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Beschreibung

VANDERLOH ist anders, sagen die selbst ernannten Normalen. VANDERLOH hat die Schnauze voll vom Job, von seinem Chef und seinem öden Leben. VANDERLOH träumt davon, der Magnum P.I. des Hamburger Nord-Ostens zu werden. Aus dem hochstrukturierten Buchhalter wird auf wundersame Weise VANDERLOH der Schrecken der Mafia. OMG! Lesespaß nach Hamburger Art.

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Ähnliche


Inhaltsverzeichnis

Alltag is every Day

Drei Monate zuvor

Belastende Headline

Die Falle steht

Restart, aber bidde schnell

Zur gleichen Zeit an der Küste

Farvel København

Gekänzelt

Schweigen ist Gold

Eiskalt entsorgt

Un-ge-Ahntes

Neuer Spirit

Auftragsdrohung

Wat mutt, dat mutt

Beste Connection

Wer kriegt Ronja?

Unablehnbar

Undercover

Il Capitano

Abgeholt

Tribunal

Gekidnappt

Schach ohne Würfel

Petermännchens Mondfahrt

Eingekerkert

Todesangst

Briefing

Beten hilft, sometimes

Too late?

Ende Legende

La Padrona

Ready for take off

Poor little Clärchen

Ziemlich Successful

VANDERLOH STARTET DURCH

Alltag is every Day

Warum ist eigentlich Husum die graue Stadt am Meer und nicht Hamburg? Alles, was Vanderloh durch das schmale Fenster seines Büros sah, allerdings, nur wenn er sich etwas streckte, war das Grau eines zu Ende gehenden regnerischen Frühlingstages. Wie an jedem anderen Arbeitstag der Woche, des Monats, des Jahres freute er sich auf seinen Feierabend.

»Endlich keine Belege mehr sortieren, keine unvollständigen Datensätze berichtigen, keine finanzamtsfeindlichen Monatsabschlüsse anfertigen. Wech mit dem Mist«, erzählte Vanderloh seinem kleinen Steiff-Stoff-Teddy, der vor ihm auf seinem Schreibtisch saß und ihn wie immer lächelnd mit blanken Knopfaugen ansah.

Dann hörte er das Signal der Freiheit, seine programmierte tägliche Weckzeit-Erinnerung. Eine bekannte Melodie klang einen Moment lang schnarrend auf seinem alten Smartphone.

»Hamburg meine Perle« quiekte es aus dem Mini-Lautsprecher und er summte automatisch so lange mit, bis abschließend eine dröhnende Posaunen-Fanfare erklang, die das Ende seines täglichen beruflichen Martyriums ankündigte.

Was folgte, war seine über zehn Jahre eingeübte Flucht-Routine.

Der Mensch ist eben auch nur ein Fluchttier, überlegte er noch, und startete die Vorbereitung für sein echtes Leben nach 17 Uhr. Der PC wurde runtergefahren, Büroschuhe gegen Straßenschuhe getauscht, die letzten Krümel aus der leeren Brotdose in den Papierkorb entsorgt, die Metalldose sorgfältig in seiner Aktentasche verstaut, seine zweireihige dunkelblaue Colani-Jacke übergezogen, ordentlich zugeknöpft, ein strenger Kontrollblick in den Spiegel über dem Sechzigerjahre Waschbecken, die oberste metallene Knopfreihe kurz mit dem Ärmel der Jacke blank poliert.

Sein letzter Kontrollblick galt gewohnheitsgemäß seinem Schreibtisch, auf dem noch ein aufgeschlagener Ordner lag, die diversen Stifte sich kreuz und quer auf der Arbeitsplatte verteilten und nach Ordnung verlangten. Wie fremdgesteuert zuckten seine Hände in Richtung des vermeintlichen Chaos, machte er den ersten Schritt auf seinen Arbeitsplatz zu, musste sich innerlich bremsen.

»Nein, Professor Dr. Dr. habil. Thomas Langmut hat mir deutlich gesagt, ich soll gegen meine Zwänge ankämpfen«, murmelte er einen seiner eingeprägten Glaubenssätze leise vor sich hin, löste sich von dem abstoßenden Anblick seines unaufgeräumten Arbeitsplatzes und drehte sich ruckartig in Richtung der Bürotür, versuchte schnellstens dem Aktenordnermief zu entkommen. Dieser Versuch endete an der erst halboffenen Tür, an der er mit einem Jackenärmel hängenblieb.

»Verdammter Mist, scheiß Türklinke«, sagte er lauter, als es ihm seine gute Erziehung erlaubte.

Erst wertvolle Sekunden später erreichte er den altertümlichen Paternoster, der ihn in die Feierabendfreiheit transportieren sollte. Zumindest sollte dieses Relikt aus längst vergangener Zeit der Industrialisierung die erste und wichtigste Etappe übernehmen.

Rasseln von Antriebsketten und lautes Knarren kündigten die erste Transportbox an. Vanderloh blickte erst auf zwei Paar Füße, die in abgelatschten Turnschuhen, oder neudeutsch Sneaker steckten.

›Aha, ehemals teure Nike Retro-Klassiker und billige FILA-Treter, wahrscheinlich günstig bei Deichmann geschossen, vor Jahren, wie die Dinger so aussehen‹, dachte er.

Er liebte Sneaker, sie waren seine bevorzugte Fußbekleidung und sein persönlicher Spleen. Die beiden mittelalten graugesichtigen Insassen wünschten Vanderloh einen schönen Feierabend, was er andeutungsweise erwiderte, erkannte in ihren Gesichtern, dass ihnen sein Feierabend völlig egal war.

In der nächsten Holzkiste kamen ihm nun ein einzelnes Paar hochhackiger Damenschuhe entgegen, wohl Pumps oder so ähnlich, die in auffallend langen und schlanken Beinen übergingen und in einem knapp knielangen dunkelblauen Rock endeten, der zu einem Business Kostüm gehörte. In dem elegant wirkenden Outfit steckte die persönliche Assistentin seines Chefs, Mila Martens.

