Uterus - Astrid Schwikardi - E-Book

Uterus E-Book

Astrid Schwikardi

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Beschreibung

Eine grausame Mordserie versetzt Köln in Angst und Schrecken. Ein Serienmörder tötet Frauen, schneidet ihnen den Uterus heraus und drapiert ihre Leichen auf Waldlichtungen. Jederzeit könnte er wieder zuschlagen, denn er hat eine Todesliste, die er auf bestialische Art und Weise abarbeitet. Noch immer schwer angeschlagen nach dem Mord an seiner Schwester Patricia, übernimmt der Ermittler Mark Birkholz die Ermittlungen. Eine folgenschwere Entscheidung! Und ehe er sich versieht, wird er in einen Strudel gezogen, der ihn hinab auf den Grund seines tiefsten Seelenschmerzes zieht.

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Seitenzahl: 374

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eISBN 978-3-947612-33-8

Copyright © 2019 mainbook Verlag

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Gerd Fischer

Covergestaltung: Lukas Hüttner

Auf der Verlagshomepage finden Sie weitere spannende Bücher: www.mainbook.de

Astrid Schwikardi

Uterus

Ein Köln-Krimi

Die Autorin

Astrid Schwikardi, geboren 1974 in einer Kleinstadt, in der Nähe von Wuppertal. Hauptberuflich arbeitet sie derzeit als Führungskraft in einem Versicherungsunternehmen. Neben ihrer beruflichen Tätigkeit besucht sie entweder laute Musikevents, entspannt im Kino bei einem Actionfilm oder verbringt ihre Freizeit mit Freunden, sofern sie nicht gerade spannende Kriminal- und Kurzgeschichten schreibt.

Sowohl unter ihrem realen Namen als auch unter ihrem Pseudonym V.J. Courtier sind bereits einige ihrer Kurzgeschichten in Anthologien veröffentlicht worden. Ihr Debütroman „Uterus“ ist der erste Band einer Kriminalreihe rund um den Ermittler Mark Birkholz.

Das Buch

Die Studentin Sophie Reuter wird bewusstlos in einem Fitnessstudio aufgefunden und leidet seitdem an einer retrograden Amnesie. Das Einzige, woran sie sich erinnert, ist, dass sie mit ihrer Freundin Katharina Bernstein verabredet war, die aber seitdem spurlos verschwunden ist.

Weitere Vermisstenanzeigen junger Frauen folgen, und so übernimmt Mark Birkholz, Kriminalhauptkommissar bei der Kölner Kripo, die Ermittlungen, als die Leiche einer vermissten Frau brutal ermordet auf einer Waldlichtung im Königsforst gefunden wird. Nur kurze Zeit später findet er in unmittelbarer Nähe des Fundortes eine weitere Leiche: Katharina Bernstein.

Für Birkholz scheint der Fall klar: das Werk eines Ritualmörders. Doch eine grausame Entdeckung des zuständigen Rechtsmediziners lenkt sie in eine ganz andere Richtung. Ohne Vorwarnung wird Mark mit seiner Vergangenheit konfrontiert, mit seinen inneren Dämonen, die er über Monate hinweg verdrängt hatte …

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Epilog

Danke

Kapitel 1

Lauwarmes Wasser prasselte auf Katharinas nackten Körper und spülte feine Schaumflocken fort, die ihre weiblichen Rundungen sanft umspielten. Zusammengeführt zu einem Rinnsal lösten sie sich auf, bevor der Abguss sie hinab in die Tiefe zog.

Der Duft von Lavendel stieg in ihre Nase. Und je länger sie ihre Kopfhaut massierte und das Shampoo aus ihren langen dunklen Haaren floss, desto intensiver wurde er. Sie überlegte, wann sie zum letzten Mal auf die Uhr gesehen hatte. Es musste gegen halb zehn gewesen sein, zumindest hatte gegen halb zehn das letzte Mitglied, und somit ihr letzter Gast, den Sportpark verlassen. Oder war es doch später gewesen?

Sie quetschte die Reste des Duschgels aus der Flasche und verrieb den Schaum auf ihren Oberschenkeln. Ihre Finger wanderten zu ihren empfindlichsten Stellen, hinunter zu dem kaum spürbaren Flaum, während sie das Gesicht in den Wasserstrahl reckte. Abrupt verharrte sie in der Bewegung, als ein kalter Lufthauch sie streifte und eine Tür ins Schloss fiel. Ein kaum hörbares Klirren folgte.

Sie hatte die Eingangstür zum Mexxifit absichtlich offengelassen, damit Sophie an der Theke auf sie warten konnte. Das musste sie sein. Obwohl Sophie in all den Jahren, in denen sie schon befreundet waren, noch nie pünktlich gewesen war.

Verwundert drehte sich Katharina um, schaute in den leeren Umkleideraum, hinüber zu ihrer Bluejeans und Oversize-Bluse, die sie kurz zuvor auf die Bank gelegt hatte. Ihr Blick blieb bei ihren schwarzen Stiefeletten hängen, die sie achtlos auf den Boden geworfen hatte. Normalerweise nicht ihre Art. Unruhe stieg in ihr hoch. Ein Gefühl, das sie gut kannte, und das schon seit Monaten.

Sie atmete tief ein, versuchte sich zu beruhigen, denn es gab keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Mit einem Kopfschütteln verbannte sie ihre schlechten Gedanken, malte sich stattdessen in schillernden Farben aus, wie Sophie und sie heute Nacht die Stadt unsicher machen, ausgelassen feiern und Typen aufreißen würden. Einfach die Zeit vergessen und abfeiern bis zum Morgengrauen.

Ihr Kopf schnellte herum, als sie das Schaben von Metall hörte. Doch da war noch etwas anderes. Aber was? Sie kannte das Geräusch, hatte es schon mal gehört. Nur wo?

Blut rauschte in ihren Ohren. Ihr Herz hämmerte gegen ihr Brustbein. Panisch überlegte sie, wie viele Mitglieder vorhin im Gerätebereich trainiert hatten. War parallel ein Kurs gelaufen? Sie presste die Lippen aufeinander und dachte angestrengt nach. Wäre eben jemand im Sportpark gewesen, hätte sie ihn doch bemerkt.

Nein! Unmöglich! Niemals hätte sie eine Person übersehen. Es sei denn …

Nachdenklich schaute sie zum Rinnsal, das sich zwischen ihren Füßen langsam zum Abfluss schlängelte.

„Sophie, bist du das?“, hallte ihre Stimme, die plötzlich sonderbar fremd klang.

Kapitel 2

Sophie Reuter rutschte auf dem Fahrersitz des roten Renaults hin und her, sah im Minutentakt auf die Uhr und verfluchte ihre Freundin Katharina. Wütend würgte sie das monotone Gequatsche des Radiomoderators ab, band sich ihre blonden Haare zu einem Dutt zusammen und schwang sich aus dem Wagen. Ihr Blick schweifte über den abgelegenen Parkplatz, auf dem nur noch der Renault stand, der Wagen ihrer Mutter, und sie ärgerte sich, dass Katharina ausgerechnet heute Abend trödeln musste.

Und was, wenn Goran Stakovic Katharina erwischt hatte? Woran sie selbst schuld wäre, denn es war nur eine Frage der Zeit, bis der großkotzige Sportparkinhaber sie beim Trainieren an den Fitnessgeräten ertappen würde. Vermutlich hielt Stakovic ihr gerade eine Standpauke, die sich gewaschen hatte.

