Valeries Tod - Frank Schröder - E-Book

Valeries Tod E-Book

Frank Schröder

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Beschreibung

Auf dem Listplatz in Reutlingen wird eine schrecklich entstellte Leiche gefunden. Kriminalkommissarin Verena Göbel und ihr Team folgen den Spuren bis zu den Kutten, einer gefürchteten Rockergang, die den Drogenhandel in der Region kontrolliert. Doch Valeries Tod wirft immer mehr Fragen auf – bis die Ermittler auf ein ungeahntes, düsteres Geheimnis des Mordopfers stoßen. Frank Schröder ist Valerie als Ermittler bei der Polizei dreimal begegnet. Valeries Lebensgeschichte ist wahr. Seine Erfahrungen bei Todesermittlungen und die schonungslose Darstellung der Kripoarbeit machen diese Story zu einem spannungsgeladenen Krimi, der an Realismus nicht zu überbieten ist.

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Der Autor

Frank Schröder

Frank Schröder, Jahrgang 1961, geboren in Ebingen, ist Kriminalhauptkommissar. Nach fast dreißig Jahren Ermittlungsarbeit, schwerpunktmäßig im Bereich von nichtnatürlichen Todesfällen, ist er nun Fachlehrer für Kriminalistik und Strafrecht am polizeilichen Institut für Ausbildung in Biberach an der Riß.

Frank Schröder

VALERIES TOD

Krimi

Oertel+Spörer

Dieser Kriminalroman spielt an realen Schauplätzen. Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden. Sollten sich dennoch Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen ergeben, so sind diese rein zufällig und nicht beabsichtigt.

© Oertel + Spörer Verlags-GmbH + Co. KG 2022Postfach 16 42 · 72706 Reutlingen Alle Rechte vorbehaltenTitelbild: Frank SchröderGestaltung: PMP Agentur für Kommunikation, ReutlingenLektorat: Bernd StorzKorrektorat: Sabine Tochtermann Satz: Uhl + Massopust, Aalen ISBN 978-3-96555-128-2

Besuchen Sie unsere Homepage und informieren Sie sich über unser vielfältiges Verlagsprogramm:www.oertel-spoerer.de

KAPITEL 1

Montag, 6. Januar – 4.55 UhrReutlingen – Listplatz

Der Schlaghahn war bereits gespannt, als sich der Lauf auf Valeries Nacken richtete. Die kalte Mündung der alten Astra berührte fast ihre Haare. Die Stahlfedern der Waffe waren gut geölt, sodass sie beim langsamen Heranspüren an den Abzugs-Druckpunkt keinerlei Geräusche verursachten. Als der Druckpunkt überwunden war, schnellte der Schlaghahn vor und traf den Schlagbolzen mit genau der Energie, die benötigt wird, um nur wenige Millimeter weiter den Patronenboden einzudrücken. Die Initialzündung des Neun-Millimeter-Geschosses verursachte einen lauten Knall, den Valerie nicht mehr hörte, denn während sich die Schmauchgase der Treibladung ringsum verteilten, drang das Geschoss mit Überschallgeschwindigkeit durch die Kopfschwarte. Das Hartmetall spaltete den Schädelknochen sternförmig und begann sich zu deformieren. Es drang weiter durch die hinteren Anteile des Großhirns direkt in das Kleinhirn. Beim Austritt aus dem Schädel und im Kontakt mit den vorderen Gesichtsknochen pilzte das Geschoss noch weiter auf und riss beide Kieferknochen aus dem Gesicht, bevor Valeries lebloser Körper vornüber von der Bank fiel. Weil sofort alle Vitalfunktionen aussetzten, war Valerie in Sekundenbruchteilen tot und nahm den Aufprall auf den nassen, grasbedeckten Boden gar nicht mehr wahr. Das Hartmetall, das Valeries Leben beendete, verschwand knapp fünf Meter schräg rechts vor Valeries Leiche im Erdreich.

Mit der Wucht der Explosion bewegte sich das Schloss der alten Astra zurück und schleuderte die Hülse der Neun-Millimeter-Patrone heraus. Geräuschlos fiel das Geschossteil zweieinhalb Meter rechts neben Valeries Leiche ins Gebüsch.

Valeries Blut sickerte in die feuchte Erde und als wollte jemand die grässliche Situation in weißer Watte verhüllen, begann es genau in diesem Moment das allererste Mal in diesem Winter in dicken Flocken zu schneien.

Das Prepaid-Smartphone, das Valerie noch vor Sekundenbruchteilen in der Hand gehalten hatte, war neben der Parkbank zu Boden gefallen und leuchtete auf. Dann wurde es aufgehoben. Das Touchscreen malte für wenige Sekunden ein weißblaues Licht in das bleiche Gesicht der Person, die die Astra noch schussbereit in der Hand hielt und erlosch.

