Utopia war gestern - Ursula Pickener - E-Book

Utopia war gestern E-Book

Ursula Pickener

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Beschreibung

Utopia war gestern. Die Schülerin Jana erscheint tagelang nicht zum Unterricht. Maria Brehm, die Vertrauenslehrerin, erreicht weder die Eltern noch den Bruder des Mädchens. Die Mitschüler verheimlichen offensichtlich etwas.

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Ähnliche


Utopia war gestern

Kriminalroman

Ursula Pickener

Alle Rechte beim Verlag

Copyright © Sept. 2019

Fehnland-Verlag

26817 Rhauderfehn

Dr.-Leewog-Str. 27

Lektorat Bianca Weirauch

Coverdesign Veronika Aretz

Inhalt

Vorbemerkung

1. … Gorilla gorilla: Silberrücken

2. … Anas platyrhynchos: Stockente

3. … Eschatologischer Waschzettel

4. … Felis silvestris catus: Kastenteufel im Wiesenweg

5. … Sackgassen und Shanghai

6. … Utopia war gestern

7. … Miss Marple schon wieder

8. … Fuchsalarm und Hühnerklappe

9. … ICD-10, Version 2012 / F10.0-10.8

10. … Kiwi, Kea, Kaka: Kia Ora auf den Kopf gestellt

11. … Oryctolagus cuniculus f. domestica, vulgo: Stallhase

12. … Fandango am Montag

13. … Schulz von Thun und Das innere Team

14. … Symbiogenese oder: Rot wie …

15. … Eingelegte Eingeweide aus der Vergangenheit

16. … Stadtindianer oder Dürrenmatt

17. … Liebe und andere Lügen?

18. … Wie Stephen King

19. … JANA, 9. September 2016

20. … 11.11. Faschingsbeginn

21. … Nase, Ohr, Zahn

22. … Minzprinz

23. … JANA, 28. Oktober 2016

24. … Graue Katzen – nachts und tags

25. … Gefahrenlage

26. … JANA, 28. Oktober 2016

27. … Zaubernuss: Hamamelis

28. … JANA, 28. Oktober 2016

29. … Storchennest

30. … Mutter – Mutter – Kind und andere Spiele

31. … ABFFAZ oder Kumpel?

32. … Gorilla berengei

33. … JANA, 13. November 2016

34. … Tiefe Wasser

35. … Earl Grey

36. … JANA, 15. November 2016

37. … Theater

38. … Zwitscherschrecke (Tettigonia cantans)

39. … PTBS Typ 1

40. … Teckel und Gespenster

41. … Blindflug

42. … Milchreis mit Ketchup

43. … Drohen und Beschwichtigen

44. … Sibirien/Lemminge

45. … Sprung/Substantiv, maskulin [der] … Fall/Substantiv, maskulin … Fall/Substantiv, maskulin [der]

46. … Stille

47. … Silberrücken-reloaded?

Danksagung

Vorbemerkung

Wer sich in diesem Roman er­kennt, irrt sich.

Wer nichts davon kennt, sollte ge­nauer hin­schau­en.

Alle Perso­nen dieses Romans sind fiktiv, alle Pro­bleme, Motive und Kon­flikte sind leider real.

1. Gorilla gorilla: Silberrücken

Auf­rich­ten, Arme leicht vom Körper ab­heben, Ellbo­gen nach außen, Kinn runter, Blick nach vorn. Im­ponier­gehabe wie im Go­rilla­gehege …

Maria ging den war­tenden Schü­lern ihres Bio-Leis­tungs­kurses ent­gegen. Auch heute be­schlich sie ein un­gutes Ge­fühl dabei. Sie streck­te den Rücken noch einen weite­ren Zenti­meter und ob­wohl sie gut im Trai­ning war, hatte sie weiche Knie, Atem­not und schwei­ßige Hände. Als Silber­rücken wäre sie ver­loren.

»Selt­same Klasse, die gucken weg oder durch mich durch, juve­niles Ver­mei­dungs- oder Be­schwich­tigungs­ver­halten, könnte man meinen«, dachte Maria, und be­grüßte die Schü­ler mit einem be­tont munte­ren »Guten Morgen, Damen und Herren!« Keine Re­aktion. Handys wurden ge­strei­chelt, sorg­sam la­ckierte Nägel in­spi­ziert, Sekun­den­schlaf zele­briert. War das Über­druss und Lange­weile oder Igno­ranz und Domi­nanz­geba­ren? In jedem Fall eine mas­sive Mauer, an der de­zente Päd­agogik ab­prall­te.

Maria stell­te sich mit dem Rücken zur Tür und hob die Stimme:

»Also, noch ein­mal: SCHÖ­NEN. GUTEN. MORGEN!, Schüle­rinnen und Schü­ler des Bio­logie­leis­tungs­kurses am Mies-Roland-Schul­zen­trum!«

Mur­meln, einige halb­laute, halb­her­zige »Morgen«, »Moin«, sogar ver­ein­zelt »Hallo Frau Brehm« …

»Schon besser, kommt rein«, sagte sie. Hatte sie über­re­agiert? Es war früh, die Schü­ler waren müde, der No­vem­ber­blues, Diens­tag und die Woche nahm kein Ende und wer weiß, was bei denen zu Hause … Ande­rer­seits war der Welpen­schutz lang­sam vorbei. Wenigs­tens rudi­mentäre Höf­lich­keit soll­ten sie lernen, um auch außer­halb des Schul­bio­tops und Strei­chel­zoos über­lebens­fähig zu sein.

»Fahr­karten­kon­trolle!« In bester Hans-Albers-Manier be­gann sie das Ritual der An­wesen­heits­fest­stel­lung.

»Och nöö! Nicht das schon wieder – hallo, wir sind’s. Die kennt uns doch lang­sam«, murrte Ta­lit­ha, die Klas­sen­spre­cherin, und ver­drehte die Augen, wäh­rend die ande­ren ge­räusch­voll in ihren Ta­schen kram­ten, mal eben noch etwas poste­ten, dem Nach­barn Fotos zeig­ten oder die Mathe­auf­gaben ver­gli­chen.

»Jetzt mal Ruhe, Leute, wir fangen an«, sagte Maria und igno­rierte den Ein­wurf. Sie schlug den Klas­sen­ordner auf und klopf­te aufs Pult. Es wurde leiser.

»Ben« -«Ja« – »Ömer« -«Hier« – »Büs­ra« -«Ja« – »Lara« -«Ja« – »Ta­lit­ha« – »Hmm« – »Maren« -«Ja« – »Jana – Wer weiß etwas von Jana?« Ver­spä­tungen, Er­kran­kungen und leider auch jedes andere Er­eig­nis, egal wie pein­lich oder däm­lich, wurde ge­postet, ge­simst oder sonst wie in die digi­tale Welt ge­blasen.