Nachdenklich betrachtete Sophie die Leuchtschrift des Mexxifits, steuerte den Eingang an, stutze aber augenblicklich, als sie kurz darauf den Fitnessclub betrat. Kein rhythmischer Musiksound, der aus den Boxen dröhnte. Weit und breit kein brüllender Stakovic, der Katharina einen Einlauf verpasste. Ungläubig schaute sie hinüber zum Gang, der zu den Tennisplätzen führte. Doch bis auf den weiträumigen Empfangsbereich lag alles im Dunkeln.

„Katharina?“

Sie biss den Hautfetzen an ihrem Daumen ab, knabberte an ihrem Fingernagel und überlegte, wo Katharina stecken könnte. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie plötzlich eine Bewegung. Sie drehte sich um und erschrak, als sie sich in der deckenhohen Spiegelfront erkannte. Ein mädchenhaftes Kichern drang aus ihrem Mund und sie fragte sich ernsthaft, wie bescheuert sie eigentlich war. Doch zugegeben, das herabfallende Wasser der Wasserfallstele sowie die ungewöhnliche Stille trugen nicht gerade zu ihrer Belustigung bei. Vielmehr hatten sich die feinen Härchen auf ihren Unterarmen aufgerichtet und eine Gänsehaut war zum Vorschein gekommen. Noch dazu hatte sie den Eindruck, als wenn sich ein finsterer Umhang um das Gebäude gelegt hätte. Sie sah zur Tür, neben der ein Chromschild mit eingestanzten Figuren befestigt worden war. Eher zögerlich näherte sie sich der Tür und lauschte.

„Katharina?“

Ihr Herz klopfte. Ihre Ohren dröhnten. Innerhalb weniger Sekunden hatten sich ihre Hände in Eiszapfen verwandelt. Sogar ihre Fingerkuppen fühlten sich taub an. Nachdenklich starrte sie zu Boden und spielte mit dem Gedanken, den Sportpark schleunigst zu verlassen. Sie schüttelte den Kopf und ärgerte sich über sich selbst. Wann würde sie endlich aufhören, vor allem und jedem Angst zu haben?

Sie bemerkte den Lichtschein, der unter dem Schlitz hindurch schimmerte, und öffnete die Tür. Kaltes Licht stach ihr in die Augen, als sie kurz darauf den Korridor entlangging. Auf Höhe der Herrenumkleidekabine vernahm sie ein Geräusch und blieb ruckartig stehen. Zeitgleich fing eine Stimme in ihrem Kopf an zu flüstern: Verschwinde! Lauf fort, solange du kannst.

Sie schrie, klopfte sich mit den Händen an die Stirn und faselte unaufhörlich, dass alles nicht real wäre. Dass sie sich alles nur einbilden würde. Dass alles gleich wieder vergehen würde. So wie sonst immer.

Doch nichts verging. Im Gegenteil.

Mit jedem weiteren Schritt wuchs ihre Angst und ein schwer auszuhaltender Druck spannte sich um ihren Brustkorb. Sie japste nach Luft, horchte auf, aber da war nur diese erdrückende Stille. Mühsam setzte sie einen Fuß vor den nächsten, bis sie am Ende des Ganges vor einer Tür stehenblieb.

Stimmen drangen an ihr Ohr. Nur verstand sie nicht, was sie sagten. Sie lauschte, hörte die Stimmen klar und deutlich. Langsam drückte sie die Klinke hinunter, betrat den Umkleideraum und ließ ihren Blick schweifen. Doch der Raum war leer.

Nebel breitete sich in ihrem Kopf aus und hüllte sie in ein dunkles Nichts, das ihre Sinne betäubte und sie fortzutragen schien.

Sophie taumelte und merkte nicht mehr, wie sie in sich zusammensackte und mit dem Hinterkopf auf die harten Bodenfliesen aufschlug.

Kapitel 3

Kriminalhauptkommissar Mark Birkholz bog mit seinem schwarzen BMW von der Riehler Straße ab und erreichte gegen Viertel vor elf das denkmalgeschützte Justizgebäude am Reichenspergerplatz. Seine Finger trommelten aufs Lenkrad, während er an den parkenden Fahrzeugen vorbeirollte und nach einem Parkplatz Ausschau hielt. Er war spät dran und ignorierte daher das penetrante Klingeln seines Handys. Einige Meter entfernt entdeckte er einen älteren Mann, der gerade seinen dunkelgrünen Toyota aus einer Parklücke manövrierte. Er nutzte den Moment und schaute aus müden Augen zu seinem Mobiltelefon. Kurz darauf blickte er jedoch verdutzt auf, als der Toyotafahrer an ihm vorbeifuhr, und ein auf Hochglanz polierter Zweisitzer in die freigewordene Lücke raste und mit quietschenden Reifen bremste.

„Wie dreist ist das denn!“, schimpfte er, sprang aus seinem Wagen und rief: „Tschuldigung, das war mein Parkplatz.“

Die Fahrerin mit der dunklen Löwenmähne wartete, bis sich das Verdeck vollständig geschlossen hatte, stieg aus und lächelte zuckersüß. „Ganz genau. Das war Ihr Parkplatz. Mit der Betonung auf war!“, erwiderte sie und entschwand zwischen den Fahrzeugen.

Marks Kinnlade klappte herunter. Sprachlos schaute er ihr hinterher. Solange, bis ihn ein Hupkonzert auf den Boden der Tatsachen zurückholte. Sein Blick schweifte über die wartende Autoschlange, die sich hinter seinem Fahrzeug gebildet hatte. Um die Wette drückten die Fahrer auf die Hupen. Kopfschüttelnd ging er zurück, warf sich hinters Lenkrad und fuhr weiter.

Zehn Minuten später betrat Mark den Gerichtssaal, stutzte aber, als er die überfüllten Sitzreihen erblickte. Zahlreiche Zuschauer hockten zusammengequetscht auf Stühlen und brachten ihren Sitznachbarn auf den aktuellsten Stand. In der dritten Reihe, neben zwei älteren Damen, entdeckte er eine Lücke und nahm kurz darauf Platz. Seinen beiden Sitznachbarinnen schenkte er ein Sonntagslächeln, während er seine durchtrainierten Arme vor seiner Brust verschränkte. Wenn nicht seine blonden, strubbeligen Haare und sein markantes, unrasiertes Kinn gewesen wären, würde er mit seinem hellblauen Hemd und seiner dunklen Anzughose an den typischen Bankkaufmann erinnern, der seine Kunden am Schalter in Empfang nahm, bevor er mit ihnen ihre Geldsorgen besprach.

Der Geruch von altem Holz hatte sich im Laufe des letzten Jahrhunderts in die Räume des historischen Gerichtsgebäudes gefressen und wehte zu ihm herüber, als ein Vollzugsbeamter ein Fenster öffnete.

Gegen elf wurde es in den Zuschauerreihen unruhiger. Das hohe Gericht hatte den Saal betreten und ließ sich gerade auf den Stühlen nieder. Ein zufriedenes Lächeln huschte über Marks Gesicht, das in der Aufwärtsbewegung gefror. Hastig rutschte er zur Seite, landete beinahe auf dem Schoß seiner Nachbardame und versuchte zwischen zwei Zuschauerköpfen das Gesicht einer Frau zu erkennen, das sich hinter einer dunklen Lockenpracht verbarg. Irritiert runzelte die Frau ihre Stirn, als sie seinen Blick bemerkte. Es dauerte einen Moment, bis er begriff, dass es sich bei der Dame um jene Person handelte, die ihm kurz zuvor den Parkplatz vor der Nase weggeschnappt hatte.