Es klickte.

Es klickte zwei weitere Male. Doch auch die alte Astra hatte die Wucht des Schusses nicht überlebt. In ihrem Gehäuse war nun der Schlagbolzen abgebrochen, sodass kein weiterer Schuss mehr abgefeuert werden konnte.

Schritte entfernten sich rennend Richtung östliche Bahnhofstraße.

Es war ruhig am Listplatz. Die dicken Schneeflocken dämpften die wenigen Geräusche der schlafenden Stadt an diesem winterlichen, frühen, dunklen Morgen. Wegen des Feiertages und des nasskalten Wetters waren weder Fußgänger noch Autofahrer in der Nähe, denen Valeries lebloser Körper vor der Parkbank hätte auffallen können. Aus Richtung des geschlossenen Bahnhofskiosks näherte sich ein dunkler Yorkshireterrier. Er schnüffelte kurz an Valeries Leiche, machte am Betonsockel der Parkbank sein kleines Geschäft und lief Richtung Kronprinzenbau zurück.

Zunächst schmolzen die Flocken der Körpertemperatur wegen. Ganz allmählich blieben aber erste Flocken auf der dicken isolierenden Oberbekleidung liegen. Nach und nach bedeckte nasser Schnee Valeries Leiche. Und während es plötzlich kälter wurde, schwebten die Flocken leichter, aber umso ergiebiger auf den Leichnam, bis nur noch Valeries schwarze Schuhsohlen vor der Parkbank farblich von der winterlichen Umgebung des Listparks zu unterscheiden waren.

Und es schneite unaufhörlich weiter.

KAPITEL 2

Montag, 6. Januar Reutlingen – Schafstall

Messenger Heute 3:23 Uhr:

Oksana

Wann ist das endlich vorbei? Es geht so nicht weiter.

Valerie

Das hört heute auf. Versprochen.

Oksana

Er ist jetzt weggegangen. Wann sehen wir uns?

Valerie

Ich muss schauen, wie ich hier unbemerkt wegkann. Ich glaube, sie ahnt etwas.

Oksana

Dann warte nicht so lange. Hat Papa Arschloch akzeptiert?

Valerie

Ja. Er wartet auf meine Anweisungen.

Oksana

Gut.

Valerie

Ich sitze hier im Dunkeln auf einer Bank, von da aus kann ich gut sehen, wenn er kommt. Ich will ihn sehen und beobachten, wenn er das Päckchen ablegt.

Oksana

Gut. Treffen wir uns gleich danach? Ich kann es nicht erwarten, aus dieser Hölle rauszukommen.

Valerie

Du Arme. Das hört auf. Ich verspreche es.

Oksana

Fünf oder besser vier Uhr? Das wäre gut, da ist E. vielleicht noch gar nicht daheim.

Valerie

Das wird wohl nichts. Noch habe ich ihn nicht gesehen. Halb sieben ist besser. Bis dahin hab ich es bestimmt. Ich muss ja dann auch noch warten, bis er wieder weg ist.

Valerie

Nicht, dass …

Oksana

Stimmt. Logisch.

Valerie

Ich hole dich danach mit dem Taxi ab. Ich melde mich dann, wenn ich im Taxi sitze. Dann kommst du runter.

Halte durch!

Ich freue mich auf unsere Zukunft.

V.

Oksana

Bis nachher. Ich liebe dich.

Messenger – Nachrichten konnten nicht zugestellt werden

Heute 6:15 Uhr:

Oksana

Valerie, er ist jetzt wieder da. Er schläft. Ich bin aus der Wohnung raus und warte im Treppenhaus. Wo bleibst du?

Oksana

Valerie??? Was ist los, wo bist du?

Oksana

VALERIE?

Oksana Shashkyn hatte erst draußen warten wollen, aber es war kalt und schneite heftig. Deshalb saß sie jetzt im Treppenhaus, wartete hier und starrte auf ihren Messenger-Verlauf.

Sie wartete auf die nächste Nachricht.

Evgenij war wie erwartet sehr spät heimgekommen. Er hatte wieder einmal nach Alkohol gerochen und wollte mit ihr schlafen. Als sie sich wehrte, hatte er sie nur einmal kurz geschlagen und sie hatte es über sich ergehen lassen.

Wie so oft.

Aber dieses Mal würde es das letzte Mal gewesen sein, dachte sie, während sie schon wieder auf ihr Display schaute.

Nichts.

Evgenij war danach rasch eingeschlafen und schnarchend im Bett gelegen, als sie leise aufstand und das Wenige, was ihr wichtig gewesen war, in ihren kleinen Rucksack steckte: Den Geldbeutel mit Ausweis, den grauen Bilderrahmen mit dem Bild von Friedland, Longpapers und das bisschen Gras, das sie noch hatte.

