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Reflektieren die am 18. März 2022 verabschiedete Vorlage zur Teilrevision des Versicherungsaufsichtsgesetzes (VAG) sowie der am 17. Mai 2022 publizierte Entwurf zur Teilrevision der Aufsichtsverordnung (AVO) eine graduelle Entwicklung oder einen tief(er)greifenden Umbruch? Eine Evolution oder eine Revolution? Lassen sich derartige Phänomene und Schattierungen dazwischen in der vorliegenden Revision des VAG und der AVO identifizieren? Antworten auf diese Fragestellungen zu finden, war Gegenstand einer Tagung des Europa Instituts an der Universität Zürich am 25. August 2022. Verschiedene Mitwirkende haben in Teilbereichen nach Antworten gesucht. Um die so gewonnenen Erkenntnisse einer weiteren Leserschaft zugänglich zu machen, liegen nun auf den Vorträgen beruhende Artikel und Berichte über die beiden Diskussionsrunden im vorliegenden Tagungsband vor.
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VAG/AVO Revision – Evolution oder Revolution? von Hansjürg Appenzeller und Monica Mächler wird unter Creative Commons Namensnennung-Nicht kommerziell-Keine Bearbeitung 4.0 International lizenziert, sofern nichts anderes angegeben ist.
© 2023 – CC BY-NC-ND (Werk), CC BY-SA (Text)
Herausgeber: Dr. Hansjürg Appenzeller, Dr. Monica Mächler – Europa Institut an der Universität ZürichVerlag: EIZ Publishing (eizpublishing.ch)Produktion, Satz & Vertrieb:buchundnetz.comISBN:978-3-03805-561-7 (Print – Softcover)978-3-03805-562-4 (PDF)978-3-03805-563-1 (ePub)DOI: https://doi.org/10.36862/eiz-561Version: 1.01 – 20230213
Das Werk ist als gedrucktes Buch und als Open-Access-Publikation in verschiedenen digitalen Formaten verfügbar: https://eizpublishing.ch/publikationen/vag-avo-revision-evolution-oder-revolution/.
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Reflektieren die am 18. März 2022 verabschiedete Vorlage zur Teilrevision des Versicherungsaufsichtsgesetzes (VAG) sowie der am 17. Mai 2022 publizierte Entwurf zur Teilrevision der Aufsichtsverordnung (AVO) eine graduelle Entwicklung oder einen tief(er)greifenden Umbruch? Eine Evolution oder eine Revolution? Ein rebalancing oder more dramatic measures im Sinne von Olivier J. Blanchard und Lawrence H. Summers?[1] Lassen sich derartige Phänomene und Schattierungen dazwischen in der vorliegenden Revision des VAG und der AVO identifizieren?
Antworten auf diese Fragestellungen zu finden, war Gegenstand einer Tagung des Europa Instituts an der Universität Zürich am 25. August 2022. Verschiedene Mitwirkende haben in Teilbereichen nach Antworten gesucht.
Im ersten Teil der Tagung stellte Monica Mächler zunächst den internationalen Kontext der Revision dar. Birgit Rutishauser Hernandez Ortega erläuterte die gesetzgeberischen Ziele und Kernpunkte aus der Sicht der FINMA. Weitere Schwerpunkte des ersten Teils bildeten die Referate zu Innovation und Kundenschutz von Irene Klauer sowie zu Governance, Risikomanagement und Gruppenaufsicht von Katja Roth Pellanda und Olivier Hirsbrunner. Eine Diskussionsrunde zu diesen Vorträgen, welche durch Rolf H. Weber moderiert wurde, schloss den ersten Teil ab.
