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Ein Mensch in einer Umbruchphase seines Lebens. Sein Entschluß, woanders neu anzufangen, lässt ihn bei einem sehr günstigen Hauskaufangebot zuschlagen. Er siedelt um in eine friedlich wirkende, ruhige Landschaft. Er erwartet von sich, wieder Boden unter die Füsse zu bekommen. Doch dann fangen die Träume an, der Vertreter eines Volkes aus drei Zentimeter grossen, ameisenähnlichen und doch auch menschlich wirkenden Wesen deponiert Geschichten in seinem Geist - nicht, ohne etwas von ihm zu erwarten. Der Mensch, er nennt sich Fred, wird hin- und hergerissen zwischen Schlaf- und Wachzuständen, zwischen dem, was er Traum und Wirklichkeit nennt. Doch die Grenzen beginnen zu verschwimmen. Wird Fred eine Trennung vollziehen und das sogenannte wahre Leben leben? Oder wird er sich entscheiden, das Volk der Blaugraugrünen und ihrem grünen Prinzen in sein Leben zu integrieren? Der vorliegende Band ist der Beginn der Grüne-Prinzen-Trilogie - und so werden diese Fragen den Leser noch etwas begleiten.
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Seitenzahl: 209
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Entschlüsselte Teppichlautmalerei
Umgebung von Uoro
Die Wiese
Fred: Kontakt
Begegnung
Fred:Tag 1 – mittags
Der Sammler
Fred:Tag 1 – nachmittags
Der Aufbruch
Fred:Tag 1 – abends
Die Suche
Fred:Tag 2 – vormittags
Rückkehr
Fred:Tag 2 – nachmittags
Die Meisterschüler
Fred:Tag 3 – mittags
Meister
Aufstand
Fred:Tag 4 – abends
Wachter
Uoro
Fred:Tag 7 – morgens
König Hartmut I
Kennath
Botschafter
Fred:Tag 12 – morgens
Ralft:Null – Stromausfall
Fred:Tag 14 – vormittags
Lea erwacht
Fred:Tag 17 – vormittags
Baum
Fred:Tag 17 – früher Nachmittag
Fred:Tag 17 – spätnachmittags
Fred:Tag 17 – nachts
Im großen Wald
Fred:Tag 21 – nachts
Die Reise des grünen Prinzen – der Auftrag
Fred:Tag 23 – vormittags
Die Reise des grünen Prinzen – der Raum
Die Reise des grünen Prinzen – Abschied
Fred:Tag 26 – morgens
Abspann
Danksagung
Anhang/Bildnachweis
Die Landschaft
Der Bussard glitt majestätisch über die weite, von Hügelketten eingerahmte Flussaue. In weiten Kreisen, die Aufwinde des warmen Bodens nutzend, zog er Bahnen in den mit weißen Wattewolken geschmückten Himmel. Die Sonne wärmte sein Gefieder, während der Kopf immer nach unten gerichtet war. Er suchte den Boden ab, die Acker- und die Wiesenflächen – wobei er sich besseres Beuteglück auf den Äckern versprach: Der Senf blühte zwar in leuchtendem, rapsgleichen Gelb, aber der Boden, auf dem sich die kleinen Mäuse, seine Lieblinge tummelten, war für ihn sichtbar. Mit einem heiseren Schrei stürzte er sich dem Feld und seinem anvisierten Ziel entgegen – seine zwei Jungen, die zu dieser Jahreszeit das Nest schon verließen und sich jetzt auf den Ästen herumtrieben, würden sich um diese Leckerei prügeln.
Hätte der Raubvogel nicht ausschließlich die blühenden Felder ins Visier genommen, sich vielleicht auf die Wiese und das Gartengrundstück daneben fokussiert, wären ihm vielleicht die kleinen, etwa drei Zentimeter großen Wesen aufgefallen, die einzeln oder in Gruppen durch die Gräser zogen. Nicht zu nah an dem Bauernhof mit angebauten Stallungen und einem hübschen Gemüse- und Sommerblumengarten, auch weiter entfernt von der Siedlung in der Flussbiegung. Und hätte er diese merkwürdigen Gestalten noch länger beobachtet, hätte er sehen können, dass sich diese Trupps und Einzelwesen kreisförmig um eine alte Eiche hin verteilt hatten – wohl ihrem Rückzugsraum.
