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«James Woods Ton ist nicht der eines Professors, seine Haltung nicht die der literarischen Autorität. Er spricht als offener, neugieriger und geistesklarer Leser, der die Literatur liebt und versteht, also wie der Leser, der wir alle gern wären.» Aus dem Vorwort von Daniel Kehlmann «Ein phantastischer Kritiker; einer der wenigen, die bleiben werden.» Martin Amis «Wood schreibt über Literatur, als hinge unser Seelenheil von ihr ab – und für jeden ernsthaften Leser tut es das auch.» The Nation
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Seitenzahl: 270
Veröffentlichungsjahr: 2011
James Wood
«James Woods Ton ist nicht der eines Professors, seine Haltung nicht die der literarischen Autorität. Er spricht als offener, neugieriger und geistesklarer Leser, der die Literatur liebt und versteht, also wie der Leser, der wir alle gern wären.»
Aus dem Vorwort von Daniel Kehlmann
«Ein phantastischer Kritiker; einer der wenigen, die bleiben werden.» Martin Amis
«Wood schreibt über Literatur, als hinge unser Seelenheil von ihr ab – und für jeden ernsthaften Leser tut es das auch.» The Nation
James Wood, 1965 geboren, wurde bereits mit 27 Jahren Chefkritiker beim Londoner «Guardian». Heute schreibt er für den «New Yorker» und arbeitet als Professor für angewandte Literaturkritik an der Harvard University.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, August 2011
Covergestaltung ANZINGER WÜSCHNER RASP, München
ISBN 978-3-644-01261-5
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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www.rowohlt.de
für Norman und Elsa Rush
und für C. D. M.
«There is only one recipe – to care a great deal for the cookery.»
Henry James
Im Herbst 2008 nahm ich in einer Buchhandlung am New Yorker Union Square James Woods eben erschienenes Buch How Fiction Works zum ersten Mal in die Hand. Ich begann zu lesen und war nach wenigen Seiten gebannt. Ich kaufte es, las die halbe Nacht, und als ich fertig war, begann ich von vorne.
Danach dachte ich über viele Fragen anders als zuvor. Zum Beispiel hatte ich gemeint, dass ein Detail in einer Beschreibung entweder von Wichtigkeit oder verzichtbar sei; Wood aber überzeugte mich, dass es gerade auf die «signifikant insignifikanten» Einzelheiten ankommt, die der Beschreibung nichts Entscheidendes hinzufügen und doch gerade dadurch zu deren Lebendigkeit beitragen. Lange schon hatte ich das unbehaglich vage Gefühl gehabt, dass Vladimir Nabokovs Vorlesungen, in denen er große Romane aufs genaueste nach Bildern, Beschreibungen und Metaphern analysiert, etwas Wesentliches außer Acht ließen, dass es eine ganze Dimension der Literatur gebe, die von diesem rigide eingeschränkten Blickwinkel aus nicht gesehen werden könne. Nabokov, so Wood, habe die Bedeutung des Visuellen überschätzt, er habe keinen Sinn dafür gehabt, wie viel an der menschlichen Erfahrung nicht visueller Natur sei. Für mich, der als Schriftsteller noch immer so in Nabokovs Bann stand, dass mir jeder eigene Text, der nicht Nabokovs Kriterien entsprach, schlechtes Gewissen einflößte, kam diese beiläufige Feststellung wie eine befreiende Erleuchtung.
Oder der alte, verschwommene Generalvorwurf des nicht genügend abgerundeten literarischen Charakters: Fast jedem Schriftsteller ist beizeiten vorgehalten worden, diese oder jene seiner Figuren sei nicht überzeugend, nicht lebendig, nicht komplex genug, nicht «rund» (der Begriff geht auf E. M. Forster zurück und fand Eingang in die Alltagssprache). Aber was soll das wirklich bedeuten, was steckt eigentlich hinter der Idee, eine Figur könne «leben»? Woods Überlegungen dazu gehören zum Besten, was je zu dieser Frage gesagt wurde – und zwar gerade deshalb, weil sie sich weit über das Niveau des gern wiederholten Allgemeinplatzes erheben, wonach erfundene Figuren eigenständige Wesen zu sein hätten, die ihren Schöpfer ständig durch unerwartete Taten verblüfften. «Es gibt jede Menge Romanciers, deren Figuren im Grunde alle einander gleichen oder eher dem, der sie geschaffen hat, und deren Schöpfungen trotzdem eine Vitalität durchströmt, die man schwerlich anders als frei bezeichnen kann.»
Wood ist geprägt von den großen Romanen des neunzehnten Jahrhunderts und von der Idee, dass Literatur nicht bloß intellektuelles Exerzitium, sondern ein seelisches Erlebnis sein muss, aber er hat auch bei Mikhail Bakhtin und Roland Barthes die strukturalistische Skepsis gelernt. Eine Konjunktion, die ständig zu überraschenden Erkenntnissen führt, und zwar sowohl im Großen der Theorie als auch im genauen Blick aufs Detail. Nur ein Liebhaber des Realismus kann so gut zeigen, wie Flauberts Beschreibungskunst in wenigen Sätzen eine Pariser Straßenszene einfängt – aber nur jemand, der sich vom Realismus nicht täuschen lässt, kann zugleich auseinandersetzen, wie diese impressionistische Beschreibungsperfektion auf dem Kniff beruht, Ereignisse von unterschiedlicher zeitlicher Dauer, die wir nie als gleichzeitig wahrnehmen würden, als gleichberechtigte Details einer Augenblickswahrnehmung darzustellen. Gerade der lebenspralle Realismus erzielt seine Wirkung also durch Manipulation der Wirklichkeit.