Der zweite Teil war den regulatorischen Kapitalthemen im weiteren Sinne gewidmet. Zuerst wurden die Regeln zur Kapitalausstattung (Solvabilität) durch Petra Ginter und Daniel Bell präsentiert, welche von erheblicher praktischer Bedeutung für Versicherungsunternehmen sind und im Fokus der Aufsichtsbehörden stehen. Im Anschluss daran stellte Hansjürg Appenzeller das neue Institut der Versicherungszweckgesellschaft vor, mit dem Versicherungsunternehmen ihre Versicherungsrisiken kapitalschonend auf den Kapitalmarkt transferieren können. Daran anschliessend ordnete Peter Ch. Hsu die ebenfalls neuen Regeln zur Sanierung ein, womit eine Lücke im Vergleich zur Bankenregulierung geschlossen werden soll. Abgeschlossen wurde der zweite Teil ebenfalls durch eine Diskussionsrunde unter der Leitung von Michel Kähr.
Um die so gewonnenen Erkenntnisse einer weiteren Leserschaft zugänglich zu machen, liegen nun auf den Vorträgen beruhende Artikel und Berichte über die beiden Diskussionsrunden im vorliegenden Tagungsband vor. Die Herausgeber danken zunächst den Referenten und Referentinnen sowie den Moderatoren der Diskussionsrunden für ihre Mitwirkung bei der Tagung und die Niederschriften der Beiträge. Zugleich gebührt besonderer Dank dem EIZ Publishing, insbesondere Tobias Baumgartner und Sue Osterwalder, für die wertvolle Unterstützung bei der Vorbereitung dieser Publikation. Die Ausführungen sind auf dem Stand von November 2022.
Zürich, im November 2022
Hansjürg Appenzeller Monica Mächler
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VAG/AVO Reform im internationalen Kontext
Dr. Monica Mächler, Rechtsanwältin, Mitglied des Verwaltungsrats der Zurich Insurance Group AG, Zürich
Ziele und Kernpunkte der VAG/AVO Revision
Birgit Rutishauser Hernandez Ortega, Stellvertreterin des Direktors und Leiterin Geschäftsbereich Versicherungen, Eidgenössische Finanzmarktaufsicht FINMA, Bern
Innovation und Kundenschutz
Dr. Irene Klauer, Rechtsanwältin, Leiterin Legal & Compliance, Allianz Suisse Versicherungs-Gesellschaft, Zürich
Governance und Risikomanagement
Dr. Katja Roth Pellanda, Rechtsanwältin, LL.M., Group General Counsel, Zurich Insurance Group, ZürichOlivier Hirsbrunner, Rechtsanwalt, Group Head Regulatory Affairs, Zurich Insurance Group, Zürich
Paneldiskussion „VAG/AVO Revision – Evolution oder Revolution?“ – Grundzüge des neuen Rechts
Prof. Dr. Rolf H. Weber, Rechtsanwalt, Konsulent, Bratschi AG, Zürich
Capital Resources (Kapitalausstattung)
Dr. Petra Ginter, Rechtsanwältin, Head Capital Markets Finance, Legal & Compliance, Swiss Re Management AG, ZürichDaniel Bell, Rechtsanwalt, Head of Funding, Group Treasury, Swiss Re Management AG, Zürich
Versicherungszweckgesellschaften
Dr. Hansjürg Appenzeller, Rechtsanwalt, Partner bei Homburger AG, Zürich
Sanierung – eine Einordnung
Dr. Peter Ch. Hsu, Rechtsanwalt, LL.M., Partner bei Bär & Karrer AG, Zürich
Paneldiskussion „VAG/AVO Revision – Evolution oder Revolution?“ – Kapitalausstattung, Versicherungszweckgesellschaft und Sanierung
Dr. Michel Kähr, Rechtsanwalt, EMBA, Vizedirektor, Bundesamt für Justiz, Bern
Monica Mächler
Um zu beurteilen, ob die am 18. März 2022 in den Eidgenössischen Räten verabschiedete Teilrevision des Bundesgesetzes betreffend die Aufsicht über Versicherungsunternehmen vom 17. Dezember 2004 (VAG, SR 961.01)[1] sowie der am 17. Mai 2022 in Vernehmlassung gegebene Entwurf zur Teilrevision der Verordnung über die Beaufsichtigung von privaten Versicherungsunternehmen vom 9. November 2005 (AVO; SR 961.011)[2] eine Evolution oder eine Revolution darstellen, ist es zweckdienlich, die ins Auge gefassten Neuerungen im Kontext des globalen Standardsettings sowie der Entwicklungen in der Europäischen Union (EU) und in ausländischen Jurisdiktionen zu betrachten und zu analysieren. Dieser Vergleich erlaubt es, die schweizerischen Revisionsbestrebungen einzuordnen.
