Blumen für Mutters Geburtstag - Aliza Korten - E-Book

Blumen für Mutters Geburtstag E-Book

Aliza Korten

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Beschreibung

Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Rike rieb sich die Augen und stellte fest, die Sonne schien durch den Vorhang ins Kinderzimmer. Natürlich war schönes Wetter zu Muttis Geburtstag. Rike hatte das nicht anders erwartet und war herrlich ausgeschlafen. Rasch stand sie auf, streifte den Pyjama ab und zog sich an. Die Eltern schliefen noch. Genau so hatte Rike es sich am Tag zuvor vorgestellt. Auf Fußspitzen schlich sie durch die Diele und verließ die Wohnung. Damit die Tür nicht zufallen konnte, schob sie den Sperrriegel vor. Sie dachte an alles, damit die geplante Überraschung auch gelang. In dem gepflegten Garten des Mietshauses blühten die herrlichsten Tulpen. Rike machte sich keine Gedanken darüber, dass diese schönen Blumen nicht unbedingt zum Abpflücken bestimmt waren. Vielmehr begann sie behutsam einen Stengel nach dem anderen abzubrechen, bis sie einen wunderschönen Strauß Tulpen im Arm hielt. Befriedigt schaute sie ihre Beute an. Gewiss würde Mutti sich freuen. Das kleine Mädchen lief zurück ins Haus und stieg die Treppe zum zweiten Stockwerk empor, wo sich die Wohnung der Eltern befand. An der Tür war ein Schild befestigt: Just Windolf, Foto- und Werbe-Atelier. Zwar konnte Rike noch nicht lesen, doch sie wusste, dass ihr Vater Fotograf war. Seine Arbeitsräume befanden sich im dritten Stockwerk, unter dem Dach des Hauses. Rike liebte es, dort herumzustöbern, und die vielen Bilder anzuschauen, die in großen Mappen aufbewahrt wurden. Im Augenblick aber dachte Rike nicht über die Tätigkeit ihres Vaters nach. Sie öffnete die Wohnungstür, ging zum Schlafzimmer der Eltern, drückte die Messingklinke herab und schob ihren Tulpenstrauß durch den

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Sophienlust – 260 –

Blumen für Mutters Geburtstag

Wartet die kleine Rieke vergeblich auf die Mutti?

Aliza Korten

Rike rieb sich die Augen und stellte fest, die Sonne schien durch den Vorhang ins Kinderzimmer. Natürlich war schönes Wetter zu Muttis Geburtstag. Rike hatte das nicht anders erwartet und war herrlich ausgeschlafen. Rasch stand sie auf, streifte den Pyjama ab und zog sich an.

Die Eltern schliefen noch. Genau so hatte Rike es sich am Tag zuvor vorgestellt. Auf Fußspitzen schlich sie durch die Diele und verließ die Wohnung. Damit die Tür nicht zufallen konnte, schob sie den Sperrriegel vor. Sie dachte an alles, damit die geplante Überraschung auch gelang.

In dem gepflegten Garten des Mietshauses blühten die herrlichsten Tulpen. Rike machte sich keine Gedanken darüber, dass diese schönen Blumen nicht unbedingt zum Abpflücken bestimmt waren. Vielmehr begann sie behutsam einen Stengel nach dem anderen abzubrechen, bis sie einen wunderschönen Strauß Tulpen im Arm hielt. Befriedigt schaute sie ihre Beute an. Gewiss würde Mutti sich freuen.

Das kleine Mädchen lief zurück ins Haus und stieg die Treppe zum zweiten Stockwerk empor, wo sich die Wohnung der Eltern befand. An der Tür war ein Schild befestigt: Just Windolf, Foto- und Werbe-Atelier. Zwar konnte Rike noch nicht lesen, doch sie wusste, dass ihr Vater Fotograf war. Seine Arbeitsräume befanden sich im dritten Stockwerk, unter dem Dach des Hauses. Rike liebte es, dort herumzustöbern, und die vielen Bilder anzuschauen, die in großen Mappen aufbewahrt wurden.