Von Jana aber wollte keiner etwas wissen.

»Wer sagt ihr, dass sie sich melden soll?« Ihr suchen­der Blick in die Runde blieb ohne Er­wide­rung. Die Mauer war wieder ge­schlos­sen.

***

JANA, 17. August 2015

Seit 3 Wochen bin ich nun in der Ober­stufe und es ge­fällt mir super. Ich habe eine Freun­din! Sie ist etwas ganz Be­sonde­res! Sie heißt Ta­lit­ha, so ein toller Name. Was ist da­gegen schon Jana?! Lang­weilig! Heute hat Ta­lit­ha mich zu Hause be­sucht, sie findet alles bei uns spie­ßig, ich hab mich rich­tig ge­schämt. Und wir haben uns kaputt­ge­lacht. Die Spit­zen­gardi­nen in der Küche, die blauen Kera­mik­kugeln, ein­fach alles! Sie ist dann ganz lange ge­blie­ben und hat sich 2 CDs und meinen I-Pod ge­liehen. Und wir haben über Julian ge­läs­tert, der hat die ganze Zeit Basket­ball ge­spielt und auf Dirk No­witz­ky ge­macht.

Ich freue mich auf die Schule morgen!

So. Noch schnell das Tage­buch ab­schlie­ßen und unter die Matrat­ze. Das Schlüs­sel­chen hab ich jetzt immer an meiner Hals­kette bei mir. Ist ja ein biss­chen kin­disch, aber es ist schön, etwas ganz für mich zu haben. Ich traue mich noch nicht mal, da alles auf­zu­schrei­ben. Zum Bei­spiel, dass Ta­lit­ha neu­lich meinte, meine Haare seien zwar so maus­blond lang­weilig, aber sonst gar nicht so schlecht. Da könnte man was draus machen. Wenn ich mich so im Spie­gel an­gucke, kann ich’s nicht glau­ben.

Wenn ich an morgen denke, krib­belt es in meinem Bauch.

2. Anas platyrhynchos: Stockente

»Komm, Pawlow, mir reicht’s, raus aus der An­stalt«, sagte Maria und ihr Hus­ky­rü­de, der im Büro auf sie ge­wartet hatte, war sofort hell­wach.

Mit Schwung ra­delte sie an der Sport­halle vorbei und über den Schul­park­platz. Schnell waren sie am Le­sum­deich. Pawlow gab Gas, nach über 5 Stun­den Warte­zeit gierte jede Faser seiner Mus­keln nach Be­wegung. Er raste voraus. Nutzte den Vor­sprung, warf sich oben auf den Rücken, um sich ge­nüss­lich durch Gras und Maul­wurfs­hügel hin­unter zu winden. Maria trat mit Kraft in die Pedale, die Wiesen rechts von ihr flogen nur so vor­über. Sie war froh über ihren Rück­weg, ihre »Adre­nalin­fres­ser­stre­cke«.

Ar­dea ci­ne­rea! Zwei – nein, drei Grau­reiher staks­ten über Lam­kens Wiese und sahen ihnen nach. Die Kühe käuten ge­lassen wieder. Pawlow war zur Le­sum hin­unter­gelau­fen, über die Ufer­steine ins Wasser. Er schwamm und soff dabei – Ab­küh­lung hoch zwei. Dann sprin­tete er hinter Maria her. Im Laufen schüt­telte er sich, die Beine wurden ihm fast unter dem Körper weg­geris­sen und als er sie ein­holte, war er wieder tro­cken. Das Hus­ky­fell ist ein Wasser­abwei­sungs­wunder, dozier­te Maria für sich selbst: Das Deck­haar ist hydro­phob und legt sich bei Nässe über die Unter­wolle, da­durch dringt das Wasser nicht auf die Haut. Kräf­tig schüt­teln und fertig … Ein Husky kann zwi­schen Eis­schol­len schwim­men, ohne nen­nens­wert aus­zu­kühlen, genau wie die Stock­enten, die gerade ge­mäch­lich auf der Le­sum pad­delten. Er kann sich eng ein­ge­rollt ein­schnei­en lassen und sogar unter einer Schnee­decke schla­fen. Das »Hotel Frei­luft« ist für Pawlow immer die 1. Wahl.

»Los, du Ente, nach Hause!«, rief sie.

Hinter dem klei­nen Segel­hafen, jetzt ohne Stege, bog sie in den Park ein. Hier hatten die rei­chen Bremer Kauf­leute im vor­letz­ten Jahr­hun­dert ihre Sommer­häuser an der Le­sum. Einen öffent­lichen Weg gab es damals noch nicht. Jetzt schlän­gelte sich der Ad­miral-Brom­my-Weg male­risch zwi­schen Villen, Park und Fluss dahin. Er war in den 1960er-Jahren gegen den Wider­stand der Be­sitzer ge­schaf­fen worden und trenn­te nun die Villen mit ihren profes­sionell ge­pfleg­ten Gärten von den größ­ten­teils ver­wil­derten Flä­chen am Fluss. Nach eini­gen sol­chen Grund­stü­cken öff­nete sich die Szene­rie. Die Zäune ver­schwan­den und der Blick auf die Le­sum wurde wieder frei. An dieser Stelle war Maria immer wieder über­rascht: Der weite Blick, der Wind, der den Fluss leben­dig macht und wech­selnde Stim­mungen er­zeugt. Manch­mal, selten, auch der in völli­ger Wind­stille ölig-schwei­gende Fluss, wie ein blau­graues Metall­band, das geheim­nis­volles Leben unter sich be­schütz­te. Rechts er­hob sich Knoops Park, das Sahne­stück der ehe­mali­gen Sommer­resi­denzen, mit seinen alten Bäumen, seinen Sicht­achsen über die Le­sum und seinen Aus­sichts­punk­ten: der schöns­te Park in Bremen.

Immer schwärm­te Maria Freun­den aus der Stadt davon vor. An sonni­gen Wochen­enden fand sie aller­dings, dass er doch ein Geheim­tipp blei­ben sollte, und zur Kohl- und Pinkel-Zeit ver­fluch­te sie seine Be­liebt­heit.

Nach sensatio­nellen 22 Minu­ten stell­te Maria ihr Rad hinter die ehe­malige Feuer­wache.

Charles Darwin kam maun­zend an­gelau­fen. Pawlow, noch immer un­aus­gelas­tet, hech­tete auf den Kater zu, der nahm die Heraus­forde­rung an und flitz­te in Riesen­sätzen zu seiner Lieb­lings­buche. Knapp vor Paw­lows Nase krall­te er den Stamm hinauf und schau­te, gerade außer­halb der Sprung­reich­weite des Hundes, schein­bar ge­lang­weilt in die Luft. Pawlow sprang jau­lend immer wieder am Stamm hoch, schaff­te sogar, ein Stück­chen senk­recht hoch­zu­laufen, und er schnapp­te haar­scharf am zucken­den Schwanz des Katers vorbei.

