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Alan Querry, ein erfolgreicher Bauentwickler aus Nordengland, hat zwei Töchter: Vanessa ist Philosophin und lehrt in Saratoga Springs, New York; Helen arbeitet für ein internationales Musiklabel mit Sitz in London. Die Schwestern haben sich nie richtig von der bitteren Trennung ihrer Eltern und dem frühen Tod ihrer Mutter erholt, vor allem Vanessa nicht, die immer wieder in Depressionen verfällt. Beim jüngsten Schub fliegen Alan und Helen nach Saratoga Springs. Im Verlauf von sechs Wintertagen upstate beginnen die Querrys mit den Fragen zu ringen, die diesen Roman so eindringlich machen: Warum fällt manchen Menschen das Leben so viel schwerer als anderen? Kann Glücklichsein gelernt werden, oder wird man einfach so geboren? Hilft nachdenken? Wenn, wie Vanessas Lieblingsphilosoph sich ausdrückt, "das Leben selbst das einzig ernsthafte Unternehmen" ist, wie sollten wir dann leben? "Upstate" ist ein tiefgründiger Roman, reich an menschlicher Einsicht, fein gezeichneten Charakteren und voll mit jenen Dingen, die uns in unseren stillsten Momenten beschäftigen.
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Seitenzahl: 326
Veröffentlichungsjahr: 2019
James Wood
Roman
Alan Querry, ein erfolgreicher Bauentwickler aus Nordengland, hat zwei Töchter: Vanessa ist Philosophin und lehrt in Saratoga Springs, New York; Helen arbeitet für ein internationales Musiklabel mit Sitz in London. Die Schwestern haben sich nie richtig von der bitteren Trennung ihrer Eltern und dem frühen Tod ihrer Mutter erholt, vor allem Vanessa nicht, die immer wieder in Depressionen verfällt. Beim jüngsten Schub fliegen Alan und Helen nach Saratoga Springs. Im Verlauf von sechs Wintertagen upstate beginnen die Querrys, mit den Fragen zu ringen, die diesen Roman so eindringlich machen: Warum fällt manchen Menschen das Leben so viel schwerer als anderen? Kann Glücklichsein gelernt werden, oder wird man einfach so geboren? Hilft Nachdenken? Wenn, wie Vanessas Lieblingsphilosoph sich ausdrückt, «das Leben selbst das einzig ernsthafte Unternehmen» ist, wie sollten wir dann leben?
«Upstate» ist ein tiefgründiger Roman, reich an menschlicher Einsicht, fein gezeichneten Charakteren und voll mit jenen Dingen, die uns in unseren stillsten Momenten beschäftigen.
James Wood, 1965 in Durham, England, geboren, wurde bereits mit 27 Jahren Chefkritiker beim Londoner «Guardian». Heute schreibt er für den «New Yorker» und arbeitet als Professor für angewandte Literaturkritik an der Harvard University. International bekannt wurde er unter anderem mit seinem klugen Buch über das Schreiben, «Die Kunst des Erzählens».
Tanja Handels, geboren 1971 in Aachen, lebt und arbeitet in München, übersetzt zeitgenössische britische und amerikanische Literatur, u. a. von Zadie Smith, Anna Quindlen, Erica Jong und William Finnegan, und ist auch als Dozentin für Literarisches Übersetzen tätig. 2019 wurde sie mit dem Heinrich-Maria-Ledig-Rowohlt-Preis ausgezeichnet.
Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel «Upstate» bei Jonathan Cape, London.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Dezember 2019
Copyright © 2019 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
«Upstate» Copyright © 2018 by James Wood
Der Autor dankt Per Petterson für moralische und literarische Unterstützung.
Covergestaltung Anzinger und Rasp, München
Coverabbildung Elisabeth Ansley/Arcangel
ISBN 978-3-644-00190-9
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Für Claire, Livia und Lucian
Erst musste er bei seiner Mutter vorbeischauen. Er würde ihr erzählen, was mit Vanessa war – wenn auch natürlich längst nicht alles. Das Heim, zehn Kilometer weit weg und über eine beliebte Straße zu erreichen, war ein respektheischendes altes Gebäude mit der grauen Strenge des Nordens, die er so schätzte. Jetzt aber wirkte es verwaist: Alles lag in winterlicher Ruhe. Vier Jahre wohnte sie schon hier, und er wusste immer noch nicht genau, wie er sich beim Ankommen verhalten sollte. Außerdem war es absurd teuer, er konnte sich das nicht mehr leisten. Was bekam sie, was bekam er für sein Geld? Zwei kleine Zimmer statt einem, zusätzlichen Stauraum für die düstere Ansammlung schweren Mobiliars aus einem ganzen Leben. Und freitags vielleicht auch mal einen Keks mehr zum Tee.
Er durchquerte zwei schnaufende Feuerschutztüren, die den schalen Hefedunst eines Wochenendes konservierten. Schulessen. Vor dem Zimmer seiner Mutter («Clarendon») sammelte er sich noch einmal kurz, fast wie ein Clown, zog die Hose hoch, klopfte den Mantel ab und trat dann nach leisem Pochen ein. Der Fernseher war dankenswerterweise aus. Sie war in dem Chintz-Sessel eingeschlafen, der seinem Vater immer als Familienthron gedient hatte, von dem aus er hinter der Zeitung hervor Direktiven und Dekrete erließ. Sie wirkte winzig, eingefallen, hatte nicht alle Zähne im Mund. Dieser alte Varieté-Witz … Ihre Zähne sind wie Sterne, bei Nacht kommen sie raus. Es war aber erst früher Nachmittag. Wenn sie Luft holte, war es, als scheuerte etwas in ihrer Kehle. Sie hatte schon immer eine große Nase gehabt, und jetzt schien sie ringsherum weniger zu werden, nur noch Haut und Knochen, die Nase beharrlich, endgültig, wie eine Wurzel. Die habe ich von ihr, also blüht mir das irgendwann auch. Er hockte sich neben sie, flüsterte. Sie schlug die Augen auf und fragte mit leiser Empörung: «Seit wann bist du hier, Alan?» Als hätte er ihr nachspioniert.
«Ich bin gerade gekommen.»