Im Augenblick aber dachte Rike nicht über die Tätigkeit ihres Vaters nach. Sie öffnete die Wohnungstür, ging zum Schlafzimmer der Eltern, drückte die Messingklinke herab und schob ihren Tulpenstrauß durch den Türspalt. »Ich gratuliere dir, Mutti«, rief sie mit heller Stimme.

Es war die Stimme ihres Vaters, die antwortete. »Komm einmal herein, Rickchen.«

Die Kleine betrat das dämmerige Zimmer, Enttäuschung und Verständnislosigkeit zeichneten sich in ihrem ausdrucksvollen Kindergesicht ab. Das Bett der Mutter war unberührt und leer.

»Wo ist Mutti?«, stieß Rike atemlos hervor. »Hat sie nicht hier geschlafen? Heute ist doch ihr Geburtstag.«

Just Windolf winkte sein Töchterchen zu sich heran.

Zögernd ging Rike zu seinem Bett. »Wo ist sie?«, wiederholte sie ihre Frage. Nun zitterte die helle Stimme ein wenig von ungeweinten Tränen.

Der Vater nahm Rike die Tulpen aus den Händen. Behutsam legte er sie auf das Bett neben sich – auf das Bett seiner Frau.

»Mutti musste ganz eilig wegfahren, Rike«, erklärte er unsicher. »Du hast schon geschlafen. Ich soll dich schön von ihr grüßen.«

»Aber sie hat heute Geburtstag, Vati.« Nun rollten schon die ersten Tränen über Rikes Bäckchen. »Warum ist sie nicht da?«

»Es ist schwer zu erklären, Rike. Jedenfalls war es wichtig. Du sollst nicht traurig sein, sagte sie. Sind die Tulpen aus dem Garten?«

»Hm – aber nun kann ich sie Mutti gar nicht geben.«

Just Windolf machte Rike keine Vorhaltungen wegen der Blumenräuberei. Es gab viele Tulpen auf dem Beet. Deshalb hoffte er, dass Rike noch welche übrig gelassen habe. Im Grunde waren ihm die Tulpen sogar gleichgültig.

»Wann kommt Mutti wieder?«, fragte Rike und zog einen Flunsch. Sie ahnte nicht, dass sie ihren Vater damit in die größte Verlegenheit brachte.

»Es wird ziemlich lange dauern, Rike. Aber wir beide kommen schon irgendwie zurecht, nicht wahr?«

»Ohne Mutti geht es nicht«, widersprach Rike ihm mit kläglichem Stimmchen. »Du kannst doch bloß Bilder machen. Aber Mutti kocht und kauft ein. Sie holt mich vom Kindergarten ab und liest mir vor. Dazu hast du gar keine Zeit.«

»Na ja, ich muss es eben versuchen, wie ich es schaffe, Rike. Wenigstens bist du sehr früh aufgestanden. Das ist gut. Ich muss jetzt schnell ins Bad gehen.«

»Lass die Tür offen, damit ich mit dir reden kann, Vati. Ich mag nicht allein sein.«

Just Windolf schwenkte die Beine aus dem Bett. Seine Tochter setzte das Gespräch mit ihm durch die weit geöffnete Tür des angrenzenden Badezimmers beharrlich fort. Nur als er unter der Dusche stand, musste sie sich zufriedengeben, weil er durch das Rauschen des Wassers kein Wort verstehen konnte.

»Wo ist Mutti eigentlich?«, erkundigte sich Rike vorwurfsvoll.

»Genau weiß ich das auch nicht, Kind. Sie wird uns schreiben.«

»Sehr weit weg?«

»Ziemlich weit. Sie muss mit jemandem reden.«

»Mit wem denn? Man kann doch telefonieren.«

»Weißt du, es gibt Sachen, die sich nicht am Telefon besprechen lassen. Mutti will unbedingt hinfahren zu …, zu den Leuten.«

»Sie hätte mich mitnehmen können. Hier gefällt es mir nicht ohne Mutti. Wirst du mich vom Kindergarten abholen?«

Just Windolf rasierte sich und überlegte dabei fieberhaft, wie er die Alltagsprobleme lösen sollte, mit denen er nun konfrontiert war. Er hatte in der Nacht kaum geschlafen. Aber an Frühstück, Kindergarten, Mittagessen und dergleichen hatte er nicht gedacht. Er hatte vielmehr versucht, den Schock zu überwinden – den Schock, dass Angela ihn verlassen hatte.