Maria hatte dieses Schau­spiel schon un­gezähl­te Male be­obach­tet. Sie hatte einen Riesen­spaß an der Lebens­freude und dem schwar­zen Humor der Vie­cher. Immer wieder waren Be­sucher oder be­sorgte Be­obach­ter schrei­end auf den Hund, manch­mal auch auf sie los­gegan­gen, um »die arme Katze« zu retten.

Sie schloss die Tür auf, das war das Signal: Die beiden Clowns bra­chen das Spiel ab und stürm­ten ge­mein­sam zu den Fress­näpfen, die Maria schnell füllte. Sie fraßen ab­wech­selnd aus den beiden Schüs­seln, in einer so fein ab­gestimm­ten Choreo­grafie, dass letzt­lich jedes Tier an seinem eige­nen Napf endete und die Mahl­zeit in Ruhe zu Ende brach­te.

In­zwi­schen war Maria schon auf dem Sofa ge­landet, essen konnte sie spääää…

Das Klin­geln des Tele­fons riss sie aus ihrem »Po­wer­nap«, der längst die magi­schen 20 Minu­ten über­schrit­ten hatte. Charles Darwin, der es sich auf ihrem Bauch be­quem ge­macht hatte, sprang mur­rend her­unter. Pawlow schnarch­te ein­fach weiter. Tele­fonie­ren war nicht sein Ding.

»Brehm.«

»Hallo Maria«, ihre Kolle­gin Sigrun, Janas Tuto­rin, war dran.

Sie tausch­ten sich aus, auf diese nerv­tötend be­mühte Art, die auch auf Konfe­renzen Marias Ge­duld strapa­zierte. Sie sah aus dem Fens­ter und konzen­trierte sich auf die Be­obach­tung eines Eich­hörn­chens, das letzte Winter­vor­sorge be­trieb. Sie musste sich ab­lenken, um nicht Sig­runs Ton­fall nach­zu­äffen, der zwi­schen Trauer­redner­ernst und Drei-Frage­zei­chen-Eifer schil­lerte. Er­geb­nis: Sie hatten nie­manden er­reicht und wuss­ten beide so gut wie nichts. Auch das war den meis­ten Konfe­renzen nicht un­ähn­lich.

Das Eich­hörn­chen bud­delte ein Loch in den Moos­tep­pich, den Maria stur weiter »Rasen« nannte, und steck­te eine Eichel oder eine Marone hinein. Wenigs­tens was. Auch wenn es sein Ver­steck ver­mut­lich nie wieder finden würde, konnte doch ein Baum draus werden.

Sigrun schwieg. Sie will, dass ich das hier be­ende, dachte Maria. »Hat Jana nicht auch einen etwas älte­ren Bruder, der auch bei uns war? Viel­leicht steht seine Handy­nummer noch in der Akte. »Zu viele Fehl­zeiten in der ersten Zeit«, sagte Sigrun. »Ich dachte, das wäre jetzt über­stan­den. Damals wollte sie wohl nicht gern zu uns in die Schule, Ein­gewöh­nungs­schwie­rig­keiten, hatte ich ver­mutet.«

»Also, wir gucken beide weiter, okay?«, steck­te Maria ge­dank­lich eine kleine Nuss in den kargen Boden.

Mist! Das war’s mit dem Feier­abend­modus! Maria stell­te das Tele­fon in die Sta­tion und ging in die Küche. Brot, Käse, Butter und ge­trock­nete Toma­ten … Was wusste sie über Jana? Seit etwas über einem Jahr an der Schule. Vor­her? Keine Ahnung. Leis­tungs­kurse Bio und Deutsch, mittel­mäßige Schü­lerin, Ten­denz in Bio nach unten, haupt­säch­lich wegen zu wenig münd­licher Mit­arbeit. An­fangs war das einen Hauch besser ge­wesen. »Schwach an­gefan­gen und stark nach­gelas­sen«, fiel ihr der neue Lehrer­zimmer­schnack ein. Warum hatte Jana nach­gelas­sen? Keine Ahnung. Im Sport häufig krank, hatte gern mal ihre Regel, an­sons­ten still. Bei Spie­len zurück­hal­tend, wurde sie viel­leicht nicht an­ge­spielt? Keine Ahnung! Jana war eine von den Schüle­rinnen, die lange nicht auf­fielen, weil sie nicht auf­fal­lend waren, nicht stör­ten, aber auch nicht viel zum Unter­richt bei­trugen. Eine Stille eben, die so mit­lief. Hatte Maria ge­dacht – aber jetzt kam ihr der Ver­dacht, dass Jana in Wirk­lich­keit nicht mit­lief, son­dern neben­her­lief oder sogar über­haupt nicht mehr lief, son­dern ab­ge­hängt, fast schon ver­gessen war.

Das Brot rutsch­te nur schwer durch ihren Hals. Tee musste her! Viel und heiß. Grüner Tee hilft auch gegen nutz­lose Selbst­ankla­gen und spätes Ge­wissen. Hatte sie da etwas völlig über­sehen?! »Hallo, Frau Vertrauens­lehrerin, aus­gerech­net du?«, mel­dete sich schon wieder der blöde Zensor.

Un­zäh­lige Ge­sprä­che hatte sie mit ihrem Kolle­gen Karl ge­führt. Immer wieder wollte sie diesen ver­damm­ten Ver­trau­ens­lehrer-Posten ab­geben, dieses Pöst­chen, diese Un­ver­schämt­heit einer Büro­kratie, die sich nur an For­mali­täten auf­geilte, die es ernst­haft wagte und damit durch­kam, dass für 2000 Schü­ler exakt zwei Schul­stun­den zur Ver­fügung stan­den, um haufen­weise Riesen­pakete zu ent­decken, auf- und wieder zu­zu­schnü­ren, weg­zu­schie­ben, ein klei­nes Stück zu tragen und den Schü­lern wieder vor die Füße zu knal­len, weil, weil, weil … Irgend­ein »weil« gab es fast immer. Irgend­einen Grund, wes­halb die Schule, die Be­hörde, Karl und auch sie das Paket nicht so leicht machen konn­ten, dass es trag­bar wurde. Wenigs­tens er­träg­lich.

Sie hatten immer weiter­ge­macht, es gab immer noch ein »weil« mehr auf der ande­ren Seite, mal kam es von Karl, mal von ihr und viel zu oft von einer der Stim­men ihres inne­ren Teams.

Und Janas Paket?

Aber viel­leicht war da gar nichts, viel­leicht war Jana nur krank und die Eltern ließen sich Zeit mit der Ent­schul­digung, viel­leicht sah sie wieder zu schwarz? Maria nahm sich vor, mehr auf Jana zu achten, wenn sie wieder da sein würde und auch den Rest der Klasse ge­nauer an­zu­schau­en. Sie war so ge­nervt ge­wesen vom BIO-LK, dass sie »Aus-den-Augen-aus-dem-Sinn« ge­spielt und wie Strut­hio ca­me­lus, der legen­däre Vogel Strauß, den Kopf in den Sand ge­steckt hatte.