Kann man das Schreiben lernen? Eine Frage, ebenso beliebt wie schwer zu beantworten. Die Literatur verlangt eben nicht nach vorbereitenden Kenntnissen und eingeübten Fertigkeiten wie die bildende Kunst, wo selbst der unkonventionellste Maler erst einmal zu erfahren hat, wie man Farben mischt, oder die Musik, die selbst atonale Komponisten zwingt, sich zunächst mit den Grundzügen des Kontrapunkts vertraut zu machen. Schreiben aber kann jeder – und zugleich niemand; deshalb sind auch die größten Schriftsteller nicht vor den einfachsten Anfängerfehlern gefeit. Wenn man es also überhaupt lernen kann, dann nur durchs Lesen, durch die Auseinandersetzung mit den großen und kleinen Meisterstücken ebenso wie mit den unzähligen gelungenen Werken, die dennoch aus diesem oder jenem Grund nicht an die Spitzen der Gattung heranreichen. Schreiben lehrt man, indem man Lesen lehrt. In diesem Sinn ist Die Kunst des Erzählens ein Lehrbuch des Schreibens. Es zeigt, wie man aufmerksam liest, wie viel sich in einem guten Roman entdecken lässt und wie vielfältig die Wege sind, die Erzähler in der Ausübung ihres Handwerks einschlagen können.
Darüber hinaus geht Wood aber auch der Frage nach, warum das alles überhaupt von Bedeutung und weshalb das Interesse an Geschichten so tief in der Menschenseele verankert ist. How Fiction Works – der englische Titel hat eine unübersetzbare Doppelbedeutung: Wie Erzählen an und für sich funktioniert, aber auch: Wie das Erzählen an uns arbeitet und was eine Geschichte mit uns anstellt, während wir ihr folgen. «Die Konvention ist – wie die Metapher – nicht tot; aber sie ist immer am Sterben. Deshalb versucht der Künstler stets, sie zu überlisten. Indem er dies tut, etabliert er jedoch eine andere sterbende Konvention.»
James Woods Ton ist nicht der eines Professors, seine Haltung nicht die der literarischen Autorität. Er spricht als offener, neugieriger und geistesklarer Leser, der die Literatur liebt und versteht, also wie der Leser, der wir alle gern wären. In Deutschland hat solch ein Ton, hat der Verzicht auf Gespreiztheit und Gewicht, wenig Tradition, so wie auch das Erzählen hier eine weniger eindrucksvolle Geschichte hat als in England, Frankreich oder Russland. Auch deshalb wohl gibt es hier weder Kritiker wie Wood noch Bücher wie dieses. Aber auch die englische Sprache hat nur einen einzigen James Wood.
1857 schrieb John Ruskin ein kleines Büchlein mit dem Titel Die Grundlagen des Zeichnens. Es ist eine behutsam vorgehende Einführung, die dem ausübenden Maler, interessierten Bildbetrachter oder Kunstfreund dienlich sein will, indem sie den Blick des Kritikers auf den Vorgang des künstlerischen Schaffens richtet. Ruskin fordert seine Leser zunächst auf, die Natur ins Auge zu fassen, etwa ein Blatt, und dieses Blatt dann mit einem Stift zu zeichnen. Er verweist auf seine eigene Zeichnung eines Blattes und geht dann zu einem Gemälde von Tintoretto über: Schau auf die Pinselstriche, schreibt Ruskin, sieh dir an, wie Tintoretto Hände zeichnet und welche Sorgfalt er auf den Schattenwurf verwendet. Schritt für Schritt geleitet er seine Leser entlang der Prozesse des künstlerischen Schaffens. Seine Autorität rührt dabei nicht von seinen zeichnerischen Fähigkeiten her – er war ein fähiger, aber kein besonders begabter Künstler –, sondern von seinem guten Auge, dem genauen Hinschauen und von seinem Talent, dies Gesehene in verständlichen Sätzen wiederzugeben.
Es gibt erstaunlich wenig Bücher dieser Art über Romane. E. M. Forsters Ansichten des Romans, 1927 veröffentlicht, ist zu Recht ein Klassiker geworden, erscheint uns heutzutage jedoch zu allgemein. Ich bewundere ja Milan Kunderas drei Bücher über die Kunst des Romans, allerdings ist Kundera eher ein Romancier und Essayist als ein Kritiker an der Basis; gelegentlich wünscht man sich seine Hände ein wenig tintenbefleckter.