Wie soll ich es Rike erklären?, fragte er sich bedrückt. Ich verstehe es ja selbst nicht. Gestern Vormittag schien die Welt noch in Ordnung zu sein. Ich dachte mir nichts Besonderes, als ich feststellte, dass sie den Schauspieler aus Kanada kannte. Und am Abend erklärte sie mir dann, sie wolle ihn heiraten. Es sei eine Wiederbegegnung mit ihrer Jugendliebe. Dabei hatte sie mir noch nie ein Wort von Ronald Fleet erzählt, und nun soll ich mich damit abfinden, dass sie seit Jahren nur von ihm geträumt habe.

»Ob du mich vom Kindergarten abholst?«, drängte Rike.

»Ich muss mit Frau Herwig sprechen, Kleines. Heute Mittag habe ich weit draußen auf dem Lande zu tun.«

»Und wo kriege ich Mittagessen?«

»Vielleicht auch bei Frau Herwig. Sie ist sehr nett.«

Es würde sicherlich auf die Dauer nicht so weitergehen. Aber er musste wenigstens für den ersten Tag sorgen. Rike spielte gern mit dem kleinen Udo Herwig. Der Junge war schon oft bei ihnen gewesen. Gewiss würde seine Mutter ihm an diesem Tag den Gefallen tun, Rike zu betreuen. Aber morgen und übermorgen …

»Ich habe Durst und Hunger, Vati. Kochst du mir Kakao?«

»In fünf Minuten bin ich so weit, Rike.« Just fühlte sich müde und hatte wenig Mut, diesen Tag zu beginnen. Doch er wusste, er durfte seine Gefühle nicht zeigen, musste dem Kind gegenüber eine zuversichtliche Miene zur Schau tragen.

Sobald er fertig war, ging er in die Küche. Rike folgte ihm auf dem Fuße. Er nahm die Milch aus dem Kühlschrank und öffnete die Packung so ungeschickt, dass sich ein großer Teil des Inhalts auf den Tisch ergoss und von dort auf den Fußboden tröpfelte. Ärgerlich beseitigte er die Pfützen. Dann füllte er Milch in einen kleinen Topf und setzte diesen auf den elektrischen Herd. Für seinen Kaffee brauchte er heißes Wasser. Da er sich mit der Maschine nicht auskannte, beschloss er, das Kaffemehl in die Kanne zu tun und es zu überbrühen. So hatte er sich früher als Junggeselle immer Kaffee gemacht.

»Was willst du essen, Rike? Ein Marmeladenbrot?«

»Ja, Vati, die rote Marmelade.«

Just nahm das Brot aus dem Kasten und schnitt zwei Scheiben ab, die schief und krumm gerieten. Sonst aß er ein Ei zum Frühstück, doch jetzt wollte er darauf verzichten, weil er sich nicht diese Mühe machen wollte.

Trotzdem erwies sich der Weg bis zu einem einigermaßen normalen Frühstück als dornenreich. Das Wasser kochte zur gleichen Zeit wie die Milch. Just bedachte nicht, dass Milch überlaufen konnte. Als er die Gefahr bemerkte, war es bereits zu spät. Zwar zog er den kleinen Topf rasch beiseite, doch ein Teil der Milch hatte sich bereits über den Rand ergossen. Hässlicher Geruch verbreitete sich in der Küche.

»Es stinkt«, erklärte Rike respektlos.

»So schlimm ist es nicht«, verteidigte sich der Vater, indem er mit dem Lappen versuchte, die bereits einbrennende Milch von der Kochplatte zu wischen. Da sich im Lappen noch die Milch befand, die er vom Tisch entfernt hatte, wurde der üble Geruch nur ärger. Wütend schleuderte er das Tuch in den Spülstein und riss das Fenster auf.