›Wow, das wär die ideale Feierabendbegleitung für mich‹, schoss es ihm in den Kopf, nahm aber sofort ihre Ablehnung ihm gegenüber wahr, die sich hinter einem professionellen Lächeln verbarg.

›Sie hat leider erkannt, was für ein Loser ich bin‹, resümierte er für sich.

Er verdrängte augenblicklich die Idee, sich zu der attraktiven jungen Dame hinzuzugesellen. Weitere, sehr geheime Gedanken ließ er erst gar nicht zu, lief rot an, schüttelte unbewusst seinen Kopf und atmete eine verräterische Spur zu laut aus.

Er ließ Mila vorbeifahren, nahm dabei ihren verführerischen Duft von Pfirsich, Apfel und einen Hauch von Vanillenoten wahr, der die natürliche Eleganz der jungen Dame noch mehr unterstrich. Sein leise gesprochenen »Wow« war nur für ihn selbst bestimmt.

Weitere Transportkisten mit einzelnen abgelatschten Herrenschuhen, Sandalen in Tennissocken und mehrere Varianten deformierter Leinen-Sneaker ließ er vorbeiziehen. Er konnte sich nicht überwinden, zu einer einzelnen büromüden Person zuzusteigen, deren über Tage erworbenen Arbeitsdunst aus Aktenmief, Kaffeegeruch und Käsestullen-Aroma einzuatmen und Schulter an Schulter mit Menschen zu stehen, die er kaum kannte und noch weniger mochte.

Es war für den langjährigen Buchhaltungs-Sachbearbeiter keine neue Erfahrung, dass der Kleine-Leute-Fahrstuhl wie immer zum allgemeinen Dienstschluss in Abwärtsrichtung, also mit Kurs auf das Feierabend-Freiheits-Versprechen, sehr gut frequentiert.

›So ein Mist, die blöden Kisten sind mal wieder so was von voll. Unmöglich‹, fluchte er in sich hinein.

Vanderloh quetschte schließlich das verbotene Wort »Scheiße« durch seine Zähne, entschied sich nach mehrminütiger Geduldsprobe, doch den deutlich moderneren Fahrstuhl von 1971 zu nutzen, der eigentlich ausschließlich der Managementebene zustand.

›Das kannst du nicht machen, das geht nicht‹, bremste er seine Aktivität.

Ihm fehlte heute wie meistens der Mut dazu, er wollte lieber kein Risiko eingehen und denen da oben nicht unangenehm auffallen. Nachdem die siebte oder achte abwärts orientierte halb besetzte Kabine ratternd an ihm vorbeigestunken war, stieg er voller Verzweiflung todesverachtend in die nächstbeste aufwärts fahrende Transportbox ein. Seine tiefsitzenden Bedenken der Paternoster-Technik gegenüber verblassten auch nach über zehn leidvollen Jahren in diesem ehrwürdigen, nach Bohnerwachs riechenden Kontorhaus nicht, seine Angst vor dem unkalkulierbaren Wendepunkt in den dunklen Bereichen eines unbekannten Systems blieb hartnäckig bestehen.

›Wird schon schiefgehen‹, redete er sich beim todesverachtenden Sprung in die ratternde Höllenmaschine ein.

Alle ging gut. Auch diesmal wurde seine Kabine nicht umgedreht, er brauchte keinen sportlichen Kopfstand zu machen, atmete befreit auf und dankte dem großen Schicksalslenker für seine allumfassende Gnade.

›Gott sei Dank, alles gut gegangen. Jetzt kannst du lahmes Teil gern etwas schneller fahren‹, befahl er der prähistorischen Kiste.

Unten angekommen sprang er ungeduldig bereits einen halben Meter früher aus seiner Box und kam durch diesen unwillkürlichen Schwung stolpernd in eine schnelle Gangart. Galopp war angesagt.

›Nix wie raus und die fünf verlorenen Minuten aufholen‹, Vanderloh feuerte sich selbst, Out of the Box zu einer höheren Gangart an.

Draußen erfolgte der nächste Teil seiner Feierabendrituale.

Er atmete wie zum Ende jeden Arbeitstages genussvoll tief durch, beeilte sich zum Baumwall zu kommen, die Treppen der U-Bahn zu erreichen, mit drei gleichzeitigen Stufen Höhe zu gewinnen, kurz auf halber Höhe zu verschnaufen, um zu überprüfen, ob der Hafen samt seinen Kränen und Trockendocks noch an den richtigen Stellen zu finden waren.

›Check. Okay. Alles ist an seinem Platz. Das ist auch gut so‹, bestätigte er sich selbst, dass seine Feierabend-Welt in Ordnung ist.

Wie meistens wehte der frische Elbwind die werbenden Rufe der Barkassenführer zu ihm rüber, die Motorengeräusche der Hafenfähren drangen an sein Ohr und er bemerkte das Ablegemanöver eines Ausflugsschiffes, das vom Aussehen her eher in den amerikanischen Westen gepasst hätte. Vanderloh schüttelte seinen Kopf.

›Was soll dieser Scheiß, mitten in Hamburg, auf unserer schönen Elbe ein Mississippi Dampfer. Das hier ist nicht New Orleans, das ist Hamburch, meine Stadt‹, schimpfte er empört in sich hinein.

Jetzt heulte sogar noch die Dampfsirene des Schaufelradungetüms und aus den vier Schornsteine kamen stinkende dunkle Rauchwolken heraus. Die Kiste ist eine heftige Feinstaubschleuder, dachte er und der Geruch nach Dieselabgasen löste in seiner Nasenschleimhaut einen heftigen Niesreiz aus.