Die beiden von mir meistgeschätzten Romantheoretiker des 20. Jahrhunderts sind der russische Formalist Viktor Sklovski und der französische Formalist und Strukturalist Roland Barthes. Beide waren große Literaturkritiker, weil sie – als Formalisten – wie Schriftsteller dachten: Sie richteten ihre Aufmerksamkeit auf den Stil, die Wortwahl, die Form, die Metapher und die Symbolik. Allerdings dachten Barthes und Sklovski wie Autoren, denen der schöpferische Instinkt abhandengekommen war: Wie in die eigene Tasche wirtschaftende Bankangestellte pflegten sie sich immer wieder über ihre Existenzgrundlage herzumachen – den literarischen Stil. Vielleicht lag es an dieser Entfremdung und aggressiven Leidenschaft, dass sie zu Einsichten über den Roman gelangten, die mir tiefsinnig, jedoch unrichtig erscheinen. Dieses Buch setzt sich wiederholt mit ihnen auseinander.
Darüber hinaus waren beide Spezialisten, die – letzten Endes – für andere Spezialisten schrieben. Besonders Barthes formuliert nicht gerade so, als erwarte er, von irgendeinem gewöhnlichen Leser (selbst einem, der das Ungewöhnliche lernen will …) gelesen und verstanden zu werden.
Im vorliegenden Buch versuche ich, einige der wesentlichen Fragen zur Kunst des Erzählens zu stellen. Gibt es so etwas wie Realismus? Was verstehen wir unter einer gelungenen Metapher? Was ist eine Figur? Woran erkennen wir eine meisterhafte Verwendung von Details im Roman? Was ist Erzählperspektive, und wie wirkt sie? Was ist imaginative Anteilnahme? Warum rührt uns Literatur? Das sind alte Fragen. Literaturwissenschaft und Literaturtheorie haben einige von ihnen in letzter Zeit wiederbelebt; doch ich glaube nicht, dass dort gute Antworten gefunden wurden. So hoffe ich, mein Buch kann auf seine theoretischen Fragen Antworten aus der Praxis geben oder, anders ausgedrückt, auf die Fragen eines Kritikers die Antworten eines Autors anbieten.
Wenn es eine weiterreichende These enthält, dann diese: Erzählende Prosa ist sowohl Kunst als auch Wirklichkeit, sie trickst und sie ist wirklichkeitsgetreu, und beide Aspekte lassen sich ohne weiteres zusammenbringen. Deshalb habe ich mich bemüht, das Handwerkliche der Erzählkunst, das Wie, möglichst genau zu beschreiben, um es wiederum an die Welt zu koppeln, so wie Ruskin das Werk Tintorettos daran knüpfen wollte, wie wir ein Blatt betrachten. Infolgedessen greifen die Kapitel des Buches ineinander, jedes bewegt dieselbe ästhetische Position: Wenn ich von erlebter Rede spreche, spreche ich eigentlich über Perspektive und bei Perspektive eigentlich über die Wahrnehmung von Details und bei Details eigentlich über Figuren, und spreche ich über Figuren, dann spreche ich eigentlich über die Wirklichkeit, welche meinen Erkundungen zugrunde liegt.
Mit Rücksicht auf den Leser habe ich mich bemüht, den echten wissenschaftlichen Mief, um mit Joyce zu sprechen, auf ein erträgliches Maß zu reduzieren. Die Anmerkungen weisen lediglich auf unklare oder schwer auffindbare Quellen hin und geben das Ersterscheinungsjahr, nicht aber den Erscheinungsort oder den Verlag an (weil sich diese Angaben heutzutage viel leichter ermitteln lassen als früher). Im Haupttext habe ich die Erscheinungsjahre von Romanen und Erzählungen meist nicht erwähnt; in einer Liste am Ende des Buches führe ich dann alle im Text diskutierten Werke chronologisch nach ihrem Erscheinungsjahr auf.[*]
[*]
Hinweise zu deutschen Ausgaben finden sich ebenfalls dort oder in solchen mit * gekennzeichneten Fußnoten.
Erzählende Prosa ist ein Haus mit vielen Fenstern, aber nur zwei oder drei Türen. Ich kann eine Geschichte in der dritten Person oder in der ersten Person erzählen, vielleicht noch in der zweiten Person Singular oder der ersten Person Plural, obwohl es für letztere beide nur ganz wenige gelungene Beispiele gibt. Und das ist alles. Alles andere wird höchstwahrscheinlich kaum noch eine Erzählung sein, sondern eher Lyrik oder lyrische Prosa.