Vor langer Zeit war die Eiche der Schattenspender einer Kuhweide gewesen – die massigen schwarzweißen Körper hatten sich an seiner Borke gerieben, in dem einen Sonnenbrand verhütenden Dunkel gelegen und wiedergekäut, von ihren Ästen geknabbert. Aber das war lange her – inzwischen gab es nur noch wenige grasende Kühe auf dem Bauernhof nahebei – die Weide war nun kleiner und weiter nach hinten verlegt worden. Der Baum bildete nach wie vor den Bestandteil einer Begrenzung, doch statt Stacheldrahtzaun – der dem Baum vor vielen Wachstumszyklen in die Borke geschnitten hatte und von dessem ehemaliges Vorhandensein noch immer Spuren in den vernarbten Verwachsungen angezeigt wurde – verlief nun ein Lattenzaun hinter seinem Stamm entlang, der eine große Zierrasenfläche begrenzte. Die Artenvielfalt auf dieser Rasenfläche war sehr übersichtlich, im Gegensatz zu dem Streifen zwischen Zaun und dem Feldweg, der auf der Baumseite des Zaunes vorbeiführte, in Richtung einer gedachten Verlängerung des Zaunes sich entfernte. Rote, blaue und gelbe Blumen standen in diesem Streifen, einige Hecken und dann zunehmend Wegesrandpflanzen. Kleine Erdbeeren waren zwischen den Moosen zu erkennen, Brombeeren als stachlige Vertreter der Buschfraktion; es gab Haselnüsse, Johannisbeeren, Vogelbeeren und mehr. Während auf der Zierwiese nur vereinzelt ein Löwenzahn sich zu bilden wagte – der dann auch nicht lange dort stand – zeigten sich vor dem Zaun in wechselnder Folge und vom Frühjahr bis in den Herbst hinein das zarte Wiesenschaumkraut, vielleicht sogar ein verirrter Klatschmohn, die das Herz aufschließenden blass-gelben, hängenden Blüten der Schlüsselblumen oder auch die Astern.
Mein Geist, der den Bussard begleitet hatte, steigt nun hinab, hinab zwischen die hohen Halme verschiedener Gräser, er sinkt herab zu der Krautschicht, in der wiederum blaue Tupfer von Gundermann oder Ehrenpreis aufleuchten, lässt sich plumpsen auf die weichen Moospolster, dessen Weichheit von samenverschleudernden Beuteln nur unwesentlich gestört wird.
Hier sind wir also, irgendwo in der Nähe eines Flusses, in einem stillen, meist nur von Vogelgezwitscher erfüllten Märchenland auf einem schmalen Streifen Grund auf der wilden Seite des Zauns.
Ich lausche: War da nicht ein Wispern?
Der Boden, auf dem ich mich zusammengezogen habe, ist in der Breite von wenigen Zentimetern fast nackt und bloß. Nur partiell haben einige der genügsamen Moose einer Dauerbelastung standgehalten. Dies ist ein vielbegangener Weg, erkenne ich, nun doch etwas aufgeregt – und das Wispern wird lauter!
Zwei der aus der Luft schon betrachteten Wesen kommen langsam auf mich zu. Eines zieht eine Last, ja, tatsächlich zwei Kirschen auf einem Schlitten. Ich kombiniere das Aussehen der Wesen sofort mit den Spuren auf dem Weg: Die Riefen im Boden passen zu den Kufen des Schlittens, die punktförmigen Eindrücke passen zu den Zehen der Gestalten – drei vogelartige Zehen vorne, ein Sporn hinten.
Die beiden Wesen werden von dem links und rechts aufragenden Bewuchs überragt. Im Mittel sind die Gräser und Kräuter etwa doppelt so hoch, die zwei wandern in einem grasig-grünlichen, nur punktuell von Sonnenlicht durchbrochenen Halbschatten in meine Richtung. Auf streichholzdünnen Beinen, die in einem faserigen Gespinst verschwinden. Dieses nebelgraue Gespinst geht bis zum Kopfansatz, lässt auch Unterärmchen sehen – mit einer ebensolchen Anordnung der Finger an den Händen wie unten die Zehen an den Füßen. Der Kopf! Huch, da sind Augen! Augen, mit Lidern und Pupillen! Verkleinert, menschenförmig sogar! Doch alles andere wirkt fremd: Eine platte Nase, die nahtlos in eine Mundöffnung übergeht. Eine lange, schmale, spitze Zunge schnellt manchmal daraus hervor, eine flächige Kauleiste ist dann oben und unten zu sehen. Seitentaschen befinden sich links und rechts dieser Mundöffnung, im Aussehen verhornten Schnitten ähnlich. Mich fröstelt es, obwohl ich nur aus Luft bestehe. Diese Augen! Sie zwinkern sogar erschreckend menschenähnlich!