«Bring mir bitte meine Zähne – da in dem Glas auf dem Nachttisch.» Sie drehte sich weg, um das Gebiss einzusetzen. «Und jetzt müssen wir Tee und Kekse ordern. Die werden hier auf Bestellung gebracht.» Als Kind aus einem Arbeitervorort von Edinburgh hatte sie sich in der Schule mit ihrer aufgesetzt britischen, vielleicht auch eher britisch-schottischen Diktion unbeliebt gemacht; seit dem Tod seines Vaters war ihre Ausdrucksweise die gesellschaftliche Leiter noch ein, zwei Sprossen weiter hinaufgeklettert. Dadurch klang sie eigentlich immer ein wenig gereizt.
Im Grunde sprach sie inzwischen wie die Hausherrin, glich aber eher der Bediensteten: klein, gebeugt, gerade heute viel zu bescheiden, sogar etwas schäbig gekleidet.
«Die Stola, oder was das ist, brauchst du doch nicht, oder?», sagte er und nahm sie ihr von den Schultern.
«Gewiss nicht, die hatte ich mir nur für mein Nickerchen umgelegt. Ich danke dir … Aber du siehst ausgesprochen müde aus. Du weißt schon, dass man eine Kerze nicht von beiden Seiten abbrennen soll?»
«Vielleicht ist es ja so eine Scherzkerze, die man nicht ausblasen kann.» Er hatte gerade seinen achtundsechzigsten Geburtstag hinter sich. «Wie geht es dir?»
«Gar nicht übel, muss ich sagen … Wobei diese englische Aussicht hier natürlich überhaupt nicht meine Landschaft ist.» Sie deutete mit hochherrschaftlicher Geste zum Fenster.
«Na, schlecht ist sie aber auch nicht», sagte er mit Blick auf die laublosen Bäume, die vereisten Hügel. Für diese englische Aussicht bezahlte er schließlich. «Und wir haben das schon so oft durchgesprochen. Du willst nicht bei mir wohnen, du möchtest unabhängig sein, obwohl es deutlich billiger wäre, wenn du bei uns einziehen würdest.»
«Auf gar keinen Fall. Ich habe damals deine Großmutter aufgenommen, wie du sehr wohl weißt, und die Jahre zwischen fünfzig und sechzig sind bei mir wie ausgelöscht. Tagein, tagaus habe ich nichts anderes getan, als mich um sie zu kümmern. Das würde ich dir niemals antun.»
Die beiden Frauen hatten einander regelrecht verabscheut, damals, in dem Haus; heimlich, aber geschickt hatte jede die andere in die unentrinnbare Depression getrieben.
«Aber du willst doch, dass ich dich besuche. Und ich will das auch.» Er nahm ihre Hand. «Wenn du drei Stunden Fahrzeit weg in Schottland sitzt, habe ich nichts mehr von dir, auch wenn du dort deine eigene Landschaft hättest.» Er sprach sanft.
Der Tee kam, hereingebracht von einem hochroten Halbwüchsigen. Er ließ sie beide je einen Keks nehmen, dann ging er wieder und nahm den vollen Keksteller demonstrativ mit.
«Die reinste Kriegsrationierung ist das hier!», sagte die Mutter. Der junge Mann kam noch einmal zurück.
«Mrs. Querry», sagte er, «ich soll Sie noch dran erinnern, dass die Bewohner alle um halb vier im Wintergarten sein sollen, für die Grippeimpfung. Sie wissen schon, der Nachtermin für alle, die sie beim ersten Mal verpasst haben. Brauchen Sie Hilfe?»
«Nein, mein Sohn ist ja hier. Vielen Dank.»
Das Zimmer hätte durchaus schlimmer sein können. Hohe Decken mit verschnörkeltem Stuck, fast wie römischer Lorbeer, Strukturtapete mit winzigen Einschlüssen, wie Mandelstifte – obwohl sie ihn eigentlich eher an Splitter in der Haut eines Kindes erinnerten –, gestrichen in einem ansprechenden Cremeweiß. Und elterliche Gegenstände, die er schon sein Leben lang kannte: ein Aquarelldruck der Kathedrale von Durham, ein antiker Spiegel, in dem man sich kaum noch sehen konnte (dem Anschein nach wertvoll, er wusste aber, dass dem nicht so war), ein Kissen mit einem verschossenen fliederfarbenen Bezug, den er selbst bei Heal’s an der Tottenham Court Road in London gekauft hatte und der seit mindestens dreißig Jahren nicht erneuert worden war. Das war alles einigermaßen gut, so gut, wie es eben sein kann, wenn das Leben zum bloßen Souvenir des einstigen Selbst verkümmert. Es war schön hier. Aber er konnte es sich nicht mehr leisten.
Sie sah ihn mit ihren blassblauen Augen an: Vanessas Augen.
«Das ganze Haus ist in Aufruhr! Gestern hat meine Nachbarin ihr Hörgerät eingebüßt, sie hatte es in ein Taschentuch gewickelt und auf den Nachttisch gelegt, und die Putzfrau hat es versehentlich weggeworfen, weil sie es einfach für Abfall gehalten hat. Und zwei Zimmer weiter den Gang entlang ist Mary Binet fuchsteufelswild, weil sie sich gern mit einer anderen Frau auf Französisch unterhält, die die Sprache versteht, sie ist die Einzige hier, die sie versteht, aber jetzt wurde Mary vom Personal aufgefordert, kein Französisch mehr zu sprechen – offenbar hat sich nämlich jemand beschwert, wir vermuten ja alle, dass es eine von den Bewohnerinnen war, und ich kann mir auch lebhaft vorstellen, wer, die beiden würden sich in einer Geheimsprache unterhalten und alle anderen ausschließen. Mir wird es fehlen, ich habe natürlich nichts verstanden, was sie sagten, aber ich habe dieses Französisch immer so gern gehört … Und jetzt geht Ende des Monats auch noch die Direktorin, dabei ist sie erst ein halbes Jahr hier; ich glaube, sie ist Tschechin, reizende Dame, anscheinend kann sie es aber überhaupt nicht ausstehen, wenn man sie für eine Polin hält …»
Er fiel ihr ins Wort. «Ma, ich muss für eine Woche nach Amerika.»
