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Utopia war gestern. Die Schülerin Jana erscheint tagelang nicht zum Unterricht. Maria Brehm, die Vertrauenslehrerin, erreicht weder die Eltern noch den Bruder des Mädchens. Die Mitschüler verheimlichen offensichtlich etwas.
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Seitenzahl: 305
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Utopia war gestern
Kriminalroman
Ursula Pickener
Alle Rechte beim Verlag
Copyright © Sept. 2019
Fehnland-Verlag
26817 Rhauderfehn
Dr.-Leewog-Str. 27
Lektorat Bianca Weirauch
Coverdesign Veronika Aretz
Vorbemerkung
1. … Gorilla gorilla: Silberrücken
2. … Anas platyrhynchos: Stockente
3. … Eschatologischer Waschzettel
4. … Felis silvestris catus: Kastenteufel im Wiesenweg
5. … Sackgassen und Shanghai
6. … Utopia war gestern
7. … Miss Marple schon wieder
8. … Fuchsalarm und Hühnerklappe
9. … ICD-10, Version 2012 / F10.0-10.8
10. … Kiwi, Kea, Kaka: Kia Ora auf den Kopf gestellt
11. … Oryctolagus cuniculus f. domestica, vulgo: Stallhase
12. … Fandango am Montag
13. … Schulz von Thun und Das innere Team
14. … Symbiogenese oder: Rot wie …
15. … Eingelegte Eingeweide aus der Vergangenheit
16. … Stadtindianer oder Dürrenmatt
17. … Liebe und andere Lügen?
18. … Wie Stephen King
19. … JANA, 9. September 2016
20. … 11.11. Faschingsbeginn
21. … Nase, Ohr, Zahn
22. … Minzprinz
23. … JANA, 28. Oktober 2016
24. … Graue Katzen – nachts und tags
25. … Gefahrenlage
26. … JANA, 28. Oktober 2016
27. … Zaubernuss: Hamamelis
28. … JANA, 28. Oktober 2016
29. … Storchennest
30. … Mutter – Mutter – Kind und andere Spiele
31. … ABFFAZ oder Kumpel?
32. … Gorilla berengei
33. … JANA, 13. November 2016
34. … Tiefe Wasser
35. … Earl Grey
36. … JANA, 15. November 2016
37. … Theater
38. … Zwitscherschrecke (Tettigonia cantans)
39. … PTBS Typ 1
40. … Teckel und Gespenster
41. … Blindflug
42. … Milchreis mit Ketchup
43. … Drohen und Beschwichtigen
44. … Sibirien/Lemminge
45. … Sprung/Substantiv, maskulin [der] … Fall/Substantiv, maskulin … Fall/Substantiv, maskulin [der]
46. … Stille
47. … Silberrücken-reloaded?
Danksagung
Wer sich in diesem Roman erkennt, irrt sich.
Wer nichts davon kennt, sollte genauer hinschauen.
Alle Personen dieses Romans sind fiktiv, alle Probleme, Motive und Konflikte sind leider real.
Aufrichten, Arme leicht vom Körper abheben, Ellbogen nach außen, Kinn runter, Blick nach vorn. Imponiergehabe wie im Gorillagehege …
Maria ging den wartenden Schülern ihres Bio-Leistungskurses entgegen. Auch heute beschlich sie ein ungutes Gefühl dabei. Sie streckte den Rücken noch einen weiteren Zentimeter und obwohl sie gut im Training war, hatte sie weiche Knie, Atemnot und schweißige Hände. Als Silberrücken wäre sie verloren.
»Seltsame Klasse, die gucken weg oder durch mich durch, juveniles Vermeidungs- oder Beschwichtigungsverhalten, könnte man meinen«, dachte Maria, und begrüßte die Schüler mit einem betont munteren »Guten Morgen, Damen und Herren!« Keine Reaktion. Handys wurden gestreichelt, sorgsam lackierte Nägel inspiziert, Sekundenschlaf zelebriert. War das Überdruss und Langeweile oder Ignoranz und Dominanzgebaren? In jedem Fall eine massive Mauer, an der dezente Pädagogik abprallte.
Maria stellte sich mit dem Rücken zur Tür und hob die Stimme:
»Also, noch einmal: SCHÖNEN. GUTEN. MORGEN!, Schülerinnen und Schüler des Biologieleistungskurses am Mies-Roland-Schulzentrum!«
Murmeln, einige halblaute, halbherzige »Morgen«, »Moin«, sogar vereinzelt »Hallo Frau Brehm« …
»Schon besser, kommt rein«, sagte sie. Hatte sie überreagiert? Es war früh, die Schüler waren müde, der Novemberblues, Dienstag und die Woche nahm kein Ende und wer weiß, was bei denen zu Hause … Andererseits war der Welpenschutz langsam vorbei. Wenigstens rudimentäre Höflichkeit sollten sie lernen, um auch außerhalb des Schulbiotops und Streichelzoos überlebensfähig zu sein.
»Fahrkartenkontrolle!« In bester Hans-Albers-Manier begann sie das Ritual der Anwesenheitsfeststellung.
»Och nöö! Nicht das schon wieder – hallo, wir sind’s. Die kennt uns doch langsam«, murrte Talitha, die Klassensprecherin, und verdrehte die Augen, während die anderen geräuschvoll in ihren Taschen kramten, mal eben noch etwas posteten, dem Nachbarn Fotos zeigten oder die Matheaufgaben verglichen.
»Jetzt mal Ruhe, Leute, wir fangen an«, sagte Maria und ignorierte den Einwurf. Sie schlug den Klassenordner auf und klopfte aufs Pult. Es wurde leiser.
»Ben« -«Ja« – »Ömer« -«Hier« – »Büsra« -«Ja« – »Lara« -«Ja« – »Talitha« – »Hmm« – »Maren« -«Ja« – »Jana – Wer weiß etwas von Jana?« Verspätungen, Erkrankungen und leider auch jedes andere Ereignis, egal wie peinlich oder dämlich, wurde gepostet, gesimst oder sonst wie in die digitale Welt geblasen.