Und die Ohren. Sie sind grazil. Hörmuscheln sozusagen, mehrfach turmschneckenartig gedreht, dazwischen ein Paar Fühler. Lange Stiele, an Schneckenfühler erinnernd, mit ebensolchen kugeligen Endungen und dort einem Sehpunkt. Ein lockerer Haarbewuchs bewaldet die sonst nackten, grünlich schimmernden Hautpartien zwischen geschneckten Fühlern und turmschneckigen Hörmuscheln. Die Haare des Linken sind blond, die des Anderen eher rötlich – und die Haare weisen sogar eine Art Frisur auf.
Das Wispern verstummt. Beide bleiben stehen, ihre Fühler schwenken in meine Richtung. »Aber ich bin doch unsichtbar...«, denke ich erschrocken – und ich habe Glück: Nach einem Moment der Stille setzt das Gewisper wieder ein, der blonde Schlittenzieher und der rothaarige Begleiter, der auch etwas trägt, sehe ich jetzt, setzen ihren Weg fort.
Mein Geist hatte sich vorsichtshalber vom Weg abseits gelagert, er hing zwischen einem Bündel Grashalme (wie ein Spinnennetz, dachte ich) – und ja, obwohl ich nicht zu sehen war, zuckten die Fühler doch wie Sensoren hin und her. Und auffällig oft in meine Richtung während der Passage.
Nun konnte ich das Hinterteil erkennen, welches aus dem Hellgrau dunkel herauslugte. »Das Hellgraue – das ist Bekleidung...«, erkenne ich plötzlich erschaudernd. »... Insekten, die Klamotten tragen?«
Ich sollte fern sein jeder Verwunderung – hatte ich gedacht. Doch hatte ich ja schon Gefühle, das Erschrecken vorhin zum Beispiel, gezeigt. Oder das Erschaudern gerade eben, als ich, als mein Geist erkannte, dass die Wesen bekleidet waren. Nun fällt eine weitere Eingebung auf mich, auf uns herab: Die beiden kommunizieren miteinander. Und zwar in langen, melodiösen Tonfolgen! Ich wollte mehr hören, mehr erfahren - und schwebte hinter den Insektenartigen her.
Ein Baumstamm kommt in Sicht, mächtig, die ganze sichtbare Breite ausfüllend. Das muss die alte Eiche sein, die ich vorhin, auf dem Bussard hockend, aus den Lüften gesehen hatte. Bis eben hatte der Grasvorhang den Blick auf den Baum verwehrt, aber nun ragt er himmelhoch empor, bildet einen Schlusspunkt des Weges mit einer Sackgasse aus Borke mit Riefen und Löchern, Schründen und Spalten. Nur wenige Moose und einzelne Grashalme halten sich auf dem zum Stamm hin aufsteigenden Boden drumherum, zu finden sind hier meist einzelne letztjährige Blätter der Eiche in braunverfallenden Tönen.
Wesen im Gras
Aus einer gut hinter einer Laubansammlung verborgenen Öffnung traten den beiden Transporteuren nun zwei ähnlich aussehende Individuen entgegen. Ihr Gewand war laubbraun, aber sonst von gleicher Struktur der hellgrauen Bekleidung. Sie hatten eine Kopfbedeckung auf, aus denen die Ohren und Fühler herausragten, und je eine Kiefernnadel mit einem Klumpen am unteren Ende in ihren Greifhänden. „Tütdeliditt Kanyu...“, flötete der Eine mit einer Nuancenerhöhung im hinteren Teil. „... Ugagehortz Heimo küdiretiddü“, antwortete der rothaarige Ankommende. „Kanyu twe küdiretiddü“, rief der zweite Behelmte nach hinten. Und aus dem Loch erscholl „küdiretiddü“ und „Kanyu“ und einige Laute mehr.