«Amerika? Na, so was. Geschäftlich?» Sie hatte immer große Freude daran gehabt, dieses Wort auszusprechen, und so antwortete er ihr auch damit, im Ton der Endgültigkeit:
«Geschäftlich.»
«Na, dann … lass dich bloß in nichts hineinziehen.»
«Hineinziehen?»
«Nach allem, was ich höre, geht es da sehr gefährlich zu – da war doch diese entsetzliche Sache mit den Türmen. Wirst du denn auch Vanessa besuchen? Sie hat sich immer so gewünscht, dass du sie dort besuchst, in … diesem Ort …»
«Saratoga Springs.»
«Eben, genau das wollte ich sagen … Sarsaparilla.»
«Ja, ich werde sie besuchen. Und Josh.»
«Ach du lieber Gott … das nenne ich mal Courage! Er ist viel zu jung und ganz sicher nicht gut genug für sie.»
«Du kennst ihn doch gar nicht!»
«In der Tat, da sind wir schon zwei, aber immerhin besitze ich ein Telefon, ich bekomme Berichte, und im Übrigen wollte ich gerade sagen – bevor du mich unterbrochen hast –, dass Vanessa auch nicht jünger wird.»
«Da komme ich nicht mehr mit, Ma – jetzt gibst du ihm auf einmal deinen Segen?»
«Na, warum soll das arme Ding denn keinen Freund haben? Vielleicht ist Josh ja der Richtige? Und wenn sie dann heiraten, wirst du ihm Vorwürfe machen, weil er uns Vanessa wegnimmt …»
«Vanessa ist doch längst weg. Weit weg. Schließlich hat sie ihren Doktor dort gemacht und nicht hier. Damit hat es angefangen.»
«Das dumme Ding. Ein Jammer, dass sie an Weihnachten nicht hier war. Aber wahrscheinlich wollte sie die Zeit lieber mit ihrem Galan verbringen.»
Ein, zwei Augenblicke lang herrschte altmodisches Schweigen: erfüllt vom Ticken der eleganten Reiseuhr seiner Mutter. Ein Geschenk von ihm.
«Alan, mein Schatz, würdest du mich in den Wintergarten bringen? Ich bin doch lieber ein wenig früher da – solange die Nadel noch spitz ist …»
Sie lächelten einander an, er half ihr hoch und ging dann neben ihr, während sie das mausgraue Gestell ihres Rollators umklammert hielt, ein Wunder der Ingenieurskunst, stark wie ein Gewichtheber und doch zart wie die Knochen einer uralten Dame, bestückt mit Rädern vorne und zwei aufgespreizten gelben Tennisbällen an den Hinterbeinen. Die scheuerten jetzt über den Teppichboden, während das ältliche Paar, Mutter und Sohn, sich gemächlich den Flur entlangbewegte.
Das Haus der Querrys wirkte durchaus ansehnlich – als wäre es auf Fels gebaut und nicht auf Sand. Ein kurviger Kiesweg (als er ihn jetzt entlangfuhr, zerstob knirschend ein kostspieliger Hagel gebleichter Steinchen unter seinen Reifen), massive Mauern, hohe Fenster, ein schwarzes S aus Metall, das wegsackendes Mauerwerk stützen sollte, eine robuste alte Haustür, ein verbogener, schwarzer Stiefelkratzer aus Eisen, wie man ihn niemals kaufen, sondern nur erben konnte. Es war von circa 1860. Alan Querry hatte es nicht selbst erbaut, auch wenn ihm das mitunter fast so vorkam. Hier hatten Cathy und er Vanessa und Helen bekommen, hier hatte er die beiden großgezogen, nachdem Cathy gegangen war. Hier war das Fenster, das er eigenhändig ausgetauscht, dort die Regenrinne, die er eigenhändig repariert, da das Garagendach, das er neu gedeckt hatte, mit Unterstützung von Rob, dem leicht zurückgebliebenen Faktotum aus dem Dorf.
Das Haus sah aus wie das eines Menschen, der etwas aus sich gemacht hat. Alan wohnte im nobelsten Teil von Northumberland, wo anscheinend sämtliche Nachbarn – falls man sie bei dem luxuriösen Abstand überhaupt noch so nennen konnte – als «Gutsbesitzer» firmierten. Sie waren allesamt in Eton auf dem Internat gewesen und stapften in diesen typisch ausgebeulten, rostfarbenen Cordhosen durch die Gegend, die zwar abgetragen waren, aber trotzdem leuchteten wie die Glut alten Geldes. (Wo man diese auf alt gemachten und dennoch sündteuren neuen Kleidungsstücke bekam? In London, bei New & Lingwood in der Jermyn Street: Er hatte selbst einmal dort eingekauft, voller Triumph und doch mit Schweißperlen auf der Stirn in der gedämpften Atmosphäre der Geschäftsräume.) Sein nächster Nachbar war ein Baronet mittleren Alters mit schütterem Haar, ein gutmütiger, aber unscheinbarer Zeitgenosse, der sein ganzes Leben mit Nichtstun zubrachte und im Bezirk nur aus dem einen Grund berühmt war, dass er gleich nach Erscheinen den Roman Shining gelesen und anschließend vor lauter Angst drei Tage und Nächte lang kein Auge zugetan hatte.
Seine Welt war das nicht. Sein Vater war mit sechzehn von der Schule abgegangen und hatte sich in Newcastle in der Schiffbaubranche verdingt. Pa war pfiffig und fleißig und arbeitete schon bald bei Parsons, als Einkäufer der Bauteile für die großen Dampfturbinen. Alan war in Newcastle zur Welt gekommen; nach dem Krieg zog die Familie Querry dann nach Durham, wo Pa schließlich eine große Eisenwarenhandlung eröffnete, an der Saddler Street, auf dem Weg hoch zur Kathedrale. Der Vater hatte sich dort richtig etabliert, nicht nur als «Kaufmann», sondern als echter «Ladeninhaber», dessen Name in der Stadt regelrecht sprichwörtlich wurde: «Ich geh noch kurz zu Querry.» Mehr hatte er allerdings nicht daraus gemacht. Und während Alan zusah, wie sein Vater zu expandieren versuchte und scheiterte, eine zweite Filiale zu eröffnen versuchte und scheiterte, war ihm selbst die Idee gekommen, ins Immobiliengeschäft einzusteigen – zunächst in Durham, später dann in Newcastle, York und Manchester. Als Einzelkind gefiel es ihm, dass er genug Geld verdiente, um seinen Eltern einen fabrikneuen Volvo zu schenken – den einzigen Neuwagen, den sie je besaßen – und die Hospizrechnung für seinen Vater bezahlen zu können, als es zu Ende ging.