»Gesundheit, Vanderloh«, sagte er zu sich selbst. »Jetzt aber los.«

Nach einem letzten schnellen Kontrollblick schloss er sein kleines Ritual ab, startete durch, und reihte sich oben angekommen in die gemischte Gruppe der auf dem Bahnsteig wartenden ein.

›Oh Gott, was für eine schreckliche Menschenmasse‹, flüsterte sein innerer Feigling und empfahl ihm, deutlichen Abstand zu halten.

Stocksteif blieb er stehen, versuchte niemanden direkt anzusehen, so den direkten Blickkontakt zu vermeiden und unnötigen Gesprächen auszuweichen.

Drei Monate zuvor

Jeder einzelne Schritt auf das Zentrum für Psychosoziale Medizin im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf zu kostete Vanderloh Überwindung, ließ seine inneren Blockaden stärker werden und seinen Adrenalinspiegel nach oben schnellen. Mit puterrotem Kopf und galoppierenden Herz betrat er das Gebäude und betrat den Behandlungsraum, wo sein Entlassungsgespräch endlich stattfinden sollte.

Bei seinem kurzen Spaziergang durch den Eppendorfer Park bis zum Leinpfad hatte Vanderloh darüber nachgedacht, sich zu drücken, sein abschließendes Gespräch mit Professor Dr. Dr. habil. Thomas Langmut abzusagen, nun nahm er mit Schweiß auf der Stirn gegenüber dem anerkanntesten Spezialisten für Anpassungsstörungen besonderen Schweregrades auf einem der bequemen Ledersessel Platz.

Der Professor deutete ein kurzes, etwas gezwungen wirkendes Lächeln an, konzentrierte sich sofort wieder auf seinen Monitor, begrüßte seinen aufgeregten Patienten, ohne Blickkontakt.

»Ich freue mich, Herr Vanderloh, dass Sie heute letztmalig in meine Sprechstunde gekommen sind. Mir ist klar, dass dieser Weg belastend für Sie war und Ihnen nicht leichtgefallen ist.«

Vanderloh saß stocksteif vor ihm, nickte nur kurz als Erwiderung.

»Wie haben Sie die drei Wochen seid ihrer Einlieferung in die Poliklinik für Psychiatrie wahrgenommen, wie ist es Ihnen aus ihrer Sicht ergangen?«, stieg Langmut in das Gespräch ein und fuhr fort, ohne die Antwort abzuwarten.

»Mit welchen Vorstellungen für Ihre persönliche Zukunft und an unsere weitere Zusammenarbeit sind Sie hier? Was ist Ihnen wichtig?«

›Meine Vorstellung ist eindeutig. Ich will eigentlich nicht hier sein! Lasst mich doch alle in Ruhe‹, hätte Vanderlohs Antwort seine können.

Er sagte allerdings nichts, wartete passiv ab, was sein Therapeut ihm zu sagen hatte.

»Seit Ihrem Suizid-Versuch haben wir Sie medikamentös stabilisiert. Ich denke, dass es Ihnen damit gut geht, oder? Es wäre allerdings für Sie besser, bald auf diese starken Psychopharmaka verzichten zu können. Dafür haben wir gemeinsam versucht, die Ursache Ihres Leidens zu finden, um weitere Maßnahmen darauf abzustimmen. Wir haben eine Reihe von aufeinander abgestimmten psychologischen Tests mit Ihnen durchgeführt, die Sie alle mit Bravour gemeistert haben. Wenn Sie damit einverstanden sind, fasse ich die Ergebnisse und die ableitbaren Empfehlungen für Sie kurz zusammen.«

›Auf solchen Psychokram habe ich null Bock, aber nützt ja nix, ich muss da durch‹, ergab sich der geplagte mittelalte Mann in sein Schicksal.

»Ja, Herr Professor, wir machen das so. Lassen Sie uns das schnellstens durchziehen. Legen Sie los.«

»Sehr gut, Herr Vanderloh, das freut mich. Sie erinnern sich, nachdem Sie in der Lage dazu waren, haben wir uns in täglichen Gesprächen an die Ursache Ihrer Situation herangetastet. Mehrere Verhaltens-Diagnostische Übungen und die Auswertung dazugehöriger Fragebögen ergaben für uns ein Bild, das durch einen in der psychologischen Diagnostik anerkannten Intelligenztest abgerundet wurde. Ein Test, der sowohl Aussagen zulässt über Ihre kognitive Leistungsfähigkeit als auch Ihre emotionale Intelligenz bewertet.«

Der eigentlich unwillige Patient konnte sich erinnern, wie er in einen separaten Nebenraum an einen Rechner gesetzt wurde und sich innerhalb von maximal 60 Minuten mit dem elektronischen Frage- und Antwortspiel beschäftigen musste. Bereits nach der halben Zeit hatte er alle Aufgaben erledigt, fing an, sich zu langweilen, suchte vergebens auf dem Rechner nach einem Zugang ins Internet.

Das Ergebnis des IQ-Tests war dem Probanden von vorneherein klar, konnte nur ausgeprägte Hochintelligenz heißen.

Im heutigen Gespräch erwartete Vanderloh daher keine Überraschungen in dieser Beziehung, nichts, was ihm nicht sowieso bekannt war.

»Um Ihr komplexes Persönlichkeits-Gebäude zu verstehen, haben wir ein Adult-Asperger-Assessment durchgeführt und so unter anderem Ihren Empathie-Quotienten ermittelt, der nicht sehr ausgeprägt ist. Sagt Ihnen das Asperger-Syndrom oder genauer eine Autismus-Spektrum-Störung etwas?«

Der Patient schüttelte verneinend seinen Kopf, wechselte seine Mimik von interessiert nach irritiert.