Das bedingt, im Folgenden die Aktivitätsfelder des globalen Standardsettings und der Regulierung der EU sowie ausgewählter ausländischer Jurisdiktionen grob zu skizzieren (vgl. dazu II.), ohne allerdings auf die Einzelheiten eingehen zu können, und mit dem neuen schweizerischen Regelwerk zu vergleichen. Danach soll ein Fazit gezogen werden (vgl. III.).
Zwar ist die intensive Regulierungswelle nach der Grossen Finanzkrise etwas verebbt. Dennoch werden gegenwärtig auf verschiedenen Regulierungsebenen versicherungsaufsichtsrechtliche Vorgaben umgesetzt, fertiggestellt oder überarbeitet sowie neue Themen aufgegriffen.
Diese Dynamik lässt sich im globalen Standardsetting gut erkennen. So binden die Konkretisierung und Umsetzung des Holistic Framework for Systemic Risk in the Insurance Sector (Holistic Framework)[3] sowie des Common Framework for the Supervision of Internationally Active Insurance Groups (ComFrame),[4] die beide im Jahre 2019 durch die International Association of Insurance Supervisors (IAIS)[5] verabschiedet wurden, nach wie vor Kräfte sowohl auf der Ebene der IAIS als auch der Mitgliedstaaten. Gleichzeitig sind die Arbeiten zur Vervollständigung und Validierung des Insurance Capital Standard (ICS)[6] voll im Gang. Sie werden ergänzt durch einen vermehrten Fokus auf Conduct,[7] mithin dem Verhalten der Versicherungsunternehmen gegenüber den Konsumierenden. Und schliesslich haben neuere Themen wie Digitalisierung sowie Environmental Social Governance (ESG) unter Einschluss von Diversity, Equity and Inclusion (DE&I) an Fahrt gewonnen.[8]
Eine vergleichbare Dynamik, wenn auch mit unterschiedlichen Schwerpunkten und Intensitäten, lässt sich auf der supranationalen Ebene der EU erkennen. Im Vordergrund steht in der EU im Versicherungsbereich die Solvency II Review, welche auch Arbeiten zu Recovery and Resolution umfasst.[9] Daneben wird die Regulierungsagenda in den Bereichen Digitalisierung und ESG[10] sektorübergreifend kräftig vorangetrieben. Entsprechend den Politiken der EU nimmt auch der Konsumentenschutz[11] einen grossen Raum ein.
Auf der Ebene nationaler Gesetzgeber und Aufsichtsbehörden lassen sich rund um den Globus diverse Reformbestrebungen erkennen. Zu erwähnen sind, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, Aktivitäten in Australien, China, Grossbritannien (insbesondere nach Brexit), Japan und den Vereinigten Staaten.[12] Der Reformprozess in der Schweiz stellt somit keineswegs einen Sonderfall dar.
Angesichts dieser Entwicklungen sollen im Folgenden fünf Themenkreise herausgegriffen und unter Einbezug aller drei Ebenen des globalen Standardsetting und der supranationalen sowie nationalen Regulierung beleuchtet werden, nämlich Kapitalausstattung (II.1), Recovery and Resolution (II.2), Digitalisierung (II.3), ESG unter Einschluss von Diversity Equity & Inclusion (DE&I, II.4) sowie Conduct und Schutz der Konsumierenden (II.5). Den (inter)nationalen Entwicklungen werden die Kernpunkte der schweizerischen Revision gegenübergestellt.
