräftigem, haarigen Stiel und runden, tiefschwarzen Beeren. Die Beeren übten eine starke Anziehungskraft auf die Rotlinge aus. Wenn sie die Früchte sahen, war es, als würden diese zu ihnen sprechen: „Koste mich und du wirst die Süße am Gaumen, auf der Zunge und in deinem ganzen Mund schmecken! Ein Festschmaus wird es sein. Koste mich und du wirst es nicht bereuen!“ Das Fatale an diesem Kraut war, wenn es berührt wurde, schlang es sich sofort um das jeweilige Körperteil und verwuchs blitzschnell mit dem übrigen Körper. Darüber wussten die Dorfbewohner Bescheid, da schon einige dem Karamunkel-Kraut nicht hatten widerstehen können und eine Beere gepflückt hatten. Und dann war es passiert. Sofort nach der ersten Berührung schlang sich die Pflanze um sie und sie wurden von dem Efeu überwachsen, bis nichts mehr von ihrem Körper zu sehen war. Die Rotlinge verwuchsen mit der giftigen Pflanze, bis sie leblos waren. Die Pflanze ernährte sich von ihnen und dadurch konnte sie noch schneller wachsen und robuster werden. Die Beeren waren besonders giftig. Berührte man sie, zerplatzten diese und es flogen Samen durch die Luft. Diese befielen alles, worauf sie trafen. Es waren schwarze Körner mit Widerhaken, die sich überall festkrallten, wo sie landeten, und dort eine weitere Giftpflanze keimen ließen.

Die Bewohner von Lemniskate wussten nicht, wie sie das Kraut vernichten konnten. Sie hatten versucht, es zu verbrennen, aber dann war es in kürzester Zeit wieder mit doppelter Kraft nachgewachsen. Ausreißen konnten sie es nicht, da jede Berührung für sie mit dem Verwachsen endete. Da es in Lemniskate keine Bäume oder Sträucher mit Früchten oder guten Beeren gab, machte ihnen die schwarze Karamunkel-Beere noch mehr Angst davor, zum Hineinbeißen verführt zu werden. Deshalb überlegten die Priester, Schutzzäune um das giftige Efeu bauen zu lassen. Zäune aus Holzplatten, die so eng aneinander befestigt waren, dass kein Spalt den Blick auf das Kraut freigeben konnte. Das erleichterte das Leben der Rotlinge, aber es mussten immer mehr Zäune gebaut werden, da das Efeu weiterwuchs und sich im Dorf zunehmend ausbreitete. Die Angst der Rotlinge stieg und sie wussten nicht, wie sie sich vor dem Giftkraut retten konnten. Das Einzige, so dachten sie, was ihnen noch helfen konnte, war die Perle des Wissens. Die Rotlinge wollten diese unbedingt finden, denn – so dachten sie – die Perle würde ihnen zeigen, wie sie das Karamunkel-Efeu vernichten konnten.

Der Gefährte

Die knorrigen Bäume

Aurora hatte lange hin und her überlegt, ob sie sich trauen sollte, die Höhle zu verlassen. Ihre Eltern hatten ihr eindringlich verboten, sich von der Höhle zu entfernen, denn dann würden sie die Rotbärte holen. Immer wieder hatte sie an ihre Worte gedacht, aber die Sehnsucht nach Freiheit wurde immer stärker. Also erklärte sie ihrem Freund Giorgo, dass sie einen Ausflug machen werde und bald wieder zurückkomme. Der kleine Vogel wurde ganz nervös und begann aufgeregt vor sich hin zu zwitschern. Aurora versuchte ihn zu beruhigen, indem sie sagte: „Giorgo, ich weiß, was ich tue. Keine Sorge, ich bin bald wieder zurück. Ich muss es tun, sonst kann ich hier nicht mehr überleben. Ich verkümmere hier in der Einsamkeit. Alles, was ich brauche, ist nur ein Funken Leben!“ Giorgo nickte traurig mit seinem kleinen Kopf und flog wieder auf die eine Koralle am Eingang der Höhle zurück, die sein Lieblingsplatz geworden war. Bevor Aurora ging, hatte sie ihm noch aufgetragen, seine fröhliche Melodie zu zwitschern, damit die Dorfbewohner und die Rotbärte keinen Verdacht schöpfen konnten.