»In unseren Gesprächen erzählten Sie mir von Ihrer Kindheit und Jugend, in der Sie als Sonderling galten«, fuhr der Therapeut fort. »Sie berichteten mir, dass Sie von Ihren Eltern und den Lehrern als schwieriges Kind eingestuft wurden. Ihre sozialen Kontakte waren nicht besonders ausgeprägt, körperliche Nähe vermieden Sie, die täglichen Abläufe mussten sehr strukturiert sein und Abweichungen davon belasteten Sie, machten Sie manches Mal sogar wütend«, der Professor suchte in Vanderlohs Augen nach Bestätigung dieser Aussagen, erhielt lediglich ein nachdenkliches Kopfnicken, mit dem er sich zufriedengab.

»Das ist das wichtigste Ergebnis unserer Diagnose. Haben Sie bis hierher Fragen? Falls nein, habe ich mir einen interessanten Punkt bis zum Schluss aufgehoben!«

Sein Proband sah ihn erwartungsvoll an, war nun neugierig geworden.

»Herr Vanderloh, Sie haben den Allzeit-Rekord bei IQ-Tests im UKE verbessert. Ihr Intelligenz-Quotient liegt bei einem Wert von über einhundertfünfzig. 153 genauer gesagt. Glückwunsch zu diesem fantastischen Ergebnis. Ich denke, dass könnte ein wichtiges Puzzle-Teil sein, um Ihre berufliche und private Situation zu verstehen«, jetzt strahlte Langmut eine Mischung aus Bewunderung für sein Gegenüber und Stolz auf seine gewonnenen grandiosen Erkenntnisse aus.

›Ich habe nichts anderes erwartet‹, grinste Vanderloh in sich hinein.

Der Professor konzentrierte sich wieder und machte mit seiner Zusammenfassung weiter.

»Sagt Ihnen das Boreout-Syndrom, quasi das Gegenteil des Burnout-Syndrom, etwas?«

›Boreout, wer braucht denn solchen Scheiß‹, fragte er sich, verzichtete auf eine Antwort. ›Sind das deutliche Anzeichen einer schwerwiegenden psychosomatischen Erkrankung, von der ich bedroht werde? Mach schon zu Alter, komm endlich zur Urteilsverkündung‹.

Professor Dr. Dr. habil. Thomas Langmut holte mehrmals tief Luft und fasste das Ergebnis der vergangenen drei Wochen zusammen.

»Herr Vanderloh, Sie sind eine besondere Persönlichkeit, geprägt durch außergewöhnliche Hochintelligenz, ausgeprägte Hochsensibilität und den Symptomen einer leichten Form von Autismus, also Sie sind eine Asperger-Persönlichkeit. Das erklärt auch, dass es Ihnen manchmal schwerfällt, anders gemeinte Informationen, die zwischen den Zeilen stehen, zu erkennen. Aus meiner persönlichen Sicht ist ASS nicht unbedingt als Krankheit zu verstehen. Allerdings muss ich mich an dieser Stelle als befangen outen, ich bin selbst ein bekennender Aspi, wie wir uns in unseren Kreisen nennen, in den Sie auf sehr bekannte Namen stoßen werden. Neben der Neu-Prominenten Greta Thunberg, sind oder waren Menschen wie Elon Musk, Bill Gates, Woody Allen, Bob Dylan, Albert Einstein und sogar Wolfgang Amadeus Mozart erfolgreiche ASS-Persönlichkeiten. Es gibt überraschend viele berühmte Autisten auf der Welt, aber auch allein in Deutschland über eine Million Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen. Viele davon leiden seit ihrer Jugend, bekamen aber nicht mal als Erwachsene die erlösende Diagnose. Sind also unerkannte Aspis.«

Vanderloh vermied ein allzu lautes Grinsen, hatte die Botschaft seines Gegenübers verstanden. Er gehörte zu einer Gruppe von Berühmtheiten, irgendwie jedenfalls, war kein Sonderling, sondern ein besonderer Mensch. Er wartete auf den finalen Rat des Profs, um aus dieser Erkenntnis etwas Sinnvolles abzuleiten.

»Herr Vanderloh, es ist mir absolut klar, dass jemand wie Sie, in einem langweiligen Job, der Sie unterfordert, auf Dauer verzweifeln muss und Sie zu Handlungsweisen bewegt, die Sie in anderen Umständen nie im Leben planen würden«, der Professor atmete tief durch.

»Ich kann Ihnen nur dringend ans Herz legen, sich eine neue Tätigkeit zu suchen, die Sie deutlich mehr fordert, die für Sie inhaltsvoller, sinnstiftender und einfach spannender ist.«

Könnte das der berühmte Schubser sein, der Impuls zur Veränderung, auf den der frustrierte Buchhalter schon lange gewartet hatte?

›Ja und, was soll ich mit dieser Information anfangen? Was nützt mir die? Was soll ich machen? Welcher Job könnte zu mir passen‹, fragte sich der verzweifelte mittelalte Mann und verließ die Klinik, ohne zu wissen, was er tun sollte.

Er hatte lediglich begriffen, dass er etwas an seinem privaten und beruflichen Leben verändern musste.

Immerhin!

Auf der Flucht

Vanderloh bemerkte auf dem Bahnsteig überwiegend wartende Menschen, die es wie er eilig hatten, um den Feierabend zu Hause zu genießen oder vorher noch schnell ein paar Kleinigkeiten zum Abendessen einzukaufen. Einige wenige übelgelaunte drängelnde Rentner mischten sich auch, unnötigerweise, wie er meinte, unter die wartende graue Masse. Die kampferprobten Senioren waren bereit, sich mit einer über Jahrzehnte antrainierten, Schlussverkaufs-Vordrängel-Technik unter Einsatz ihrer Ellenbogen rücksichtslos einen der wenigen freien Sitzplätze zu erobern.