Seit Beginn des 21. Jahrhunderts hat sich das Prinzip der risikoorientierten Bemessung des erforderlichen Kapitals zunehmend verfestigt und ist heute kaum mehr wegzudenken, auch wenn um Teilaspekte dieser Kapitalausstattung immer wieder teilweise heftige Diskussionen geführt werden.
Gegenwärtig ist die IAIS intensiv mit dem Monitoring der Umsetzung der Version 2.0 und der Bereinigung des ICS für Internationally Active Insurance Groups (IAIGs) beschäftigt.[13] Zugleich befasst sie sich damit, Kriterien zur Beurteilung von Comparable outcomes bei der Verwendung einer Aggregation Method (z.B. US-amerikanische Capital Aggregation Method) zu entwickeln, die erlauben, andere Solvenzsysteme als im Resultat vergleichbar zum ICS einzustufen.[14]
Auf supranationaler Ebene wird in der EU erwogen, die Kapitalanforderungen mindestens teilweise zu reduzieren.[15] In Grossbritannien soll nunmehr eine Verringerung der Kapitalanforderungen angegangen werden, verbunden mit dem Wunsch, die Neuallokation von Kapital auf Investitionen in Green Finance zu verlagern.[16] Gelegentlich mag sich darin auch ein Wettbewerb zwischen Finanzplätzen manifestieren.
Es ist bemerkenswert zu beobachten, wie einzelne Jurisdiktionen das Verhältnis ihrer Kapitalanforderungen zum ICS angehen. So hat die Financial Services Agency von Japan verlauten lassen, dass der ICS 2025 für alle Versicherungsunternehmen, nicht nur für die IAIGs, gelten solle, und damit das bestehende nationale Regime ersetze.[17] Es zeichnet sich demgegenüber ab, dass die European Insurance and Occupational Pensions Authority (EIOPA) davon ausgeht, ihre Kapitalanforderungen als eine im Resultat vergleichbare Umsetzung des ICS zu betrachten.[18]
In verschiedenen Jurisdiktionen finden zudem Diskussionen zur Frage statt, wie die Risiken des Klimawandels auf die Kapitalposition modellgestützt zu erfassen sind und was die Folge davon sein soll.[19]
Parallel zur Verfeinerung der Kapitalanforderungen ist sowohl in der IAIS im Rahmen des Global Monitoring Exercise[20] als auch in der EU[21] ein Ausbau der Liquiditätsvorschriften in die Wege geleitet worden.
Auch in der Schweiz wird konsequent am risikoorientierten Konzept des SST festgehalten. Gleichzeitig wird der SST eingehender auf der Stufe des Gesetzes im formellen Sinn und der Verordnung verankert und optimiert.[22] Steuerungsanliegen betreffend Green Finance sind bislang nicht in die Regeln zur Kapitalbemessung eingeflossen. Mit Art. 9c revVAG ist die gesetzliche Grundlage geschaffen worden, um internationale Kapitalstandards wie den ICS ergänzend oder alternativ zu den schweizerischen Solvabilitätsvorschriften namentlich für international tätige Versicherungsgruppen und -konglomerate anzuwenden; das dürfte auch Raum beinhalten, um den SST als im Resultat vergleichbare Umsetzung des ICS zu behandeln. Mit den Offenlegungsvorschriften betreffend Klimarisiken, die sich nur an Versicherungsgesellschaften der Aufsichtskategorie 2 und Versicherungskonzerne mit derartigen einzelnen Versicherungsunternehmen richten, ist auch verbunden, die „kurz-, mittel- und langfristigen klimabezogenen Finanzrisiken“ und „quantitative Informationen (Kennzahlen und Ziele) zu klimabezogenen Finanzrisiken sowie die verwendete Methodologie“ zu veröffentlichen.[23] Schliesslich sind die Liquiditätsanforderungen in der Schweiz ebenfalls Gegenstand von punktuellen Revisionsvorschlägen.[24]
Auf internationaler Ebene sind in diesem Bereich die FSB Key Attributes of effective resolution regimes for financial institutions von 2014[25] weiter konkretisiert worden. Bei der IAIS betrifft das etwa – als Detaillierung des Holistic Framework – die Ausgestaltung und Durchführung des Global Monitoring Exercise,[26] beispielsweise hinsichtlich Liquidität.[27] Gleichzeitig wird durch die IAIS geprüft, wie Mitgliedstaaten das Holistic Framework umgesetzt haben.[28] Von den regionalen und nationalen Umsetzungen ist etwa der von der Europäischen Kommission am 22. September 2021 im Zusammenhang mit der Solvency II Review verabschiedete Entwurf einer Insurance Recovery and Resolution Directive[29] zu nennen.