Ganz leise öffnete sie die Wohnungstür und schloss sie vorsichtshalber von außen ab. Es roch nach kaltem Rauch und Frittierfett. Sie ließ den Schlüssel stecken, damit Evgenij erst einmal eingesperrt war, während sie im Treppenhaus auf Valeries Nachricht warten musste.

Valerie und sie hatten alles gut vorbereitet. Der Plan war genial und es würde niemandem schaden. Warum sollten sie beide, Valerie und Oksana, nicht endlich auch einmal Glück in ihrem Leben haben. Sie waren so oft diejenigen gewesen, die den Kürzeren gezogen hatten, und mit denen jeder immer das machte, was er gerade wollte. Immer ging es nach den anderen. Immer waren die anderen am Zug. In ihren vielen Gesprächen hatten sie es festgestellt: Bei Valerie waren es die Enge und die Abhängigkeit von Tatjana, bei ihr waren es Evgenij und seine pure Gewalt, von der sie sich endlich befreien wollten. Und als Valerie ihr berichtete, ihn wiedergetroffen zu haben, war das für beide wie ein Lottogewinn. Es lief alles wie von allein. Zwar hatte es ein paar Wochen gedauert, aber heute nun sollte das Entscheidende vonstattengehen.

Es war, als könnten sie ein neues Kapitel im Buch ihres Lebens aufschlagen.

Sie waren kurz vor dem Ziel.

Valerie hätte sich längstens melden müssen.

Ein ungutes Gefühl beschlich sie.

Sie hatte gerade erneut ihr Smartphone aufgeklappt, um Klarheit zu bekommen, um Valerie nun anzurufen, als sie es hörte.

Sie erstarrte vor Schreck.

Die Wohnungstür.

Im Stockwerk über ihr hörte sie, wie er erst an der Tür rüttelte und sie dann aufschloss.

Kalter Schweiß trat auf ihre Stirn und ihr Herz schlug wie wild.

Evgenij schloss tatsächlich einfach die Wohnungstür auf.

Warum auch immer – sie hatte doch abgeschlossen, aber die Tür ließ sich anscheinend trotzdem von innen öffnen.

»Oksana?« Seine kalte Stimme wehte wie ein eisiger Wind durch das kahle Treppenhaus.

Sie versuchte ruhig zu bleiben, so zu tun, als sei sie schon weg.

Vielleicht geht er ja wieder rein, hoffte sie. Vielleicht dachte er, sie sei bereits weg.

Angst kroch in ihr hoch. Sie fürchtete, er würde ihren Atem hören können.

»Oksana, bist du das?«

Sie hörte, wie seine Schritte langsam die Treppe herunterkamen.

Ganz leise und möglichst geräuschlos versuchte sie aufzustehen.

Ihr Knie knackte und ihr Anorak raschelte bei jeder noch so geringen Bewegung.

»Wo bist du, Oksana?«

Er kam immer näher.

Erst versuchte sie, sich ganz leise zu bewegen, hörte dann aber, dass seine Schritte schneller wurden. Er hatte sie entdeckt und nahm nun zwei Stufen auf einmal.

Sie rannte los wie der Teufel.

Ihr Herz schlug bis zum Hals.

Nach zwei Treppenabsätzen war sie an der Seitentür des Russen-Treffs vorbei.

Gleich war sie an der Haustür.

Draußen konnte sie um Hilfe rufen.

Sie ahnte, dass er dicht hinter ihr war.

Nur noch wenige Schritte bis zur Tür.

Knapp, ganz knapp, bevor sie die Türklinke herunterdrücken konnte, spürte sie, dass er sie an ihrem Rucksack gepackt hatte.

Sie wurde rückwärts geschleudert und fiel auf die Treppen.

Sie spürte, dass sie sich den Unterarm gebrochen hatte.

»Wo willst du hin? … Stück Scheiße!«

Dann kam der erste Schlag.

Es war zu spät.

Als er sie die Treppen hinauf vor sich her prügelte, fragte sie sich, ob Valerie jetzt wohl gerade vor der Haustür im Taxi auf sie warten würde.

Sie konnte nicht wissen, dass Valeries Leiche längst zugeschneit vor einer Parkbank im Listplatz lag.