Vanderloh brauchte nach einem Tag Bürostuhlhocken nicht unbedingt sitzen, hatte es daher nicht so eilig, in den Wagon zu kommen. Ihm reichte ein Stehplatz vollkommen, allerdings einer möglichst im Luftstrom der offenen Klappfenster. Er hatte heute Glück, brauchte nicht lange zu warten, hörte im nächsten Moment das ihm vertraute Geräusch des sich nähernden HVV-Zuges. Die ungeduldig wartende Feierabend-Gemeinschaft schien gleichzeitig in einer Art fremdgesteuerter Massenbewegung einen halben Schritt nach vorn zur Bahnsteigkante zu gehen. Vanderloh reagierte leider, wie meistens, mit zwei Sekunden Verspätung und stand auf einmal einsam und alleine in der zweiten Reihe des Bahnsteiges. Das erzeugte bei ihm ein Gefühl, das er kannte, es allerdings nicht mochte. Nein, es sogar hasste. Allein sein. Alleingelassen. Plötzliche Einsamkeit. Isoliert von der Allgemeinheit. Ein bedauernswerter Einzelgänger.

»Verdammte Scheiße«, murmelte er lauter als geplant in seine nur wenig vorhandenen Bartstoppel.

Der kaltgestellte Mann beobachtete den silbern glänzenden Lindwurm, der keuchend am Horizont erschien, nur langsam voran rödelte, endlich an seinem Haltepunkt laut quietschend zum Stehen kam. Die Türen wurden in aller Hektik zischend von innen ruckartig aufgerissen, Köpfe schauten blitzartig um Sauerstoff ringend nach draußen.

›Die Blechkiste ist scheinbar jetzt schon gerappelt voll und drinnen herrscht dicke Luft. Schnell noch etwas Sauerstoff in die Lunge ziehen und rein in den Wagon‹.

Leider spuckten die Eisenbahnwagen nur zaghaft ihr Transportgut aus. Die reisewillige Menschenmasse auf dem Bahnsteig erkämpfte sich schubsenderweise unter vollem Körpereinsatz eine optimalere Start-Positionen, drängelte rücksichtslos schimpfend und fluchend in die nach menschlichen Ausdünstungen stinkende Bahn.

›Es ist ein typisches Bild unserer Ellbogengesellschaft‹, registrierte der gequälte Feierabendflüchtling Vanderloh, schüttelte betroffen den Kopf. Er hatte sich fest vorgenommen, sich heute durchzusetzen, wie alle anderen seine Ellbogen und die Kraft von einhundert Kilo Manpower zu nutzen. ER machte sich Mut.

›Heute setze ich mich gegen diese verhasste Meute unnachgiebig durch. Jawoll, ich schaff das!‹

Doch bevor es zum Einsatz seiner durch Ordnerstemmen gestählten Muskelmasse kam, ließ er höflich, wie er nun mal leider erzogen war, eine junge Mutter vor, die ihr Baby mit beiden Händen schützend in einem Tragetuch vor dem Bauch hielt. Er konnte nicht anders, war ein Gentleman alter Schule. Die Frau bedankte sich freundlich und Vanderloh bekam gerade noch ein gepresstes »Dafür nich« heraus, als das Signal zur Abfahrt des Zuges ernüchternderweise ertönte, die Türen vor seinen glasigen Augen zugingen. Ihm blieb noch der Geruch nach sauer Aufgestoßenem des Frischlings in seiner empfindlichen Nase und die Erkenntnis, wieder einsam und verlassen als Einziger draußen vor dem abfahrenden Zug zu stehen.

›Verdammter Mist, nicht schon wieder‹, kritisierte ihn sein etwas zu klein geratener innerer Held. Der hoffte auf die nächste Chance, seine Heimreise anzutreten und nahm sich vor, diese Chance konsequent und äußerst rücksichtslos zu nutzen.

›Gleich werde ich es schaffen. Ich werde nicht mehr der Loser sein. Ich werde der Held der Feierabend-U-Bahn sein. Tschakka, du schaffst es Vanderloh, alter Sportsfreund, dein Weg ist dein Ziel!‹

Auch der nächste Zug, den der Feierabend-Krieger diesmal gefahrlos entern konnte, stank nach einer Mischung aus kalten Zigarettenrauch, Werftarbeiterschweiß, Resten von Leberwurstbroten und diversen Schnellimbiss-Gerüchen.

›Das mieft hier nach drei Tage alter Schimpansen-Kotze. Wie auch immer die riechen würde.‹

Sein empfindliches Riechorgan signalisierte Gefahr, zu Recht.

Vanderloh fühlte sich von diesen für ihn zu intensiven Gerüchen geradezu bedroht. Bedroht von den durchdringenden Ausdünstungen eines Arbeitstages, von der Enge des Raumes und der sich im Rhythmus der U-Bahn bewegenden Menschenmasse, die ihn wie eine aufkommende Tsunami-Welle immer wieder bedrohlich nahe kam.

Er betrachtete diese stinkende Menschenansammlung notgedrungen als einen Teil seiner Konfrontationstherapie, der verhaltenstherapeutischen Psychotherapie, die ihm sein Therapeut als probates Mittel gegen Ansätze einer Klaustrophobie empfohlen hatte.

›Dann soll sich Professor Dr. Dr. habil. Thomas Langmut doch selbst in diese brechend volle U-Bahn quetschen, anstatt sich mit seiner blonden Sprechstunden-Fee in seinen klimatisierten Mercedes zu lümmeln.‹

Bahnfahren ist Glücksache

Nach dem Umsteigen in die S-Bahn, die zum Glück oberirdisch fuhr, riss er sämtliche Klappfenster im Wagon auf und sorgte so für einen nennenswerten Luftaustausch, allerdings auch für ein brüllendes Rauschen, das sich für Vanderlohs Ohren wie ein startender Starfighter anhörte. Er versuchte, das Geräusch zu ignorieren und Ruhe zu bewahren. Das hätte sicherlich geklappt, wenn nicht der Halbwüchsige, der ihm direkt gegenübersaß, mit dem leise vor sich hin tropfenden Döner das Klima des geschlossenen Raumes nachhaltig belastet hätte. Das unüberhörbare genussvolle Schmatzen des jungen Mannes erzeugte bei Vanderloh unkontrollierbare Empörung, große Lust, ihn mutig direkt anzusprechen, ihn heldenhaft in aller Freundlichkeit zu bitten, sich woanders hinzusetzen.