Von Jana aber wollte keiner etwas wissen.
»Wer sagt ihr, dass sie sich melden soll?« Ihr suchender Blick in die Runde blieb ohne Erwiderung. Die Mauer war wieder geschlossen.
***
JANA, 17. August 2015
Seit 3 Wochen bin ich nun in der Oberstufe und es gefällt mir super. Ich habe eine Freundin! Sie ist etwas ganz Besonderes! Sie heißt Talitha, so ein toller Name. Was ist dagegen schon Jana?! Langweilig! Heute hat Talitha mich zu Hause besucht, sie findet alles bei uns spießig, ich hab mich richtig geschämt. Und wir haben uns kaputtgelacht. Die Spitzengardinen in der Küche, die blauen Keramikkugeln, einfach alles! Sie ist dann ganz lange geblieben und hat sich 2 CDs und meinen I-Pod geliehen. Und wir haben über Julian gelästert, der hat die ganze Zeit Basketball gespielt und auf Dirk Nowitzky gemacht.
Ich freue mich auf die Schule morgen!
So. Noch schnell das Tagebuch abschließen und unter die Matratze. Das Schlüsselchen hab ich jetzt immer an meiner Halskette bei mir. Ist ja ein bisschen kindisch, aber es ist schön, etwas ganz für mich zu haben. Ich traue mich noch nicht mal, da alles aufzuschreiben. Zum Beispiel, dass Talitha neulich meinte, meine Haare seien zwar so mausblond langweilig, aber sonst gar nicht so schlecht. Da könnte man was draus machen. Wenn ich mich so im Spiegel angucke, kann ich’s nicht glauben.
Wenn ich an morgen denke, kribbelt es in meinem Bauch.
»Komm, Pawlow, mir reicht’s, raus aus der Anstalt«, sagte Maria und ihr Huskyrüde, der im Büro auf sie gewartet hatte, war sofort hellwach.
Mit Schwung radelte sie an der Sporthalle vorbei und über den Schulparkplatz. Schnell waren sie am Lesumdeich. Pawlow gab Gas, nach über 5 Stunden Wartezeit gierte jede Faser seiner Muskeln nach Bewegung. Er raste voraus. Nutzte den Vorsprung, warf sich oben auf den Rücken, um sich genüsslich durch Gras und Maulwurfshügel hinunter zu winden. Maria trat mit Kraft in die Pedale, die Wiesen rechts von ihr flogen nur so vorüber. Sie war froh über ihren Rückweg, ihre »Adrenalinfresserstrecke«.
Ardea cinerea! Zwei – nein, drei Graureiher staksten über Lamkens Wiese und sahen ihnen nach. Die Kühe käuten gelassen wieder. Pawlow war zur Lesum hinuntergelaufen, über die Ufersteine ins Wasser. Er schwamm und soff dabei – Abkühlung hoch zwei. Dann sprintete er hinter Maria her. Im Laufen schüttelte er sich, die Beine wurden ihm fast unter dem Körper weggerissen und als er sie einholte, war er wieder trocken. Das Huskyfell ist ein Wasserabweisungswunder, dozierte Maria für sich selbst: Das Deckhaar ist hydrophob und legt sich bei Nässe über die Unterwolle, dadurch dringt das Wasser nicht auf die Haut. Kräftig schütteln und fertig … Ein Husky kann zwischen Eisschollen schwimmen, ohne nennenswert auszukühlen, genau wie die Stockenten, die gerade gemächlich auf der Lesum paddelten. Er kann sich eng eingerollt einschneien lassen und sogar unter einer Schneedecke schlafen. Das »Hotel Freiluft« ist für Pawlow immer die 1. Wahl.
»Los, du Ente, nach Hause!«, rief sie.
Hinter dem kleinen Segelhafen, jetzt ohne Stege, bog sie in den Park ein. Hier hatten die reichen Bremer Kaufleute im vorletzten Jahrhundert ihre Sommerhäuser an der Lesum. Einen öffentlichen Weg gab es damals noch nicht. Jetzt schlängelte sich der Admiral-Brommy-Weg malerisch zwischen Villen, Park und Fluss dahin. Er war in den 1960er-Jahren gegen den Widerstand der Besitzer geschaffen worden und trennte nun die Villen mit ihren professionell gepflegten Gärten von den größtenteils verwilderten Flächen am Fluss. Nach einigen solchen Grundstücken öffnete sich die Szenerie. Die Zäune verschwanden und der Blick auf die Lesum wurde wieder frei. An dieser Stelle war Maria immer wieder überrascht: Der weite Blick, der Wind, der den Fluss lebendig macht und wechselnde Stimmungen erzeugt. Manchmal, selten, auch der in völliger Windstille ölig-schweigende Fluss, wie ein blaugraues Metallband, das geheimnisvolles Leben unter sich beschützte. Rechts erhob sich Knoops Park, das Sahnestück der ehemaligen Sommerresidenzen, mit seinen alten Bäumen, seinen Sichtachsen über die Lesum und seinen Aussichtspunkten: der schönste Park in Bremen.
Immer schwärmte Maria Freunden aus der Stadt davon vor. An sonnigen Wochenenden fand sie allerdings, dass er doch ein Geheimtipp bleiben sollte, und zur Kohl- und Pinkel-Zeit verfluchte sie seine Beliebtheit.
Nach sensationellen 22 Minuten stellte Maria ihr Rad hinter die ehemalige Feuerwache.
Charles Darwin kam maunzend angelaufen. Pawlow, noch immer unausgelastet, hechtete auf den Kater zu, der nahm die Herausforderung an und flitzte in Riesensätzen zu seiner Lieblingsbuche. Knapp vor Pawlows Nase krallte er den Stamm hinauf und schaute, gerade außerhalb der Sprungreichweite des Hundes, scheinbar gelangweilt in die Luft. Pawlow sprang jaulend immer wieder am Stamm hoch, schaffte sogar, ein Stückchen senkrecht hochzulaufen, und er schnappte haarscharf am zuckenden Schwanz des Katers vorbei.