KAPITEL 3

Montag, 6. Januar – 7.10 Uhr Notrufzentrale Polizeipräsidium Reutlingen

Um genau 7.10 Uhr nahm Polizeihauptmeisterin Sabine Kurz in der Notrufzentrale des Polizeipräsidiums folgendes Gespräch entgegen:

Notrufzentrale:

»Hier Notruf der Polizei?«

Anrufer:

»Ja, hier ist Conzelmann, Conzelmann mit C. Wissen Sie, ich will zu meiner Tochter nach Stuttgart und bin auf dem Weg zum Bahnhof. Und … Ich glaube, da liegt ein Toter im Listpark.«

Notrufzentrale:

»Wo sind Sie genau, Herr Conzelmann?«

Anrufer:

»Ja, hier direkt daneben, im Listpark, da bei den Sitzbänken in der Nähe der öffentlichen Telefone. Vielleicht ist er erfroren … Ist ja saukalt geworden …«

Notrufzentrale:

»Sind Sie sicher, dass die Person tot ist?«

Anrufer:

»Ja logisch, da liegen zehn Zentimeter Schnee drauf. Aber angefasst habe ich ihn natürlich nicht.«

Notrufzentrale:

»Tun Sie das bitte mal, schütteln Sie ihn, vielleicht lebt die Person ja noch, kann ja sein, vielleicht ist es ein Obdachloser, der eingeschlafen ist.«

Anrufer:

»Muss das sein? Wissen Sie, mein Zug …«

Notrufzentrale:

»Ja, also bitte, tun Sie das, das eilt und ist wichtig, vielleicht lebt der Mensch ja noch und wir könnten …«

Anrufer:

»… ich glaub’ zwar nicht, dass bei dem noch was geht, aber bitte, wenn das sein muss …, einen Moment …«

(Man hört Schnaufen, offensichtlich geht der Anrufer ein paar Schritte.)

Notrufzentrale:

»Hallo, Herr Conzelmann? Hallo …«

Notruf-Sprecherin Sabine Kurz hatte parallel zu dem Telefonat im Leitstellensystem einen Einsatz angelegt und beteiligte nun mit einem Mausklick die Wache des Polizeireviers, sodass die dortigen Kräfte gleich mitlesen konnten. Die Wache des Reviers bestätigte mit einem Funksignal, dass eine Streifenbesatzung unterwegs ist, ebenso der Rettungsdienst, der über die telefonische Standleitung informiert wurde.

Notrufzentrale:

»Herr Conzelmann, sind Sie noch …«

Anrufer:

»Ach du Scheiße … Oh mein Gott, wie sieht denn … Das Gesicht fehlt …, hier fehlt das halbe Gesicht, haben Sie gehört, das halbe Gesicht ist weg, der ist mausetot, kommen Sie schnell …«

Notrufzentrale:

»Ich habe Sie verstanden, Herr Conzelmann, bleiben Sie ganz ruhig. Gehen Sie ein paar Schritte weg und warten Sie, bis unsere Streifenbesatzung bei Ihnen eingetroffen ist. Verändern Sie nichts mehr, haben Sie gehört? Nichts mehr verändern! Die Besatzung müsste gleich bei Ihnen sein.«

Als Polizeiobermeister Werther und seine Praktikantin Weber als erste Streifenbesatzung am Listpark eintrafen, standen bereits fünf Passanten direkt bei der Leiche. Polizeiobermeister Werther überzeugte sich kurz davon, dass die telefonisch gemachten Angaben des Herrn Conzelmann zutrafen und war froh, dass keiner der Schaulustigen den bizarren Anblick der toten Person mit fürchterlich zerfetzter Mund- und Nasenpartie fotografierte oder gar filmte.

POM Werther wusste, was zu tun war. Es folgte ein kurzer und präziser Funkspruch an die Leitstelle, wonach ganz sicher von einem nichtnatürlichen Todesfall auszugehen war und der Kriminaldauerdienst zu verständigen sei. Dann forderte er die fünf Gaffer auf, beiseite zu gehen und schickte seine Praktikantin, das Absperrband zu holen.

KAPITEL 4

Montag, 6. Januar – 7.12 UhrReutlingen – Listplatz

Heute war Dreikönig. Ein Feiertag.

Feiertage waren für Klara Nonnenmacher wie die Sonntage, die sie nicht mochte.

Die Vierundachtzigjährige hörte Polizeisirenen. Oder war es der Krankenwagen, den sie hörte? Sie konnte das immer schlecht unterscheiden. Es war ihr egal.

Sie lag in ihrem Ehebett.

Allein.

Seit nunmehr acht Jahren benutzte sie das Bett nur noch allein. Sie konnte sich nicht durchringen, sich eines der neuen, modernen Einzelbetten zu kaufen. Boxspringbetten hießen die. Ihr genügte das alte Ehebett. Und Herberts Seite war, obgleich unbenutzt, immer mit demselben Bettzeug bezogen, wie ihre Seite.