Jetzt zahlte er die Rechnungen für seine Mutter und konnte sich das nicht mehr leisten, und kein Mensch – am allerwenigsten Helen und Vanessa – würde ihm das glauben, wenn er es erzählte, es war einfach nicht zu begreifen. Wie konnte die Querry Property Group, die im ganzen Norden Englands Gebäude besaß und dazu noch ein funkelnagelneues Büro in Manchester (nur ein Raum, aber immerhin!) sowie eine schicke, von einer amerikanischen Firma aus Salt Lake City gestaltete Website – wie konnte das alles nicht einfach immer weiter Geld abwerfen?
Er ging über den Kiesweg und schob die schwere Haustür auf. Otter sprang aus seinem Körbchen, ganz außer sich vor Freude. Alan hatte Candaces Wagen nicht vor dem Haus stehen sehen, vielleicht war sie also gar nicht da. Die Küche war leer, das schlicht-edle Wohnzimmer ebenso. Die Fenstertüren erstrahlten, der kurze Februarnachmittag neigte sich dem Ende zu. Es war ganz still. Nachdem Cathy ihn verlassen hatte und dann noch die Kinder zum Studieren ausgezogen waren, war es viele Jahre lang schauderhaft ruhig im Haus gewesen; in den dicken Teppichböden hing noch der geisterhafte Hauch ihrer Schritte. Damals hatte er sogar darüber nachgedacht, den schönen alten Bau zu verkaufen. Candace hatte das alles verändert. Seine Töchter, vor allem Helen, mochten sie nicht besonders. Neben vielem anderen stieß ihnen ihre marktwirtschaftlich-antikommunistische Haltung auf. Herrje, er war selbst nicht sonderlich begeistert von Candaces politischer Haltung; er hatte immer reflexhaft Labour gewählt, das machten in Durham alle, selbst die ganz Erfolgreichen, die es «zu was gebracht» hatten. Vielleicht waren sie ja neidisch auf Candace mit ihrem weiterhin tiefschwarzen, glatten und glänzenden Haar, ihren schmalen Hüften, ihrer unfassbaren Lebendigkeit, während sie selbst immer älter, grauer und breiter wurden – falterten, wie Vanessa sagte (eine Wortschöpfung, die sich aus «altern» und «Falten» zusammensetzte). Das einzige Mal, dass er versucht hatte, Candace mit seinen Töchtern zusammenzubringen, hatten sie darüber gestritten, ob Mrs. Thatcher nun ein «reiner Gewinn» für das Land gewesen sei (wie Candace energisch schlussfolgerte) oder eine verflixte Katastrophe (wie Helen es tat). Vanessa hatte später gemeint, sie habe sich von Candace «drangsaliert» gefühlt; Van, fiel ihm jetzt wieder ein, hatte geschmollt wie ein kleines Kind und sich in ihrem Zimmer verkrochen.
Aber was immer Vanessa und Helen auch davon halten mochten, er war sich absolut sicher, dass Candace seine Rettung gewesen war. Sie war zehn Jahre jünger als er und besaß Optimismus und Kraft im Übermaß. Sie hatte ihn vor der Einsamkeit bewahrt, vor der Arbeitsüberlastung und dem miefigen Zölibat des Witwers, hatte ihn vor dem Alter gerettet, vielleicht sogar vor dem Tod.
«Candace! … Candace, Schatz?»
Sie war in dem kleinen Fernsehzimmer ganz hinten im Haus, saß im Schneidersitz auf einem festen, runden Kissen. Candace hatte über zehn Jahre als Unternehmensberaterin in Hongkong gearbeitet, den Beruf aber im Grunde nie gemocht, wie sie Alan gestand. Vor einem Jahr hatte sie sich entschlossen, eine Ausbildung zur buddhistischen Psychotherapeutin zu machen. Der Schwerpunkt lag natürlich auf Meditation – und aus irgendwelchen Gründen auch auf Gärten. Vielleicht weil das Ich wie eine Pflanze war: Es wuchs, starb, wurde wiedergeboren. Seither verbrachte sie eine Menge Zeit auf diesem bodennahen, von scharlachroter Chinaseide umhüllten Kissen, und obwohl Alan wusste, wie ignorant das von ihm war, kam es ihm oft so vor, als würde sie eigentlich schlafen und nicht meditieren. Helen meinte, Candace fehle es an jeder offensichtlichen therapeutischen Begabung: «Das ist, als würde Quincy Jones auf einmal monogam werden.» Darüber hatte Alan bereitwillig gelacht und später im Internet nach «Quincy Jones» gesucht. Es stimmte nicht, zumindest nicht, soweit es Candace Lee betraf.
Sie war eindringlich, nüchtern, in sich stimmig: Sie konnte nichts falsch machen. Alan sah, dass sie keine Schuhe trug – ihre nackten Füße.
«Hast du es ihr gesagt?» Candace mochte seine Mutter nicht, und er fand es amüsant, wie schlecht sie das verbergen konnte.
«Na ja, ich habe ihr gesagt, dass ich nach Amerika muss.»
«Du weißt, dass ich das nicht meine, Alan. Dann hast du ihr also nicht gesagt, warum du hinfliegst?» Sie stand vom Boden auf, als wäre nichts dabei.
«Ich glaube, es ist gerade einfach nicht der richtige Moment», sagte er. «Ich erzähle es ihr, wenn ich wieder da bin.»
«Du hattest Angst.»
«Ja, vielleicht ein bisschen.»
Sie trat näher zu ihm und klopfte ihm leicht auf die Brust.