Maria hatte dieses Schauspiel schon ungezählte Male beobachtet. Sie hatte einen Riesenspaß an der Lebensfreude und dem schwarzen Humor der Viecher. Immer wieder waren Besucher oder besorgte Beobachter schreiend auf den Hund, manchmal auch auf sie losgegangen, um »die arme Katze« zu retten.
Sie schloss die Tür auf, das war das Signal: Die beiden Clowns brachen das Spiel ab und stürmten gemeinsam zu den Fressnäpfen, die Maria schnell füllte. Sie fraßen abwechselnd aus den beiden Schüsseln, in einer so fein abgestimmten Choreografie, dass letztlich jedes Tier an seinem eigenen Napf endete und die Mahlzeit in Ruhe zu Ende brachte.
Inzwischen war Maria schon auf dem Sofa gelandet, essen konnte sie spääää…
Das Klingeln des Telefons riss sie aus ihrem »Powernap«, der längst die magischen 20 Minuten überschritten hatte. Charles Darwin, der es sich auf ihrem Bauch bequem gemacht hatte, sprang murrend herunter. Pawlow schnarchte einfach weiter. Telefonieren war nicht sein Ding.
»Brehm.«
»Hallo Maria«, ihre Kollegin Sigrun, Janas Tutorin, war dran.
Sie tauschten sich aus, auf diese nervtötend bemühte Art, die auch auf Konferenzen Marias Geduld strapazierte. Sie sah aus dem Fenster und konzentrierte sich auf die Beobachtung eines Eichhörnchens, das letzte Wintervorsorge betrieb. Sie musste sich ablenken, um nicht Sigruns Tonfall nachzuäffen, der zwischen Trauerrednerernst und Drei-Fragezeichen-Eifer schillerte. Ergebnis: Sie hatten niemanden erreicht und wussten beide so gut wie nichts. Auch das war den meisten Konferenzen nicht unähnlich.
Das Eichhörnchen buddelte ein Loch in den Moosteppich, den Maria stur weiter »Rasen« nannte, und steckte eine Eichel oder eine Marone hinein. Wenigstens was. Auch wenn es sein Versteck vermutlich nie wieder finden würde, konnte doch ein Baum draus werden.
Sigrun schwieg. Sie will, dass ich das hier beende, dachte Maria. »Hat Jana nicht auch einen etwas älteren Bruder, der auch bei uns war? Vielleicht steht seine Handynummer noch in der Akte. »Zu viele Fehlzeiten in der ersten Zeit«, sagte Sigrun. »Ich dachte, das wäre jetzt überstanden. Damals wollte sie wohl nicht gern zu uns in die Schule, Eingewöhnungsschwierigkeiten, hatte ich vermutet.«
»Also, wir gucken beide weiter, okay?«, steckte Maria gedanklich eine kleine Nuss in den kargen Boden.
Mist! Das war’s mit dem Feierabendmodus! Maria stellte das Telefon in die Station und ging in die Küche. Brot, Käse, Butter und getrocknete Tomaten … Was wusste sie über Jana? Seit etwas über einem Jahr an der Schule. Vorher? Keine Ahnung. Leistungskurse Bio und Deutsch, mittelmäßige Schülerin, Tendenz in Bio nach unten, hauptsächlich wegen zu wenig mündlicher Mitarbeit. Anfangs war das einen Hauch besser gewesen. »Schwach angefangen und stark nachgelassen«, fiel ihr der neue Lehrerzimmerschnack ein. Warum hatte Jana nachgelassen? Keine Ahnung. Im Sport häufig krank, hatte gern mal ihre Regel, ansonsten still. Bei Spielen zurückhaltend, wurde sie vielleicht nicht angespielt? Keine Ahnung! Jana war eine von den Schülerinnen, die lange nicht auffielen, weil sie nicht auffallend waren, nicht störten, aber auch nicht viel zum Unterricht beitrugen. Eine Stille eben, die so mitlief. Hatte Maria gedacht – aber jetzt kam ihr der Verdacht, dass Jana in Wirklichkeit nicht mitlief, sondern nebenherlief oder sogar überhaupt nicht mehr lief, sondern abgehängt, fast schon vergessen war.
Das Brot rutschte nur schwer durch ihren Hals. Tee musste her! Viel und heiß. Grüner Tee hilft auch gegen nutzlose Selbstanklagen und spätes Gewissen. Hatte sie da etwas völlig übersehen?! »Hallo, Frau Vertrauenslehrerin, ausgerechnet du?«, meldete sich schon wieder der blöde Zensor.
Unzählige Gespräche hatte sie mit ihrem Kollegen Karl geführt. Immer wieder wollte sie diesen verdammten Vertrauenslehrer-Posten abgeben, dieses Pöstchen, diese Unverschämtheit einer Bürokratie, die sich nur an Formalitäten aufgeilte, die es ernsthaft wagte und damit durchkam, dass für 2000 Schüler exakt zwei Schulstunden zur Verfügung standen, um haufenweise Riesenpakete zu entdecken, auf- und wieder zuzuschnüren, wegzuschieben, ein kleines Stück zu tragen und den Schülern wieder vor die Füße zu knallen, weil, weil, weil … Irgendein »weil« gab es fast immer. Irgendeinen Grund, weshalb die Schule, die Behörde, Karl und auch sie das Paket nicht so leicht machen konnten, dass es tragbar wurde. Wenigstens erträglich.
Sie hatten immer weitergemacht, es gab immer noch ein »weil« mehr auf der anderen Seite, mal kam es von Karl, mal von ihr und viel zu oft von einer der Stimmen ihres inneren Teams.
Und Janas Paket?
Aber vielleicht war da gar nichts, vielleicht war Jana nur krank und die Eltern ließen sich Zeit mit der Entschuldigung, vielleicht sah sie wieder zu schwarz? Maria nahm sich vor, mehr auf Jana zu achten, wenn sie wieder da sein würde und auch den Rest der Klasse genauer anzuschauen. Sie war so genervt gewesen vom BIO-LK, dass sie »Aus-den-Augen-aus-dem-Sinn« gespielt und wie Struthio camelus, der legendäre Vogel Strauß, den Kopf in den Sand gesteckt hatte.