Eingang zur Stadt
Mein Geist lernt schnell. Schon verknüpfen sich sinnlos erscheinende Flötentöne zu einem System, schon hat er erste Bedeutungen identifiziert. Doch was nun kam, hatte ich in meiner Freude nicht erwartet: Die Unterhaltung war noch weitergegangen – und plötzlich waren vier Fühlerpaare genau auf meine Position gerichtet. „W-Krohoman Tohoso“, wurde in das Loch gerufen – und die Fichtennadeln vor dem Loch verschränkt. Die vier Insekten waren in der Höhlung verschwunden – und vor die Fichtennadeln senkte sich ein braunrotes Eichenblatt herab. Nichts war mehr zu sehen – außer dem zurückgelassenen Schlitten mit den beiden Kirschen darauf.
Hatte wirklich einer »Gefahr« gerufen? Mein Geist scheint schon einige Bruchstücke simultan zu übersetzen. Ich geisterte unschlüssig herum, dachte schon daran, abzuheben und meinen träumenden Körper aufzusuchen, als eine Stimme neben mir erklang:
»Hallo Fremder, ich grüße Dich. Was machst Du hier, an unserer Stadt, an unserem Baum, in unserem Reich?«
Ich erschrecke, fühle mich ertappt, scanne die rückwärtige Umgebung, die ich aufgrund meiner Fixierung auf das Loch vernachlässigt hatte, registriere eine Gestalt, die im Schatten überhängenden Grases steht, ausserhalb des Baumkreises, aber nicht weit von mir entfernt. Ein weiteres Drei-Zentimeter-Wesen, doch es wirkt größer. Älter. Weiser. Imposant ist ein feiner, mit Verzierungen geschmückter Stab, obendrauf ein mit Schnürungen fixierter kleiner Kristall. Seine Kleidung ist bodenlang, ebenfalls verziert mit farbigen Streifen; sie ist mehrschichtig: Über dem Unterkleid ist eine Jacke, darüber ein von der linken Schulter zur Taille verlaufender Schal, um die Taille eine lila eingefärbte Gürtung. In dem Gürtel stecken kleine Utensilien: Behälter, Stöckchen, Nadeln – und ein kleiner Fetzen Papier.
»Ich grüße euch! Ich bin ein Mensch, der Geist eines Menschen, ein Energieknoten in der Unendlichkeit dieser Wiese. Mein Körper träumt in einem Haus am See, ich bin dort neu zugezogen, erkunde und ertaste meine Umgebung. Ich war verwundert über die Aktivität im Gras, die ich aus den Lüften wahrgenommen habe. Was ist das hier? Wer seid ihr? Ihr tragt Kleider? Ihr seht mich?«
»Wir sind die Blaugraugrünen. Und ich bin ein Meister. Wir haben unsere Erfahrungen mit euch GROSSEN und wir müssen euch daher misstrauen. Nicht, dass ihr uns direkt Übles wolltet – meistens – doch euer Umgang mit unserer Umgebung ist uns nicht zuträglich. Aber Du hast uns gefunden, so werde ich Dir vorerst trauen müssen.«
»Ich bin nur einer von vielen. In meiner Nachbarschaft wohnen eine Architektin, ein Politiker, ein Bauunternehmer, zwei Designer und ein Lebemann. Die Häuser am See sind eigentlich nur Zweitwohnsitze, Ferienhäuser, und die meisten meiner Nachbarn sind nicht oft da, verbringen oft nur wenige Wochen der Sommerferien mit Partner und Kindern oder mit Freunden in dieser Gegend. Meistens sind sie in der großen Stadt, verdienen dort Geld, intrigieren, entwickeln und entwerfen. Ich glaube, ich schlafe gerade, träume vielleicht nur - aber ich freue mich, hier im Traum auf eine Art zu stossen, die anscheinend mit mir spricht. Wir fühlen uns oft alleine auf der Welt, die wir Erde nennen, und im Universum. Ich fühle mich oft alleine auf meinen geistigen Streifzügen. Ihr seid mir unbekannt, nie habe ich von euch gehört, was seid ihr? Ach ja, ich nenne mich Fred.«
»Du stellst Fragen, Fred. Sei versichert, Du träumst uns nicht nur - wir existieren auch in Deiner Wachwelt. Du bist am Anfang deiner Wahrnehmung – hast Du schon gehört, wie die Schnecken über eure Art denken? Oder die Bäume? Die Feen, die Elfen, alle anderen Lebewesen, denen Du noch keine Intelligenz in eurem Sinne zusprechen möchtest? Ich kann Dich heranführen an unser Volk, einführen in unser Denken, in die kleinen Geschehnisse der Welt, wenn du lernen möchtest. Man nennt mich Tohoso, und ich erzähle Dir die Geschichte unserer ersten Begegnung, so wie es mir übermittelt wurde, wenn Du möchtest. Ja, Du möchtest.«
Und das Bild einer ersten Geschichte stürzte auf mich ein...