3. Eschatologischer Waschzettel

»We don’t need no educa­tion …« Ein Stein nach dem ande­ren wird auf­geschich­tet, Hände grei­fen die Steine von unten und sta­peln sie, schnell, sehr schnell. Keine Ge­sich­ter, keine Stim­men, es ist dunkel und still. Nur die Hände be­wegen sich, wie körper­lose weiße Hand­schuhe bauen sie die Mauer. Die Musik hallt in ihrem Kopf: »We don’t need no force con­troll … An­ot­her brick in the wall!« Pink Flo­yd. Das war immer ihre Musik ge­wesen, aber jetzt dröhnt sie höh­nisch und schrill durch ihren Schä­del. Sie will die Augen schlie­ßen und sich die Ohren zu­halten, nichts sehen, nichts hören und erst recht nichts wissen, aber sie kann ihre Lider nicht senken und die Arme nicht heben. Sie ist starr und muss mit­an­sehen, wie die Wand wächst, die weißen Hände höher und höher hinauf­rei­chen und schließ­lich hinter der end­losen und un­über­wind­lich hohen Mauer ver­schwin­den. Totale und dabei ohren­zer­rei­ßende Stille folgt. Dann ein Schluch­zen, ein leises Wim­mern, das sie aus ihrer Er­star­rung reißt. Sie wirft sich gegen die Mauer, hinter der es weint …

Mit einem Auf­schrei schreck­te Maria hoch. Sofort wusste sie, dass sie selbst ge­schluchzt hatte. Sie fühlte sich blei­schwer, ihr Herz klopf­te, als ob sie schnell, viel zu schnell ge­laufen wäre. Vier­tel vor fünf. Sie ver­suchte gar nicht erst, wieder ein­zu­schla­fen. Das würde nicht ge­lingen.

Im Flur öff­nete Pawlow nur ein Auge, er war ein Freund des Schla­fes im Morgen­grauen und Maria sah nicht nach einem Spa­zier­gang aus in ihrem über­großen T-Shirt mit dem Küken drauf und der Sprech­blase: Kann Karate.

Charles Darwin hin­gegen war unter­wegs, er liebte die frühen Morgen­stun­den, sein Motto war: Der frühe Kater fängt den Vogel …

Also saß Maria allein am Küchen­tisch, mit einer lau­warmen Tasse Tee aus der Ther­mos­kanne vom Abend. Sie suchte Hilfe an der Kühl­schrank­tür:

Meiers ge­heime Lebens­liste:

1. Trink Alko­hol! (Kein Alko­hol ist auch keine Lösung!)

2. Sei un­freund­lich!

3. Tu das Un­erwar­tete!

4. Lach mit ande­ren über dich!

5. Halt! Dich! Raus!

Dies­mal fand sie weder Trost noch Hilfe darauf. Alko­hol? Sie schüt­telte sich, ob­wohl sie zu­geben musste, dass er schon funktio­niert hatte. Maria dachte an die Be­geg­nungen mit der Frau eines er­morde­ten Kolle­gen im Früh­jahr zurück, bei der das ge­mein­same Whisky­trin­ken schließ­lich die Lösung zu­tage ge­bracht hatte. Whisky! SIE! Sie hatte Whisky ge­trun­ken und es hatte sie voran­ge­bracht …

Aber: Allein, am eige­nen Küchen­tisch im Morgen­grauen vor einem langen Schul­tag? So­wieso hatte sie weder Whisky noch Ähnli­ches im Haus. Die Fla­sche Rot­wein war schon ein Riesen-Fort­schritt.

Weiter mit 2. Un­freund­lich konnte sie zu Pawlow und Charles Darwin sein, das brach­te aber weni­ger als nichts. Un­freund­lich zu sich selbst ging immer – aber mit dem glei­chen Er­geb­nis.

Also 3. Was war jetzt un­erwar­tet? Sie er­war­tete, dass sie sich um Jana küm­merte, dass sie heraus­fand, was los war, und dass sie erst locker­lassen würde, wenn Jana ge­rettet war. Ha! »Ge­rettet« – da war es wieder, das Reiz­wort! Sie wollte nicht mehr, dass sie jeman­den retten wollte! Sie wollte sich aus Ret­tungs­aktio­nen (siehe Nr. 5) heraus­halten! Ande­rer­seits war sie Lehre­rin, sogar im Super­lativ: Vertrauens­lehrerin, was viel­leicht ein Fehler war, aber damit musste sie erst mal leben. Sie wurde nicht nur für die Ver­mitt­lung von Wissen be­zahlt. Auch nicht fürs Raus­halten. Also Ein­mi­schen und Raus­halten – irgend­wie musste beides gehen. Sie teilte die Tage konse­quent in Schul­zeit und Frei­zeit ein und hielt ihr Helfer­syn­drom so in Schach.

Also: Dran­blei­ben, aber nicht retten. Nach­for­schen, aber nicht allein.

Sie holte das Tele­fon zu sich an den Küchen­tisch und wählte, es klin­gelte ein paar­mal – Mist, nur der AB: Piiii­ieeeep – der Anruf­be­ant­worter der Fami­lie de Bo­er war­tete auf Nach­rich­ten.

»Hier ist Maria, es ist fünf Uhr, ich kann nicht schla­fen und brau­che dich. Los geh ran …«

Schade, dachte Maria, manch­mal war Greta auch schon sehr früh wach und mit ihr konnte sie selbst in den schwär­zesten Momen­ten lachen.

Sie drehte die Lebens­liste am Kühl­schrank um und sah auf das dahin­ter hän­gende »Regis­ter der 927 (oder waren es 928?) ewigen Wahr­heiten« von Shel­don B. Kopp. Dieser escha­to­logi­sche Wasch­zettel hatte den An­stoß zu ihrer gehei­men Liste ge­geben, und sie las:

Lerne, dir selbst zu ver­geben, und wieder … und wieder … und wieder … und wieder …

4. Felis silvestris catus: Kastenteufel im Wiesenweg

»Frau Beh­rends, haben wir von Jana Hübner aus meinem BIO-LK nur die Fest­netz­nummer?«, fragte Maria im Sekre­tariat.

»Hier ist nur be­kannt, dass am An­fang des Schul­jahres der Vater da war. Er hat ge­sagt, dass Ent­schuldi­gungen für eine Weile von seinem Sohn aus­ge­stellt werden. Das ist ver­merkt. Ist aber ir­rele­vant, weil die Schü­lerin Attest­pflicht hat. Das hatte der Vater wohl ver­gessen«, sagte Frau Beh­rends.