»We don’t need no education …« Ein Stein nach dem anderen wird aufgeschichtet, Hände greifen die Steine von unten und stapeln sie, schnell, sehr schnell. Keine Gesichter, keine Stimmen, es ist dunkel und still. Nur die Hände bewegen sich, wie körperlose weiße Handschuhe bauen sie die Mauer. Die Musik hallt in ihrem Kopf: »We don’t need no force controll … Another brick in the wall!« Pink Floyd. Das war immer ihre Musik gewesen, aber jetzt dröhnt sie höhnisch und schrill durch ihren Schädel. Sie will die Augen schließen und sich die Ohren zuhalten, nichts sehen, nichts hören und erst recht nichts wissen, aber sie kann ihre Lider nicht senken und die Arme nicht heben. Sie ist starr und muss mitansehen, wie die Wand wächst, die weißen Hände höher und höher hinaufreichen und schließlich hinter der endlosen und unüberwindlich hohen Mauer verschwinden. Totale und dabei ohrenzerreißende Stille folgt. Dann ein Schluchzen, ein leises Wimmern, das sie aus ihrer Erstarrung reißt. Sie wirft sich gegen die Mauer, hinter der es weint …
Mit einem Aufschrei schreckte Maria hoch. Sofort wusste sie, dass sie selbst geschluchzt hatte. Sie fühlte sich bleischwer, ihr Herz klopfte, als ob sie schnell, viel zu schnell gelaufen wäre. Viertel vor fünf. Sie versuchte gar nicht erst, wieder einzuschlafen. Das würde nicht gelingen.
Im Flur öffnete Pawlow nur ein Auge, er war ein Freund des Schlafes im Morgengrauen und Maria sah nicht nach einem Spaziergang aus in ihrem übergroßen T-Shirt mit dem Küken drauf und der Sprechblase: Kann Karate.
Charles Darwin hingegen war unterwegs, er liebte die frühen Morgenstunden, sein Motto war: Der frühe Kater fängt den Vogel …
Also saß Maria allein am Küchentisch, mit einer lauwarmen Tasse Tee aus der Thermoskanne vom Abend. Sie suchte Hilfe an der Kühlschranktür:
Meiers geheime Lebensliste:
1. Trink Alkohol! (Kein Alkohol ist auch keine Lösung!)
2. Sei unfreundlich!
3. Tu das Unerwartete!
4. Lach mit anderen über dich!
5. Halt! Dich! Raus!
Diesmal fand sie weder Trost noch Hilfe darauf. Alkohol? Sie schüttelte sich, obwohl sie zugeben musste, dass er schon funktioniert hatte. Maria dachte an die Begegnungen mit der Frau eines ermordeten Kollegen im Frühjahr zurück, bei der das gemeinsame Whiskytrinken schließlich die Lösung zutage gebracht hatte. Whisky! SIE! Sie hatte Whisky getrunken und es hatte sie vorangebracht …
Aber: Allein, am eigenen Küchentisch im Morgengrauen vor einem langen Schultag? Sowieso hatte sie weder Whisky noch Ähnliches im Haus. Die Flasche Rotwein war schon ein Riesen-Fortschritt.
Weiter mit 2. Unfreundlich konnte sie zu Pawlow und Charles Darwin sein, das brachte aber weniger als nichts. Unfreundlich zu sich selbst ging immer – aber mit dem gleichen Ergebnis.
Also 3. Was war jetzt unerwartet? Sie erwartete, dass sie sich um Jana kümmerte, dass sie herausfand, was los war, und dass sie erst lockerlassen würde, wenn Jana gerettet war. Ha! »Gerettet« – da war es wieder, das Reizwort! Sie wollte nicht mehr, dass sie jemanden retten wollte! Sie wollte sich aus Rettungsaktionen (siehe Nr. 5) heraushalten! Andererseits war sie Lehrerin, sogar im Superlativ: Vertrauenslehrerin, was vielleicht ein Fehler war, aber damit musste sie erst mal leben. Sie wurde nicht nur für die Vermittlung von Wissen bezahlt. Auch nicht fürs Raushalten. Also Einmischen und Raushalten – irgendwie musste beides gehen. Sie teilte die Tage konsequent in Schulzeit und Freizeit ein und hielt ihr Helfersyndrom so in Schach.
Also: Dranbleiben, aber nicht retten. Nachforschen, aber nicht allein.
Sie holte das Telefon zu sich an den Küchentisch und wählte, es klingelte ein paarmal – Mist, nur der AB: Piiiiieeeep – der Anrufbeantworter der Familie de Boer wartete auf Nachrichten.
»Hier ist Maria, es ist fünf Uhr, ich kann nicht schlafen und brauche dich. Los geh ran …«
Schade, dachte Maria, manchmal war Greta auch schon sehr früh wach und mit ihr konnte sie selbst in den schwärzesten Momenten lachen.
Sie drehte die Lebensliste am Kühlschrank um und sah auf das dahinter hängende »Register der 927 (oder waren es 928?) ewigen Wahrheiten« von Sheldon B. Kopp. Dieser eschatologische Waschzettel hatte den Anstoß zu ihrer geheimen Liste gegeben, und sie las:
Lerne, dir selbst zu vergeben, und wieder … und wieder … und wieder … und wieder …
»Frau Behrends, haben wir von Jana Hübner aus meinem BIO-LK nur die Festnetznummer?«, fragte Maria im Sekretariat.
»Hier ist nur bekannt, dass am Anfang des Schuljahres der Vater da war. Er hat gesagt, dass Entschuldigungen für eine Weile von seinem Sohn ausgestellt werden. Das ist vermerkt. Ist aber irrelevant, weil die Schülerin Attestpflicht hat. Das hatte der Vater wohl vergessen«, sagte Frau Behrends.