Marker-Erkunderin Lara verharrte auf der Stelle. Was war das? Es hatte nach einem dumpfen Aufschlag geklungen – in unmittelbarer Nähe! Sie lauschte, wartete auf ein nachfolgendes Geräusch – nichts. Lediglich das Summen einer Fliege, das geschäftige Brummeln einer Hummel, das entfernte Krispel-Kraspel einiger Ameisen, nichts Ungewöhnliches also. Lara entschloss sich, nicht länger zu warten und bahnte sich ihren Weg durch das sie überragende Gras, vorbei an aus kugeligen Formen zusammengesetzten Hügeln, vorbei an senkrecht in die Tiefe führenden höhlenartigen, aber kreisförmigen Löchern. Trotz ihrer Neugier und gespannten Erwartung bewegte sich die Marker-Erkunderin vorsichtig, mit allen Augen und Fühlern ständig weitwinklig bis rundum spähend. Ja, sie musste vorsichtig sein hier in der Außenwelt, unzählige Gefahren lauerten auf einen unachtsamen Untertanen.
Lara war schon erfahren, fertig ausgebildet in der Kunst des Suchens und Markierens, soweit es ging vorbereitet auf alle möglichen Eventualitäten. Schon länger war sie alleine unterwegs, hatte sich in mehrlagiger Spinnwebgaze dick eingepackt Wege im kalten Weiss gebahnt, welches eine Orientierung sehr schwer machte und die Konturen verschwimmen ließ. Auch bei fast unerträglicher Wärme, nur manchmal gemildert durch eine über das Gras streifende kühlende Brise. Oder auch in Zeiten, wo die Netze der achtbeinigen Lauerer schillerten unter Unmengen großer Tautropfen, wo es Früchte förmlich hagelte und man mit dem Markieren und Reservieren gar nicht nachkam!
Die schönste Zeit war die Zeit, wo Schmetterlinge über den Wiesen tanzten und große Blüten sich öffneten. Die Zeit, wo Bienen nach langer Ruhepause begierig den frischen, süßen Pollen sammelten und die Schmetterlinge in Konkurrenz zu dem Volk des grünen Königspaares den Nektar saugten. Da hatten die Marker viel zu tun, mussten Kreise mit dem Bannmittel ziehen, was jeder Marker-Erkunder mit sich trägt, um die fast doppelt so großen Kollegen aus der Flügelwelt vom Genuss aus ihrer Blüte abzuhalten. Auch die Läusemilch war zu dieser Zeit besonders lecker, schossen doch die frischen Pflanzensäfte in die Höhe, aus Knollen und Wurzelwerk in die schnell emporstrebenden Stängel und Blätter. Und auch beim Gewinnen dieser Milch war umsichtiges Vorgehen erforderlich: Die Lausbauern sahen es gar nicht gerne, wenn fremde Milchzapfer auf den Hinterleib der Laus drückten und ihr den begehrten Tropfen entlockten. Helfen konnte aber das »Ameisen-ID«, der identifizierende Geruch, ohne den niemand es wagte, die Stadt zu verlassen. Der Duft, den jede Ameise der umliegenden Baue erkannte, und den sich jeder, der hier draußen zu tun hatte, an die Fühler rieb.