Er tat es nicht.

›Dem hau ich gleich einen in die Fresse. Oder besser zwei. Oder drei!‹ verarbeitet er seine Wut in Gedanken.

Das waren noch die harmlosesten Racheflüche des durch dieses dermaßen rücksichtslose Verhalten dieses ungehobelten Flegels bis ins Mark getroffenen Gerechtigkeitsfanatikers.

Vanderloh ließ es auch heute sein, traute sich mal wieder nicht und ertrug das schweineähnliche Fress-Geräusch heroisch bis zum Endbahnhof. Leider stieg der junge Bursche, sich satt und zufrieden die Lippen leckend, auch erst an der Endhaltestelle Poppenbüttel aus.

›Nichts wie raus aus dem mobilen Ziegenstall. Endlich etwas bessere Luft.‹

Vanderloh atmete nach dem Aussteigen einen letzten Wutanfall unterdrückend tief durch, ließ allen seinen Mitreisenden den Vortritt, schlenderte ganz in Ruhe abseits aller Hektik zur Rolltreppe, wartete, bis er das stählerne Transportmittel für sich ganz alleine hatte und freute sich, es gleich geschafft zu haben.

Wieder einmal war das tägliche Martyrium überstanden, die dramatische Flucht ins eigene Heim bis hierher geglückt, ohne weitere Verletzungen die Bahnfahrt überstanden, weder seelische noch körperliche Wunden davongetragen.

›Der schlimmste Teil meiner täglichen Mission Impossible ist geschafft. Jetzt nichts wie rauf auf mein neues Fahrrad und ab nach Hause.‹

Er hatte vor, sich den letzten Rest des Alltagsfrustes abzustrampeln und voll motiviert die finale Etappe seiner Flucht erfolgreich zu bewältigen.

›Endlich den Fahrtwind in meinen restlichen paar Haaren spüren. Tschakka. Vanderloh, du schaffst das.Du wirst ein Held.‹

Entwendet

Vanderloh freute sich auf sein silberglänzendes Trekkingbike von Hercules, das er sich als Pedelec von seiner zur Seite gelegten Reserve für schlechte Zeiten oder Unvorhersehbares gegönnt hatte. Bummelig fünf große Scheine hatte er geopfert. Dafür brachte ihn das Teil direkt zurück auf die Siegerspur. Mit dem Elektroantrieb war er schneller als die meisten seiner Konkurrenten auf dem Radweg in Richtung Norden. Das Gelbe Trikot der Tour de l'Alstertal war ihm meistens sicher und das genoss er mit dem Gefühl endlich ein Siegertyp zu sein.

›Als Abschluss meiner täglichen Büroflucht brauche ich jetzt ein Erfolgserlebnis.‹

Er versuchte sich selbst zu motivieren, ging zu der neugestalteten Bike+Ride-Anlage direkt hinter dem Bus-Bahnhof und suchte sein neues zweirädriges Fortbewegungsmittel. Seine große Herausforderung war lediglich, sein teures Rad zu finden. Wo hatte er das gute Stück heute Morgen in aller Eile angeschlossen? Ziemlich weit hinten, überlegte er? Oder doch in der Mitte? Er glaubte, es gefunden zu haben, aber es war ein anderes, lediglich ähnliches Elektro-Bike. Nach einer halbstündigen verzweifelten und ungläubigen Suche gab er auf. Es war nicht zu leugnen.

›Verdammter Mist. Das Teil ist geklaut. Trotz doppeltem Sicherheits-Faltschloss.‹

Kurz vor einem Heulkrampf drehte sich das Diebstahlsopfer tief enttäuscht um, stützte sich für einen Moment, einem Zusammenbruch nahe an den Metallpfosten der Fahrradgarage ab und ging voller Wut im Bauch wieder einmal den inzwischen gewohnten Gang zur praktischerweise gegenüberliegenden Polizeiwache.

Vanderloh betrat mit einem fast lautlosen »Moin« den nach Linoleum riechenden, getäfelten Vorraum der Stadtteil-Wache Poppenbüttel, dem Polizeikommissariat 35 oder kurz PK35. Der wachhabende Beamte, Hauptwachtmeister Schneider, erkannte ihn sofort und begrüßte ihn freundlich wie einen alten Bekannten, sprach ihn mit Namen an. Das war dem armen Opfer einer sicherlich gut organisierten Diebesbande sichtlich peinlich, er hätte gerne auf diesen Bekanntheitsgrad verzichtet.

»Na, Herr Vanderloh, hat sich mal wieder jemand ihr Fahrrad ausgeliehen?«

Jetzt auch noch konzentrierter Spott. Das Grinsen des Polizisten war für Vanderloh unerträglich, verursachte ihm körperliche Schmerzen. Er stutzte und musste die Worte des Polizisten für sich verarbeiten.

»Ausgeliehen würde ja bedeuten, dass der Dieb es zurückbringt«, erwiderte Vanderloh im vollen Ernst, mit nachdenklichem Blick und in Falten gelegter Stirn.

Schneider kannte dieses Verhalten seines Stammkunden und ging nicht darauf ein, sondern hackte staccatoartig auf seiner Tastatur herum und blickte schmunzelnd auf seinen Bildschirm. Die persönlichen Daten des Bestohlenen waren schon lange im System quasi als Favorit gespeichert und so füllte der gutgelaunte Polizist die Diebstahlsanzeige routiniert aus.

»Jetzt brauche ich nur noch die genauen Angaben zu dem gestohlenen Rad und dann sind wir fertig. Sie sind ja Wiederholungs-Täter, Herr Vanderloh. Das erspart uns enorm viel Zeit.«

Dafür nicht, dachte Vanderloh, mit Grummeln im Bauch, gab ihm die gewünschten Daten und schlich frustriert zum Bus.