»Aa, hier ist es: Bruder der Schü­lerin für die nächs­te Zeit mit der Auf­sicht be­auf­tragt – Ent­schuldi­gungen ggf. durch ihn.« Maria stell­te den Ordner zurück. »Wissen Sie, warum das so ist?«, fragte sie.

»Die Eltern sind im Aus­land, ein Pro­jekt seiner Firma.« Die Sekre­tärin sah Maria nicht an, son­dern auf den Bild­schirm, sie scroll­te su­chend herum. »Shang­hai oder so. Es musste schnell gehen, er hatte keine Zeit.«

»Er hat also keine andere Tele­fon­nummer von sich oder seiner Frau da­gelas­sen?« So schnell wollte Maria nicht locker­lassen.

»Ja­ha. Für so was ist das Sekre­tariat nicht zu­stän­dig, schon gar nicht am Schul­jahres­beginn. Ich sag nur Um­struktu­rierung«, sagte Frau Beh­rends, sie klick­te mit der Maus.

»Aber holla«, misch­te sich jetzt Frau Dünn­bier ein, die für die Berufs­schule zu­stän­dig war. »Das neue Compu­ter­pro­gramm, der neue Stun­den­planer und die neue Ab­tei­lungs­lei­tung!«, rief sie.

»…und nichts ging mehr. Eltern, Be­triebe, Innun­gen – alle riefen an und mecker­ten über die Stun­den­pläne der Schü­ler. Hier war der Teufel los. Ich hätte am liebs­ten alles hin­geschmis­sen«, er­gänzte Frau Beh­rends.

»Wenn die sich sonst auch so interes­sieren würden … Aber sobald die Pläne dann äußer­lich okay schie­nen, waren sie wieder von der Bild­fläche ver­schwun­den«, schloss Frau Dünn­bier mit resi­gniertem Schul­ter­zucken.

Maria nickte, die Schule hatte einem Amei­sen­haufen ge­gli­chen, den irgend­ein idioti­scher Wald­schrat mit einem Spa­zier­stock um­ge­rührt hatte. Die knappe Infor­mation von Janas Vater ging in dem Chaos unter. Aber das war Wochen her. Hieß das also, dass Jana und ihr Bruder seit­dem ohne ihre Eltern waren? Zwar fingen die schnells­ten der Turbos schon mit Ende 16, An­fang 17 an zu stu­dieren, da sind Mama und Papa mög­licher­weise auch weit weg. Aber Schule ist etwas ande­res – oder? Maria merkte sich die Adres­se. Wiesen­weg 17 in Plat­jen­wer­be. Nicht ihr üb­licher Rad­weg, aber sie könnte nach Schul­schluss einen für Pawlow er­freu­lichen Um­weg machen.

Wiesen­weg. Spieß­bürger­tum hoch 3: jeder Vor­garten eine Steige­rung des vor­heri­gen: Noch ordent­licher, noch gera­der, ge­pfleg­ter, ge­diege­ner als der des Nach­barn. Eine Nagel­sche­ren-Rasen­hölle. Ein auf Arten­mini­mierung aus­geleg­ter Groß­ver­such könnte nicht erfolg­rei­cher sein. Der erste Platz im Wett­bewerb »Unser Dorf soll blöder werden«: Mit origi­nal griechi­schen Göt­tinnen und Spring­brun­nen, japani­schem Ahorn nebst ge­schwun­gener Brücke über 3 Qua­drat­meter Teich, obligato­rischem Wagen­rad und herbst­lich bunt be­pflanz­ter Holz­schieb­karre war alles ver­treten. Ein Pan­opti­kum des bil­dungs­bürger­lichen Be­mühens um Deutsch­tum ohne Garten­zwerge: »Seht her, ich bin ein Welt­bürger, be­weise humanis­tische Grund­bil­dung und spiele nach einem histo­risch ge­wach­senen Regel­werk, das für den Un­ein­geweih­ten un­durch­schau­bar bleibt.«

Die Vor­stel­lung, Pawlow würde in einen dieser Gärten schei­ßen oder ein Loch im Rasen bud­deln, um etwas Lecke­res zu ver­graben, ließ ihre Här­chen an den Armen stramm­stehen. Ver­mut­lich würde sie diese Sied­lung dann nicht lebend wieder ver­lassen, son­dern in gut­nach­bar­schaft­licher Über­ein­kunft in einem Schnell­kom­poster zu gutem Mutter­boden ver­rotten.

Die Ge­fahr war aber gering, denn wo sollte hier auch nur die kleins­te Feld-, Haus-, Spitz- oder Rö­tel­maus (tot oder leben­dig) oder ein ver­wesen­der Vogel zum Ver­bud­deln zu finden sein? Es war nichts Leben­des zu sehen, den­noch fühlte Maria sich be­obach­tet. An Nummer 20 war ein Spie­gel-Spion am Küchen­fens­ter be­fes­tigt und gegen­über lau­erte eine Über­wa­chungs­kamera, sicher nicht die ein­zige.

Hüb­ners Haus, Nummer 17, war Mittel­maß, weder be­son­ders scheuß­lich ge­schmückt noch posi­tiv auf­fal­lend. Der Rasen sollte aller­dings vor der Winter­ruhe noch ein­mal ge­mäht werden, Dah­lien­beete mit exakt um­sto­chenen Rän­dern, Wasch­beton­plat­ten zur Haus­tür, zwei Auto­stell­plätze vor der Doppel­garage, Tritt­steine im Rasen zur Ter­rassen­tür …

Maria ließ Pawlow vor der Haus­tür sitzen. Sie klin­gelte. Im Haus regte sich nichts – doch: ein leises Maun­zen, ein Krat­zen an der Haus­tür. Dann war es wieder still. Einen Moment später kam eine kleine schwar­ze Katze um die Haus­ecke ge­flitzt. Sie rannte auf Maria zu und ent­deckte Pawlow erst im letz­ten Augen­blick. Aus dem schwarz­glän­zenden Pfeil wurde eine fau­chende Fla­schen­bürste, die in gro­tesken Sprün­gen Größe und An­griffs­lust demons­trieren und gleich­zeitig flüch­ten wollte. Daraus wurde eine Mi­schung aus Toten­kopf­äff­chen im Revier­kampf und Knall­frosch rück­wärts.

»Hey, klei­ner Kasten­teufel, bleib doch hier …«, lachte Maria, aber das Kätz­chen war schon zurück hin­term Haus. Maria folgte ihr über die Tritt­steine auf die Rück­seite und blieb über­rascht stehen: ein durch Hecken ge­schütz­ter Innen­hof, ein Kanin­chen­frei­gehege unter einer Esche. Meh­rere Kanin­chen waren hier so unter­ge­bracht, dass Maria fast ein­ver­stan­den war. Sie konn­ten bud­deln und hatten das auch aus­giebig ge­tan. Offen­sicht­lich war das ganze Ge­hege mit Draht zu den Seiten und nach unten in der Erde ge­si­chert, sonst wären die Tiere längst ab­ge­hauen.