‚Staatsanwältin Maja Reinhold‘, las er auf dem Namensschild, das vor ihr auf dem Tisch stand, und sein Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen.

Eine Stunde später schlenderte Marks Freund und Kollege Stefan Rauhaus mit hängenden Schultern an einer neubarocken Sandsteinsäule vorbei, schlürfte lustlos an seinem Kaffee und fuhr sich durch seine dunkle, fünf Millimeter kurz geschorene Naturkrause.

„Und ich war mir so sicher, dass wir ihn heute dingfest machen“, raunte Stefan ihm zu, während er sich mit einem düsteren Gesichtsausdruck zum Angeklagten drehte, der gerade am Fenster lehnte und seinem Anwalt zunickte.

„Den kriegen wir noch“, beruhigte Mark seinen Kollegen, als plötzlich sein Handy vibrierte und einen Anruf seines Vorgesetzten ankündigte.

„Dahlmann“, murmelte er und verzog seinen Mund.

„Was will der Alte?“, fragte Stefan und warf seinen leeren Kaffeebecher in einen Mülleimer.

„Das erfahre ich noch früh genug“, erwiderte Mark, klickte den Anruf weg und folgte Stefan die Treppenstufen hinunter, bis sich am Hauptausgang des schlossartigen Historienbaus ihre Wege trennten.

„Und vergiss nicht. Keine Anrufe in den nächsten zwei Wochen. Ich habe frei! Urlaub! Ein Wort, das du zwar nicht kennst, aber vielleicht googelst du es mal!“, rief ihm Stefan hinterher, bevor er in seinen zwölf Jahre alten, silberfarbenen Citroën einstieg und kurz darauf hupend an Mark vorbeifuhr.

Auf dem Weg zum Parkplatz versuchte Mark mehrmals, seinen Chef zurückzurufen, doch seine Rückrufversuche schlugen fehl. Er erreichte seinen Wagen und wollte gerade einsteigen, als ein schwarzer Touring auf gleicher Höhe seines Fahrzeugs stark abbremste. Das Seitenfenster fuhr herunter und ein Mann mit graumelierten Haaren, der niemand Geringeres war als der Erste Kriminalhauptkommissar Thomas Dahlmann, kam zum Vorschein. Mit einem grimmigen Gesichtsausdruck kratzte sich der Leiter des Kriminalkommissariats KK11 an der Schläfe, wodurch einzelne Kopfschuppen auf sein dunkelgraues Hemd rieselten.

„Birkholz! Wo zum Teufel haben Sie gesteckt? Und warum gehen Sie nicht ans Telefon? Schwingen Sie sich sofort in Ihren Wagen. Am Königsforst hat eine Fußgängerin eine Leiche entdeckt.“

„Wo …?“

„Wir treffen uns am Eingang zum Wildgehege!“, schnitt Dahlmann ihm das Wort ab und rauschte, ohne Marks Antwort abzuwarten, mit seinem Wagen davon.

Ungläubig schaute Mark dem schwarzen Touring hinterher, der gerade auf die Riehler Straße einbog und sich in nordöstlicher Richtung entfernte. In seinem Magen braute sich ein Gewitter zusammen. Wut stieg in ihm hoch. Seine Hand krallte sich um seinen Autoschlüssel. Er knirschte mit den Zähnen. Wieso rückte der Alte Informationen immer nur als Sparration heraus? Irgendwann, wenn die Zeit dazu reif wäre, würde er sich Dahlmann zur Brust nehmen. Sofern der Alte bis dahin nicht an einem Herzinfarkt krepiert wäre.

Wobei ihm diesmal die dürftigen Infos ausreichten, die ihm Dahlmann wie vertrocknete Brotkrümel hingeworfen hatte. Nachdenklich schaute er auf seine Uhr. Mit Glück könnte er in einer halben Stunde am Königsforst sein, sofern es der Verkehr auf der B55a und auf der A4 zuließ. Eilig klemmte er sich hinters Lenkrad und raste vom Parkplatz.

Kapitel 4

Das knapp zweitausendsechshundert Hektar große Waldgebiet Königsforst lag östlich von Köln. Rundwanderwege führten die Spaziergänger durch das Naherholungsgebiet, von dem Teile des Waldes unter Naturschutz standen. Angespannt schaute die Polizeibeamtin Carla Friere hinüber zu ihrem Kollegen, der telefonierte und mehrmals seinen Kopf schüttelte. Sie betrachtete die verwilderte Lichtung. Knöchelhohe Wildwuchsbäume so weit das Auge reichte. Und mitten in einer Kuhle lag aufgebahrt der nackte, leblose Körper einer jungen Frau. Die musste schon seit Tagen hier liegen. So wie die aussah. Und stank.

Carla löste sich vom Anblick der Toten und betrachtete die athletische Figur ihres Kollegen, von der sich mancher Mann im Kollegenkreis eine Scheibe abschneiden könnte. Ihr Blick wanderte hinunter zu ihrem rechten Bein, wo ein quiekender Chihuahua hoppelte. Verständnislos sah sie die vollschlanke Seniorin mit dem silberfarbenen Haar an, die gerade ihren Miniaturköter zur Ordnung rief und von Carlas Wade wegzog.

„Barney, lass das!“, hörte sie die alte Dame mit bebender Stimme sagen.

Carla lächelte und sah auf ihren Notizblock.

„Ihr Barney hat also die Tote gefunden. Wann war das genau?“

Die Zeugin überlegte und schaute auf ihre vergoldete Armbanduhr. „Vor gut einer Stunde ungefähr. Barney und ich haben unsere übliche Runde gedreht und vorne an der Brücke habe ich ihn dann von der Leine gelassen.“

Carla schüttelte ihren Kopf und seufzte. „Und Ihr Barney lief dann hierher?“

Die Frau nickte. „So habe ich ihn noch nie erlebt. Der war sofort in den Büschen verschwunden. Sie glauben nicht, wie lange ich gebraucht habe, um da durchzukommen. Ich bin ja nicht mehr die Jüngste. Nächstes Jahr werde ich immerhin neunundsiebzig. Stellen Sie sich das vor! Dafür habe ich mich doch gut gehalten, oder?“

Ein Lächeln huschte über Carlas Gesicht, während sie sich Notizen auf ihrem Block machte. „Und der Mann, den Sie auf der Lichtung gesehen haben, wie sah der aus?“

Die Rentnerin verzog ihr Gesicht und schien nachzudenken. „Ein komischer Kauz war das! Einen buschigen Bart hatte der. Und eine monströse Hornbrille. Die sah schon merkwürdig aus auf seiner kleinen Nase“, sagte sie schmunzelnd und ergänzte: „Wenn sein Lümmel auch so klein ist …“

Carlas Augen weiteten sich.

„Was denn? Nur weil ich alt bin, heißt das nicht, dass ich keine Vorlieben mehr haben darf.“

Carlas Kinnlade klappte herunter und sie räusperte sich.