«Du darfst jetzt keine Angst haben, du musst für Vanessa da sein. Sie braucht dich.»
«Für sie da sein …»
«Ja, du musst für sie da sein, ich schäme mich nicht für diese Formulierung. Du bist ihr Vater, du musst ihr vorleben, was es heißt, weiterzumachen – ihr zeigen, warum du immer weitermachst.»
«Ich glaube, ich mache vor allem weiter, weil ich nicht so viel über das Leben nachdenke.»
«So wie der Tausendfüßler», sagte Candace. «Als ihm klarwird, dass er tausend Beine hat, kann er plötzlich nicht mehr laufen. Wobei man inzwischen herausgefunden hat, dass das gar nicht stimmt. Die wenigsten Tausendfüßler haben tausend Beine.»
«Darf ich das zitieren, wenn ich in Saratoga Springs bin?»
Sie musterte ihn streng, ein Ausdruck, den er besonders an ihr mochte. Candaces Mutter war so schonungslos ehrgeizig gewesen, so wild entschlossen, aus ihrem ärmlichen Dorf in der chinesischen Provinz herauszukommen, dass ihre Schulfreundinnen sie immer als «Kröte, die davon träumt, Schwanenfleisch zu essen» verspotteten.
«Nimmst du das auch wirklich ernst? Wenn es dir nicht ernst damit ist, dann schick lieber mich hin. Das ist Vanessas Leben – nicht irgendein albernes englisches Theaterstück.»
Einen flüchtigen Moment lang gab Alan sich der Vorstellung hin, wie wenig enthusiastisch Candace in Saratoga Springs empfangen werden würde.
«Natürlich ist es mir ernst damit. Aber aus meiner Haut kann ich trotzdem nicht.»
Besagte Haut brauchte dringend ein Bad und anschließend einen Drink oder auch zwei. Im Hauptbad, dem großen, das ihm am liebsten war – und das er seiner Mutter überlassen müsste, wenn sie zu ihnen ziehen würde –, drehte er das Wasser auf. Beim Baden hatte er ein bestimmtes Ritual: Sobald er in die Wanne gestiegen war, im Übrigen nicht mehr das einfachste Unterfangen, ließ er das Wasser wieder ablaufen, sodass er nie mehr als vier Minuten darin verbrachte, und auch die größtenteils mit leisem Unbehagen. Diese spezielle Erschwernis hatte ihm sein Vater beigebracht; es war ein Weg, sich als Mann «abzuhärten». (Pa hatte zudem noch immer kalt gebadet.) Im Norden von England galt «hart» sehr viel mehr als klug, schön oder einfühlsam. Junge Kerle wie er krempelten sich die Hemdsärmel hoch, damit ihr Bizeps hervorblitzte wie die Kanonenkugel kurz vor dem Abfeuern. Sie nagelten sich halbmondförmige Metallstücke – sogenannte «Absatzschoner» – unter die Schuhe, um damit trampeln, klappern und soldatisch harte Funken aus dem Asphalt schlagen zu können. Bis heute hielt er an diesem sinnentleerten väterlichen Kodex fest, und die seltenen Badeausnahmen erschienen ihm wie ein ungeheurer Luxus: Heute würde er sich volle zwanzig Minuten in einer warmen Wanne gönnen, deren Wasserstand nicht gleich wieder gurgelnd verebbte.
Er schaute an sich herunter, während er neben der Badewanne stand: Komisch, dass sein Glied immer dunkler aussah als sein übriger Körper, als wäre es irgendwie älter als der Rest. Weißes oder rotes Fleisch? Seine Brusthaare, die, als er jung war, an verknäueltes Dickicht am Waldboden erinnerten, waren jetzt nichtssagend grau und spröde wie vertrockneter Tabak. Da war es, das Faltern. Und besonders seltsam, oder vielleicht auch gar nicht so seltsam, denn er hatte Freunde, die das Gleiche erzählten, war, dass ihm beim Blick in den Spiegel nicht der achtundsechzigjährige Alan Querry entgegensah, sondern der kleine Alan, der zehnjährige, der zwanzigjährige Alan. Als hätte sich alles, was zwischen zehn und achtundsechzig passiert war, auf sehr begrenztem Raum abgespielt; als läge seine Kindheit gleich am Ende des Flurs und seine Jugend in der komischen kleinen Kammer neben der Küche, alles nah und greifbar und nicht Jahrzehnte entfernt, nicht ganze Häuser oder Straßenzüge weit weg, sondern direkt hier in der Nähe. Achtundsechzig Jahre – eine Hochzeit, Geburten, eine Scheidung, Todesfälle, Geld – hatten sich kaum länger gelebt als die Zeit, die man brauchte, um vom einen Ende des Flurs zum anderen zu gelangen. In Wahrheit hatte nichts nachgelassen, nichts war verdorrt, erlahmt oder gefaltert, weder der Sex noch das Potenzial zum Glücklichsein oder die Neugier. Seit drei Monaten war sein Leben von finanziellen Sorgen erfüllt. Die Firma wankte, mit dem unsinnigen Dobson-Projekt hatten sie sich eindeutig übernommen, aber an guten Tagen hatte er immer noch das optimistische Gefühl, dass er es schaffen würde, aus all dem wieder herauszukommen, so wie man einfach aus der Badewanne steigen und die ganze Brühe zurücklassen konnte.
Pa war auch so ein Optimist gewesen – unerschütterlich, auf robuste Weise gutmütig, intelligent. Er hatte seinen Vater nie auch nur eine Träne vergießen sehen, nie erlebt, dass er die Beherrschung verloren hätte. Kurz nach Alans Geburt hatte seine Mutter eine Art Nervenzusammenbruch erlitten; sie war in Newcastle mit Elektroschocks behandelt worden. Vielleicht kamen Vans Probleme ja daher? Immerhin war Ma aber Quell und Hüterin des Gefühls in der Familie gewesen. Sie verwaltete den Schlüssel: Wäre sie vor Pa gestorben, das Gefühlstor wäre verschlossen geblieben. Alan und sein Vater hatten nie über Gefühle geredet. Ma war diejenige, die tobte, heulte und lachte. Gefühle waren weiblich besetzt. Aber auch Freude und Zärtlichkeit. Und gesellschaftlicher Ehrgeiz – Mas aufgesetzte «Mittelschichtsdiktion».