In der Schweiz wurden mit der Revision des VAG gesetzliche Grundlagen zur Umsetzung der internationalen Standards geschaffen: Zunächst ist Art. 2b revVAG zu nennen, welcher dazu dient, zur Umsetzung internationaler Standards bei Versicherungsunternehmen und -konzernen Daten zu erheben, auszuwerten und zum Zweck der Aufsicht zu verwenden, um Risiken für die Finanzstabilität zu erfassen. Weiter gehört dazu der Art. 22a rev VAG betreffend Stabilisierungspläne von wirtschaftlich bedeutenden Versicherungsunternehmen; sie sollen zeigen, wie diese Versicherungsunternehmen sich in einer Krise nachhaltig stabilisieren und damit die Geschäftstätigkeit eigenständig oder durch private Fremdfinanzierung weiterführen können. Versicherungskonzerne sind gemäss Art. 67 Abs. 4 sowie Art. 75 Abs. 4 revVAG verpflichtet, Stabilisierungspläne zu erarbeiten. Dazu kommt die in Art. 67 Abs. 5 revVAG sowie in Art. 75 Abs. 5 revVAG vorgesehene Ermächtigung der FINMA, für Versicherungsgruppen und – konglomerate Auflösungspläne zu erstellen, welche den Abwicklungsprozess vorzeichnen. Schliesslich sind die weitestgehend neu geschaffenen Regeln zu Schutzmassnahmen, Massnahmen bei Insolvenzgefahr und Liquidation sowie zur Sanierung von Versicherungsunternehmen in den Art. 51 ff. bzw. Art. 52a revVAG von grosser Bedeutung.
Während im globalen Standardsetting nach wie vor die Auslegeordnung erweitert wird,[30] lässt sich erkennen, dass die EU eine Vorreiterrolle anstrebt. Mit ihrer sektorübergreifenden Data Strategy[31] sowie den darauffolgenden Entwürfen des Data Governance Act[32] und des Data Act[33] sind grundlegende Regelungen vorgelegt worden. Ebenso wegweisend sind die Entwürfe zum Artificial Intelligence Act[34] sowie zum Digital Operational Resilience Act (DORA).[35] Gestützt auf diese Entwicklungen hat EIOPA im Jahr 2021 die Digital Transformation Strategy[36] erlassen. Dass dieser Gesetzgebung der EU eine Signalwirkung zukommen kann, hat sich bereits am Beispiel der General Data Protection Regulation (GDPR)[37] gezeigt, welche mittlerweile weltweit in zahlreichen Jurisdiktionen[38] übernommen wurde. Gleichzeitig befassen sich auch viele nationale Gesetzgeber und Aufsichtsbehörden mit der Erfassung und Bewältigung von Cyber-Risiken und der Förderung von Innovation insbesondere durch Digitalisierung.