Mit solchen Gedanken, die Lara hin und wieder einen träumerisch-wehmütigen Blick in die großen, glänzenden Hauptaugen trieben – ach, das war eine schöne Zeit, die Zusammenkunft mit dem Partner ihrer Wahl, vorzugsweise ebenfalls einem Erkunder – aber auch der Sammler letztes Mal war nicht schlecht gewesen? Mit ihm hatte sie ein besonders schönes Kind abgelegt, es gesäugt und es nach wenigen Hell-Dunkel-Phasen im Außen den Kinderaufzüchtnerinnen überantwortet. Leli – so hatte sie das Männchen genannt, fiel inzwischen auf durch besonders schlaue Nachfragen, die schon öfter für Gesprächsstoff in der Stadt tief im warmen Bauch des vielgestaltig braunen Elements gesorgt hatten. Aus ihm würde bestimmt mindestens ein sehr guter Erkunder werden, oder sogar ein Mitglied des NEF – den Erfindern von Nachwuchs ErFindet – die allerlei sehr nützliche Dinge auch für den praktischen Gebrauch im Außen zur Fertigungsreife gebracht hatten. Beispielsweise die Illusionsblase, die für jeden Betrachter ein Schneckenhaus aus ihrem Rucksack machte und so für mehr Sicherheit sorgte.
>Oje – ich habe die Illusionsblase nicht eingepackt!<, erschrak Lara bei sich – >kein Wunder, ich bin ja auch so schon schwer bepackt, mit dem Glühpilzkasten, den Duftdöschen, den Markierungsstecken und der Luftabwehr gegen die monströs großen Exemplare aus der Flügelwelt – dem Ausschnitt aus dem harten Chitinpanzer eines gelb-schwarz gestreiften Kartoffelkäfer-Flügeldeckels. Und dann noch mit dem Rucksack, der ein wenig Proviant, einen Tropfen Wasser und die Kopfhörer-/ Mikrofon-Anlage (auch ein Produkt aus der NEF-Ideenschmiede) beinhaltetem Apropos schwer bepackt, stark schnitten ihr die Blattstängelriemen des Rucksacks in die Schultern, >die von der NEF sollten doch mal gescheite Tragemöglichkeiten entwickelnd Und dabei war die Rückentrage jetzt relativ leicht – denn der Quadrant, in den sie für den heutigen Erkundungsgang geschickt worden war – T1T2 – war ein relativ ereignisloser Quadrant mit wenigen anderen Pflanzen als dem gleichförmig auf eine Höhe gestutzten Gras. Ein Quadrant, in dem man nicht mit herunterfallenden Dingen zu rechnen braucht – normalerweise nicht!
Was Laras Gedanken wieder zu ihrem gegenwärtigen Zielpunkt führte: Was war da gefallen? Es konnten nur noch wenige Halme zwischen ihr und dem Objekt liegen. Vorsichtig fuhr Sie ihre Fühler aus, die es ihr ermöglichten, über das hohe Gras zu schauen. Die Nebenaugen waren nicht so klar schimmernd und ausdrucksstark, eher nur auf kurze Distanzen klarsehend, aber für Kontraste und auch für den sich da vorne links aufleuchtenden Farbtupfer in knalligem Rot ausreichend.
Nur wenige Schritte in Richtung dieses Kleckses offenbarten mehr Einzelheiten: Ein kastiges Etwas mit runden Rädern, ja, Räder hießen diese schwarzen, außen recht weichen und leicht geritzten Formen! Lara erinnerte sich an ihre Jugendzeit, in der die Lehrpersonen Tafelbilder von Dingen der GROSSEN gezeigt hatten, und auch Tafelbilder der Lautmalereien, die zusammengesetzt fast ein jegliches Ding benennen konnten – eine wahrhaft gigantische Erfindung!