Maria sah leere Trink­gefäße und es lag auch kein Futter herum. Drei Kanin­chen »Oryc­to­la­gus cu­ni­cu­lus forma do­mes­ti­ca, viel­leicht Zwerg­sche­cken«, dachte Maria, die sich aber nicht gut mit den Rassen aus­kannte. »Stall­hasen« waren ihr schon immer su­spekt. Die Tiere kamen zum Gitter und schnup­perten. Sie hatten keine Angst und um­so mehr Hunger.

An einem Außen­wasser­hahn füllte Maria die Trink­fla­schen auf und Futter stand in einer Tonne bereit. Offen­sicht­lich wurden sie norma­ler­weise sehr gut ver­sorgt.

»Selt­sam«, dachte Maria, »warum ver­nachläs­sigen Jana und ihr Bruder sie jetzt?«

»Maunz!« Die kleine Schwar­ze blick­te vor­sich­tig aus einer Katzen­klappe in der Hinter­tür, die direkt in die Küche führte. Sie traute sich nicht wieder raus, wollte aber doch ge­strei­chelt werden. Maria kraul­te ihr den Kopf und sprach leise zu ihr.

»Maaaau­uuunz!!«, war die Ant­wort und die Katze lief durch die Küche zu ihrem Napf, der eben­falls leer war, wie Maria durch die Glas­tür sehen konnte.

»Ach Mensch, für dich hab ich nix, tut mir leid«, sagte sie mehr zu sich als zu der Schwar­zen, die jetzt auf den Küchen­tisch ge­sprun­gen war und eine schon völlig blanke Butter­dose aus­leckte.

5. Sackgassen und Shanghai

»Nein, Sigrun, da stimmt was nicht. Ich hab die Nach­barn ge­fragt, sie haben nur Janas Bruder, Julian heißt er übri­gens, ge­sehen. Er war ges­tern da, hat die Post mit rein­genom­men und war 10 Minu­ten später wieder ver­schwun­den. Jana war nach ihren Be­obach­tungen seit 2 bis 3 Tagen nicht mehr da. Und sie hätten das ge­merkt, glaub mir.«

»Aber zwei Tage sind doch für 17- bis 18-Jäh­rige nicht viel. Die nutzen es aus, wenn ihre Eltern nicht da sind.«

Maria nannte Sigrun für sich immer »die Glucke«, weil sie so be­sorgt um ihre Kinder war. Für Hühner­mütter be­ginnt die Nach­wuchs­pflege be­reits im Nest. Sie drehen ihre Eier bis zu fünf Mal pro Stunde und ga­ckern ihren un­gebo­renen Babys etwas vor – diese zwit­schern aus dem Ei heraus zurück. Nach dem Schlüp­fen schüt­zen die Mütter ihre Jungen mit ihren Flü­geln vor Raub­tieren. Es gibt Erzäh­lungen zu­folge Hühner, die sich wei­gern, ihr Nest mit frisch ge­schlüpf­ten Jungen wäh­rend eines Bran­des zu ver­lassen. Das hatte Maria mit ihren Hüh­nern zwar zum Glück noch nicht er­proben müssen, aber sie konnte es sich vor­stel­len. Sigrun jeden­falls, mit ihren drei Kin­dern in allen Phasen der Puber­tät, wusste, wovon sie redete. In den Ferien hatten ihre zwei Ältes­ten eine Face­book-Party ge­feiert, wäh­rend sie mit ihrem Mann die Schwie­ger­eltern in Hessen be­sucht hatte. Über den ab­gängi­gen Tep­pich­boden, mit Brand­lö­chern und ver­krus­tetem Er­bro­chenen, die ver­schwun­denen I-Pods und die Krat­zer im Zweit­wagen würden sie wohl ver­geb­lich mit der Ver­siche­rung strei­ten. Und sie hatten ja noch Glück, wegen der Ferien waren viele der »Freun­de aus dem Netz« ver­reist.

»Ja, aber hier geht es nicht um eine sturm­freie Bude, son­dern um ein Mäd­chen, das nicht da ist, wo es sein sollte, und das seine Tiere ver­nach­lässigt. Das ist doch was ande­res! Und jetzt ist es schon eine Woche, die Jana nicht in der Schule ist!« Maria fragte sich, ob Sigrun alles klein­reden wollte? War sie selbst wirk­lich über­be­sorgt oder war Sigrun die fremde Brut schlicht egal?

»Aber der Bruder …?«

»Was weiß denn ich, viel­leicht nimmt er Drogen, viel­leicht hat er Jana um­ge­bracht, ich weiß es doch nicht! Ich weiß nur, dass ich die ganze Nacht kein Auge zu­getan habe, nach­dem ich ges­tern noch mal da war und der Katze zu fres­sen ge­bracht habe. Was ist, wenn Jana oben im Haus liegt und ver­letzt oder krank ist und der Bruder ein­fach nix merkt? Er ist ja auch erst 20, da gibt es noch so einige Bau­stel­len im Hirn.«

»Jetzt über­treibst du hof­fent­lich – aber na gut, was schlägst du vor?«, lenkte Sigrun ein.

»Wir brau­chen die Tele­fon­nummer der Eltern oder irgend­wel­cher Ver­wand­ten, die was wissen könn­ten. Hübner ist kein un­gewöhn­licher, aber auch kein all­zu häufi­ger Name. Not­falls gehen wir zur Poli­zei. Noch so eine Nacht stehe ich nicht durch.«

Nach 4 An­rufen bei Tele­fon­buch-Hüb­ners, die alle nicht mit den Hüb­ners im Wiesen­weg ver­wandt waren, und einer hinter­lasse­nen Nach­richt auf einem Anruf­be­ant­worter stand für Maria fest, dass sie sich etwas ande­res ein­fallen lassen muss­ten.

Sigrun wollte den Schul­leiter infor­mieren, sie be­wegte sich gern auf dem Dienst­weg fort und wollte daran glau­ben, dass Schul­leiter von Zeit zu Zeit Schu­len leiten (so wie Zitro­nen­falter ja be­kannt­lich Zitro­nen falten) und dann hilf­reich sein konn­ten. Maria fragte die Kolle­gen, wer Julian Hübner vor 2 oder 3 Jahren im Unter­richt hatte bzw. wer sein Tutor war, viel­leicht gab es da noch Freun­de oder Tele­fon­num­mern?

Sie lan­dete in Sack­gassen. Zwar hatten Greta de Bo­er und Mat­thias Glaan Julian im Unter­richt ge­habt, sie wuss­ten aber nicht, mit wem er be­freun­det war, und Tutor war Chris­tian Scholz ge­wesen, der im letz­ten Jahr, zwei Monate nach seiner Pensio­nierung, ge­stor­ben war.