Aurora ergriff die Chance, als die Hitze zu Mittag wieder am stärksten war, und marschierte in schnellem Tempo los. Auf den Weg, den sie gehen wollte, hatte sie sich gedanklich schon vorbereitet. Sie wusste, dass sie an drei Hütten vorbeigehen musste. In einer davon wohnte eine alleinstehende Frau, in der zweiten ein älteres Paar und in der dritten eine Familie mit einer Tochter und einem Sohn. Die Kinder der Familie kannte sie, denn mit ihnen hatte sie früher als kleines Mädchen öfters gespielt. Als sie die drei Hütten im Laufschritt beinahe erreicht hatte, legte sie sich auf den Boden und robbte bis zur Leiter der ersten Hütte. Der weiße Boden war von der Sonne so stark erhitzt, dass ihre Haut wie Feuer brannte. Sie war kaum zu erkennen, da ihre weiße Haut und ihr Muschelkleid mit dem weißen Untergrund farblich verschmolzen und nur mehr das schwarze Knäuel ihrer Haare zu sehen war. Bei der ersten Hütte angekommen stand sie auf und schlich etwas gebückt unter den Fenstern vorbei. Ohne Probleme schlich sie bei den ersten zwei Stelzenhäusern vorbei und war schon in freudiger Erwartung, es geschafft zu haben. Doch bei der letzten Hütte musste sie plötzlich stoppen, denn sie hörte das Geschrei von dem Mädchen und dem Jungen. Diese spielten oben in der Hütte und hätten sie sofort entdeckt, wenn sie aus dem Fenster geschaut hätten. Also ließ sie sich sofort auf den Boden fallen und blieb einige Minuten lang steif und starr dort liegen. Als aber nichts geschah und die Hitze auf ihrer Haut unerträglich wurde, stand sie wieder auf und schlich bis zum Ende der Hütte weiter. Dort legte sie sich noch einmal auf den Boden und robbte schnell weiter, bis sie bei den knorrigen, dunklen Bäumen ankam. Völlig außer Puste setzte sie sich in den Schatten eines Baumes, lehnte sich an und ruhte sich aus. Sie wusste, dass dorthin niemand kommen würde. Gefährlich konnte es nur werden, wenn die Rotbärte entdeckten, dass sie nicht mehr in der Höhle war. Denn dann würden sie nach ihr suchen und auch die Bewohner zu den Bäumen schicken, um sie dort zu finden. Die Priester wussten ja, wie gerne sie dort als kleines Mädchen gespielt hatte. Aber so schnell würde sie schon niemand vermissen. Auch hatten die Rotbärte bis jetzt nicht ein einziges Mal nach ihr geschaut. Dennoch wollte sie sich nicht zu lange ausruhen, denn trotz der Vorkehrung, die sie mit Giorgo getroffen hatte, konnte sie sich nicht sicher sein, dass man nicht prüfen würde, ob sie nach wie vor in der Höhle war.

Also lief sie zwischen den knorrigen hohen Bäumen weiter, die sie wie ihre Westentasche kannte, bis sie zu ihrem Lieblingsbaum kam, bei dem sie als Kind immer gespielt hatte und in dessen Nähe sie sich die Narbe oberhalb ihrer Brust durch die Pflanze in der Mauer zugezogen hatte. Dort bei dem verdorrten, alten Baum fühlte sie sich wohl und sie kletterte auch sofort in sein Geäst. Hoch oben konnte sie die Freiheit spüren und der Wind streichelte ihre Haut. Die Äste waren wie eine Schaukel, auf welcher sie auf- und abwippen konnte. Hoch oben am Baum konnte sie ein Stück über die goldene Mauer spähen und ein wenig von dem fremden Land erkennen. Sie sah eine unendliche Weite eines weißen Glanzes, der mit dem blauen Himmel zu verschmelzen schien. Weit entfernt meinte sie immer wieder farbige Punkte auszumachen, die sich bewegten. Da sie nicht mehr erkennen konnte, wandte sie enttäuscht ihren Blick ab. Dieser Baum war der höchste unter den verdorrten Bäumen und nur auf diesem konnte sie etwas von der Fremde erspähen. Das hatte sie als junges Mädchen, als sie oft hierherkam, um zu spielen, bereits ausgekundschaftet. Schon damals hatte sie neugierig über die goldene Mauer geblickt, aber auch nicht mehr erkennen können. Nur ein Gedanke überkam sie jedes Mal in diesen Momenten auf ihrem Baum: Dieses fremde Land konnte nicht so böse sein, wie es die Rotbärte erzählten! Zumindest fühlte es sich für sie nicht so an.