Was wir im Wesentlichen haben, sind Erzählungen in der dritten und in der ersten Person. Nach landläufiger Vorstellung besteht ein Gegensatz zwischen der zuverlässigen Erzählung (mit dem allwissenden Er-Erzähler) und der unzuverlässigen Erzählung (mit dem unzuverlässigen Ich-Erzähler, der gelegentlich weniger über sich weiß als der Leser). Auf der einen Seite etwa Tolstoi und auf der anderen Nabokovs Humbert Humbert (Lolita) oder Italo Svevos Erzähler Zeno Cosini oder Bertie Wooster bei P. G. Wodehouse. Mit der auktorialen Allwissenheit, so unterstellt man, sei es vorbei, genau wie mit dem «riesengroßen von Motten zerfressenen musikalischen Brokat» (Larkin), genannt Religion. W. G. Sebald antwortete mir einmal: «Eine literarische Produktion, die nicht die Unwissenheit des Erzählers eingesteht, ist eine Art von Hochstapelei, die auf mich sehr, sehr schwer hinnehmbar wirkt. Jegliche Form des auktorialen Schreibens, bei der sich der Erzähler als Bühnenbildner, Spielleiter oder Richter und Vollstrecker einsetzt, finde ich irgendwie unhaltbar. Ich kann es nicht ertragen, solche Bücher zu lesen.» Und Sebald fuhr fort: «Bei Jane Austen bezieht man sich auf eine Welt, in der bestimmte Regeln der Schicklichkeit von jedem respektiert wurden. In einer Welt, in der es klare Regeln gibt und jeder weiß, wo deren Übertretung beginnt, halte ich es für legitim – in einem solchen Kontext –, ein Erzähler zu sein, der die Regeln kennt und auf bestimmte Fragen die Antworten weiß. Ich glaube aber, solche Gewissheiten sind uns im Laufe der Geschichte genommen worden; wir müssen nun unser Gefühl der Unwissenheit und Unzulänglichkeit in diesen Dingen eingestehen und deshalb so auch zu schreiben versuchen.»[1]
Bei Sebald und seinesgleichen gilt die typische allwissende Er-Erzählung als eine Art von veraltetem Schwindel. Allerdings sind beide Seiten, an denen sich die Geister scheiden, bis zur Karikatur überzeichnet worden.
Tatsächlich tendiert die Ich-Erzählung im Allgemeinen eher zur Zuverlässigkeit; und die «allwissende» Erzählung in der dritten Person bleibt eher auf eine Teilansicht beschränkt.
Der Ich-Erzähler steht häufig höchst verlässlich da: Jane Eyre im gleichnamigen Roman von Charlotte Brontë zum Beispiel, diese äußerst vertrauenswürdige Ich-Erzählerin berichtet uns ihre Geschichte aus einer Perspektive nachträglicher Erkenntnis (im fortgeschrittenen Alter, nun Mrs. Rochester, kann sie ihre gesamte Lebensgeschichte überblicken, ähnlich wie Mr. Rochesters Sehkraft zum Ende des Romans nach und nach zurückkehrt). Und selbst der scheinbar unzuverlässige Erzähler ist häufig sehr verlässlich in seiner Unzuverlässigkeit. Man denke an Kazuo Ishiguros Butler in Was vom Tage übrig blieb oder an Bertie Wooster oder sogar an Humbert Humbert. Wir wissen, dass der Erzähler unzuverlässig ist, weil der Autor uns durch vertrauenswürdige Hinweise vor der Unzuverlässigkeit unseres Erzählers warnt. Es handelt sich dabei um eine Art auktorialer Markierung – der Roman lehrt uns, wie wir seinen Erzähler zu lesen haben.
Ein wirklich unzuverlässiges Erzählen kommt eigentlich sehr selten vor – ähnlich selten wie eine wirklich rätselhafte, wahrlich abgründige Figur. Der namenlose Erzähler in Knut Hamsuns Hunger wirkt in hohem Maße unzuverlässig und letztlich undurchschaubar (dass er geisteskrank ist, hilft nach); Dostojewskis Erzähler in den Aufzeichnungen aus dem Untergrund diente Hamsun als Vorbild. Italo Svevos Zeno Cosini wäre vielleicht das beste Beispiel für einen wahrhaft unzuverlässigen Erzähler. Er bildet sich ein, sich selbst einer Psychoanalyse zu unterziehen, indem er uns seine Lebensgeschichte erzählt (wie er es seinem Analytiker versprochen hat). Doch die Selbsterkenntnis, die er uns voll Zuversicht präsentiert, ist so drollig perforiert wie eine zerschossene Fahne.
Auf der anderen Seite ist das allwissende Erzählen selten so allwissend, wie es scheint. Der auktoriale Erzählstil lässt die Allwissenheit seiner dritten Person von vornherein partiell und zugeschnitten aussehen. Der auktoriale Stil neigt dazu, unsere Aufmerksamkeit auf den Autor zu lenken, auf seine Geschicklichkeit in der Konstruktion und damit auf seinen persönlichen Stempel. Auf diese Weise entsteht bei Flaubert das beinahe komische Paradox zwischen seinem berühmten Wunsch, der Autor möge «unpersönlich», gottähnlich und beseitigt sein, und seinem hochgradig persönlichen Stil, seinen ausgesuchten Sätzen und Details, die also auf jeder Seite nur Gottes prunkende Signaturen sind – so viel zum unpersönlichen Autor. Tolstoi kommt der reinen Idee auktorialer Allwissenheit noch am nächsten. Er bedient sich mit größter Natürlichkeit und Autorität einer Schreibweise, die Roland Barthes den «Referenzcode» (oder auch den «kulturellen Code») genannt hat. Dabei beruft sich ein Autor vertrauensvoll auf eine universelle oder allgemein anerkannte Wahrheit oder auf ein Corpus allgemein geteilten kulturellen oder wissenschaftlichen Wissens.[1]
Sogenannte Allwissenheit ist nahezu unmöglich. Sobald jemand eine Geschichte über eine Figur erzählt, scheint es, als wolle sich die Schilderung um die Figur schmiegen, mit ihr verschmelzen und ihre Art des Denkens und Sprechens annehmen. Die Allwissenheit des Romanciers gerät schon bald zu einer Art Mitwisserschaft. Man nennt dies erlebte Rede (im Französischen «Style indirect libre»), doch Romanciers haben viele verschiedene Namen dafür, «close third person», hautnahe dritte Person, oder «going into character».[1]
a) «Er sah hinüber zu seiner Frau. ‹Sie sieht so unglücklich aus›, dachte er bei sich, ‹fast krank.› Er fragte sich, was er sagen sollte.» – Das ist direkte oder zitierte Rede («‹Sie sieht so unglücklich aus›, dachte er bei sich»), kombiniert mit wiedergegebener oder indirekter Rede der Figur («Er fragte sich, was er sagen sollte»). Ein Beispiel für die altmodische Auffassung der Gedanken einer Figur als Selbstgespräch, als eine Art innerer Ansprache.