Anschließend rührte er in der Tasse Schokoladenpulver unter die Milch. »So, da ist dein Kakao.«

Rike verbrannte sich prompt die Zunge und weinte.

»Bei Mutti ist er nie so eklig heiß«, schluchzte sie.

Just Windolf zwang sich zur Ruhe. Er fand, sein eigener Kaffee schmeckte scheußlich. Außerdem verging ihm der Appetit beim Anblick des viel zu dick geschnittenen Marmeladenbrotes, das er auf seinen Teller gelegt hatte. Zu seiner Erleichterung verzehrte Rike wenigstens ihr Brot. Aber den Kakao rührte sie nicht mehr an.

Just kehrte dem Schlachtfeld in der Küche den Rücken und ging im Wohnzimmer ans Telefon. Aus dem handgeschriebenen Büchlein neben dem Apparat suchte er die Nummer der Herwigs heraus. Die freundliche Frau meldete sich sogleich. Er brauchte ein paar ungeschickte Ausreden und fragte sie, ob sie Rike vom Kindergarten abholen und zum Essen bei sich behalten könne.

»Gern, Herr Windolf. Fahren Sie die Kinder heute früh hin, oder soll ich es tun? Es ist eigentlich die Woche Ihrer Frau.«

»Entschuldigen Sie, es ging alles so schnell. Selbstverständlich kann ich die Kinder gleich hinfahren. Nur mittags bin ich leider noch nicht zurück.«

»Bleibt Ihre Frau länger weg?«, erkundigte sich Frau Herwig arglos.

»Es wird wahrscheinlich eine Woche dauern. Aber ich finde dann eine andere Lösung für Rike. Nur heute wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mir helfen würden, Frau Herwig.«

»Das ist doch selbstverständlich, Herr Windolf. Also – bis gleich. Wir sehen uns ja, wenn Sie Udo abholen.«

Just legte auf und sah auf seine Uhr. Es blieb ihm keine Zeit, die allgemeine Unordnung in der Wohnung zu beseitigen. Ungemachte Betten, gebrauchtes Geschirr, die angebrannte Milch auf dem Herd. Ihm rann ein kalter Schauer über den Rücken. Angela hatte das alles scheinbar mühelos im Griff gehabt. Sie hatte den Haushalt gewissermaßen mit der linken Hand erledigt und kaum je ein Wort darüber verloren. Wenn er oben im Atelier Hilfe gebraucht hatte, hatte sie ihm stets zur Verfügung gestanden. Sie hatte auch die Bücher geführt, die Fotos registriert und ihm bei Außenaufnahmen assistiert, wenn das erforderlich gewesen war.

So war es auch zu der leidigen Begegnung mit Ronald Fleet gekommen. Der bekannte Schauspieler aus dem fernen Kanada hielt sich zurzeit in Frankfurt auf, weil er an einem Film mitwirkte. Nebenbei trat er in einem Boulevardstück auf. Er war außerordentlich erfolgreich.

Just Windolf hatte eine Bildreportage in Auftrag gehabt. Den ganzen Vormittag war er zusammen mit Angela damit beschäftigt gewesen, ohne zu bemerken, was sich zwischen ihr und dem Schauspieler anbahnte. Nur mit halbem Ohr hatte er zugehört, als Angela ihm erzählt hatte, sie sei bei ›Ronis‹ Eltern als Au-Pair-Mädchen gewesen, damals, nach der Schule. Natürlich wusste er, dass sie ein Jahr lang in Kanada gewesen war. Schließlich kannte er Angela schon seit ihrer Schulzeit. Als sie wiedergekommen war, hatte er sich mit ihr verlobt und sie bald darauf geheiratet. Von ›Ron‹ war nie die Rede gewesen. Und jetzt sollte er sich plötzlich damit abfinden, dass der Mime aus Kanada ihm die Frau nehmen wollte.

»Kriege ich kein Brot für meine Tasche?«, fragte Rike und hielt die kleine rote Tasche hoch, die sie stets mit in den Kindergarten nahm.