»Aa, hier ist es: Bruder der Schülerin für die nächste Zeit mit der Aufsicht beauftragt – Entschuldigungen ggf. durch ihn.« Maria stellte den Ordner zurück. »Wissen Sie, warum das so ist?«, fragte sie.
»Die Eltern sind im Ausland, ein Projekt seiner Firma.« Die Sekretärin sah Maria nicht an, sondern auf den Bildschirm, sie scrollte suchend herum. »Shanghai oder so. Es musste schnell gehen, er hatte keine Zeit.«
»Er hat also keine andere Telefonnummer von sich oder seiner Frau dagelassen?« So schnell wollte Maria nicht lockerlassen.
»Jaha. Für so was ist das Sekretariat nicht zuständig, schon gar nicht am Schuljahresbeginn. Ich sag nur Umstrukturierung«, sagte Frau Behrends, sie klickte mit der Maus.
»Aber holla«, mischte sich jetzt Frau Dünnbier ein, die für die Berufsschule zuständig war. »Das neue Computerprogramm, der neue Stundenplaner und die neue Abteilungsleitung!«, rief sie.
»…und nichts ging mehr. Eltern, Betriebe, Innungen – alle riefen an und meckerten über die Stundenpläne der Schüler. Hier war der Teufel los. Ich hätte am liebsten alles hingeschmissen«, ergänzte Frau Behrends.
»Wenn die sich sonst auch so interessieren würden … Aber sobald die Pläne dann äußerlich okay schienen, waren sie wieder von der Bildfläche verschwunden«, schloss Frau Dünnbier mit resigniertem Schulterzucken.
Maria nickte, die Schule hatte einem Ameisenhaufen geglichen, den irgendein idiotischer Waldschrat mit einem Spazierstock umgerührt hatte. Die knappe Information von Janas Vater ging in dem Chaos unter. Aber das war Wochen her. Hieß das also, dass Jana und ihr Bruder seitdem ohne ihre Eltern waren? Zwar fingen die schnellsten der Turbos schon mit Ende 16, Anfang 17 an zu studieren, da sind Mama und Papa möglicherweise auch weit weg. Aber Schule ist etwas anderes – oder? Maria merkte sich die Adresse. Wiesenweg 17 in Platjenwerbe. Nicht ihr üblicher Radweg, aber sie könnte nach Schulschluss einen für Pawlow erfreulichen Umweg machen.
Wiesenweg. Spießbürgertum hoch 3: jeder Vorgarten eine Steigerung des vorherigen: Noch ordentlicher, noch gerader, gepflegter, gediegener als der des Nachbarn. Eine Nagelscheren-Rasenhölle. Ein auf Artenminimierung ausgelegter Großversuch könnte nicht erfolgreicher sein. Der erste Platz im Wettbewerb »Unser Dorf soll blöder werden«: Mit original griechischen Göttinnen und Springbrunnen, japanischem Ahorn nebst geschwungener Brücke über 3 Quadratmeter Teich, obligatorischem Wagenrad und herbstlich bunt bepflanzter Holzschiebkarre war alles vertreten. Ein Panoptikum des bildungsbürgerlichen Bemühens um Deutschtum ohne Gartenzwerge: »Seht her, ich bin ein Weltbürger, beweise humanistische Grundbildung und spiele nach einem historisch gewachsenen Regelwerk, das für den Uneingeweihten undurchschaubar bleibt.«
Die Vorstellung, Pawlow würde in einen dieser Gärten scheißen oder ein Loch im Rasen buddeln, um etwas Leckeres zu vergraben, ließ ihre Härchen an den Armen strammstehen. Vermutlich würde sie diese Siedlung dann nicht lebend wieder verlassen, sondern in gutnachbarschaftlicher Übereinkunft in einem Schnellkomposter zu gutem Mutterboden verrotten.
Die Gefahr war aber gering, denn wo sollte hier auch nur die kleinste Feld-, Haus-, Spitz- oder Rötelmaus (tot oder lebendig) oder ein verwesender Vogel zum Verbuddeln zu finden sein? Es war nichts Lebendes zu sehen, dennoch fühlte Maria sich beobachtet. An Nummer 20 war ein Spiegel-Spion am Küchenfenster befestigt und gegenüber lauerte eine Überwachungskamera, sicher nicht die einzige.
Hübners Haus, Nummer 17, war Mittelmaß, weder besonders scheußlich geschmückt noch positiv auffallend. Der Rasen sollte allerdings vor der Winterruhe noch einmal gemäht werden, Dahlienbeete mit exakt umstochenen Rändern, Waschbetonplatten zur Haustür, zwei Autostellplätze vor der Doppelgarage, Trittsteine im Rasen zur Terrassentür …
Maria ließ Pawlow vor der Haustür sitzen. Sie klingelte. Im Haus regte sich nichts – doch: ein leises Maunzen, ein Kratzen an der Haustür. Dann war es wieder still. Einen Moment später kam eine kleine schwarze Katze um die Hausecke geflitzt. Sie rannte auf Maria zu und entdeckte Pawlow erst im letzten Augenblick. Aus dem schwarzglänzenden Pfeil wurde eine fauchende Flaschenbürste, die in grotesken Sprüngen Größe und Angriffslust demonstrieren und gleichzeitig flüchten wollte. Daraus wurde eine Mischung aus Totenkopfäffchen im Revierkampf und Knallfrosch rückwärts.
»Hey, kleiner Kastenteufel, bleib doch hier …«, lachte Maria, aber das Kätzchen war schon zurück hinterm Haus. Maria folgte ihr über die Trittsteine auf die Rückseite und blieb überrascht stehen: ein durch Hecken geschützter Innenhof, ein Kaninchenfreigehege unter einer Esche. Mehrere Kaninchen waren hier so untergebracht, dass Maria fast einverstanden war. Sie konnten buddeln und hatten das auch ausgiebig getan. Offensichtlich war das ganze Gehege mit Draht zu den Seiten und nach unten in der Erde gesichert, sonst wären die Tiere längst abgehauen.