b) «Er sah hinüber zu seiner Frau. Sie sah so unglücklich aus, dachte er, fast krank. Er fragte sich, was er sagen sollte.» – Das ist wiedergegebene oder indirekte Rede, die innere Rede des Ehemanns, wiedergegeben vom Autor und als solche gekennzeichnet («dachte er»). Sie stellt den erkennbarsten und geläufigsten Code der realistischen Erzählung dar.
c) «Er sah seine Frau an. Ja, sie war wieder so entnervend unglücklich, fast krank. Was, zum Teufel, sollte er sagen?» – Das ist erlebte Rede: Die innere Rede oder die Gedanken des Ehemanns werden als solche nicht mehr vom Autor gekennzeichnet, kein «sagte er zu sich selbst» oder «fragte er sich» oder «dachte er».
Man beachte den Gewinn an Flexibilität. Die Erzählung scheint vom Autor wegzutreiben und die Eigenschaften der Figur anzunehmen, der die Worte nun zu «gehören» scheinen. Der Autor kann nach Belieben den Gedanken seiner Figur konjugieren, ihn um deren eigene Worte herum bilden («Was, zum Teufel, sollte er sagen?»). Wir sind nahe am Bewusstseinsstrom, und das ist auch die Richtung, in welche sich die erlebte Rede im neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert entwickelt hat: «Er sah sie an. Unglücklich, klar, krank. Zweifellos ein schwerer Fehler, es ihr erzählt zu haben. Wieder einmal sein blödes Gewissen. Warum hatte er es herausposaunt? Alles seine Schuld, und was jetzt?»
Man merkt, wie ähnlich solch ein innerer Monolog ohne jede Markierung oder Anführungszeichen erneut dem reinen Selbstgespräch in Romanen des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts wird (ein Beispiel für eine technische Verfeinerung, die gerade mal eine ursprüngliche Technik reinstauriert, die zu elementar und nützlich – zu reell – ist, als dass man ohne sie auskommen könnte).
Erlebte Rede wirkt am stärksten, wenn sie kaum merklich eingesetzt wird: «Ted verfolgte das Orchesterspiel mit lächerlichen Tränen in den Augen.» Hier markiert das Wort «lächerlich» die erlebte Rede des Satzes. Entfernen wir es, bekommen wir den normalen Gedankenbericht: «Ted verfolgte das Orchesterspiel mit Tränen in den Augen.» Der Zusatz «lächerlich» wirft die Frage auf: Wer sagt das? Ich werde wohl meine Figur nicht als «lächerlich» bezeichnen, nur weil sie irgendeiner Musik in einem Konzertsaal lauscht. Nein, wie durch einen alchemistischen Zauber gehört das Wort nun teilweise zu Ted. Er lauscht der Musik, weint und schämt sich – wir sehen geradezu, wie er sich wütend die Augen reibt, weil er diesen «lächerlichen» Tränen gestattet hatte zu fließen. Umformuliert in die erste Person heißt das: «‹Lächerlich, bei diesem albernen Brahms zu weinen›, dachte er.» Doch diese Version braucht einige Worte mehr, und die verwickelte Präsenz des Autors haben wir verloren.
Die besondere Wirkung der erlebten Rede beruht darauf, dass ein Wort wie in unserem Beispiel «lächerlich» sowohl dem Autor als auch der Figur angehören kann; wir sind nicht ganz sicher, wer das Wort «besitzt». Könnte «lächerlich» auf eine leichte Schroffheit oder Distanz vonseiten des Autors hindeuten? Oder gehört das Wort gänzlich der Figur, weil es der Autor in einem Anfall von Sympathie dem tränenreichen Burschen sozusagen «herübergereicht» hat?
Dank der erlebten Rede sehen wir die Dinge mit den Augen und in der Sprache der Figur und zugleich mit den Augen und in der Sprache des Autors. Wir befinden uns in Allwissenheit wie in Parteilichkeit. Zwischen Autor und Figur tut sich eine Kluft auf, und die Brücke – welche die erlebte Rede ist – überwindet diese Kluft, wie sie zugleich die Aufmerksamkeit darauf richtet.