Vor acht Jahren war ihr Herbert anfangs ins Krankenhaus und dann ins Pflegeheim gekommen, wo er ein Jahr später endlich friedlich einschlafen durfte. Er hatte keine Patientenverfügung. Bis zu seinem Tod hatte er sein Bewusstsein nicht wiedererlangt.

Es war an einem Sonntagmorgen gewesen, als er nicht aufstand, sondern liegen blieb. Und sie hatte gedacht, er schliefe noch, gönnte ihm das Ausschlafen, wo er doch sonst immer so früh auf den Beinen war und ließ ihn gerne liegen.

Wenn sie es nur gleich gemerkt hätte, dass etwas nicht stimmte und einen Krankenwagen gerufen hätte, dann hätte man vielleicht noch etwas machen können, hatte der Arzt im Klinikum gesagt. Aber so war es zu spät gewesen und sie machte sich bis heute Vorwürfe, ihn nicht doch geweckt zu haben. Zu groß war nach dem Schlaganfall der Schaden im Gehirn, den der Gefäßverschluss verursacht hatte.

Das letzte Gemeinsame, woran sie sich erinnerte, war sein Gutenachtkuss. Sie hatten sich ihr Leben lang jeden Abend einen Gutenachtkuss gegeben. Bis zu dem Schlaganfall.

Jetzt hörte sie schon wieder Sirenen. Aber diese Sirenen hörten sich ein wenig anders an als die Sirenen vorhin. Hier in der Nähe des Bahnhofs hörte man oft Sirenen. Meistens waren es Krankenwagen oder Polizeiwagen, die sich durch den Nachmittagsstau zwängten. Also wahrscheinlich erst die Polizei und dann der Krankenwagen.

Oder umgekehrt, aber es war ihr egal.

Sie hatte schlecht geschlafen. Sie war aufgewacht an einem lauten Knall, den sie durch das schräg gestellte Fenster gehört hatte. Sie war um zwei Uhr ungefähr das letzte Mal auf der Toilette und jetzt war es viertel acht. Irgendwann dazwischen war es, als sie der laute Knall geweckt hatte.

Aber sie hatte nicht auf die Uhr geschaut.

Hier in der Nähe des Bahnhofs war es immer mal laut.

Aber eigentlich war es eine ruhige Nacht gewesen, deshalb hatte sie die Fenster schräg gestellt. Sie mochte es, wenn es im Schlafzimmer etwas kühler war. Im Sommer, da konnte man das nicht, da war es zu laut. Andauernd Motorenlärm, Gläserklirren, Gegröle von Besoffenen. Aber jetzt im Winter, da war es deutlich ruhiger und da konnte man die Fenster schräg stellen.

Und deshalb hatte sie den lauten Knall hören können.

Aber dann war sie wieder eingeschlafen.

Jetzt stand sie auf und ging ins Bad. Nach der Morgentoilette kehrte sie ins Schlafzimmer zurück und machte ihr Bett. Danach strich sie über Herberts Bett und zog die Vorhänge zurück. Jetzt sah sie, dass es kräftig geschneit hatte. Alles war weiß. Ja, so hätte man es gerne an Weihnachten gehabt, ging es ihr durch den Kopf.

Im frischen Schnee und an den Wänden der gegenüberliegenden Gebäude reflektierte das blitzende Blaulicht.

»Irgendetwas muss hier ganz in der Nähe passiert sein«, dachte sie.

Sie ging zur Küche, setzte Kaffee auf und zog sich an, um beim Bäcker drei Sonntagsbrötchen aus Vollkorn zu holen. Wegen ihres Diabetes sollte sie Vollkorn essen. Zum Frühstück und für das Abendbrot jeweils eineinhalb Sonntagsbrötchen aus Vollkorn.

Sie mochte an und für sich zwar keine Sonntage, liebte aber ihr Frühstück und sie vermisste Herbert, der das Frühstück am Sonntag auch geliebt hatte.

Sie vergewisserte sich, dass sie die Schlüssel eingesteckt und den Geldbeutel dabeihatte, und ging hinunter zum Bäcker.

Klara Nonnenmacher konnte nicht wissen, dass sie noch eine sehr wichtige Zeugin werden würde.

KAPITEL 5

Montag, 6. Januar – 7.23 Uhr Eningen unter Achalm

Dennis Broghammer saß in seiner Maisonettewohnung in Eningen, starrte auf sein Smartphone und wartete.

Er wartete auf die Bestätigung, die nicht kam.

Und er war müde.

Eine ganze Weile schon saß er so da und ärgerte sich, dass der Nachweis nicht eintraf wie angekündigt. Er wartete auf ein kleines, fucking Videofilmchen via WhatsApp. Dennis schaute wieder auf das Display, obwohl er die Benachrichtigungstöne eingeschaltet hatte und es gehört hätte, wenn etwas angekommen wäre.