„Und Lederhandschuhe hatte der an. Bei dem Wetter. Ich wusste gleich, dass der Kerl nicht astrein ist. Nicht wahr? Sehen Sie doch auch so, oder? Wer trägt bei so einem Wetter Handschuhe? Und geguckt hat der! Als wenn die Queen persönlich auf ihn zukäme.“

Doch das Geschwafel der Frau rauschte an Carla vorbei. Verwundert schaute sie auf, als sie etwas blendete. Die Stimme der Zeugin entfernte sich. Ihre Worte nahm Carla nur noch wie durch ein Rohr wahr. Ihr Magen rebellierte. Angespannt sah sie zum Bachlauf, danach zur naturbelassenen Lichtung und hinauf zum tiefblauen Himmel, von dem aus die Mittagssonne strahlte. Was um alles in der Welt hatte sie geblendet? Sie sah zu ihrem Kollegen, der noch immer telefonierte. Weiter entfernt erkannte sie Peter Eiser, einen jungen Kollegen von der Kripo, der den Waldweg verlassen hatte und sich durch dichtes Gestrüpp kämpfte. Seine dunkelblonden Haare und sein Milchbubigesicht ließen ihn jünger wirken, als er in Wirklichkeit war. Und Carla vermutete, dass das der Grund dafür war, weshalb er sich seit Wochen schon nicht mehr rasierte. Der Kripobeamte betrat die Lichtung und steuerte zielstrebig Carlas Kollegen an.

„Stimmt was nicht?“, hörte sie die Zeugin fragen.

Wie festgefroren verharrte Carla in ihrer Position und suchte nach etwas, das ihr eine plausible Erklärung geliefert hätte.

Langsam bewegte sie sich auf die hohen Eichen zu, als sie erneut ein grelles Licht blendete. Abrupt blieb sie stehen, stierte konzentriert zu einer Stelle und versuchte zu erkennen, was sie geblendet hatte. Die gedämpfte Stimme der Rentnerin drang an ihr Ohr, während sie den Punkt im Wald fixierte. Eine unerwartete Ruhe durchströmte sie, als sie kurz darauf verstand. Und dann rannte sie los, ließ die Gestalt, die sich tief im Gehölz versteckt hatte, nicht aus den Augen. Was zum Teufel machte der Kerl da? Beobachtete er sie etwa mit einem Fernglas? Wie von Sinnen hetzte sie durch den Wald und kam ihrem Ziel immer näher. Gedanken rasten in einem heillosen Durcheinander durch ihren Kopf. Keine dreißig Meter mehr und ihr Beobachter schien sie noch nicht bemerkt zu haben. Das war ihre Chance. Carla sprintete über den Waldboden, lief wie um ihr Leben. Sie erkannte eine Hornbrille. Einen Busch von Bart. Das musste der Kerl sein, den die Seniorin auf der Waldlichtung überrascht hatte.

Hastig griff Carla zum Pistolenhalfter, doch der Verschluss klemmte, und schneller als gedacht, erreichte sie ihr Ziel. Sie zerrte am Holster, aber der Verschluss ließ sich nicht öffnen. In ihrer Not warf sie sich mit voller Wucht gegen den Mann. Er stöhnte auf, wehrte aber ihren Angriff problemlos ab und ließ sie von seinem Oberkörper abprallen. Carla schleuderte zurück, knallte keuchend zu Boden und stieß mit dem Kopf gegen einen Stein. Gleichzeitig bohrte sich eine Astspitze in ihren Rücken. Schmerzen durchfluteten ihren Körper. Ein Schrei des Entsetzens schoss aus ihrer Kehle. Benommen versuchte sie, sich zu orientieren, doch ihre Glieder gehorchten ihr nicht. Vor ihren Augen drehte sich alles.

Unter Schmerzen richtete sie sich auf, kämpfte gegen den Schwindel an, der sie augenblicklich erfasste. Die meterhohen Eichen verschwammen vor ihren Augen. Ihre Beine knickten weg. Kraftlos sackte sie zu Boden. Sie hörte Laub rascheln. Und dann sah sie ihn …

Neben ihr blieb er stehen.

Schwerfällig kämpfte sie sich hoch, langte zu ihrem Holster und verharrte in der Bewegung, als sie begriff, dass er schneller war. Entsetzt starrte sie in seine eiskalten Augen, als er den Lederverschluss aufriss und ihre Waffe zog.

Kapitel 5

Mark saß an seinem Büroschreibtisch, auf dem die Fotos vom Leichenfundort in einem heillosen Durcheinander verteilt lagen. Die Sonnenstrahlen der tief stehenden Abendsonne fielen auf die Farbaufnahmen, die er seit über einer Stunde sortierte. Mit seinen Gedanken war er jedoch ganz woanders. Carla war tot. Seit wenigen Tagen unter der Erde. Und noch immer kämpfte er mit den Nachwehen. Carlas kleine Familie war brutal auseinandergerissen worden. Nie mehr würde sie ihren Sohn lachen sehen. Ihn trösten, wenn er weinte und nach ihr rief. Mark schluckte. Was um alles in der Welt hätte er auf der Beerdigung Carlas Eltern und ihrem Mann sagen sollen? Dass es ihm leid täte? Kein Wort der Welt hätte auch nur annähernd Trost gespendet.

Bei der Bestattung seiner Schwester Patricia hatte es sich genauso angefühlt. Nur mit dem feinen Unterschied, dass er unmittelbar betroffen war. Alles war wieder da, obwohl seitdem fast ein Jahr vergangen war. Auch damals hatte er sich geschworen, den Kerl kaltzumachen, der Patti auf so bestialische Art und Weise abgeschlachtet hatte. Nichts hatte sich an seinen Rachegefühlen geändert. Nach wie vor waren sie präsent. Mehr denn je! Täglich! Stündlich! Aber von nun an hatte er zwei Rechnungen offen. Er würde das Schwein, das Carla das angetan hatte, jagen. So lange, bis er Blut kotzen würde.

Er musste. Für Patti. Für Carla. Für ihren Sohn. Und sich selbst.

Noch immer wusste niemand, weshalb Carla in den Wald gelaufen war. Mark hatte wenige Sekunden nach dem Todesschuss, den er fälschlicherweise zuerst für Fluglärm gehalten hatte, die Lichtung betreten. Zu spät, denn niemand hätte Carla zu dem Zeitpunkt noch retten können. Seitdem dröhnte der Schuss, der seiner Kollegin auf so grausame Weise das Leben ausgehaucht hatte, wie ein Presslufthammer in seinem Schädel, ohne dass er den Abstellknopf fand.

Doch nicht nur er, alle Kollegen standen unter Schock. Wobei es seinen Chef Thomas Dahlmann am härtesten getroffen hatte. Direkt nach Carlas Beerdigung hatte er sich beurlauben lassen. Auf unbestimmte Zeit.

Mark fuhr sich durch seine zerzausten Haare, stützte seinen Ellenbogen auf die Arbeitsfläche und runzelte die Stirn, als ihm ein Gedanke kam. Ob Dahlmann die Beurlaubung nahegelegt worden war?