»Doch, ich mache dir eins zurecht.«

Zurück in die Küche. Noch ein Versuch mit dem Brotmesser. Diesmal geriet die Scheibe recht gut. Just strich Butter darauf und nahm der Einfachheit halber zwei Scheiben vom geschnittenen Schinken.

»Ich mag doch keinen Schinken, Vati. Der ist immer so salzig.«

»Was willst du denn haben?« Es war nicht leicht, die Geduld zu bewahren.

»Honig.«

»Der klebt zu sehr für unterwegs. Wie ist es mit Wurst?«

»Nein, dann bloß Butter und einen Apfel.«

»In Ordnung.« Just klappte das Brot zusammen, suchte in verschiedenen Schubladen nach Pergamentpapier und wickelte das Frühstück schließlich ein. Er packte einen Apfel dazu und verschloss die rote Tasche.

»Können wir jetzt gehen?«, fragte er.

»Ich habe mir die Zähne nicht geputzt.«

»Es wird zu spät, Rike. Lassen wir es heute ausnahmsweise einmal bleiben.«

»Aber Mutti sagt, man muss es jeden Tag tun.«

Es half nichts, Rike ging ins Bad und putzte sich mit kindlicher Umständlichkeit die Zähne. Sie stand dabei mitten in einer umfangreichen Wasserlache, die Just mit der Brause erzeugt hatte. Das dumme Ding war ihm aus der Hand geglitten.

Anschließend hinterließen Rikes kleine Füße feuchte Spuren auf dem hellen Teppichboden des Schlafzimmers. Just gab sich Mühe, es zu übersehen. Er wollte dem Kind keine Vorwürfe machen, weil Rike ja nun wahrhaftig an diesem Durcheinander keine Schuld trug.

Endlich gingen Vater und Tochter Hand in Hand die Treppe hinab. Sie begegneten der alten Dame aus dem Erdgeschoss, die ihren Pudel ausführte.

»Wer wohl im Garten die schönen Tulpen gepflückt hat?«, sagte sie anklagend. »Es ist ein Jammer.«

Rike war klug genug, den Mund zu halten. Sie tauschte den Blick des Einverständnisses mit ihrem Vater. Erst im Wagen meinte sie: »Wenn ich gewusst hätte, dass Mutti nicht da ist, wäre es gar nicht nötig gewesen, Blumen zu pflücken. Dass sie auch immer alles merken muss …«

»Macht nichts, Rike. Sei zufrieden, dass sie dich nicht gesehen hat.«

»Nein, es war im Haus überhaupt noch keiner wach, Vati.«

Der Kombi sprang willig an. Wenig später hielten sie vor dem netten Einfamilienhaus der Herwigs. Udo wartete schon vor dem Gartentor. Seine Mutter stand in der offenen Haustür und winkte Just zu.

Wenigstens brauche ich nicht noch einmal mit ihr zu reden, dachte er. Sie wird mich heute Nachmittag sowieso fragen, wo Angela ist. Ich muss mir eine vernünftige Ausrede einfallen lassen, etwas, was sich möglichst unverfänglich anhört. Doch seine Fantasie ließ ihn zunächst einmal gründlich im Stich.

Just brachte die beiden Kleinen in den Kindergarten. »Sei hübsch brav, Rike. Heute Nachmittag hole ich dich bei den Herwigs ab.«

»Ist Mutti dann wieder da?« Sehnsucht und ein wenig Angst standen in den klaren Kinderaugen.

Unwillkürlich senkte Just die Lider. »Nein, wahrscheinlich noch nicht, Rike«, antwortete er leise.

Dann wendete er und fuhr nach Hause zurück, um seine Apparate und verschiedene Requisiten in den Kombi zu packen, die er für die Aufnahmen auf einem Bauernhof benötigte. Es ging um einen Bericht über die moderne Hausfrau auf dem Lande. Eigentlich hatte Angela ihm dabei assistieren wollen. Nun musste er zusehen, wie er allein zurechtkam. Jedenfalls stand fest, dass er ohne ihre Hilfe bis zum Mittag nicht zurück sein würde.