Belastende Headline

Während seiner Heimfahrt dachte der mittelalte Mann darüber nach, wieso er laut dem Polizisten ein Täter sein soll, sogar ein Wiederholungs-Täter? Er war doch schließlich der Bestohlene, das eindeutige armselige Opfer, die beklagenswürdige Gestalt. Hatte der Beamte möglicherweise etwas falsch verstanden? Sehr seltsam. Da muss ich morgen unbedingt noch mal mit ihm schnacken, diesen Irrtum auf alle Fälle aufklären. Das geht ja gar nicht, geht das nicht.

›Oder hatte Hauptwachtmeister Schneider das gaaanz anders gemeint?‹

Um sich abzulenken, kaufte er am Bahnhofskiosk schnell noch eine Morgenpost, die an einem späten Nachmittag ihrem Namen nicht wirklich Ehre machte, aber egal, dachte Vanderloh. Eigentlich interessierte ihn nur der Sportteil, genauer gesagt ›Nur der HSV‹, aber heute blieb er bereits auf der Titelseite bei einem Polizeibericht hängen.

›Oha, was ist denn da Schlimmes passiert?‹, überflog er neugierig geworden den Artikel.

ERST BETROGEN, DANN ERMORDET

lautete die unübersehbare fette Schlagzeile.

Berichtet wurde von miesen Trickbetrügern, die sich alten Menschen gegenüber als Polizisten ausgeben, ihnen vorgaukeln, dass es Räuber auf ihr Bargeld und ihren Schmuck abgesehen haben. Die Betrüger bieten an, alle Wertgegenstände abzuholen und sicher zu verwahren. Die falschen Polizisten klingeln kurz darauf bei ihrem Opfer, greifen sich alles Wertvolle und verschwinden damit auf Nimmerwiedersehen. Bei einer achtzigjährigen Frau in Poppenbüttel klappte dieser Trick nicht, sie stutzte wahrscheinlich bei dem Verhalten des falschen Polizisten, wurde wohl misstrauisch, wollte sofort die 110 anrufen, drohte dem unechten Beamten mit einer Anzeige, ihn ins Gefängnis zu bringen. Dazu hatte der getarnte Gangster keine Lust, schlug ohne Vorwarnung brutal zu, sodass die alte zierliche Dame mit voller Wucht gegen eine Kommode knallte und bewusstlos liegenblieb. Eine direkte Nachbarin wurde zur Ohrenzeugin des Verbrechens, konnte durch die dünnen Wände des Fünfzigerjahre-Baus das ganze Drama mitbekommen, rief sofort die Polizei und meldete den Vorfall.

Dem Betrüger war es offensichtlich egal, was er angerichtet hatte. Er überließ die arme alte ohnmächtige Frau ihrem Schicksal, verließ den Ort seines Verbrechens, verschloss nicht einmal die Haustür hinter sich.

Der Peterwagen und der Notarzt kamen nicht mehr rechtzeitig, die Rentnerin stand nie wieder auf, erlag noch vor dem Eintreffen der Helfer ihren schweren Verletzungen.

Die Polizei bittet in diesem Zusammenhang auf erhöhte Aufmerksamkeit.

Bitte warnen Sie ältere Mitbürger vor dieser dreisten Masche.

›So ein mieses Schwein. Den sollte man lebenslänglich hinter Gittern bringen. Besser noch, ihn auf einer einsamen Insel im Ozean aussetzten. Das spart wenigstens Steuergelder!‹

Vanderloh war wütend und absolut erschüttert, dachte an seine eigene schon ältere Mutter. Was wäre, wenn bei ihr solch betrügerisches mieses Subjekt an der Tür klingeln würde?

Er nahm sich vor, seine alte Dame so bald als möglich zu informieren und so dem Verbrecher zuvorzukommen. Mehr konnte er im Moment nicht tun. ›Was kann ein grauer Buchhalter mit Tendenzen zum Asperger-Syndrom schon gegen solch einen brutalen Gangster unternehmen?‹

Die Antwort auf seine Frage bekam er einen Tag später.

Und Action

Vanderloh ging die arme alte Dame und die Umstände ihres Todes nicht aus dem Kopf.

›Da muss man doch etwas unternehmen, den Täter überführen, einfangen, lebenslänglich wegsperren.‹

»Diese miese Ratte sollte ein für alle Mal in der Kanalisation verschwinden«, erzählte er in einem seiner eher seltenen Versuche von Small Talk seinem Sitznachbarn in der S-Bahn, der sich ebenfalls laut über diesen Verbrecher aufregte.

»Die alten Menschen müssen unbedingt vor solch einem Verbrecher geschützt werden«, erwiderte seine Zufallsbegegnung etwas vornehmer.

Von seinem Büro aus recherchierte Vanderloh am Vormittag die Telefonnummer des Verfassers des Artikels in der Morgenpost, der über diesen Betrug und den brutalen Mord in Poppenbüttel berichtet hatte. Er fand heraus, dass es sich um Dieter Beck von der Alstertaler Lokalredaktion handelt und ließ sich zu ihm durchstellen. Beck meldete sich etwas verschlafen, brubbelte etwas mit deutlichem Berliner Dialekt und verstand zuerst nicht, was der unbekannte Anrufer von ihm wollte.

»Wat wollen se? Verbrecher fangen? Räuber und Jendarm spielen? Na klasse. Und dafür rufen sie mich mitten in der Nacht mittags um Elwe an?«

Vanderloh unterbrach den Redeschwall des Journalisten, bevor dieser auflegen und das Gespräch beenden konnte.