Maria sah leere Trinkgefäße und es lag auch kein Futter herum. Drei Kaninchen »Oryctolagus cuniculus forma domestica, vielleicht Zwergschecken«, dachte Maria, die sich aber nicht gut mit den Rassen auskannte. »Stallhasen« waren ihr schon immer suspekt. Die Tiere kamen zum Gitter und schnupperten. Sie hatten keine Angst und umso mehr Hunger.
An einem Außenwasserhahn füllte Maria die Trinkflaschen auf und Futter stand in einer Tonne bereit. Offensichtlich wurden sie normalerweise sehr gut versorgt.
»Seltsam«, dachte Maria, »warum vernachlässigen Jana und ihr Bruder sie jetzt?«
»Maunz!« Die kleine Schwarze blickte vorsichtig aus einer Katzenklappe in der Hintertür, die direkt in die Küche führte. Sie traute sich nicht wieder raus, wollte aber doch gestreichelt werden. Maria kraulte ihr den Kopf und sprach leise zu ihr.
»Maaaauuuunz!!«, war die Antwort und die Katze lief durch die Küche zu ihrem Napf, der ebenfalls leer war, wie Maria durch die Glastür sehen konnte.
»Ach Mensch, für dich hab ich nix, tut mir leid«, sagte sie mehr zu sich als zu der Schwarzen, die jetzt auf den Küchentisch gesprungen war und eine schon völlig blanke Butterdose ausleckte.
»Nein, Sigrun, da stimmt was nicht. Ich hab die Nachbarn gefragt, sie haben nur Janas Bruder, Julian heißt er übrigens, gesehen. Er war gestern da, hat die Post mit reingenommen und war 10 Minuten später wieder verschwunden. Jana war nach ihren Beobachtungen seit 2 bis 3 Tagen nicht mehr da. Und sie hätten das gemerkt, glaub mir.«
»Aber zwei Tage sind doch für 17- bis 18-Jährige nicht viel. Die nutzen es aus, wenn ihre Eltern nicht da sind.«
Maria nannte Sigrun für sich immer »die Glucke«, weil sie so besorgt um ihre Kinder war. Für Hühnermütter beginnt die Nachwuchspflege bereits im Nest. Sie drehen ihre Eier bis zu fünf Mal pro Stunde und gackern ihren ungeborenen Babys etwas vor – diese zwitschern aus dem Ei heraus zurück. Nach dem Schlüpfen schützen die Mütter ihre Jungen mit ihren Flügeln vor Raubtieren. Es gibt Erzählungen zufolge Hühner, die sich weigern, ihr Nest mit frisch geschlüpften Jungen während eines Brandes zu verlassen. Das hatte Maria mit ihren Hühnern zwar zum Glück noch nicht erproben müssen, aber sie konnte es sich vorstellen. Sigrun jedenfalls, mit ihren drei Kindern in allen Phasen der Pubertät, wusste, wovon sie redete. In den Ferien hatten ihre zwei Ältesten eine Facebook-Party gefeiert, während sie mit ihrem Mann die Schwiegereltern in Hessen besucht hatte. Über den abgängigen Teppichboden, mit Brandlöchern und verkrustetem Erbrochenen, die verschwundenen I-Pods und die Kratzer im Zweitwagen würden sie wohl vergeblich mit der Versicherung streiten. Und sie hatten ja noch Glück, wegen der Ferien waren viele der »Freunde aus dem Netz« verreist.
»Ja, aber hier geht es nicht um eine sturmfreie Bude, sondern um ein Mädchen, das nicht da ist, wo es sein sollte, und das seine Tiere vernachlässigt. Das ist doch was anderes! Und jetzt ist es schon eine Woche, die Jana nicht in der Schule ist!« Maria fragte sich, ob Sigrun alles kleinreden wollte? War sie selbst wirklich überbesorgt oder war Sigrun die fremde Brut schlicht egal?
»Aber der Bruder …?«
»Was weiß denn ich, vielleicht nimmt er Drogen, vielleicht hat er Jana umgebracht, ich weiß es doch nicht! Ich weiß nur, dass ich die ganze Nacht kein Auge zugetan habe, nachdem ich gestern noch mal da war und der Katze zu fressen gebracht habe. Was ist, wenn Jana oben im Haus liegt und verletzt oder krank ist und der Bruder einfach nix merkt? Er ist ja auch erst 20, da gibt es noch so einige Baustellen im Hirn.«
»Jetzt übertreibst du hoffentlich – aber na gut, was schlägst du vor?«, lenkte Sigrun ein.
»Wir brauchen die Telefonnummer der Eltern oder irgendwelcher Verwandten, die was wissen könnten. Hübner ist kein ungewöhnlicher, aber auch kein allzu häufiger Name. Notfalls gehen wir zur Polizei. Noch so eine Nacht stehe ich nicht durch.«
Nach 4 Anrufen bei Telefonbuch-Hübners, die alle nicht mit den Hübners im Wiesenweg verwandt waren, und einer hinterlassenen Nachricht auf einem Anrufbeantworter stand für Maria fest, dass sie sich etwas anderes einfallen lassen mussten.
Sigrun wollte den Schulleiter informieren, sie bewegte sich gern auf dem Dienstweg fort und wollte daran glauben, dass Schulleiter von Zeit zu Zeit Schulen leiten (so wie Zitronenfalter ja bekanntlich Zitronen falten) und dann hilfreich sein konnten. Maria fragte die Kollegen, wer Julian Hübner vor 2 oder 3 Jahren im Unterricht hatte bzw. wer sein Tutor war, vielleicht gab es da noch Freunde oder Telefonnummern?
Sie landete in Sackgassen. Zwar hatten Greta de Boer und Matthias Glaan Julian im Unterricht gehabt, sie wussten aber nicht, mit wem er befreundet war, und Tutor war Christian Scholz gewesen, der im letzten Jahr, zwei Monate nach seiner Pensionierung, gestorben war.