Marks Finger bohrten sich in seinen verspannten Nacken, während er nachdenklich die Bildaufnahmen betrachtete, die seine Kollegen vom Tatort angefertigt hatten. Seit Monaten flatterten Vermisstenanzeigen junger Frauen herein. Im Wochenrhythmus erhöhte sich die Zahl der Frauen, die nach Discobesuchen oder Treffen mit Freunden spurlos verschwunden waren. Der Leichenfund der Studentin Sarah Vens war ein Lichtblick. Zwar ein makabrer, doch immerhin wussten sie jetzt, womit sie es zu tun hatten. Seine Augen schweiften über die Fotos der ermordeten Studentin, die vor knapp drei Wochen von ihrem Vater als vermisst gemeldet worden war. Auf einem Bild schmollte die Frau mit den langen Haaren in die Kamera. Das Foto daneben lieferte das Kontrastprogramm. Sarahs geschändeter Körper. Die klaffende Bauchwunde. Ihre weit gegrätschten Beine. Drapiert von ihrem Mörder, nachdem er sie an einem anderen Ort ausgeweidet hatte.

Nachdenklich trank Mark einen Schluck abgestandenen Kaffee aus seiner FC Köln-Tasse mit dem aufgebäumten Geißbock, als er das Blöken des FC-Maskottchens Hennes vernahm. Neugierig ergriff er sein Smartphone, aktivierte die FC Köln-App und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Stirnrunzelnd las er die geplante Mannschaftsaufstellung für den kommenden Samstag und die aktuellen FC News, doch die Neuigkeiten konnten seine schlechte Laune nicht heben. Erneut fiel sein Blick auf die Fotos der jungen Studentin. Wie oft wollte er sich die Bilder noch ansehen? Wieso glaubte er immer noch, dass sie etwas übersehen hatten? Resigniert schob er die Aufnahmen zur Seite und rief seinen Kollegen Peter Eiser an. Im Laufe ihrer Zusammenarbeit hatte sich zwischen den beiden Männern eine Freundschaft entwickelt, die sie ihrer gemeinsamen Leidenschaft, dem 1. FC Köln, zu verdanken hatten. So oft wie möglich besuchten sie die Heimspiele ihres Lieblingsvereins, sofern es ihre Dienstpläne und vor allem ihre Kollegen zuließen.

„Was gibt‘s?“, riss ihn Peters Stimme aus seinen Gedanken.

„Falls jemand nach mir fragt: Ich bin am Königsforst.“

Peters mürrisches Grummeln drang an sein Ohr, das er immer dann von sich gab, wenn ihm etwas nicht passte. „Was willst du da noch? Selbst wenn wir was übersehen hätten, haben die starken Regenfälle der letzten Tage ihr Übriges getan.“

Er dachte kurz über Peters Worte nach und seufzte. „Falls ich heute nichts finde, mache ich zukünftig einen weiten Bogen um den Wildpark. Versprochen!“, erwiderte er und legte auf.

Er schaute zu den Vermisstenanzeigen, die an der Pinnwand wie vergessene Werbeflyer prangerten, und überlegte, wie viele Frauen da draußen noch lagen? Sein Stuhl knarrte, als er aufstand und sein Büro verließ.

Zwanzig Minuten später erreichte er das Naturschutzgebiet Königsforst, fuhr bei der Ausfahrt Bensberg von der A4 ab und bog auf die Landstraße Rather Weg. Nachdenklich schaute er auf die Uhr. Viel Zeit blieb ihm nicht. Eine halbe Stunde vielleicht, wenn überhaupt. Er fuhr auf den Parkplatz und stellte seinen Wagen am Zufahrtsweg zum Wildparkgehege ab. Gedankenversunken ließ er den Verkaufswagen des Spargelhändlers, der zu dieser späten Uhrzeit verschlossen am Haupteingang des Wildparks stand, hinter sich und ging den Waldweg entlang. Kurz vor der Brücke, die über einen schmalen Bachlauf führte, blieb er stehen und sah sich um. Nachdenklich biss er auf seine Unterlippe und legte seine Stirn in Falten. Ob der Mörder diesen Weg gegangen war? Aber wie hatte er die Leiche transportiert? Etwa zu Fuß? Ein verdammt langer Weg. Er betrachtete die frischen Pferdehufspuren, die der nächste Platzregen fortspülen würde. Vermutlich war der Mörder über einen anderen Weg zur Waldlichtung gelangt. Zumal der Pfad ein öffentlich zugänglicher Weg war, der selbst zu später Stunde von Hundebesitzern, Förstern oder Reitern genutzt wurde. Niemals hätte sich Sarahs Mörder dieser Gefahr ausgesetzt. Jederzeit hätte er gesehen werden können. Doch wieso kam ihm erst jetzt der Gedanke? Weshalb hatte er nicht schon früher über diese Möglichkeit nachgedacht? Seine Antwort war vernichtend. Weil er seit Pattis Tod zu sehr mit sich selbst beschäftigt war. So sah es aus! Und es half ihm weiß Gott nicht, sich immerzu selbst zu bemitleiden. Das machte Patti und Carla nicht wieder lebendig. Aber nicht nur er, auch seine Kollegen standen unter Schock, waren voller Trauer und oft nicht bei der Sache.

Er beschleunigte seine Schritte, näherte sich einer Hecke und kämpfte sich durch dichtes Geäst. Mehrmals verhedderte er sich in den Ästen, bis er kurz darauf auf die verwilderte Lichtung trat.

Wie friedlich sie dalag. Wie sehr der Schein trog.

Er näherte sich dem Leichenfundort, kramte ein Foto aus seiner Jackentasche und betrachtete die Umgebung. Nichts erinnerte mehr an die abgeknickten Jungpflanzen und die platte Mulde, in der die Tote mit weit gegrätschten Beinen gelegen hatte.

Und doch wirkte alles so real. Als wenn sie immer noch dort läge.

Sein Blick wanderte über die Lichtung und er überlegte, aus welcher Richtung der Mörder gekommen war.

Erneut betrachtete er das Foto. Den Metallhaken, den Plastikverschluss und die verrostete Uraltcoladose. Alles Gegenstände, die wahllos am Fundort gelegen hatten. Er drehte sich in die andere Richtung und blinzelte in die letzten Sonnenstrahlen. Peters Angaben zufolge war Carla dort vorn ins Dickicht gelaufen. Doch was hatte sie zuvor gesehen? Etwa ihren Mörder?

Minuten darauf versank die Sonne hinter den Eichenbaumkronen. Eine feuchtkühle Abenddämmerung legte sich über den Wildpark. Schlagartig verging ihm die Lust, weiter im Wald herumzugeistern. Vielmehr sehnte er sich nach einer heißen Dusche, nach einem kühlen Kölsch und nach einem entspannten Fußballabend mit dem FC vorm Fernseher. Ein dunkler Fleck am Fotorand stach ihm ins Auge, von dem er schwören könnte, dass er ihm zum ersten Mal auffiel. Er näherte sich der Stelle und suchte den Boden ab. Doch da war nichts. Aber dort hatte etwas gelegen. Die Frage war nur: Was? Und vor allem, wo lag es jetzt?

Nachdenklich kramte er sein Mobiltelefon aus der Jacke, aktivierte die Taschenlampenfunktion und leuchtete den Waldboden ab. Wahrscheinlich hatte Peter recht und er musste endlich akzeptieren, dass es hier nichts mehr zu holen gab.

Langsam näherte er sich den Erdhügeln, während er die mit Laub und Moos bedeckten Erderhöhungen ausleuchtete. Dahinter verlief der Wald mit seinen wuchtigen Kaisereichen und meterhohen Fichten. In der Nähe eines Erdhügels blitzte plötzlich etwas auf. Verwundert ließ er den Lichtstrahl erneut über den Erdhaufen schweifen. Da war es wieder.