Und jetzt – er saß inzwischen in der Wanne, dampfend und prall wie ein Schwamm – musste er in drei Tagen nach Saratoga Springs aufbrechen, um für seine Tochter da zu sein, für Vanessa, die Arme.
Das erste Warnzeichen war kurz vor Weihnachten gekommen, als Vanessa den lang vereinbarten Aufenthalt in England über die Feiertage absagte. Sie fühle sich nicht gut, habe «zu viel Arbeit». Alan wusste aus tiefsitzender Erfahrung, dass sich physische Beschwerden bei Vanessa selten auf den Körper beschränkten und das Vorschützen von «Arbeit» immer viele Ausflüchte und lange unproduktive Phasen einschloss. Dann kam, ein paar Wochen später, Anfang Januar, die schreckliche E-Mail von Josh, die eigentlich nur an Helen ging, Alan aber von ihr weitergeleitet worden war. Josh berichtete, Vanessa sei seit Anfang Dezember in eine tiefe Depression abgeglitten. Sie habe angefangen, sich von ihm, «vom Leben zurückzuziehen – so sollte ich das eigentlich formulieren». Kurz vor Weihnachten habe es einen «Vorfall» gegeben, wie er das nannte, bei dem Vanessa eine Treppe hinuntergefallen war und sich am Arm verletzt hatte. Das hatte Josh Angst gemacht: «Ich glaube, sie war in Gefahr, sich ernstlich etwas anzutun.» In den letzten Wochen, sagte er, sei es ihr wieder besser gegangen, sie sei aber immer noch recht labil, und er schreibe jetzt, weil er wisse, dass Helen oft geschäftlich nach New York komme. Wenn sie das nächste Mal in der Stadt sei, würde sie dann vielleicht in Erwägung ziehen, nach Upstate New York, nach Saratoga Springs zu kommen? «Du und natürlich dein Vater, ihr kennt ihre ‹Vorgeschichte› so viel besser als ich.»
Helen hatte ihm geantwortet, sie sei tatsächlich Anfang Februar für ihre Plattenfirma in New York, da könne sie nach Upstate kommen und wolle versuchen, auch Alan mitzubringen. Und Alan – vielleicht weil Josh nicht ihm, sondern Helen geschrieben hatte, vielleicht aber auch weil er zu feige, zu höflich, zu verflixt britisch war – hatte nicht zurückgeschrieben, um zu fragen, was genau Josh mit seiner Andeutung gemeint hatte, Vanessas Unfall könne Absicht gewesen sein. «In Gefahr, sich ernstlich etwas anzutun.» Nicht schon wieder: Alan hatte geglaubt, das gehöre der Vergangenheit an, sei in Oxford zurückgeblieben, wo Van studiert hatte. Sollte sie tatsächlich versucht haben, sich etwas anzutun, war es ihr eindeutig nicht ernst damit gewesen, es war nur ein «Signal», eine Botschaft, ein Hilferuf – sagte man das nicht immer über solche Versuche? Und gleichzeitig dachte er voller Entsetzen: Sie kann doch nicht einfach ihr Leben wegwerfen wie ein halbfertiges Kreuzworträtsel … Ein Vater – Eltern überhaupt – musste auch seinen erwachsenen Kindern noch helfen, wo er konnte. Er hatte selbst Unglück erfahren, mitunter war es sogar recht massiv gewesen; aber echte Verzweiflung hatte er seines Wissens nie erlebt. Verzweiflung befiel den Geist, sie war unheilbar. Verzweiflung war wie Farbenblindheit, mit der die geschlagen waren, die keine Hoffnung mehr sahen. Warum fiel Helen das Glück leicht, während ihre Schwester sich damit schwertat? Die Mädchen waren immer so verschieden gewesen. Vielleicht reichte Vans «Vorgeschichte» ja bis zu ihrer Geburt zurück. Und wenn das so war, was konnte Alan dann überhaupt tun? Darin bestand von jeher seine Qual, dass er so wenig tun konnte. Er konnte Van nicht dazu bringen, das Leben mit seinen Augen zu sehen: Wo er einen weißen Vogel sah, erblickte sie einen schwarzen. Aber natürlich würde er mitkommen, natürlich. Er würde sich gleich ein Flugticket besorgen, und er würde Helen begleiten. Es würde wie eine verspätete Weihnachtsfeier für Van werden.
Vanessa und Helen, Helen und Vanessa … Vanessa war zwei Jahre älter, geboren kurz nach zehn Uhr abends am 30. Juli 1966, dem Tag, als England die Bundesrepublik Deutschland im Weltmeisterschaftsfinale besiegte. Zum ersten und einzigen Mal! Unmöglich, diesen Tag zu vergessen: die triumphalen Stunden, der Schwarzweißfernseher, der seine zittrigen, unfassbaren Bilder absonderte, und Cathy, die schwerfällig durchs Wohnzimmer stapfte, eine Hand an den unteren Rücken gepresst, ihr Stöhnen mischte sich in seiner Erinnerung mit dem Jubelgebrüll aus dem Wembley-Stadion – und dann, wenig später, war da Vanessa, gelbsüchtig und feucht, von Fältchen durchfurcht, am meisten geliebt, weil sie die Erste war. «Nur das Beste für sie.» Ein Glücksmädchen. Aber je älter sie wurde, desto schwerer fiel es, sie zu umarmen, sie wurde linkisch, leicht distanziert. Sie passte nicht, wollte nicht passen – wie Alice im Wunderland war sie immer entweder zu groß oder zu klein. Die Scheidung schließlich hatte alles verändert. Nachdem Cathy gegangen war, zog sich Vanessa zurück. Die Mädchen gingen unterschiedlich mit der Katastrophe um. Helen, immer schon ungestüm, schlug sich auf die Seite ihres Vaters und warf ihrer Mutter, die Alan immerhin für einen anderen Mann verlassen hatte, vor, «sexbesessen» zu sein. (Dabei war sie erst dreizehn, die Arme.) Vanessa war anders. Sie ergriff nicht Partei, wurde einfach nur still; nahm augenscheinlich sämtliche Folgen des Ereignisses hin und ließ sich nicht mehr blicken. Ständig hockte sie oben in ihrem verdammten Zimmer, wo sie auf dem Bett lag und las: überreichlich, umfassend und ernsthaft – Romane, Lyrik, Philosophie, Feminismus, sogar Ökologie. Von den meisten ihrer Autoren hatte er noch nie etwas gehört; manchmal glaubte er, dass sie sich aus reiner Boshaftigkeit ihm gegenüber die allerentlegensten aussuchte.