Nachdenklich betrachtete er den Zettel, auf dem Angela das Hotel in der Innenstadt notiert hatte, in dem sie nun wohnte. Natürlich war es dasselbe Hotel, in dem auch ihr Freund sein Zimmer hatte. Noch klangen ihre Worte ihm ins Ohr. Damals in Toronto war ich bitter enttäuscht, denn Ron schien meine leidenschaftliche Zuneigung nicht ernst zu nehmen. Jetzt habe ich erfahren, dass er es erst zu etwas bringen wollte. Er wagte es damals noch nicht, ein Mädchen an sich zu binden, denn zu jener Zeit war er nur ein ganz unbekannter Anfänger. Nicht einmal seine Eltern glaubten, dass er als Schauspieler Erfolg haben würde. Aber jetzt ist er berühmt, und er liebt mich immer noch.

Just hatte von Rike gesprochen, gefragt, was aus dem Kind werden solle.

Angela war sofort bereit gewesen, auf ihr Töchterchen zu verzichten, wenn er sich nur mit einer gütlichen Scheidung einverstanden erkläre.

Hatte sie ihn denn gar nicht geliebt? War es nichts als Einbildung gewesen, dass er sich für glücklich gehalten hatte? Konnte er sich so gründlich getäuscht haben?

Es war Just an diesem Morgen nicht anders ums Herz als am Abend zuvor. Er konnte das alles nicht begreifen. Offenbar war Angela am Nachmittag mit dem Kanadier zusammengetroffen, während er die Fotos entwickelt und sie anschließend zum Verlag der Illustrierten gebracht hatte, die die Reportage veröffentlichen wollte. Die Reportage über Ronald Fleet.

Was hätte ich tun sollen?, dachte der vereinsamte Mann mutlos. Er hatte sich am vergangenen Abend notgedrungen mit allem einverstanden erklärt und seiner Frau versprochen, ihr keine Hindernisse in den Weg zu legen. Rike sollte bei ihm bleiben. Das war seine Bedingung gewesen. Wie kompliziert sich das tägliche Leben mit dem kleinen Mädchen vom ersten Tag an gestalten würde, das hatte er dabei nicht bedacht. Schweigend hatte er zugeschaut, als Angela einen Koffer gepackt hatte. Schließlich hatte sie nach einem Taxi telefoniert und hatte ihn verlassen.

Sei mir nicht böse, Just. Ich kann nicht anders. Das waren die Abschiedsworte gewesen. Und er hatte ihr versichert, dass er ihr nichts nachtrage.

Ich hätte sie nicht gehen lassen dürfen, klagte Just sich nun an. Doch zugleich sagte sein Verstand ihm, dass sich Liebe nicht erzwingen lasse. Angela wollte nicht bei ihm bleiben. Er besaß nicht die Macht, sie mit Fesseln und Gewalt zurückzuhalten. Wenn sie gehen wollte, würde sie schließlich doch gehen. Deshalb erschien es ihm klüger, sich nicht zur Wehr zu setzen. Just ging ins Schlafzimmer, um das Fenster zu schließen. Die Tulpen begannen schon welk zu werden. Er ließ sie auf Angelas Bett liegen. Es war ihm herzlich gleichgültig, was aus den Blumen wurde. Auch in der Küche schloss er das Fenster.

Hat Angela sich wirklich in all den Jahren nach Ronald Fleet gesehnt?, fragte er sich. Warum habe ich das nicht gefühlt. Kannte ich sie denn gar nicht? Bleibt man sich fremd, obgleich man miteinander lebt und arbeitet? Bedeutet ihr nicht einmal Rike etwas?

Während Just die Wohnung verließ und noch einmal in sein Atelier hinaufstieg, kam er zu der Überzeugung, dass er Rike sobald wie möglich in ein gutes Kinderheim geben müsse. Sie brauchte ihre Ordnung. Mit seinem ungeregelten Tagesablauf ließ sich die Erziehung eines kleinen Mädchens nicht in Einklang bringen.