Er trat näher, kniete sich hin und betrachtete den Gegenstand, der aus der Erde ragte. Hastig griff er in seine Jackentasche, zog eine durchsichtige Tüte heraus und legte sie auf das vorstehende Metallgehäuse. Anschließend lockerte er die Erde und hielt kurz darauf ein Feuerzeug in den Händen, das er in der Tüte verschwinden ließ. Er betrachtete seinen Fund, richtete sich danach wieder auf, ließ dabei aber den Erdhügel nicht aus den Augen.

Irgendetwas stimmte nicht.

Die Erhebung unterschied sich gravierend von den anderen. Vertrocknetes Laub wie weggefegt. Kein einziger Grashalm. Moos fehlte gänzlich. In erster Linie störte ihn aber der Geruch. Warum um alles in der Welt roch die Erde so frisch?

Sein Puls beschleunigte sich, als ihm eine Idee kam. Eilig wählte er Peter Eisers Nummer.

Kapitel 6

Marks dreiköpfiges Notteam, das sich aus seinen zwei langjährigen Kollegen Walter Gries und Barbara Roth sowie seinem Kollegen Peter Eiser zusammensetzte, betrat vierzig Minuten nach seinem Anruf die abgelegene Lichtung am Königsforst und deponierte das mitgelieferte Equipment an der Stelle, die Mark kurz zuvor zur Ausgrabungsstätte erkoren hatte.

„Wenn das wieder einer deiner bescheuerten Scherze ist, dreh ich dir die Gurgel um“, brummte Peter, der mit düsterer Miene zum Waldrand schaute.

„Und wo liegt nun der größte Fund der Geschichte?“, fragte Walter lachend.

„Da vorn“, antwortete Mark und deutete hinüber zur Erdhügelformation, die in der weit vorangeschrittenen Abenddämmerung nur noch zu erahnen war. Peter leuchtete mit seiner Taschenlampe zuerst zum Dickicht, danach in Marks Gesicht und fragte verwundert: „Wieso sollte da etwas sein?“

Mark hielt seine Hand schützend vor sein Gesicht. „Halt deine Funzel gefälligst woanders hin“, sagte er mit zugekniffenen Augen und schaute danach seine drei Kollegen verheißungsvoll an. „Ich bin nur durch Zufall drauf gestoßen, nachdem mir ein dunkler Fleck auf einem Foto aufgefallen ist“, begann er zu berichten.

„Und was haben wir damit zu tun?“, wollte Peter wissen.

„Das will ich euch gerade erklären“, sagte er. „Durch Zufall habe ich eben dort ein Feuerzeug gefunden.“ Er hielt die Plastiktüte mit seiner Ausbeute hoch, die er zuvor aus seiner Jackentasche gekramt hatte. „Aber erst, nachdem ich es eingetütet hatte, fiel der Groschen“, fügte er hinzu und grinste schief, als er die verdutzten Gesichter seiner Kollegen sah.

„Was in Herrschaftsnamen willst du uns sagen, mein Junge?“, entfuhr es Walter Gries.

„Mir fiel plötzlich was auf.“

„Nämlich?“, hakte Peter nach.

„Seht selbst!“

Mark leuchtete von einer Anhöhe zur nächsten, während seine Kollegen gespannt dem Lichtstrahl seines Handys nachschauten. Peter trat vor, näherte sich den Erderhebungen und betrachtete den moosfreien Hügel.

„Der ist völlig blank“, konstatierte Peter.

„Eben. Und die Erde riecht für meine Empfindungen viel zu frisch“, setzte Mark hinterher.

Peters Gesichtsausdruck änderte sich schlagartig. Auffordernd nickte er Walter Gries zu und sagte: „Worauf warten wir noch? Lass uns graben!“

„Moment! Ihr könnt doch nicht …“, wollte Walter seine Kollegen maßregeln, wurde aber von Mark unterbrochen: „Wieso nicht?“

„Mensch Junge, wenn da wirklich eine Leiche verbuddelt ist …“, gab Walter nun zu bedenken.

„Dann können wir immer noch die Kollegen anrufen“, beendete Mark den Satz.

Walter schüttelte verständnislos den Kopf, schwieg aber. Mark hingegen trat mit einem breiten Grinsen auf den Lippen neben Peter Eiser, legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte: „Ich wusste, dass du mich verstehst. Deswegen habe ich ja dich und nicht Stefan angerufen.“

Peter lachte und kratzte über seinen dunkelblonden Vollbart, den er sich in den letzten Wochen herangezüchtet hatte.

„Schon klar! Verarschen kann ich mich selbst! Du hast Stefan nicht angerufen, weil der immer noch auf der A3 im Stau festhängt.“

„Tatsächlich?“

Marks Grinsen verwandelte sich in eine handfeste Gesichtslähmung, so schief verzog er einen Mundwinkel. Peter winkte ab, ergriff einen Spaten und schippte, was das Zeug hielt. Walter und Mark versuchten die Scheinwerfer aufzubauen, doch so unbeholfen, wie sie waren, verstrich kostbare Zeit, bis die Standstrahler einsatzbereit waren und sich Walter den zweiten Spaten schnappen konnte.

Mark war felsenfest davon überzeugt, dass an dieser Stelle vor nicht allzu langer Zeit Erde umgewälzt worden war. Und zwar Erde, die sich lange Zeit in tieferen Gefilden befunden hatte. Er vergrub seine Hände in den Hosentaschen und beobachtete Walter und Peter, die unermüdlich ein immer größer werdendes Loch ausgruben. Einige Meter von ihm entfernt lehnte seine, von ihm gehasste Kollegin Barbara Roth an einem Baum. Unauffällig schaute er zu ihr hinüber. Mitte vierzig, verheiratet, kinderlos. Sonst wusste er nichts von ihr. Und das war gut so.

Mit einem nichtssagenden Gesichtsausdruck beäugte er Barbaras blonden Pagenkopf, der momentan eher an aneinander gereihte ranzige Butterstücke erinnerte.

„Was guckst du denn so dämlich?“, blaffte sie.

„Ich habe mich nur gefragt, ob du so viele graue Haare hast oder ob das nur am Licht liegt?“

„Arschloch“, raunte sie und widmete ihre Aufmerksamkeit wieder den schaufelnden Kollegen.

„Soll ich mal, Walter? Ich hätte nichts gegen eine nettere Aussicht“, setzte er nach und blickte grinsend hinüber zu seiner Kollegin.

„Lass mal, mein Junge, sonst hebst du dir noch einen Bruch. Genieß lieber Barbaras Anwesenheit. Ihr mögt euch doch so“, erwiderte Walter lachend. Marks Blick wanderte über Walters Bierbauch und blieb an dessen Tränensäcken kleben. Eine Schweißschicht hatte sich auf seiner Stirn gebildet, was in dem Scheinwerferlicht wie eine über die Haut gespannte Frischhaltefolie aussah. Seine Kollegen ächzten im Takt, wobei ihr piepsendes Schnauben mehr einem Pfeifkonzert glich.

„Seht ihr was?“

Augenblicklich rollte Barbara mit den Augen und stöhnte auf. „Wohl kaum, sonst hätten sie schon was gesagt, oder?“

Er setzte zum Gegenangriff an, doch im letzten Moment überlegte er es sich anders, schluckte den Spruch, der ihm bereits auf der Zunge lag, hinunter und trat zum Erdloch. „Braucht einer von euch eine Spitzhacke?“

„Ich komme ohne klar. Du auch, Walter?“

Walter nickte. „Geht schon“, keuchte er und stockte kurz darauf.