Es handelt sich im Grunde um eine andere Form der dramatischen Ironie: Wir sehen mit den Augen einer Figur, während wir dazu angeregt werden, mehr zu sehen, als die Figur sehen kann (ihre Unzuverlässigkeit entspricht der des unzuverlässigen Ich-Erzählers).
Die besten Beispiele der dramatischen Ironie liefert die Kinderliteratur; oft gibt sie einem Kind – oder stellvertretend einem Tier – die Welt nur eingeschränkt zu sehen, während sie den älteren Leser auf diese Einschränkungen hinweist. In Robert McCloskeys Make Way for Ducklings probieren Mr. und Mrs. Mallard gerade aus, ob sich die öffentlichen Gärten von Boston als ihr neues Zuhause eignen, als ein Schwanenboot vorübergleitet (ein Boot, das wie ein Schwan aussieht, aber in Wirklichkeit von einem Menschen, der in die Pedale tritt, bewegt wird). Mr. Mallard hat so etwas noch nie gesehen, und McCloskey fällt automatisch in die erlebte Rede: «Gerade als sie zum Aufbruch bereit waren, kam ein merkwürdiger, riesiger Vogel vorbei. Er schob ein Boot voller Menschen vorwärts, und ein Mann saß auf seinem Rücken. ‹Guten Morgen›, schnatterte Mr. Mallard höflich. Der große Vogel war zu eingebildet, um zu antworten.» Statt uns zu erzählen, dass Mr. Mallard aus dem Schwanenboot nicht klug wird, versetzt uns McCloskey in Mr. Mallards Verwirrtheit; dessen Verwirrung ist jedoch so offenkundig, dass sich eine weite ironische Kluft zwischen Mr. Mallard und uns Lesern (oder dem Autor) auftut. Wir sind nicht auf dieselbe Weise verwirrt wie Mr. Mallard, doch wir werden in die Lage versetzt, Mr. Mallards Verwirrung mitzuerleben.
Was passiert, wenn ein anspruchsvollerer Autor lediglich eine sehr schmale Kluft zwischen Figur und Autor auftun möchte? Was passiert, wenn uns ein Romancier die Verwirrung seiner Figur erleben lassen, diese Verwirrung aber nicht zurechtrücken will; wenn er davon absieht, uns darüber aufzuklären, wie der Zustand der Nicht-Verwirrtheit aussähe. Gehen wir direkt von McCloskey zu Henry James. In erzähltechnischer Hinsicht gibt es nämlich eine Verbindung zwischen Make Way for Ducklings und beispielsweise Henry James’ Roman Maisie. Erlebte Rede trägt hier dazu bei, dass wir nun eine jugendliche Verwirrung miterleben, nicht die einer Ente. James erzählt in der dritten Person die Geschichte von Maisie Farange, einem kleinen Mädchen, dessen Eltern sich in erbittertem Streit scheiden ließen. Das Kind fühlt sich zwischen ihnen hin und her gerissen, zumal gerade von beiden Seiten Gouvernanten für sie engagiert werden. James möchte uns die Verwirrtheit des Kindes miterleben lassen und zugleich die Korruptheit der Erwachsenen aus der Perspektive kindlicher Unschuld beschreiben. Maisie mag eine der Gouvernanten, nämlich die unschöne, deutlich der unteren Mittelschicht zugehörige Mrs. Wix, die ihr Haar ziemlich seltsam trägt und früher einmal eine kleine Tochter namens Clara Mathilde gehabt hat. Sie war, etwa im Alter von Maisie, in der Harrow Road umgekommen und auf dem Friedhof in Kensal Green begraben worden. Maisie weiß, dass ihre elegante und oberflächliche Mutter nicht viel von Mrs. Wix hält, deshalb mag sie die Gouvernante aber nicht weniger:
«Das alles war der Grund, dass Mama sie für solch ein geringes Gehalt, eigentlich für so gut wie nichts bekam; es war so wenig, dass eines Tages, als Mrs. Wix sie in das Wohnzimmer begleitet und dann verlassen hatte, das Kind eine der Damen, die sie dort antraf – eine Dame mit Augenbrauen, die wie Kindersprungseile gewölbt waren, und weißen Handschuhen mit dicker schwarzer Stepperei wie die Linien auf Notenpapier –, zu einer anderen tuscheln hörte. Sie wusste, Gouvernanten waren arm. Miss Overmore war es mehr, als man offen aussprechen konnte, und Mrs. Wix war genauso arm, wie man allgemein wusste. Aber weder dies noch der alte braune Rock, noch das Diadem, noch der Knopf konnten in Maisies Augen dem Zauber etwas anhaben, der all diesem anhaftete, dem Zauber, durch den Mrs. Wix offenbarte, dass sie – in all ihrer Hässlichkeit und Armut – ein besonderer und beruhigend verlässlicher Mensch war; verlässlicher als jeder sonst in der Welt, als Papa, als Mama, als die Dame mit den gewölbten Augenbrauen; verlässlicher sogar, obgleich so sehr viel weniger schön, als Miss Overmore, auf deren Liebreiz, wie das kleine Mädchen ihn empfand, man sich, wie ihr ahnend aufging, nicht so verlassen konnte wie auf die Liebkosungen und Gutenachtküsse der anderen. Mrs. Wix war so verlässlich wie Clara Mathilde, die im Himmel war und dennoch, so sehr, dass es einen fast in Verwirrung bringen konnte, auch in Kensal Green, wo sie gemeinsam gewesen waren, um ihr kleines, von Unkraut überwuchertes Grab zu besuchen.»