In der Schweiz ist bislang keine sektorübergreifende Digitalgesetzgebung geschaffen worden.[39] In der Versicherungsregulierung wird zur Erfassung der Digitalisierung und der damit verbundenen Risiken auf die Bestimmungen zum Risikomanagement insbesondere in Art. 22 VAG sowie dessen Ausführungsvorschriften abgestellt. Es gibt in der revidierten Versicherungsgesetzgebung auch keine eigentliche Norm für Innovationserleichterungen, aber mit Art. 2 Abs. 5 Bst. b revVAG ist eine Grundlage für eine umfassende oder teilweise Befreiung von versicherungsaufsichtsrechtlichen Vorgaben zur Wahrung der Zukunftsfähigkeit des Schweizer Finanzplatzes geschaffen worden; die Hürden sind in Art. 1c-1g im Vernehmlassungsentwurf zur Revision der AVO (E-AVO) detailliert und teilweise recht hoch angesetzt worden. Eine gewisse Bedeutung entfalten in diesem Kontext auch die Regeln zum Geschäft neben dem Versicherungsgeschäft in Art. 11 revVAG, ebenfalls mit tendenzmässig nicht unbedeutenden Schranken gemäss Art. 5b und 5c E-AVO.
Weitreichende Anerkennung geniessen die Empfehlungen der Task Force on Climate-related Financial Disclosure (TCFD), welche für Aufsichtszwecke durch die IAIS weiter operationalisiert[40] und in verschiedene nationale Gesetzgebungen und Regelwerke übernommen wurden.[41] Daran schliessen sich weiterführende Arbeiten zur Vereinheitlichung der Offenlegungsvorschriften etwa durch das IFRS International Sustainability Standards Board (ISSB) an.[42]
Weit darüber hinaus gehen die regulatorischen Entwicklungen in der EU. Sie stützen sich vor allem auf den EU Action Plan for Financing Sustainable Growth von 2018[43] sowie den Green Deal von 2019.[44] Eine bedeutende Rolle nehmen die Taxonomy Regulation[45] und die darauf abgestützten Erlasse betreffend Offenlegung zum Verhältnis der taxonomiekonformen Aktivitäten zu den Gesamtaktivitäten ein (z.B. taxonomiekonforme Kapitalanlagen zu den gesamten Kapitalanlagen in der Lebensversicherung; taxonomiekonforme Bruttoprämien zu den gesamten Bruttoprämien in der Nichtlebens- und Rückversicherung).[46] Wie sich das auf die Kapitalanforderungen nach Solvency II auswirkt, bleibt abzuwarten. Eine sukzessive Ausweitung der Offenlegung wird in der EU auch mit der NFRD von 2014,[47] der SFDR von 2019[48] sowie der nunmehr verabschiedeten CSRD[49] vorangetrieben.
In jüngster Zeit sind auch Anliegen zu Diversity, Equity & Inclusion durch die IAIS[50] oder etwa das NY Department of Financial Services[51] in den Zielkatalog aufgenommen worden.
In der Schweiz sind die TCFD Empfehlungen in das FINMA Rundschreiben 16/02 Offenlegung Versicherer (Public Disclosure) eingeflossen, welche indessen nur auf Versicherungsunternehmen der Kategorie 2 sowie auf Versicherungskonzerne mit Versicherungsunternehmen der Kategorie 2 Anwendung finden; ihre Umsetzung durch die betroffenen Unternehmen wurde in der Aufsichtsmitteilung 03/2022 der FINMA kommentiert und damit auch weiteren Unternehmen zugänglich gemacht. Neu sind Pflichten zur Berichterstattung in nicht-finanziellen Belangen gemäss Art. 964a ff. OR samt, ab 2024, der noch offiziell zu publizierenden Verordnung über die Berichterstattung über Klimabelange auf grössere Unternehmen aller Sektoren anwendbar. In der Aufsichtsmitteilung 05/2021 der FINMA gibt es zudem, mit Fokus auf die Kollektivanlagen, Ausführungen zur Bekämpfung von Greenwashing. Sie werden durch die vom Bundesrat lancierten Swiss ClimateScores[52] ergänzt, deren Anwendung durch die betroffenen Unternehmen auf freiwilliger Basis erfolgt. Gleichstellung bildet Gegenstand der verfassungsrechtlichen und allgemein anwendbaren Gesetzgebung.[53]
Der Trend, das Verhalten bzw. den Conduct der Finanzmarktanbieter zu regeln sowie den Schutz der Konsumierenden zu stärken, führt weltweit zu immer neuen Regulierungsbestrebungen. Die IAIS als globaler Standardsetter hat in der jüngsten Zeit ihren Fokus auf die Umsetzung der Conduct Vorgaben in der Aufsicht[54] sowie die Förderung der Inklusion[55] gerichtet.