Marks Blick fiel auf etwas Weißes, das aus der Erde ragte. Zeitgleich entwich Barbara Roth ein Laut, der ansatzweise einem erstaunten Entsetzen gleichkam.

„Scheiße! Das ist eine Hand!“, raunte Walter.

Kapitel 7

Zur gleichen Zeit stand die Studentin Julia Werk in der Tankstelle, Ecke Sürther Straße/Kölnstraße, hinter der Kasse und ärgerte sich über das Kreditkartenlesegerät, das auf die Geheimzahleingabe eines Kunden nicht reagierte. Sie hantierte fluchend am Gerät, nachdem sie zum dritten Mal den Tippstreifen durch den schmalen Schlitz gezogen hatte, um kurz darauf eine Fehlermeldung zu erhalten.

Irgendwann klappte es dann.

„Na endlich“, maulte der Kunde mit den schulterlangen Haaren, die unter seinem Helm hervorschauten, und riss ihr die Quittung aus der Hand. Kopfschüttelnd verließ der Mann mit der schwarzen Motorradkluft den Verkaufsraum, ging zu seiner Kawasaki, schwang sich auf seine Maschine und fuhr von der Tankstelle.

Julia seufzte und zog ihren kurzen Faltenrock über ihre vorstehenden Hüftknochen. Lässig zupfte sie ihre hauchdünne Strumpfhose zurecht und kaute dabei auf einer Büroklammer. Auf den Tag genau seit fünf Monaten jobbte sie als Aushilfskraft in der Tankstelle. Fünf Monate zu viel, wenn sie über den Hungerlohn nachdachte, den sie pro Stunde bekam. Aber zumindest konnte sie tun und lassen, was sie wollte. Eines störte sie allerdings gewaltig, die gottverdammten Nachtschichten.

Ihr auf lautlos gestelltes Mobiltelefon vibrierte und kündigte einen eingehenden Anruf ihrer Mutter an. Sie stöhnte leise, verdrehte ihre Augen und wandte sich den Zigarettenpäckchen zu. In Windeseile zog sie eine Schachtel aus dem Regal und verstaute sie in ihrer Rocktasche. Danach schielte sie zur Überwachungskamera und grinste. Ein Arbeitgeber, der seinen Mitarbeitern blind vertraute. Eine Seltenheit heutzutage. Sie entfernte sich vom Tresen, schlenderte durch den Laden und blieb vor dem Zeitschriftenständer stehen.

„Mysteriöser Mord versetzt Köln in Angst und Schrecken“, las sie die fett gedruckte Überschrift der Titelstory. Darunter Fotos junger Frauengesichter. Neugierig überflog sie den Text, der unter den Schwarz-Weiß-Aufnahmen stand: Wurden auch sie Opfer des Fleischers? Seit Monaten verfolgte sie die Berichterstattung der Lokalzeitungen. Im Wochenrhythmus kamen neue Frauengesichter hinzu, die unter rätselhaften Umständen spurlos verschwunden waren. Sie kramte einen Haargummi aus ihrer Rocktasche und band sich ihre kastanienroten Locken zu einem Zopf. Im großen Schaufenster erkannte sie ansatzweise ihre dunklen Augenringe und ihre aschfahle Haut, die sie einzig und allein diesem Geizhals von Tankstelleninhaber verdankte. Aber nicht mehr lange! Bald würde sie diesen miesen Job an den Nagel hängen. Sehr bald schon. Sie kicherte und schaute minutenlang in die dunkle Nacht, bis sie plötzlich zusammenfuhr und irritiert zu dem Gebüsch starrte, das neben der Packstation wucherte und dringend einen Zuschnitt benötigte. Hatte es sich gerade bewegt? Aber es war doch windstill.

Eine Weile verharrte sie vor dem großen Schaufenster und wartete darauf, dass sich die hochgewachsenen Sträucher erneut regten. Erst, als die blendenden Scheinwerfer eines Wagens nächtliche Kundschaft ankündigten, wandte sie ihren Blick ab. Ein dunkelblauer Audi stoppte neben einer Tanksäule. Kurz darauf stieg ein Mann mittleren Alters aus und näherte sich ohne Umschweife dem Eingangsbereich. Grußlos betrat er den Verkaufsraum, stiefelte zum Kühlregal und hinterließ mit seinen verschlammten Bikerboots eine unübersehbare Dreckspur. Julia musterte seine abgewetzte Lederjacke. Sein kantiges Gesicht. Und seinen viel zu großen Mund, der nicht zu seiner kleinen Nase passte. Mit offenem Mund schaute sie ihm hinterher und wunderte sich über sein unfreundliches Verhalten. Ein flüchtiger Gruß hätte doch gereicht. Suchend schlenderte er an dem gekühlten Biersortiment vorbei und blieb vor dem Spirituosenregal stehen. Sein Kopf verschwand, tauchte aber kurz darauf aus der Versenkung wieder auf.

„Habt ihr keinen Jack Daniels?“

„Im Moment nur als Mixgetränk in der Dose!“

Innerhalb kurzer Zeit wurde er fündig und stellte drei Dosen auf die Ablagefläche.

„So allein im Laden?“

Julias Herz machte einen Satz. Perplex von seiner Frage, vergaß sie zu antworten.

Er kniff die Augenbrauen zusammen und schüttelte den Kopf. „Ein so junges Ding sollte nicht allein hier draußen sein.“

Verunsichert sah sie ihn an.

„Was bin ich dir schuldig?“

„Vierzehn, siebenundneunzig“, antwortete sie mit belegter Stimme und räusperte sich.

Anerkennend pfiff er durch die Zähne. „Stolzer Preis für die drei kleinen Dosen. Der Rest ist für dich!“, sagte er, warf einen Schein auf den Tresen, schnappte sich die Getränke und steuerte den Ausgang an. Sie lächelte verkrampft und verstaute die zwanzig Euro in der Kasse.

„Du solltest lieber abschließen. Man weiß nie, wer einen nachts besuchen kommt“, sagte er, ohne sich dabei umzudrehen.

Mit breitbeinigen Schritten passierte er das automatisierte Schiebetürensystem, steuerte seinen Wagen an und stieg kurz darauf ein.

Erleichtert atmete sie auf, kramte den Schlüssel aus der Schublade, eilte zum Eingang, verschloss die Türvorrichtung und sah zum Gebüsch. Erneut hatte sie den Eindruck, als wenn sich die Blätter bewegen würden. Regungslos verharrte sie an Ort und Stelle. Minuten später zweifelte sie ernsthaft an ihrem Verstand. Gähnend und mit hängenden Schultern ging sie zurück zur Kasse, nahm ihr Handy und strich übers Display. Drei WhatsApp Nachrichten ihrer Mutter. Sie verzog ihren Mund, verstaute ihr Smartphone in der Tasche und betrat ein kleines Nebenzimmer, in dem eine Couch, ein Schreibtisch und Regale mit Aktenordner standen. Sie machte es sich bequem, bedeckte ihre Beine mit einer Wolldecke und schaltete den Fernseher ein, während ihr Mobiltelefon in ihrer Rocktasche ununterbrochen vibrierte. Sekunden darauf erstarb es. Sie bemerkte die Müdigkeit in ihren Knochen. Eine lähmende Schwere, die ihr die restliche Energie aus den Gliedern zu saugen schien. Mehrmals fielen ihr die Augenlider zu und sie hatte Mühe wach zu bleiben. Minuten darauf dämmerte sie in einen unruhigen Schlaf.