Sigrun schloss die Tür des Schulleiters unsanft: »Mehrbold hält sich raus. Wir sollen keinen unnötigen Staub aufwirbeln, sodass womöglich die Eltern ohne zwingenden Grund aus Shanghai zurückkommen. Ich glaube, er hat Angst, dass er dann den Flug aus eigener Tasche bezahlen muss. Andererseits hat er von ›pädagogischer Verantwortung‹ geschwafelt und von ›Fingerspitzengespür und so‹. Mit anderen Worten: Wir sollen was machen, aber das Richtige, und wenn es schief geht, sind wir schuld.« Aufgeregt ruckte ihr Kopf vor und zurück, auf und ab …
»Alles wie immer also«, fasste Maria zusammen, die von Mehrbolds Passivität weniger überrascht war als von Sigruns Enttäuschung. Das Wappentier des Schulleiters war aus zwingend naheliegender Übereinstimmung das Faultier. Manche Kollegen nannten es auch Gelassenheit. »Ich hab da eine Idee, versuch du weiter bei Jana anzurufen, ich weiß vielleicht jemanden, der uns helfen kann, ohne dass wir eine offizielle Vermisstenanzeige aufgeben müssen.«
Gerade als Maria aus dem Lehrerzimmer ging, kam ihr Büsra entgegen. Inzwischen war ihre Freistunde vergangen, die eigentlich Pawlow gehörte, und es war gerade 5-Minuten-Pause.
»Frau Brehm, kann ich Sie kurz sprechen bitte?« Büsra sah sich um und zupfte an ihrem Kopftuch. Tuch, Schuhe, Lidschatten, Stöckelschuhe – Knochenbrecherschuhe –, alles himmelblau heute. Spektakulär. Sie wich Marias Blick aus. Als Muslimin die Evolutionstheorie verwerfen und dennoch 12 Punkte in Bio. Ein rätselhaftes Chamäleon.
»Hier oder in meinem Büro?«
»Lieber im Büro.«
Aus der Mensa kamen Talitha und Louis. Büsra sah sie, zog die Schultern hoch und ihr Himmel verdunkelte sich.
»Ach, hm, wir können auch ein anderes Mal … Ist auch nicht so wichtig.« Sie drehte sich ab und ging zu Talitha und Louis. Beide zischten ihr etwas zu; Louis stieß ihr einen Ellbogen in die Seite. Die drei gingen zur Treppe und nach unten. Maria schnappte noch »Spinnst wohl …« und »Ey, wenn du …« und zweimal »Jana« auf. Eindeutig war Talitha die Wortführerin. Sie war schön, scheinbar träge, aber dann unvermittelt blitzschnell und sehr gefährlich. »Haimädchen«.
Vor der 6. Stunde traf Maria Talitha auf dem Gang. »Kommst du nach der nächsten Stunde bitte mal zu mir ins Büro? Ich habe ein paar Fragen.«
»Wieso das denn, ey«, Talitha sah knapp an Maria vorbei, »ich hab gleich Schichtende und muss schnell nach Hause.«
»Es ist wirklich wichtig.«
»Nee, mein Vater wartet.« Talitha warf ihre Umhängetasche über die Schulter und wollte sich wegdrehen.
»Na«, Maria stellte sich ihr in den Weg, »dann werden wir uns ganz kurzfassen und du beeilst dich danach.«
Talitha sah zu Boden, zuckte mit den Schultern und bewegte vage den Kopf zur Seite.
»Gut, dann sehen wir uns um 14.20 Uhr in meinem Büro«, sagte Maria. Sie drehte sich um und ließ Talitha stehen.
Als Maria aus der Sporthalle kam, stand Talitha schon vor ihrem Büro.
»Komm rein, setz dich – Tee?«
»Nee.«
»Talitha, kannst du dir denken, weshalb ich dich sprechen möchte?«
»Nee, keinen Schimmer, was Büsra hat, die labert doch nur.«
»Büsra hat mir gar nichts erzählt, als sie euch gesehen hat, war es nicht mehr so wichtig. Was hätte sie denn ›labern‹ können?«
»Weiß ich doch nicht, aber es ist doch immer so, irgendjemand macht irgendwas und Sie haben mich auf dem Kieker.«
»Du fühlst dich von mir ungerecht behandelt«, schaltete Maria auf Mediatorin um »und nicht richtig gesehen?«
Achselzucken bei Talitha, sie war noch im Trägheitsmodus.
»Du wünschst dir, dass ich mehr darauf achte, was du sagst, und dich wohlwollender beurteile?«, leierte Maria absichtlich herunter.
»Oh no, nicht das Sozigewäsch! Was wünschst du dir? Wohlwollen?! Das geht mir doch voll am Arm vorbei! Soll ich Ihnen mal was sagen, ich kenn dieses ganze Gelaber von rauf nach runter, dieses Harmoniegewinsel, dieser ganze Bullerbü-Kitsch.« Talitha sah Maria an, sie hatte die Hände zu Fäusten geballt und presste sie auf ihre Oberschenkel. Maria griff die Thermoskanne und schenkte zwei Becher Tee ein. Einen schob sie Talitha hin. Die nahm den Becher, pustete hinein und sagte leiser: »Das Leben ist nun mal nicht heile Welt. Utopia war gestern, heute ist WoM und Sie können mich nicht leiden -okay-, so wie ich Sie nicht leiden kann, weil ich die Schule nicht vertrage, und das ist Sache jetzt!«
»WoM?«, fragte Maria.
»WoM: Welt ohne Mitleid. Jeder gegen jeden eben, normal.« Sie stellte die Tasse hart auf den Tisch. »Oder für Sie als Biolehrerin: Der Stärkere überlebt.« Talitha sah Maria herausfordernd an. Es war klar, dass sie sich sicher war, wer von ihnen beiden die Stärkere war.
Da war er: Der schnelle Wechsel vom scheinbar trägen Dahindümpeln in aggressives Zuschnappen – oder war es ein Angriff aus Angst? Jedenfalls war Maria heute ein zu großer Fisch für sie.