Sigrun schloss die Tür des Schul­lei­ters un­sanft: »Mehr­bold hält sich raus. Wir sollen keinen un­nöti­gen Staub auf­wir­beln, sodass wo­mög­lich die Eltern ohne zwin­genden Grund aus Shang­hai zurück­kommen. Ich glaube, er hat Angst, dass er dann den Flug aus eige­ner Tasche be­zahlen muss. Ande­rer­seits hat er von ›pädago­gischer Ver­antwor­tung‹ ge­schwa­felt und von ›Finger­spit­zen­gespür und so‹. Mit ande­ren Worten: Wir sollen was machen, aber das Rich­tige, und wenn es schief geht, sind wir schuld.« Auf­geregt ruckte ihr Kopf vor und zurück, auf und ab …

»Alles wie immer also«, fasste Maria zu­sammen, die von Mehr­bolds Pas­sivi­tät weni­ger über­rascht war als von Sig­runs Ent­täu­schung. Das Wappen­tier des Schul­lei­ters war aus zwin­gend nahe­lie­gender Über­ein­stim­mung das Faul­tier. Manche Kolle­gen nann­ten es auch Ge­lassen­heit. »Ich hab da eine Idee, ver­such du weiter bei Jana an­zu­rufen, ich weiß viel­leicht jeman­den, der uns helfen kann, ohne dass wir eine offi­zielle Ver­miss­ten­an­zeige auf­geben müssen.«

Gerade als Maria aus dem Lehrer­zimmer ging, kam ihr Büs­ra ent­gegen. In­zwi­schen war ihre Frei­stunde ver­gangen, die eigent­lich Pawlow ge­hörte, und es war gerade 5-Minu­ten-Pause.

»Frau Brehm, kann ich Sie kurz spre­chen bitte?« Büs­ra sah sich um und zupfte an ihrem Kopf­tuch. Tuch, Schuhe, Lid­schat­ten, Stö­ckel­schuhe – Kno­chen­bre­cher­schuhe –, alles himmel­blau heute. Spekta­kulär. Sie wich Marias Blick aus. Als Musli­min die Evolu­tions­theo­rie ver­werfen und den­noch 12 Punkte in Bio. Ein rätsel­haftes Chamä­leon.

»Hier oder in meinem Büro?«

»Lieber im Büro.«

Aus der Mensa kamen Ta­lit­ha und Louis. Büs­ra sah sie, zog die Schul­tern hoch und ihr Himmel ver­dun­kelte sich.

»Ach, hm, wir können auch ein ande­res Mal … Ist auch nicht so wich­tig.« Sie drehte sich ab und ging zu Ta­lit­ha und Louis. Beide zisch­ten ihr etwas zu; Louis stieß ihr einen Ellbo­gen in die Seite. Die drei gingen zur Treppe und nach unten. Maria schnapp­te noch »Spinnst wohl …« und »Ey, wenn du …« und zwei­mal »Jana« auf. Ein­deutig war Ta­lit­ha die Wort­führe­rin. Sie war schön, schein­bar träge, aber dann un­ver­mit­telt blitz­schnell und sehr ge­fähr­lich. »Hai­mäd­chen«.

Vor der 6. Stunde traf Maria Ta­lit­ha auf dem Gang. »Kommst du nach der nächs­ten Stunde bitte mal zu mir ins Büro? Ich habe ein paar Fragen.«

»Wieso das denn, ey«, Ta­lit­ha sah knapp an Maria vorbei, »ich hab gleich Schich­tende und muss schnell nach Hause.«

»Es ist wirk­lich wich­tig.«

»Nee, mein Vater wartet.« Ta­lit­ha warf ihre Um­hänge­tasche über die Schul­ter und wollte sich weg­drehen.

»Na«, Maria stell­te sich ihr in den Weg, »dann werden wir uns ganz kurz­fassen und du be­eilst dich danach.«

Ta­lit­ha sah zu Boden, zuckte mit den Schul­tern und be­wegte vage den Kopf zur Seite.

»Gut, dann sehen wir uns um 14.20 Uhr in meinem Büro«, sagte Maria. Sie drehte sich um und ließ Ta­lit­ha stehen.

6. Utopia war gestern

Als Maria aus der Sport­halle kam, stand Ta­lit­ha schon vor ihrem Büro.

»Komm rein, setz dich – Tee?«

»Nee.«

»Ta­lit­ha, kannst du dir denken, wes­halb ich dich spre­chen möchte?«

»Nee, keinen Schim­mer, was Büs­ra hat, die labert doch nur.«

»Büs­ra hat mir gar nichts er­zählt, als sie euch ge­sehen hat, war es nicht mehr so wich­tig. Was hätte sie denn ›labern‹ können?«

»Weiß ich doch nicht, aber es ist doch immer so, irgend­jemand macht irgend­was und Sie haben mich auf dem Kieker.«

»Du fühlst dich von mir un­ge­recht be­han­delt«, schal­tete Maria auf Media­torin um »und nicht rich­tig ge­sehen?«

Achsel­zucken bei Ta­lit­ha, sie war noch im Träg­heits­modus.

»Du wünschst dir, dass ich mehr darauf achte, was du sagst, und dich wohl­wol­lender be­urtei­le?«, leier­te Maria ab­sicht­lich her­unter.

»Oh no, nicht das Sozi­ge­wäsch! Was wünschst du dir? Wohl­wollen?! Das geht mir doch voll am Arm vorbei! Soll ich Ihnen mal was sagen, ich kenn dieses ganze Ge­laber von rauf nach runter, dieses Harmo­nie­ge­winsel, dieser ganze Bul­ler­bü-Kitsch.« Ta­lit­ha sah Maria an, sie hatte die Hände zu Fäus­ten ge­ballt und press­te sie auf ihre Ober­schen­kel. Maria griff die Ther­mos­kanne und schenk­te zwei Becher Tee ein. Einen schob sie Ta­lit­ha hin. Die nahm den Becher, pus­tete hinein und sagte leiser: »Das Leben ist nun mal nicht heile Welt. Utopia war ges­tern, heute ist WoM und Sie können mich nicht leiden -okay-, so wie ich Sie nicht leiden kann, weil ich die Schule nicht ver­trage, und das ist Sache jetzt!«

»WoM?«, fragte Maria.

»WoM: Welt ohne Mit­leid. Jeder gegen jeden eben, normal.« Sie stell­te die Tasse hart auf den Tisch. »Oder für Sie als Bio­lehre­rin: Der Stär­kere über­lebt.« Ta­lit­ha sah Maria heraus­for­dernd an. Es war klar, dass sie sich sicher war, wer von ihnen beiden die Stär­kere war.