Was für eine großartige Passage! Flexibel und dabei imstande, unterschiedliche Ebenen des Begreifens und der Ironie anklingen zu lassen, erfüllt von rührender Identifikation mit der jungen Maisie und doch ständig in Bewegung zu Maisie hin und von ihr weg, zurück zum Autor.
Henry James’ erlebte Rede ermöglicht es uns, mindestens drei verschiedene Perspektiven auf einmal mitzuerleben: das offizielle elterliche und Erwachsenenurteil über Mrs. Wix, Maisies Version dieser Sicht und ihre ganz eigene. Das offizielle Urteil, das Maisie zufällig aufgeschnappt hat, wird durch sie gefiltert, insofern sie es nur halbwegs versteht: «Das alles war der Grund, dass Mama sie für solch ein geringes Gehalt, eigentlich für so gut wie nichts bekam.» Die gehässigen Worte, die die Dame mit den gewölbten Augenbrauen einer anderen Dame zuraunt, werden von Maisie paraphrasiert – nicht besonders skeptisch oder aufsässig, sondern mit dem Respekt, den Kinder, große Augen machend, einer Autorität entgegenbringen. James muss uns spüren lassen, dass Maisie viel weiß, aber eben nicht genug. Maisie mag die Frau mit den gewölbten Augenbrauen, die so über Mrs. Wix tuschelt, vielleicht nicht besonders leiden, sie fürchtet jedoch ihr Urteil, und wir können eine Art von erregtem Respekt aus ihrer Erzählung heraushören. Die erlebte Rede wird so gekonnt eingesetzt, dass sie reine Stimme ist – sie strebt danach, sich in die Rede zurückzuverwandeln, die sie paraphrasiert: Wir können Maisie geradezu sagen hören (wie zu einer guten Freundin, die ihr in der Tat schmerzlich fehlt): «Weißt du, Mama hat sie für ganz wenig Geld bekommen, weil sie sehr arm ist und eine tote Tochter hat. Ich war an ihrem Grab, weißt du.»
Es gibt also die offizielle Meinung der Erwachsenen über Mrs. Wix und dann Maisies Auffassung von dieser abfälligen Meinung und schließlich noch Maisies eigene, viel warmherzigere Meinung von Mrs. Wix, die zwar nicht so elegant wie ihre Vorgängerin, Miss Overmore, sein mag, doch als Lieferantin von «Liebkosungen und Gutenachtküssen» weitaus zuverlässiger zu sein scheint. (James opfert hier seine eigene stilistische Eleganz, um Maisie durch sich «sprechen» zu lassen, vom «tucked-in and kissed-for-good-night feeling».)
James’ Genie schlägt sich in einem Wort nieder: «embarrassingly».[*] Hier kommt alle Anspannung zur Ruhe. «Mrs. Wix was as safe as Clara Matilda, who was in heaven and yet, embarrassingly, also in Kensal Green, where they had been together to see her little huddled grave.» Wessen Wort ist dieses «embarrassingly»? Es ist Maisies. Es bringt ein Kind in Verlegenheit, die Trauer von Erwachsenen zu erleben; wir Leser wissen außerdem, dass Mrs. Wix angefangen hat, Clara Mathilde «Maisies kleine tote Schwester» zu nennen. Wir können uns also vorstellen, wie Maisie neben Mrs. Wix auf dem Friedhof in Kensal Green steht – es ist typisch für James’ Erzählweise, den Namen des berühmten Friedhofs bis zu diesem Moment nicht zu erwähnen, es uns zu überlassen, ihn zu erschließen; wir können uns vorstellen, wie sie neben Mrs. Wix steht, sich unbeholfen und verlegen fühlt, beeindruckt und zugleich ein wenig in Furcht vor der Trauer von Mrs. Wix. Und eben das ist das Geniale an der Passage: Trotz der größeren Sympathie für Mrs. Wix steht Maisie zu ihr in derselben Beziehung wie zu der Dame mit den gewölbten Augenbrauen, beide Frauen bringen sie in einige Verlegenheit. Sie versteht keine von beiden so richtig, auch wenn sie zu ihrem eigenen Unverständnis die eine der anderen vorzieht. «Embarrassingly»: dieses Wort kodiert Maisies natürliche Verlegenheit und zugleich die verinnerlichte Verlegenheit der offiziellen Erwachsenenmeinung («Meine Liebe, es ist so peinlich, wie diese Frau sie immer nach Kensal Green mitnimmt!»).
[*]
Nicht in der deutschen Übersetzung – vgl. Abschnitt 12. Hier entspricht «embarrassingly» der Zeile «dass es einen fast in Verwirrung bringen konnte».