Mit Herzrasen schreckte Julia hoch. Was zum Henker hatte sie geweckt? Und wo war sie? Benebelt schaute sie durch den Raum, kam nur langsam wieder zu sich. Sie rieb sich die Augen und gähnte. Irgendetwas hatte sie aus dem Tiefschlaf gerissen. Nur was? Sie richtete sich auf, schaute benommen zum flimmernden Fernseher, danach zur Deckenbeleuchtung. Nachdenklich drückte sie die Videotexttaste, um nach der Uhrzeit zu sehen, doch die Fernbedienung funktionierte nicht. Sie spürte eine sonderbare Leere in ihrem Kopf, seitdem sie erwacht war, und starrte mit verquollenen Augen zum Bildschirm. Minutenlang saß sie nur da, bis sie sich von der Couch erhob. Dabei rutschte die Wolldecke zu Boden, wodurch sich ihre Füße verfingen. Sie geriet ins Straucheln, ruderte mit den Armen und langte zum Türrahmen. Mit einem Mal schien sich das Zimmer zu drehen. Gleichzeitig fühlte sich ihr Gehirn wie breiiger Matsch an. Mühsam befreite sie ihre Füße und torkelte in den Verkaufsraum. Grelles Neonlicht stach ihr in die Augen. Alles wirkte milchig verzerrt. Die Regale. Die Weingummiverpackungen in den Kartons. Sogar die Bodenfliesen verschwammen vor ihren Augen. Keine Minute danach war der Spuk vorbei. Aus schmalen Augenschlitzen sah sie auf ihre Armbanduhr. Halb sechs.

Was um Himmels willen war nur los mit ihr? Das war doch keine normale Kreislaufschwäche. Und wieso wollte sie über den Videotext nach der Uhrzeit schauen, wenn sie eine Armbanduhr trug? Und das nicht erst seit gestern.

Nachdenklich sah sie sich um, sammelte am langgezogenen Stehtisch die zwei leeren Kaffeepappbecher sowie das zusammengeknüllte Kaugummipapier ein und entsorgte die Sachen im Mülleimer. Den pelzigen Geschmack in ihrem Mund bekämpfte sie mit einem Schokoriegel, den sie gierig in sich hineinstopfte. Sie ging zurück ins Nebenzimmer, faltete die Wolldecke, legte sie auf die Couch und schaltete den Fernseher aus, als ein Motorengeräusch sie aufhorchen ließ. Sie spähte um die Ecke, verfolgte das Scheinwerferlicht, das durch das Innere des Verkaufsraumes tanzte und wieder verschwand, als ein Fahrzeug an den Tanksäulen vorbeifuhr und den Hinterhof ansteuerte. Zügig trat sie zur Kasse und erledigte den Abschluss.

Munteres Vogelgezwitscher begrüßte Julia, als sie an die frische Luft trat und zu den rötlichen Schleierwolken blinzelte, die die aufgehende Sonne verdeckten. Kurzerhand verriegelte sie die Eingangstür und machte sich auf den Weg zum Parkplatz. Drei Fahrzeuge standen auf dem Hinterhof. Der alte Daihatsu Cuore, die Rostlaube ihrer Wachablösung, parkte neben der geschlossenen Waschstraßenausfahrt. Sie schlenderte an den Staubsaugern vorbei. Wie aus dem Nichts kamen die Erinnerungen an die letzte Nacht zurück. Hatte sie sich alles nur eingebildet oder hatte sich das Gebüsch tatsächlich bewegt? Sie drehte sich um, betrachtete die hohe Blättermauer, die vor dem Ortseingangsschild, am Ende des Grundstücks, die blaue Preisanzeigetafel verdeckte. Danach fiel ihr Blick auf den Wagen ihres Kollegen. Sie wunderte sich, weshalb er nicht ausstieg, sondern stattdessen regungslos auf dem Fahrersitz sitzen blieb. Sie näherte sich der Fahrertür des Daihatsus, klopfte am Seitenfenster, doch der Student rührte sich nicht. Musik drang aus dem Wageninneren an ihr Ohr. Bei der Lautstärke hätte er ihr Klopfen hören müssen. Sie schlug ihre flache Hand gegen die Scheibe, bis er reagierte. Breit grinsend wandte er seinen Kopf zum Fenster und zwinkerte ihr zu.

„Spinner!“, murmelte sie und riss die Fahrertür auf. Zeitgleich schlug ihr ein süßlicher Geruch entgegen.

„Nicht so stürmisch, schöne Frau! Du kannst es anscheinend nicht erwarten!“

„Woher nimmst du nur dieses Selbstbewusstsein?“, fragte sie in einem leicht spöttischen Unterton. Sein Grinsen erstarb schlagartig. Wortlos zog er den Autoschlüssel aus dem Zündschloss und stieg aus. „War viel los diese Nacht?“

Sie zuckte mit den Schultern, drückte ihm den Tankstellenschlüssel in die Hand und antwortete: „Keine Ahnung. Ich habe geschlafen.“

„Du bist drauf! Lässt dich fürs Schlafen noch bezahlen. So Traumfrau, jetzt muss ich aber los“, erwiderte er lachend.

Mit diesen Worten verabschiedete er sich und schlug den Weg Richtung Eingangsbereich ein. Nachdenklich schaute sie ihm nach. Schlafen, schoss es ihr durch den Kopf. Düstere Gedanken folgten. Die Sträucher. Die letzte Nacht.

Sie schaute zum Metallgeländer, das neben dem gepflasterten Fußgängerweg verlief. Danach zu dem wild wuchernden Gestrüpp. Es war windstill. So wie letzte Nacht. Unruhe machte sich in ihr breit. Das Gefühl, dass jemand sie beobachtete, regte sich in ihr. Verunsichert drehte sie sich um und schaute zur Sürther Straße, auf der sich zwei Fahrzeuge näherten und anschließend in die Wattigniesstraße einbogen. Sie versuchte, sich zu beruhigen, indem sie sich daran erinnerte, dass keine fünfzig Meter entfernt ihr Kollege an der Kasse stand und ihr im Notfall zur Hilfe eilen würde. Außerdem war ihr Mini Cooper zum Greifen nah.

Ihr Blick streifte den grauen Combi, der neben ihrem Auto parkte, und sie erschrak. Ein Mann, dessen Herkunft unverkennbar in südländischen Gefilden wurzelte, saß hinterm Steuer und starrte sie unentwegt an. Ihr Herzschlag setzte fast aus. Panisch eilte sie zu ihrem Wagen, ließ den Mann dabei aber nicht aus den Augen. Am Fahrzeug angelangt, schloss sie mit zitternder Hand die Fahrertür auf, setzte sich hinters Lenkrad, steckte den Autoschlüssel ins Zündschloss und drehte ihn um. Mehrere Startversuche schlugen fehl, ehe der Motor aufheulte. Erleichtert atmete sie auf und haute den Rückwärtsgang ins Getriebe. Ein letztes Mal sah sie zum Combi. Verwundert runzelte sie die Stirn und traute ihren Augen kaum. Der Mann war verschwunden. Und mit einem Mal war sie sich nicht mehr sicher, ob er jemals dort gewesen war.

Kapitel 8