»Okay, also ohne Harmonie und Verständnis: Was ist mit Jana?! Du weißt etwas über ihr Verschwinden, du kontrollierst die halbe Klasse und ihr wart doch sogar mal befreundet.«
»Die Lusche und ich? Ne, anfangs hab ich einfach nicht gecheckt, wie die tickt, aber dann war klar, dass sie spinnt. Hat Scheiß erzählt über mich. So hintenrum. Da hat es Zoff gegeben und seitdem ist Ruhe.«
»War das im letzten Schuljahr?«, fragte Maria.
»Nach ungefähr vier Wochen wusste ich Bescheid.«
»Warum bist du denn nicht mal zu mir oder zu Herrn Haller gekommen? Wir hätten da vielleicht …«
»Hallo?! Hab ich das nötig? Ich krieg meine Dinge selbst clear, sehen Sie doch, wir gehen uns aus dem Weg und gut.
»Hm«, Maria trank langsam einen Schluck Tee.
Schweigen.
Talitha lehnte sich zurück und sah sich im Raum um.
Sie betrachtete das große Foto von Pawlow über dem Schreibtisch. Die meisten Schüler kannten Marias Husky gar nicht, weil sein Warteplatz unter einer Treppe versteckt lag. Auch der Schulleiter hatte ihn dort noch nicht gesehen. Dazu müsste er ja auch sein Büro verlassen. Aber das war ja ein anderes Thema. Maria konnte sehen, wie es in Talitha arbeitete. Sie griff wieder nach dem Teebecher und trank einen kleinen Schluck.
»Beschwichtigungsverhalten«, dachte Maria. »Was jetzt wohl kommt? Lenkt sie ein?«
»Ihr Hund?«, fragte Talitha.
»Pawlow, ja.«
»Cool.«
Beide sahen das Foto des Huskys an, der gerade von einem Steg ins Wasser sprang. Die Ohren steil aufgerichtet, die Schnauze zu einem verzückten Grinsen geöffnet, der Blick zwischen Irrsinn und Orgasmus.
»Talitha, wenn du etwas über Jana weißt, sag es mir bitte, ich mache mir wirklich Sorgen.«
Schlechtes Timing. Talitha stand abrupt auf, sie stieß gegen den Tisch. Der Tee schwappte aus dem Becher. Maria ärgerte sich, dass sie zu schnell auf eine Stimmungsveränderung gehofft hatte.
»Ich hab doch gesagt, dass ich keine Ahnung hab, wo, mit wem und wieso-weshalb-warum sie weg ist.«
»Warte. Mit wem? Wie kommst du darauf? Hat sie einen Freund?«, fragte Maria.
»Welche wollen Jana ’n paarmal mit so’m Typen gesehen haben, so ’nem Greis, mindestens 40 oder so, sagen die anderen. Und jetzt, wo ihre Eltern sich verackert haben, nutzt sie vielleicht die Gelegenheit …«
»Hm, kannst du dich vielleicht mal umhören? Ich frage die anderen auch noch, aber vielleicht sind sie dir gegenüber offener?«
»Ich soll spitzeln für Sie? Negativ! Bringt auch sowieso nix. Die interessiert null. Ich muss jetzt echt los.«
Maria blieb noch sitzen, als Talitha gegangen war, sie ahnte die Härte, mit der Talitha sich und andere beherrschte. Und sie fragte sich, welche Angst dahinter versteckt war und was passierte, wenn diese Angst zu groß wurde, um sie zu bändigen.
***
TALITHA
Bloß weg hier! Bestimmt guckt die Brehm aus dem Fenster, also dreh dich nicht um, nicht gucken, ob Ö oder Lu da sind. Büsra ja sowieso nich, die sitzt längst zu Hause und strebert.
Die Brehm nervt echt, ob sie was weiß? Hoffentlich halten die anderen die Klappe. Nur noch zwei, drei Tage, dann ist Jana so weich, dass sie nur noch davon träumt, dass es vorbei ist. Die Fotos, die wir von ihr haben, die will sie wirklich nicht im Netz sehen. Die sagt nichts. Wem denn auch? Juli, den Alpha-Kevin, hast du doch voll im Griff. Für ein bisschen Gefummel vertickt der seine Eltern, und seine kleine Schwester ist ihm schon sowieso egal.
Und die Alten haben nur Job und Kies in Hirn.
Dir darf nur die Brehm nicht reinstressen …
Sonst kommt dir keiner in die Quere, Freunde hat Jana nich, da bist ja nur du …
Diese Loserin, ist doch allen rille, wo die ist, sind doch froh, dass sie mit ihrem Opfergetue nicht länger nervt.
Lässt wirklich alles mit sich machen, Klopskind. Dämlich, echt. Hast doch immer wieder gedacht: Jetzt! Jetzt geht die ab, jetzt knallt die durch und wir sind dran. Hält doch keiner aus. Aber die macht allerhöchstens einen auf Zornröschen. Und dann will sie dir auch noch was einreden von verstehen und so … Wenn du der einflüstern würdest, dass sie dich retten kann vor dem Schwarzen in dir, wenn sie dir die Fußnägel abknabbert, dann macht die das.
Dich retten! Dieses verwöhnte Villa-mit-Garten-Weichei. Was hat die fürn Smoothie im Hirn?
So, du bist außer Sicht der Schule, bleib cremig und app die anderen an. Läuft schon …
»Seh ich recht? Miss Marple? Was verschafft uns die Ehre? Ist Ihnen doch noch was zum Fall Kaiser eingefallen? Ein bisschen spät, was?!«, höhnte er.
Oh nein, ausgerechnet. Manche Menschen sind für Sympathie einfach nicht gemacht. Dieser war so einer. Scholz, Kriminalkommissar von der Mordkommission. Er war aber auch neben seiner Vorgesetzten, Kriminalhauptkommissarin Grothus, der Einzige, den Maria kannte.
»Ist Ihre Chefin da?« Mit Betonung auf »Chefin«.