Von wesentlicher Tragweite sind die Arbeiten in der EU, die auf dem Capital Market Union Action Plan von 2020[56] fussen und durch die zu erlassende Retail Investment Strategy[57] weiter konkretisiert werden. Damit in Zusammenhang stehen auch die Überarbeitungen der Insurance Distribution Directive (IDD)[58] sowie der Packaged Retail and Insurance-based Investment Products Regulation (PRIIPs).[59]
Stellvertretend für zahlreiche nationale Reformbestrebungen im Bereich des Schutzes der Konsumierenden sind hier die umfassenden Arbeiten der australischen APRA[60] und ASIC[61] im Gefolge der Untersuchungen der Royal Commission into Misconduct in the Banking, Superannuation and Financial Services Industry von 2017[62] zu erwähnen.
Es ist bemerkenswert, dass in der Schweiz der Zweck des Versichertenschutzes in Art. 1 Abs. 2 revVAG mit den Worten „nach Massgabe ihrer Schutzbedürftigkeit“ präzisiert wurde. Damit ist die Grundlage für ein massgeschneidertes Schutzkonzept gelegt worden, das neben schutzbedingten (verschärften) Regulierungen auch Erleichterungen unter anderem für Versicherungsunternehmen, die professionelle Versicherungsnehmer und -nehmerinnen versichern (Art. 30a revVAG) oder die konzerninterne Direkt- und Rückersicherung (Art. 30d revVAG) betreiben, vorsieht. Den Schutz der Konsumierenden verstärken etwa eingehende Informationspflichten zu qualifizierten Lebensversicherungen (Art. 39a ff. revVAG), Klarstellungen im Vertriebsrecht (Art. 40 ff. revVAG) sowie Vorschriften zur Vermeidung bzw. Offenlegung von Interessenkonflikten und Entschädigungen (Art. 14a und 45a f. revVAG).
Betrachtet man die (inter)nationalen Reformbestrebungen im Überblick, ergibt sich ein Bild, das von Optimierung vor allem im Bereich der prudenziellen Aufsicht sowie des Schutzes der Konsumierenden und von Vervollständigung besonders in den bislang noch nicht behandelten Themen Digitalisierung und ESG gekennzeichnet ist. Potenzial für Umwälzungen über Zeit haben etwa die Definition der regulatorischen Ziele im Bereich von ESG, die Interaktion zwischen nationalen bzw. supranationalen Kapitalsystemen mit dem ICS, mögliche Reduktionen von Kapitalanforderungen (unter anderem zur Förderung von Green Finance) und die Weiterentwicklung der Conduct Aufsicht. Diese Entwicklungen und ihr Potenzial lassen sich aus gegenwärtiger Warte insgesamt immer noch als „evolutiv“ bezeichnen, revolutionäre Züge sind bislang kaum erkennbar.
Aus der vorangegangenen Gegenüberüberstellungen ergibt sich, dass die Schweiz in der Versicherungsregulierung mit den globalen und ausländischen Entwicklungen vorsichtig abwägend mitzieht, ohne dass sie im internationalen Vergleich in jüngerer Zeit Vorreiterprojekte lanciert hätte. Bis zum jetzigen Zeitpunkt hat sie auch keinen sektorübergreifenden und umfassenden regulatorischen Rahmen für neue Technologien – wie etwa in der EU mit dem Data Act, dem Artificial Intelligence Act und DORA – geschaffen.
Aus dieser Dynamik ergibt sich einmal mehr, wie wichtig es ist, dass die Schweiz beim internationalen Standardsetting als prägende Stimme mitwirkt und auch bilateral mit supranationalen und ausländischen Regulatoren einen regen Austausch pflegt, um ihre Positionen frühzeitig in die Meinungsbildung einfliessen lassen zu können.