Dort oben auf ihrem Baum fühlte sie sich frei und konnte sich noch besser in die Fremde träumen. Sie saß auf einem etwas dickeren Ast und lehnte sich an dem knorrigen Stamm an. Dabei schloss sie die Augen und spürte die Sonne und den Wind auf ihrer Haut. Fast wäre sie eingeschlafen, doch plötzlich schreckte sie auf. Beinahe hätte sie vergessen, dass sie nicht allzu lange bleiben konnte. Die Angst war zu groß, dass die Rotbärte sie suchen würden. Sie musste zurück in das trostlose Leben der einsamen Höhle, denn sonst würden sie ihre Abwesenheit bemerken. Das Einzige, worauf sie sich freute, war Giorgo, ihr treuer Begleiter und Freund. Nur schweren Herzens konnte sie sich von ihrem Baum trennen und sie hatte Tränen in den Augen, als sie hinunterkletterte. Schnell rannte sie zurück durch den knorrigen Wald, schlich an den Hütten vorbei und robbte zum Schluss zu ihrer Höhle. Sie musste sich beeilen, denn die Mittagshitze ließ langsam nach und die Bewohner würden sich bald auf den Weg zu den Wasserstellen begeben, um Fische zum Abendessen zu holen. Aurora kam gerade noch rechtzeitig in ihrer Höhle an, bevor die ersten Dorfbewohner aus ihren Hütten aufbrachen.

Diesen Ausflug machte Aurora nun jeden Tag um die Mittagszeit und sie genoss es, die Freiheit zu spüren. Dann jedoch kam es zu einem Vorfall. Wieder schlich sie unter den Fensterbänken durch und als sie bei der letzten Hütte ankam, hörte sie auf einmal ein leises Gelächter hinter sich. Erschrocken hob sie den Kopf, drehte sich um und sah ihn auf der Leiter kopfüber hängen, mit seinen Beinen in den Leitersprossen verkeilt. Der Junge hatte sie entdeckt und Aurora blickte direkt in sein lachendes Gesicht. Es war ein schelmisches Lachen und sie bekam Angst. Früher hatten sie oft zusammen gespielt, bis seine Eltern ihm den Kontakt mit ihr verboten hatten. Die Angst packte Aurora wieder und sie warf sich blitzschnell auf den Boden. Schnell robbte sie weiter, bis sie die Bäume erreichte. Dort wartete sie darauf, dass der Junge seine Eltern über ihren Ausflug informierte. Zitternd kletterte sie auf einen der knorrigen Bäume und harrte dort aus. Als jedoch die Zeit verging und nichts passierte, schlich Aurora wieder zurück in ihre Höhle. Erleichtert kam sie dort an und schlief vor Erschöpfung sofort auf ihrem Fell ein. Ab diesem Zeitpunkt wollte sie den Ausflug zu ihrem Baum nicht mehr riskieren, denn sie fürchtete, dass der Junge ihren Ausflug verraten hatte und die Rotbärte nur darauf warteten, sie auf dem Weg dorthin zu erwischen. Also verharrte sie ab diesem Tag nur mehr in der Höhle und wagte sich nicht mehr hinaus.

Der Weg in die Fremde

Jeden Abend trafen sich die Rotbärte im Tempel und berieten über die Zukunft von Lemniskate. Dabei unterhielten sie sich laut und waren aufgeregt, denn das Karamunkel-Efeu verbreitete sich immer rasanter. Die Dorfbewohner flehten sie an, endlich eine Lösung zu finden. Das giftige Kraut hatte in letzter Zeit einige der Rotlinge verschlungen und sie hatten große Angst davor, dass sie bald alle davon vernichtet werden würden.