In glücklicheren Zeiten hatten Alan und Cathy sich liebend gern in die Unterschiede zwischen ihren Töchtern vertieft. Wie oft hatten sie, die Eltern, abends, wenn jede andere Unterhaltung erlahmt war, über «die Mädchen» gesprochen, mit einer Art fanatischem Staunen – eintönig und dennoch kurioserweise nie langweilig! –, wie es auch Rebellen auf ihre Pläne für die Zukunft verwenden mussten. Helen war quirlig, verspielt, ungehorsam, körperlich; Vanessa scheu, sanft, schwer in Wut zu bringen, lernbegeistert, sehr zurückhaltend. Eine Zeitlang wirkten diese Unterschiede noch provisorisch, schienen Teil der Rangelei ums Erwachsenwerden zu sein; noch war alles Potenzial. Aber irgendwann, hatte Alan feststellen müssen, wachsen die Füße des Kindes nicht mehr, die Hosenbeine müssen nicht mehr ausgelassen werden, die Handschrift hat die Form angenommen, die sie für den Rest des Lebens behalten wird, auf dem Bettlaken zeigen sich, selten, aber unverkennbar, die Blutflecken der beginnenden Pubertät – und dann, fast plötzlich, während man gerade einmal nicht richtig aufpasste (zumindest schien ihm das inzwischen so), weil man viel zu sehr mit den eigenen unsinnigen Krisen beschäftigt war, war die Tochter auf einmal erwachsen, und all die Eigenschaften, die gerade noch formbar wirkten, hatten sich verhärtet und verfestigt. Beide Mädchen waren äußerst willensstark, aber während Helens Eigensinn ihr vor allem Freude machte, führte der von Vanessa sie nur ins Unglück. Sie schien regelrecht versessen darauf, sich jede Chance zu verbauen. Das war die Formulierung, die er sich damals immer wieder vorgesagt hatte. Warum war sie so wild darauf, sich jede Chance zu verbauen? Warum lud sie keine Schulfreunde nach Hause ein? Hatte sie keine Freunde? Sie sagte, sie wolle sich für den Debattierclub ihrer Schule bewerben, aber daraus wurde nie etwas. Genauso war es mit dem Schulorchester, mit der Theatergruppe. Ihre Freizeitbeschäftigungen waren alle einsam: Lesen, Klavier oder Flöte spielen, Musik hören, Gedichte schreiben. (Die praktisch alle von Verzweiflung und Klagen überflossen: Vor allem eines war erschreckend gewesen, es handelte offenbar von der unerwiderten Schwärmerei für einen Jungen und endete mit einer Zeile, die Alan niemals vergessen würde, dem Wunsch nach einem «Sprung von hoher Mauer aufs harte Pflaster». Die Gedichte hatten Vans Eltern in helle Aufregung versetzt, als sie sie in einem Notizbuch unter ihrer Matratze entdeckt hatten.) Später, als Studentin in Oxford, hatte Vanessa beschlossen, alles wegzugeben, was sie besaß; eine Freundin hatte sie, in großer Sorge um ihren seelischen Zustand, beim ärztlichen Notdienst der Universität gemeldet, der sich daraufhin mit Alan und Cathy in Verbindung setzte. Helen sprach so freimütig mit Erwachsenen, im Vertrauen auf ihre Fähigkeit, sie zu bezaubern; Vanessa hielt sich zurück, mit einer Haltung, die das Schlimmste aus zwei Welten in sich zu vereinen schien: Urteil und Angst. Helen besaß ein natürliches Talent zur Freude; Van musste man diese Kategorie menschlicher Erfahrung aktiv ins Gedächtnis rufen. Und eines Tages stellt man fest, dass die Unterschiede zwischen den Kindern nicht nur im Wesen und in den Genen liegen, sondern auch ethischer und politischer Natur sind, dass jedes seine ganz eigene Sicht auf die Welt hat. Eines Tages – er konnte sich noch gut daran erinnern – erlebt man, wie die ältere Tochter, siebzehn inzwischen, ihrer jüngeren Schwester einen nachdrücklichen Vortrag über das Elend des Lebens und die Grausamkeit sämtlicher Menschen, sämtlicher Lebewesen hält und dazu ein Buch schwenkt, von dem ihr Vater nicht einmal ahnte, dass sie es besaß, George Ryley Scotts Geschichte der Folter, und sagt: «Lies das! Lies das, Helen, dann zweifelst du auch nicht mehr daran!»
War es wirklich so für sie gewesen? Ihre Kindheit eine Folter?