Nichts.

Er hatte alles getan, was verlangt worden war.

Er war bis nach fünf Uhr morgens im Holy Bobs geblieben, war dann, als die Aufforderung kam, zum Listplatz gegangen und hatte alles erledigt, was von ihm erwartet worden war.

Alles.

Was fehlte, war die Gegenleistung.

Er fühlte sich erschöpft und ausgelaugt.

Er ging zum Schreibtisch, öffnete die obere rechte Schublade und zog den braunen Umschlag aus der hinteren rechten Ecke, ganz unten, wo er immer lag.

Dann bereitete er alles vor und sog mit dem Glasröhrchen eine Linie Weißes durch die Nase ein. Anschließend hielt er sich die Nase zu und wartete auf die Wirkung, die sofort einsetzte.

Er räumte alles wieder in die Schublade und spürte, wie seine Energie zurückkehrte.

Dennis war nun wieder hoch konzentriert.

Als Kaufmann erwartete er, dass man seine Vereinbarungen gefälligst auch einhielt. Man hatte ihm mitgeteilt, was er zu tun hatte, er hatte es getan und nun kam keine Gegenleistung.

Das war gegen die Abmachung.

Dennis Broghammer war verärgert und überlegte sich, ob er nicht doch besser seine Geschäftspartner darum gebeten hätte, die Sache aus der Welt zu schaffen. Aber das konnte er jetzt nicht mehr, nachdem er selbst schon nach einer Lösung gesucht hatte.

Nun war es zu spät. Entweder, die Sache war aus der Welt oder eben nicht.

Dann müsste man eben eine andere Lösung suchen, aber es war zu riskant, andere Leute, zum Beispiel seine Geschäftspartner, in diese Sache einzuweihen. Dann war man ihnen auf immer ausgeliefert.

Seine Investition war immens gewesen. Er hatte auch das Geld seiner Geschäftspartner investiert und hatte nun ein Problem, wenn die Bestätigung nicht kam, wenn alles rauskommen würde.

Seine Familie genoss großes Ansehen und allein die Schlagzeilen hätten seinen herzkranken Vater vorzeitig ins Grab gebracht. Das konnte er Mutter nicht zumuten. Außerdem wäre sein Erbe futsch gewesen, sein lockeres Leben auch. Nein, das konnte er nicht riskieren.

Die Lieferung an die Geschäftspartner konnte warten.

Diese verdammte Bestätigung nicht.

Er hatte genug gewartet und wollte selber nachschauen.

Er stand auf, ging in die Tiefgarage, setzte sich in seinen blauen Audi A3 und fuhr nach Reutlingen.

Zum Listplatz.

KAPITEL 6

Montag, 6. Januar – 7.22 UhrNotrufzentrale Polizeipräsidium Reutlingen

Polizeihauptkommissar Andreas Bolz, an diesem Morgen Polizeiführer vom Dienst, hatte den Funkverkehr mitgehört und nickte seiner Kollegin zu. Polizeihauptmeisterin Sabine Kurz, die Einsatzsachbearbeiterin, begann damit, ein Einsatzprotokoll zu fertigen, um präzise zu dokumentieren, was nun ablief.

Danach griff ein Rädchen ins andere.

7:23:33 Uhr

RT 2/524 vor Ort – Verdacht Tötungsdelikt, sie fertigen Übersichtsaufnahmen und sperren alles ab.

7:23:50 Uhr

Rettungsleitstelle informiert, vermutlich Leiche, Rettungsfahrzeug kommt vorsorglich trotzdem.

7:24:34 Uhr

KDD KvD Wörner informiert. RT 7/55 in Einsatz aufgenommen, kommen mit vier Beamten, Vorschlag von dort: Leiter des Kommissariats Reutlingen vorab informieren.

7:25:12 Uhr

Kriminaltechnik informiert. KHK Merz und KOK Kohler kommen von zu Hause aus angefahren – haben aber keinen Funk dabei, sind in Kürze über Diensthandy 16 und 18 erreichbar.

7:26:56 Uhr

RT 2/524 Tatort ist weiträumig abgesperrt. Man beginnt mit der Aufnahme der Personalien aller anwesender Personen.

7:32:22 Uhr

Rettungsdienst trifft ein.

7:32:45 Uhr

Leiter des Kommissariats, Kriminalrat Volland wurde erreicht, er kommt vor Ort.

Polizeihauptkommissar Andreas Bolz wusste, dass es kürzlich beim Kommissariat einen Führungswechsel gegeben hatte.

»So jung und schon Kriminalrat … Seit wann ist denn der Volland wieder im Lande?«, fragte Sabine Kurz, als sie den Namen Volland ins Protokoll schrieb.