Das kastenförmige Etwas – Bus, nennen die GROSSEN das - erinnerte sich Lara, war so lang, dass Sie sich ausgestreckt zwischen zwei der Räder hätte legen können. Und so hoch, dass Sie nicht über die Oberseite schauen konnte. Zwischen all dem Rot befand sich ein nur durch wenige rote Metallstreben unterbrochenes transparentes Band – Fenster – ja genau! Das erkannte die Markerin, als sie das Objekt umrundete. Ein wenig war es im weichen Boden versunken, dem niedrigen aufgeworfenen Wall nach zu urteilen, hatte es sich eher in das vielgestaltige Braun gebohrt. Zweifellos der Verursacher der wahrgenommenen Erschütterung, zweifellos das Ziel ihres Marsches. Rot war das Dach, rot die Seiten, allerdings gab es Abschabungen der Farbe, im Bereich der rechten Tür und des Seitenspiegels (?). In letzterem konnte Lara ihr ansprechendes Gesicht betrachten: Dunkles, gelocktes, schulterlanges Haar, Grübchen, einen leicht geöffneten Mund mit weißen, ebenmäßigen Hornplatten. Links und rechts der schimmernden Lippenfalten die Backensäckchen, in deren Spalten die sich jetzt eingefahrenen Fresswerkzeuge (zerteilen und dem Mund zuführen könnende Mandibeln) befanden. Ihre großen, braunen, ausdrucksstarken, leicht feucht schimmernden Hauptaugen, umrahmt von leicht gebogenen Wimpern in gebräuntem Umfeld. Ihre leicht spitzen Hörorgane, wie bei allen ihres Stammes leicht turmschneckenartig geringelten Ohren und die jetzt eingezogenen Fühler, mit der Flügeldecke zwischen diesen.
Die Seitentür hätte sich öffnen lassen sollen – so die Aussagen der Lehrpersonen damals. Allerdings sollten diese Autos(?) eigentlich unermesslich groß sein, eben derart gewachsen, dass die GROSSEN in diesen Platz nehmen konnten. Ein Babybus(?) also, entflohen aus seinem Kindergarten, einsam und alleine? Lara beugte sich hinab, schaute in die Lücke zwischen Unterseite und Boden. Auf der Unterseite standen Buchstaben, Lara stupste das Baby abermals an und erhielt keine Reaktion, beugte sich tiefer und entzifferte diese. M... A T... C H... Matsch? Nein, da fehlte ein Lautmaler-Element. Ein unbekanntes Wort – aber noch nicht zu Ende. B..., buchstabierte sie weiter, 0... und nach ein wenig in Erinnerungen kramen ICKS.... »Irgendwo da draußen wartet eine Mutter auf Matchboix – die Arme!« Noch einmal berührte sie den Körper. »Kalt ist es schon, das Tierchen. Und hart!«
Lara und der Babybus
In dem Moment erzitterte das Baby, aber nicht von sich aus: Auch der Boden vibrierte, kleinere Krümel, etwa unterschenkelgroß, lösten sich von dem aufgeworfenen Wall. Und ein Dröhnen, eine Abfolge von immer näher kommenden Aufschlägen! »Schnell!«, keuchte Lara und hockte sich hinter das Auto. Ein Stampfen und ein starkes Erbeben sehr nahe an ihrer Deckung, ein Schatten, der sich über sie legte. Großes Dunkel, ein Schwall von Wärme in der sowieso schon warmen Luft. Und dann etwas Helles, was schnell näherkam, fünf mehrteilig gebogene Stecken entfaltend, sie und Baby einschließend – Dunkelheit, Kontakt, Enge, ein flaues Gefühl im Magen, als würde er ihr zwischen die Beine rutschen, wie fünf Eier aus ihrem Ei-Schlauch auf einmal! Schlecht war ihr und schwindelig – dann stopften sich die Eier wieder hoch bis an ihre Luftröhren – und dann wurde es wieder hell.
Sie und Baby befanden sich in der Luft! Weit fiel der Blick ihrer Hauptaugen vorbei an dem Jungbus bis zu einem noch nie erahnten Horizont. Staunend drehte sie sich auf ihren zunehmend wärmer werdenden Greiffußsohlen. Ihre drei Langzehen ertasteten eine rillige Struktur, pulsierend, unnatürlich warm, nachgiebig. Im letzten Viertel ihrer Drehung wurde der Horizont abgelöst von gigantischen, in die Höhe sich erstreckenden Formen. Eine unbekannte Gras- oder Schlangenbaumsorte in einem Blond-Ton bedeckte die Oberseite und ringelte sich von der Ebene dort oben herab auf einen mit zwei Löchern versehenen weit herausragenden Vorsprung. Darüber ein senkrechter See in den Farben Blau und Weiß, mit einem großen schwarzen Kreis in der Mitte! Als sie geradeaus schaute, gewahrte sie eine sich öffnende Höhle mit weißen, hart wirkenden Blöcken. Ein Sturmwind kam heraus, verzweifelt vibrierten die Lungenröhren, der Sauerstoff wurde weniger.... »Hilfe!« hauchte Lara, bevor es wieder dunkel wurde und ihre Augen sich schlossen.