Helen und Vanessa, Vanessa und Helen … Vanessa hatte ihre Promotion in Princeton absolviert – «denn in Oxford ersticke ich, und in Princeton zahlen sie sogar noch dafür, dass ich komme, die wollen mich da wirklich haben» – und unterrichtete seit sieben Jahren Philosophie am Skidmore College; inzwischen war, wie ein Windhauch, der einen leichten Verwesungsgeruch mit sich bringt, ein Anflug von Stagnation in ihrer Karriere zu spüren. Von Verheißungen, die sich nicht erfüllten. Ein paar Aufsätze hatte es gegeben: Einer, in dem es, soweit Alan das verstand, darum ging, die französische Philosophie mit der analytischen Philosophie Englands zu einem großartigen neuen Produkt zu verbinden – etwa so wie die Kombination aus französischen Trauben mit englischem Boden zur Herstellung dieses zweifelhaften Weines, der neuerdings in Kent produziert wurde? –, war sogar recht erfolgreich gewesen und machte bei diversen Konferenzen die Runde. Aber sie war bereits vierzig, konnte noch kein «bahnbrechendes Buch» vorweisen und auch keine Beförderung. Ihr Lehrprofil nebst grauenvollem Schnappschuss stand seit Jahren unverändert auf der Website des Instituts – diese Akademiker, dachte Alan: Vanessas schönes dunkles Haar erbarmungslos streng zum gelehrsamen Knoten zurückgesteckt, ihr hübsches, kluges Gesicht hinter scheußlichen, zifferblattgroßen Brillengläsern verborgen und dann diese bewegungslose Bibliographie, mit dem ewig offenen Versprechen von «Personalität: Vier Essays (in Vorbereitung)». Alan hatte keine Vorstellung von ihr in Saratoga Springs, Upstate New York. Sie hatte ihm erzählt, das Skidmore College gehöre zu den besten privaten Bildungseinrichtungen der USA, und sie hatte ihm auch einiges über die Stadt erzählt, über ihre Geschichte als Urlaubsziel, im 19. Jahrhundert beliebter Kurort mit heilenden Quellen: das Baden-Baden, das Vichy des Bundesstaats New York. Die Stadt war voller Parks und prächtiger Hotels; es gab Pferdewetten und Pferderennen und ansehnlich breite Straßen. Vor fünf Jahren hatte er Diamantenfieber gelesen – aus einer Laune heraus las er damals alle Ian-Fleming-Romane noch einmal – und vergnügt registriert, dass James Bond und Felix Leiter darin just der berühmten Pferderennbahn in ebenjenem Saratoga Springs einen Besuch abstatten.
Nur zu ihr gereist war er nie. Sie reiste zu ihm, und er lebte in der Vorstellung, dass sie jeden Sommer nach Northumberland kam, weil sie den USA oder dem Staat New York unbedingt entfliehen wollte. In Northumberland ließen die Schafe im Sommer ihr plissiertes Blöken hören, das wie Gelächter klang, und rubbelten sich an den Trockensteinmauern die Wolle ab, die schnurgeraden alten Römerstraßen schimmerten im sanften, weiten Licht, und es gab keinen besseren Ort auf Erden. Letzten Sommer war sie den ganzen August geblieben – das hatte ihm sehr gefallen. Er hatte sie ein paar Tage alleine gelassen und war nach London gefahren, und als er wiederkam, war sie da, immer noch da – mal in ihrem alten Zimmer, wo sie wie gewohnt schräg auf dem Bett lag und las, mal im Wohnzimmer oder draußen auf dem Rasen, rauchend im Liegestuhl, immer mit einem Buch und einem Stift in der Hand, angetan mit diesen seltsamen weiten Hosen. Anders als Helen brauchte Vanessa anscheinend gar nicht viel. Sie wollte zu Hause sein, immer wieder einmal alleine gelassen werden und arbeiten können. Sonst kaum etwas. Von der Hintertür aus sah er sie im Liegestuhl, das Notizbuch aufgeklappt, den Stift gezückt, Zigaretten und Feuerzeug neben ihrer Kaffeetasse im Gras; sie hatte im letzten Jahr ein bisschen zugelegt, vielleicht sollten die eigenartigen Wallehosen das verstecken. Sie lümmelte auf der Liege, die Zungenspitze schaute leicht zwischen den Lippen hervor. Das Notizbuch balancierte auf ihren Knien, und mit der rechten Hand zwirbelte sie eifrig ihre Haare, als wollte sie sich Gedanken aus dem Hirn winden. So wie Candy beim Meditieren zu schlafen schien, wirkte bei Vanessa das Denken wie eine Pose. Sie schrieb kaum je etwas hin: faszinierend, dieses Verhältnis von Gedankenmenge zu Schreibfrequenz. Sie war wie die Trompeterin in einer Haydn-Symphonie, die nur etwa alle hundert Takte zum Instrument griff. Ob sie Aphorismen schrieb? Philosophische Fragmente? Lustig wäre ja, wenn sie nur Witze notierte, Briefe schrieb oder einfach vor sich hin kritzelte. Und obwohl er wusste, dass er das eigentlich nicht sollte, ging er dann nach draußen und störte sie, bot ihr noch einen Kaffee an, fragte, ob er ihr etwas aus Corbridge mitbringen könne, oder erzählte ihr einen seiner eigenen Witze, als Ausgleich für die in ihrem Notizbuch.
Hatte sie dort in Saratoga Springs wirklich versucht, sich etwas anzutun? Ihr Leben – er landete immer wieder bei dem Bild – wegzuwerfen wie ein halbfertiges Kreuzworträtsel? Natürlich, dachte Alan, war Josh Helen gegenüber bewusst vage geblieben, als er den Vorfall auf der Treppe schilderte, weil er den Schrecken vermutlich dosieren wollte – genug, dass sie kamen, aber nicht so sehr, dass sie auf die Idee verfielen, Vanessa gleich mit nach Hause zu nehmen. Josh musste sie wohl lieben: Er war auf die richtige Weise besitzergreifend, auf die richtige Weise wachsam – und offensichtlich herzensgut. Alan fand, dass die Mail den jungen Mann in ein recht vorteilhaftes Licht setzte.
Nachdem Vanessa aus dem Internat ausgerissen war, hatten Alan und Cathy beschlossen, dass sie wegen ihrer Depressionen und Ängste jemanden «konsultieren» müsse. Sie hatten eine Kinderpsychologin in Newcastle aufgetan, die auf irgendeine Weise mit dem dortigen Lehrkrankenhaus verbandelt war. Er wusste noch gut, wie schwer es gewesen war, sie zu finden. 1982 machte man in Newcastle doch keine «Therapie»! Und Vanessa wollte auch nicht hin, sie musste fast mit Gewalt in die trostlose Praxis an der Percy Street gezerrt werden. Und um es noch schlimmer, viel schlimmer zu machen, bestand die Therapeutin – Lennon hieß sie mit Nachnamen, so wie John – zudem darauf, gleich bei der ersten Sitzung die ganze Familie kennenzulernen. Alle, auch Helen. Alan und Cathy waren damals seit acht Monaten getrennt und hatten jeden Kontakt abgebrochen, wenn es nicht gerade um Dinge ging, die die Mädchen betrafen. Alan