»Die Neubesetzung wurde über den Jahreswechsel vollzogen. Ich glaube, Volland war noch nicht mal einen einzigen Tag im Büro. Das kam ganz plötzlich. Sein Vorgänger hat ein Angebot im Präsidium Mannheim übernommen – du weißt doch, die vom höheren Dienst fallen die Treppen nicht von allein rauf, die müssen sich bewegen …«

»Aber dem Volland bringt doch diese Stelle hier nichts … Na, was solls, der wird schon wissen, warum …«

7:31:04 Uhr

Notarzt stellt definitiv nichtnatürlichen Tod fest. Sanitäter eingetroffen. Sie versorgen den geschockten Anrufer Conzelmann.

7:32:19 Uhr

KDD übernimmt Einsatzleitung vor Ort, wartet auf Eintreffen der Kriminaltechnik. Auftrag: Rechtsmedizin soll vorsichtshalber informiert und an Fundort beordert werden.

7:33:56 Uhr

Pressestelle vorab informiert, ein Pressesprecher kommt vorsorglich zur Dienststelle, bislang keine Presseanfragen, auch in den sozialen Netzwerken bislang alles ruhig.

7:34:08 Uhr

Notfallnachsorgedienst wurde vorab informiert wegen eventueller Todesnachricht; Frau Lang hält sich bereit.

7:38:03 Uhr

KDD teilt mit: Es liegt definitiv ein Tötungsdelikt vor, offenkundig eine tödliche Schussverletzung, Person vermutlich von hinten erschossen, Identität noch unklar. Starker Schneefall, sie brauchen ein Dach, einen Pavillon oder so was, um die Spurenlage zu schonen.

7:39:01 Uhr

RT 2/546 und RT 2/548 übernehmen Absuche nähere und weitere Tatortumgebung nach Tatwaffe und verdächtigen/ weggeworfenen Gegenständen. Engerer Tatortbereich wird von Kriminaltechnik abgesucht.

7:40:55 Uhr

Die Feuerwehr besorgt ein großes Einsatzzelt.

7:42:19 Uhr

Rechtsmedizin Tübingen, Dr. Bartholomäus Wader erreicht. Er kommt vor Ort.

7:45:23 Uhr

Kriminalrat Volland übernimmt Einsatzleitung vor Ort. Es wird eine Ermittlungsgruppe gebildet. Zu Hause zu alarmieren sind:

KOK’in Verena Göbel, KHK Kai Wehner, KOK’in Rebekka Schmid, KHK Mirko Roth …

»… also eigentlich alle, die zu erreichen sind …« Hauptmeisterin Kurz wusste, dass es nicht einfach war, die Kriminalbeamten an einem Feiertag, zumal in den Winterferien, da manche beim Skifahren oder sonst wo waren, zu erreichen. Die Handynummern waren alle im System hinterlegt.

Sie machte sich an die Arbeit.

KAPITEL 7

Montag, 6. Januar – 7.52 Uhr

Kriminaloberkommissarin Verena Göbel war gerade erst vor ein paar Minuten aufgestanden und schaute noch verschlafen aus dem Fenster ihrer Dachgeschosswohnung, als ihr Smartphone summte. Sie hatte eigentlich gehofft, das Wetter würde ihr eine morgendliche Joggingrunde erlauben, aber ein Blick aus dem Fenster auf die schneebedeckten Hausdächer sagte ihr, dass es damit wohl nichts werden würde. Und weil ihr wegen des miesen Wetters sowieso wieder nur das stupide Laufband im Fitnessstudio geblieben wäre, war sie gar nicht unglücklich, als die Leitstelle sie alarmierte und vom Verdacht eines Tötungsdeliktes in Kenntnis setzte.

Tötungsdelikte waren in Reutlingen nicht an der Tagesordnung. Bei Schusstoten war für gewöhnlich schnell zu klären, ob ein Verbrechen vorlag oder nicht. Gleich, nachdem sie aufgelegt hatte, kamen Verena Fälle in den Sinn, bei denen zuerst ein Mord angenommen und Großalarm geschlagen wurde. Bei genauerem Hinschauen war dann frühzeitig unter der Leiche doch noch eine Waffe zum Vorschein gekommen. Später hatten die Ermittler anhand weiterer Befunde schließlich ganz sicher von einem Suizid ausgehen und die Akte schnell wieder schließen können.