Da war er: Der schnel­le Wech­sel vom schein­bar trägen Dahin­düm­peln in aggres­sives Zu­schnap­pen – oder war es ein An­griff aus Angst? Jeden­falls war Maria heute ein zu großer Fisch für sie.

»Okay, also ohne Harmo­nie und Ver­ständ­nis: Was ist mit Jana?! Du weißt etwas über ihr Ver­schwin­den, du kontrol­lierst die halbe Klasse und ihr wart doch sogar mal be­freun­det.«

»Die Lusche und ich? Ne, an­fangs hab ich ein­fach nicht ge­checkt, wie die tickt, aber dann war klar, dass sie spinnt. Hat Scheiß er­zählt über mich. So hinten­rum. Da hat es Zoff ge­geben und seit­dem ist Ruhe.«

»War das im letz­ten Schul­jahr?«, fragte Maria.

»Nach un­gefähr vier Wochen wusste ich Be­scheid.«

»Warum bist du denn nicht mal zu mir oder zu Herrn Haller ge­kommen? Wir hätten da viel­leicht …«

»Hallo?! Hab ich das nötig? Ich krieg meine Dinge selbst cle­ar, sehen Sie doch, wir gehen uns aus dem Weg und gut.

»Hm«, Maria trank lang­sam einen Schluck Tee.

Schwei­gen.

Ta­lit­ha lehnte sich zurück und sah sich im Raum um.

Sie be­trach­tete das große Foto von Pawlow über dem Schreib­tisch. Die meis­ten Schü­ler kann­ten Marias Husky gar nicht, weil sein Warte­platz unter einer Treppe ver­steckt lag. Auch der Schul­leiter hatte ihn dort noch nicht ge­sehen. Da­zu müsste er ja auch sein Büro ver­lassen. Aber das war ja ein ande­res Thema. Maria konnte sehen, wie es in Ta­lit­ha arbei­tete. Sie griff wieder nach dem Tee­becher und trank einen klei­nen Schluck.

»Be­schwich­tigungs­ver­halten«, dachte Maria. »Was jetzt wohl kommt? Lenkt sie ein?«

»Ihr Hund?«, fragte Ta­lit­ha.

»Pawlow, ja.«

»Cool.«

Beide sahen das Foto des Huskys an, der gerade von einem Steg ins Wasser sprang. Die Ohren steil auf­gerich­tet, die Schnau­ze zu einem ver­zück­ten Grin­sen ge­öffnet, der Blick zwi­schen Irr­sinn und Orgas­mus.

»Ta­lit­ha, wenn du etwas über Jana weißt, sag es mir bitte, ich mache mir wirk­lich Sorgen.«

Schlech­tes Timing. Ta­lit­ha stand ab­rupt auf, sie stieß gegen den Tisch. Der Tee schwapp­te aus dem Becher. Maria är­gerte sich, dass sie zu schnell auf eine Stim­mungs­ver­ände­rung ge­hofft hatte.

»Ich hab doch ge­sagt, dass ich keine Ahnung hab, wo, mit wem und wieso-wes­halb-warum sie weg ist.«

»Warte. Mit wem? Wie kommst du darauf? Hat sie einen Freund?«, fragte Maria.

»Welche wollen Jana ’n paar­mal mit so’m Typen ge­sehen haben, so ’nem Greis, mindes­tens 40 oder so, sagen die ande­ren. Und jetzt, wo ihre Eltern sich ver­ackert haben, nutzt sie viel­leicht die Ge­legen­heit …«

»Hm, kannst du dich viel­leicht mal um­hören? Ich frage die ande­ren auch noch, aber viel­leicht sind sie dir gegen­über offe­ner?«

»Ich soll spit­zeln für Sie? Nega­tiv! Bringt auch so­wieso nix. Die interes­siert null. Ich muss jetzt echt los.«

Maria blieb noch sitzen, als Ta­lit­ha ge­gangen war, sie ahnte die Härte, mit der Ta­lit­ha sich und andere be­herrsch­te. Und sie fragte sich, welche Angst dahin­ter ver­steckt war und was pas­sierte, wenn diese Angst zu groß wurde, um sie zu bändi­gen.

***

TA­LIT­HA

Bloß weg hier! Be­stimmt guckt die Brehm aus dem Fens­ter, also dreh dich nicht um, nicht gucken, ob Ö oder Lu da sind. Büs­ra ja so­wieso nich, die sitzt längst zu Hause und stre­bert.

Die Brehm nervt echt, ob sie was weiß? Hof­fent­lich halten die ande­ren die Klappe. Nur noch zwei, drei Tage, dann ist Jana so weich, dass sie nur noch davon träumt, dass es vorbei ist. Die Fotos, die wir von ihr haben, die will sie wirk­lich nicht im Netz sehen. Die sagt nichts. Wem denn auch? Juli, den Alpha-Kevin, hast du doch voll im Griff. Für ein biss­chen Ge­fummel ver­tickt der seine Eltern, und seine kleine Schwes­ter ist ihm schon so­wieso egal.

Und die Alten haben nur Job und Kies in Hirn.

Dir darf nur die Brehm nicht rein­stres­sen …

Sonst kommt dir keiner in die Quere, Freun­de hat Jana nich, da bist ja nur du …

Diese Lose­rin, ist doch allen rille, wo die ist, sind doch froh, dass sie mit ihrem Opfer­getue nicht länger nervt.

Lässt wirk­lich alles mit sich machen, Klops­kind. Däm­lich, echt. Hast doch immer wieder ge­dacht: Jetzt! Jetzt geht die ab, jetzt knallt die durch und wir sind dran. Hält doch keiner aus. Aber die macht aller­höchs­tens einen auf Zorn­rös­chen. Und dann will sie dir auch noch was ein­reden von ver­stehen und so … Wenn du der ein­flüs­tern wür­dest, dass sie dich retten kann vor dem Schwar­zen in dir, wenn sie dir die Fuß­nägel ab­knab­bert, dann macht die das.

Dich retten! Dieses ver­wöhnte Villa-mit-Garten-Weich­ei. Was hat die fürn Smoo­thie im Hirn?

So, du bist außer Sicht der Schule, bleib cremig und app die ande­ren an. Läuft schon …

7. Miss Marple schon wieder

»Seh ich recht? Miss Mar­ple? Was ver­schafft uns die Ehre? Ist Ihnen doch noch was zum Fall Kaiser ein­gefal­len? Ein biss­chen spät, was?!«, höhnte er.

Oh nein, aus­gerech­net. Manche Men­schen sind für Sympa­thie ein­fach nicht ge­macht. Dieser war so einer. Scholz, Krimi­nal­kom­missar von der Mord­kommis­sion. Er war aber auch neben seiner Vor­gesetz­ten, Krimi­nal­haupt­kom­missarin Grot­hus, der Ein­zige, den Maria kannte.

»Ist Ihre Chefin da?« Mit Be­tonung auf »Chefin«.