Als die acht heiligen Männer eines Abends in ihrem Tempel wieder einmal über eine Lösung des Problems sprachen, sahen sie zufällig Aurora im silbernen Mondlicht hoch oben sitzen. Sie saß völlig ahnungslos auf ihrem weißen Korallenbogen in der Sternennacht. Ihre Beine hatte sie angewinkelt und den Kopf auf ihre Knie gelegt. In dieser Position blickte sie nachdenklich und verträumt in die Richtung des leuchtenden Mondes. Es war eine Vollmondnacht und sein Leuchten hüllte Aurora in einen silbernen Schimmer. Der Vogel saß bei ihren nackten, kleinen Füßen und hatte den Kopf in seine Federn eingegraben. Er schien zu schlafen und die Stille der Nacht umgab beide. Eine seltsame Stimmung entstand bei den Priestern in diesem Moment und sie konnten ihren Blick kaum von ihr abwenden. Und da wussten sie es. Sie wussten, dass Aurora die Lösung ihres Problems war. Aurora musste weg. Dadurch würden sie die Rotlinge besänftigen und zuversichtlich stimmen. Alles, was sie brauchten, war ein guter Plan. Zufälligerweise wurde Aurora am nächsten Tag 16 Jahre alt. Ihr Geburtstag erschien den Rotbärten als guter Zeitpunkt. Die Priester unterhielten sich noch über Stunden darüber, bis endlich die Sonne aufging und der Morgen anbrach.

„Kraaahhhh…“, krächzte sie. Eine Krähe saß auf einem vertrockneten Feld und Aurora konnte sie aus der Ferne erkennen. Düster war es und wolkenverhangen. Plötzlich waren die Wolken nicht mehr nur am Himmel, sondern auch um sie herum. Sie irrte umher, denn sie konnte nichts mehr erkennen. Auf einmal hörte sie das Krächzen von Hunderten Krähen. Sie konnte sie überall um sich herum hören und ihre Flügelschläge spüren. Die Laute bedrohten sie immer mehr, bis sich das Krächzen zu einem einzigen Laut verband. Einem Aufschrei. Es war ein greller und durchdringender Schrei, der ihr durch Mark und Bein ging. Panik überkam sie und sie wollte nur noch weg. Plötzlich verstummten die Krähenlaute wieder und es war nichts mehr zu hören. Ihr wurde schwindelig und sie konnte ihren Körper nicht mehr spüren. Erstarrt und wie gelähmt stand sie im dichten Nebel, unfähig sich auch nur einen Zentimeter zu bewegen. Doch auf einmal lichtete sich der Nebel und alles um sie herum wurde heller. Und da stand sie vor ihr. Eine wunderschöne Frau mit silbernen, langen Haaren, die fast bis zum Boden reichten. Ihr zierlicher und zerbrechlicher Körper war mit den Blättern des Karamunkel-Efeus bedeckt. Sie hatte ein strahlendes Lächeln und ihre Augen glänzten in einem zarten Himmelblau. Aurora war überwältigt von der Schönheit und dem Strahlen, das von dieser Gestalt ausging. Es schien, als würde sie mit diesem Lächeln zu ihr sprechen, mit den Worten: „Du weißt, was zu tun ist.“ Aurora fühlte sich zu der Frau hingezogen und vertraute ihr. Dann sah sie, dass sich die Lippen der seltsamen Frau wirklich bewegten und sie einen Satz zu formen versuchte. „Auuuuuroooooraaaaa, du weißt es, sonst bist du verloren!“, stieß sie gepresst hervor und verstummte dann. Ihr Blick wurde plötzlich ernst und eindringlich. Ihre Augen weiteten sich und sie presste ihre Lippen noch einmal zusammen, so als würde sie wieder einen Laut von sich geben wollen, aber es kam nichts mehr. Die Frau war verstummt und Aurora konnte nichts mehr erkennen, denn der Nebel zog wieder auf.