Warum sollte das heute nicht auch so sein und ein wenig Abwechslung nach den langen Feiertagen würde ihr nicht schaden. Sie war bei ihren Eltern gewesen und hatte nun wieder genug von der nachweihnachtlichen Familienidylle. Sie lebte allein und eigentlich freute sie sich auf den unerwarteten Einsatz und darauf, ihr Team wiederzusehen. Vorher musste sie schnell noch auf der Dienststelle alle Einsatzutensilien, die Schutzweste und ihre Waffe holen. Sie beeilte sich, duschte rasch und zog sich während einer schnellen Tasse Kaffee an. Sie fror, als sie ihren alten Golf vom Schnee befreit hatte, stieg ein und hoffte, dass er problemlos anspringen würde. Als der Motor gezündet hatte, murmelte sie dankbar »brav, Brauner …« und fuhr los.

Im Kommissariat sah sie, dass in ein paar Büros bereits Licht brannte. Man hatte also einige von ihren Kollegen erreicht. Das war gut. Die ersten Ermittlungen waren immer sehr personal- und arbeitsintensiv. Da konnte man jede und jeden gebrauchen – Feiertag hin oder her.

Am Waffenschrank traf sie Rebekka Schmid. Beide waren Mitte dreißig, ledig und kinderlos und daher meistens zu erreichen, wenn etwas passiert war. Seit einem missglückten Einsatz vor ein paar Jahren waren aus den Kolleginnen gute Freundinnen geworden.

»Hi Bekki«, grüßte Verena.

»Hi. Weißt du schon was Genaueres?«, fragte Rebekka.

»Nur, dass es eine Person mit schwersten Schussverletzungen ist. Scheinbar wissen sie noch nicht einmal, wer es ist.«

»Hoffentlich keiner von den Kutten, oder?«

Rebekka meinte damit die Mitglieder der hiesigen Rockergang, mit denen sie in der Vergangenheit immer wieder mit üblen Schlägereien und Racheaktionen Schwierigkeiten hatten. Wenn es um Schusswaffen ging, waren die Kutten immer eine interessante Adresse. Aber die letzten Monate war es ruhiger um die Bande geworden. Man vermutete, dass sie sich auf ihre diversen lokalen und überregionalen Rauschgiftgeschäfte konzentrierten.

»Ein toter Kuttenträger? Das wüssten wir wohl schon …« Verena nahm ihre Aktentasche. »Aber wir werden ja gleich sehen … Fertig?«

»Yep. Nehmen wir den Audi?«

»Von mir aus, aber du fährst …« Verena sah, dass im Büro des Kommissariatsleiters Licht brannte und öffnete die Tür. Es war leer.

»Kommt der Chef auch?« Rebekka blickte ebenfalls kurz in das leere Büro des Kommissariatsleiters. »Ist der überhaupt noch da? Vor meinem Urlaub hieß es, Spöcker will nach Karlsruhe.«

»Nicht Karlsruhe – nach Mannheim wollte er«, verbesserte Verena. »… Ist auch egal, der hat eh keinen Schimmer von Ermittlungsarbeit und macht sowieso immer nur das, was wir wollen.«

»Und genau so ein Einsatzleiter aber ist mir lieber als irgendein Helikopter-Chef – nach dem Motto: Drüber schweben und Staub aufwirbeln …«, meinte Bekki, grinste und zwinkerte Verena zu.

Sie stiegen ein und fuhren los.

Der Listplatz war weiträumig abgesperrt. Das erste Absperrband durchfuhren sie bereits, als sie die Karlstraße überquerten. Die Einsatzfahrzeuge standen teils rechts, teils mitten auf der ansonsten belebten Straße. Die uniformierten Absperrkräfte stritten mit Anwohnern, die nicht wegfahren durften oder mit den inzwischen aufgetauchten Pressefotografen, die näher ran wollten und sich nicht um das Absperrband scherten.

Sie parkten auf dem breiten Gehweg der Karlstraße, stiegen aus und gingen in Richtung der anderen Einsatzfahrzeuge, die etwas näher am Tatort standen. Verena sah ganz am Rand der Grünanlagen vor einer Sitzbank das stabile Zeltdach stehen, auf dem sich langsam eine Schneedecke bildete. Der Schnee fiel gleichmäßig und es sah nicht danach aus, als würde das Schneien demnächst nachlassen. Es schien, als wollte es heute gar nicht richtig hell werden.

Solche Wetterverhältnisse waren für die Spurensuche denkbar ungünstig, da war das Zeltdach nur eine Notlösung. Unter dem Zeltdach beugten sich Rechtsmediziner Dr. med. jur. Bartholomäus Wader und der Kriminaltechniker Eugen Kohler über den Kopfbereich der Leiche, von der Verena nur die schwarzen Schuhe sehen konnte, die sich unter der Bank im Schnee abzeichneten. Verena hoffte immer noch, dass Kohler eine Waffe unter dem Leichnam finden und sich das Ganze später als Suizid herausstellen würde.

»Da kommt sie ja, unsere Haupt-Sachbearbeiterin …«