Ralf staunte nicht schlecht, als er in seiner Hand neben seinem Matchbox-Auto, was sein Spielkamerad Michael eben weit in den Garten hinausgeschleudert hatte, ein merkwürdig aussehendes Insekt vorfand, anscheinend leblos neben seinem roten Lieblingsspielzeug liegend. Hatte er nicht eben auch noch ein Wispern vernommen? Vier Beine – oder vielleicht zwei Beine und zwei Arme, ein Kopf mit Schneckenfühlern, nur einen Flügel, und den auch noch auf dem Kopf! Unter einem Blattpaket halb verborgen drei Stöckchen von den äußersten Trieben einer Tanne, und – iieh, was Klebriges auf seiner Hand! Vorsichtig legte er das Insekt zwischen das von seinem Vater akkurat kurz gehaltene Gras und eilte schimpfend zum Haus und zu seinem Spielkameraden zurück. Bald würde es Kaffee und Kuchen geben – und der Schneckenschleim würde seine Eltern anekeln!
Lara erwachte, als das lange Dunkel immer näherkam. Ihre Dosen im Dosentäschchen waren alle zerbrochen, so stark war der Druck gewesen – und die Pflanzen, die diese Behältnisse hervorbringen würden, waren weit weg, in einem Quadranten, der nur selten und nur zum Sammeln dieser Behältnisse aufgesucht wurde. Auch ihr Behälter mit Schneckenschleim (perfekter Kleber für das Hochkraxeln an glatten Pflanzenteilen) war zerbrochen, der Schleim durch die Tasche gesuppt. Benommen machte Lara sich auf den Heimweg. Sie würde viel zu erzählen haben zu Hause!
Lara im Gras
»Lara hat sich mir geöffnet, hat diese Episode in mein Gedächtnis eingespeist. Und nun hast Du einen ersten Eindruck davon, wie schwer es ist, mit den GROSSEN umzugehen«, sprach Tohoso und verließ den Standpunkt des Übermittlers, der mich hineingerissen hatte in den Strudel einer spannenden Geschichte. Es begann zu dunkeln, Wolkenschleier schoben sich über die untergehende Sonne und tauchten die Grasebene hier unten in ein sich vertiefendes Grau. Bald schon würde die Nacht hereinbrechen, mein Körper rief nach mir – er hatte Hunger und wollte erwachen. »Ich möchte mehr hören von euch, treffen wir uns morgen wieder?« Tohoso stimmte zu und so gingen wir auseinander.
Ich erwachte. Kopfschmerzen, mein Hirn war am kribbeln und ich musste mal aufs Klo. Zudem schrie mein gelocktes Äusseres nach Spaghetti mit Tomatensauce und wollte unbedingt die Brille aufsetzen. Tatsächlich war die Sonne nicht annähernd am Untergehen, es war kurz nach Mittag, wie mir ein schneller Blick auf den Wecker neben meiner Liegestatt zeigte. Der schnelle Blick zur Seite hatte einen neuerlichen Stich in meine gepeinigten Schläfen geschickt. Stöhnend und leicht benommen griff ich erst zum Kopf, dann zur Wasserflasche. Leer. Nun gut, raus aus den Federn, Wasser ist gerade essentiell!
Die Sandalen neben meinem Bett waren dreckig. Komisch. Sandkrümel kugelten aus den Schuhen, kratzten an meinen nackten Füßen. Gähnend schlappte ich in den zweiten Raum meiner neuen Behausung. Ach, auch hier war es noch unordentlich! Wie in meinem provisorischen Schlafzimmer stapelten sich noch nicht ausgepackte Kartons, lose Zettel und allerlei Kleinigkeiten, von Gewürzdosen über halb vom Zeitungspapier befreiten Geschirr bis hin zu verschiedenen Konserven. Ich war wirklich noch nicht weit gekommen in der Woche seit meinem Einzug!
Wenigstens gab es einen sauberen Topf und auch einen zweiten, stellte ich erfreut fest. Und ein Glas fiel mir auch in die Hände, welches ich sofort mit kühlem Kraneberger füllte und in einem Zug leerte. Besser! Die Kopfschmerzen verebbten zu einem hintergründigen Ziehen.