Entfernen wir das «embarrassingly» aus dem Satz, bleibt kaum noch erlebte Rede übrig: «Mrs. Wix was as safe as Clara Matilda, who was in heaven and yet also in Kensal Green, where they had been together to see her little huddled grave.» Die Hinzufügung eines einzigen Adverbs zieht uns tief in Maisies Verwirrung hinein, und in dem Moment werden wir zu ihr – dieses Adverb wird von James an Maisie gereicht, es wird ihr geschenkt. Und wir verschmelzen mit ihr. Doch in demselben Satz, in dem wir kurz mit ihr verschmolzen sind, zieht es uns auch wieder zurück: «her little huddled grave», ihr elendes kleines Grab. «Embarrassingly» hatte von Maisie stammen können, «huddled» (elend) nicht. Es stammt von James. Der Satz pulsiert, atmet ein und aus, bewegt sich hin zu der Figur und fort von ihr – wenn wir bei «huddled» angelangt sind, werden wir an den Autor erinnert, dass er es uns erst gestattet, mit seiner Figur zu verschmelzen, und sein enormer Stil dieses großzügige Angebot enthält.
Den Kritiker Hugh Kenner beschäftigte ein Detail in James Joyces Porträt des Künstlers als junger Mann, in dem es heißt, jeden Morgen «verfügte sich» Onkel Charles zu seinem Häusel (Uncle Charles «repairs» …). «Sich verfügen» ist ein gespreiztes Verb, das zu einer ausgedienten dichterischen Konvention gehört. Es ist «schlechter» Stil. Joyce, mit seinem scharfen Auge für Klischees, könne ein solches Wort nur mit Absicht benutzt haben. Es müsse, so Kenner, Onkel Charles’ Ausdruck sein; das Wort «repairs» gehöre zu dessen selbstverliebter Vorstellung von der eigenen Bedeutung («und so verfüge ich mich zu meinem Häusel»). Kenner nennt es das Onkel-Charles-Prinzip und hält es rätselhafterweise für «etwas Neues in der Literatur». Das ist es nicht, wie wir wissen, sondern lediglich eine Variante der erlebten Rede. Joyce beherrscht sie meisterhaft. Seine Erzählung Die Toten beginnt so: «Lily, die Tochter des Verwalters, musste sich buchstäblich die Beine ablaufen.» Niemand läuft sich buchstäblich die Beine ab. Was wir hören, ist Lily, wie sie zu sich selbst oder zu einer Freundin sagt (mit starker Betonung genau auf dem allerunpassendsten Wort und mit einem starken Akzent): «Ich musste mir buch-stäb-lich die Beine ablaufen!»
Kenners Beispiel ist zwar ein wenig anders gelagert, doch schon die pseudoheroische Dichtung des achtzehnten Jahrhunderts gewinnt die Lacher für sich, indem sie die Sprache des Epos oder der Bibel auf nichtige Menschen anwendet. Popes Der Lockenraub lässt Belindas Toilettenartikel auf ihrem Schmink- und Frisiertisch «unzählige Schätze» sein; «hier schimmerte Hindustans Juwelenschein», und «ganz Arabien hauchte aus jenem Schrein» und so fort.[*] Es macht den Scherz mit aus, dass die Persönlichkeit – wobei «Persönlichkeit» ebenfalls eine pseudoheroische Ausdrucksweise ist – gern in dieser Art von sich selbst sprechen würde, die übrige Komik ergibt sich durch die tatsächliche Bedeutungslosigkeit der Person. Und was ist dies anderes als ein frühes Beispiel erlebter Rede?
Jane Austen macht uns zu Beginn des 5. Kapitels von Stolz und Vorurteil mit Sir William Lucas bekannt, einst Bürgermeister von Longbourn. Seit Lucas vom König zum Ritter geschlagen worden ist, glaubt er, zu gewichtig für das Landstädtchen zu sein und sich eine neue Behausung suchen zu müssen:
«Sir William Lucas hatte früher ein Geschäft in Meryton betrieben, wo er ein ansehnliches Vermögen [a tolerable fortune] erworben hatte und als Bürgermeister nach einer Ansprache an den König geadelt worden war. Diese ehrenvolle Auszeichnung war ihm vielleicht zu Kopf gestiegen, jedenfalls flößten ihm seine Firma und sein Wohnsitz in einer Kleinstadt nun Widerwillen ein. Er hatte beides aufgegeben und sich mit seiner Familie in ein Haus – seitdem Lucas Lodge genannt [denominated from that period Lucas Lodge] – sieben Meilen vor den Toren Merytons zurückgezogen, wo er sich seiner eigenen Bedeutung widmen konnte …»
Austens Ironie tanzt über diese Passage wie die langbeinige Fliege in Yeats’ Gedicht: «a tolerable fortune», ein leidliches Vermögen, was könnte das sein – für wen unleidlich, für wen leidlich? Doch ein wunderbares Beispiel für pseudoheroische Komik bietet die Wendung «denominated from that period Lucas Lodge»: fortan Lucas Lodge genannt. «Lucas Lodge» allein klingt schon komisch, wie Toad von Toad Hall oder Shandy Hall, und wir können sicher sein, dass dieses Haus an die Grandezza des Stabreims nicht heranreicht. Das pompöse «denominated from that period» wiederum wirkt komisch, weil man sich vorstellen kann, wie Sir William zu sich selbst sagt: «Und ich heiße dies Haus fortan