»Ich möchte lediglich potenzielle Opfer, ältere Damen und Herren in meinem Umfeld warnen, darauf vorbereiten, wie sie sich zu verhalten haben, falls dieser Betrüger sich bei ihnen meldet.«

»Jetze versteh icke. Das ist jut. Wie kann ich ihnen dabei helfen?«

»Indem sie mir etwas mehr erzählen, wie der Verbrecher vorgegangen ist und an wen sich mögliche Betroffene bei der Polizei wenden sollten, falls der Gauner sich bei ihnen meldet. Gibt es dort einen Ansprechpartner?«

»Allet klaro. Det iss so. Es beginnt in der Regel mit einem Anruf, der das Opfer einschüchtern soll, ihm ordentlich Angst macht. Der Ganove behauptet, dass sich eine Diebesbande in der Gegend seines Opfers rumtreiben würde, von dieser Truppe hat die Polente eine Liste jefunden. Auf der steht auch Name und Adresse des neuen Opfers drauf. Die Leute werden also sehr jeschickt breitjequatscht, ihnen wird mächtig Angst einjejagt. Sie sitzen nun zitternd in ihrem Zuhause und wissen nicht, was sie machen sollen. Wenige Minuten später klingelt es an der Haustür, eine vertrauenerweckende Gestalt, schnieke anjezogen, mit Anzug und Krawatte, stellt sich als Kripobeamter vor, zeigt einen gefälschten Dienstausweis und der perfide Plan nimmt seinen Lauf.«

»Okay, das habe ich verstanden. Sie wissen sicherlich, wo der Täter zum letzten Mal zugeschlagen hat, oder?«

»Ja klar, nachdem er in Poppenbüttel die alte Dame auf dem Gewissen hatte, dachten alle, er würde fürs Erste untertauchen, pausieren, verduften. Weit gefehlt, Herr Kommissar. Aktuell haben sich neue Opfer aus Sasel, Bergstedt und Umgebung gemeldet, die den fiesen Rentnerschreck eindeutig beschrieben haben. Groß, dunkelhaarig, sportliche Figur und ein fast akzentfreies Deutsch. Mehr kann ich ihnen leider auch nicht verraten. Wenn sie mehr wissen wollen, müssen sie sich direkt an die Bullerei wenden.«

»Vielen Dank, Herr Beck. Das genügt mir erst einmal. Ich werde mit dieser Information einige potenzielle Opfer in meiner persönlichen Umgebung warnen. Wenn ich etwas mitbekomme, informiere ich sie.«

»Tschüss Herr Vanderloh. Danke, das wäre nett. So machen wir das.«

Vanderloh beschloss, sofort nach Feierabend seine Eltern persönlich zu informieren und stieg am Hauptbahnhof direkt in die U1 nach Volksdorf, stieg extra eine Station früher aus.

Anti-Held

Die letzten Schritte durch den Volksdorfer Wald genoss der gestresste Finanzexperte, atmete mehrmals die herrliche Luft tief ein, beherrschte sich gerade noch und verzichtete darauf, eine der alten Buchen zu umarmen.

›Waldbaden ist zwar in Mode, aber mit einem Baum knutschen geht mir zu weit, so doll liebe ich mein altes Revier auch wieder nicht.‹

Bereits vor dem Haus seiner Eltern, einer typischen Hamburger Kaffeemühle, hörte er durch die geöffneten Flügelfenster das Gegacker im Inneren der alten Villa. Er besaß zwar einen Schlüssel, zog es höflichkeitshalber vor, die Klingel zu benutzen. Einmal kurz. Zweimal kurz. Dreimal kurz und zweimal lang. Erst nach mehrmaligen intervallartigen Betätigen des Klingelknopfs öffnete ihm sein alter Herr, dem er am Gesicht ansah, dass er ziemlich genervt war. Als er seinen Sohn erkannte, war er darüber erleichtert, dass nicht noch eine alte Kaffeetante um Einlass bettelte, sondern ein Gleichgesinnter vor ihm stand. Sein Gesichtsausdruck ging über in ein entspanntes Strahlen.

»Endlich ein männliches Wesen als Verstärkung«, seufzte er voller Verzweiflung. »Dich schickt der Himmel. Komm rein, Junge und rette mich vor diesen kaffeeschlürfenden Walküren.«

Beim Betreten der geräumigen Diele vernahm Vanderloh bereits den Klang zusammenstoßender Likörgläser, ein lautes Scheppern in unterschiedlichen Tonlagen, je nach Füllstand der gut beschäftigten Trinkgefäße. Das anschließende gesungene ›Ein Prosit der Gemütlichkeit‹ deutete darauf hin, dass diese Alt-Damen-Party sich bereits in einem gefährlich fortgeschrittenen Zustand befand. Das laute Juchzen und Kreischen der anwesenden Damenwelt versetzte auch Vanderloh Junior in Angst und Schrecken. Ihn ergriff dieselbe Panik wie seinen Vater. Fluchtgedanken stiegen in ihm hoch. Reitende und feiernde Walküren sind bekannterweise unberechenbar und wirken auf die meisten Männer furchteinflößend. Mit Recht!

›Ich hasse besoffene Weiber jeglichen Alters. Auch, wenn eine davon meine Mutter ist.‹

Vanderloh Senior versuchte seinen Jungen vorsichtig, ohne dass seine Mutter es bemerkte, in sicheres Terrain zu bringen. Er wollte ihn unauffällig in sein Arbeitszimmer lotsen, doch vergeblich, es war zu spät.

»Zurück! du rettest den Freund nicht mehr, so rette das eigene Leben,« hörte er seinen alten Herren murmeln, bevor sich dieser rechtzeitig verdünnisierte.

Die Mehrzahl der likörtrinkenden Freizeit-Walküren war dramatischerweise im selben Moment dazu bereit, ihren Heimritt anzutreten und strömte bereits gackernd zum Garderobenschrank, in den sich der Sohn des Hauses gerne spontan verkrochen hätte. Die Erste der aufbrechenden Damen des illustren feuchtfröhlichen Kaffeekränzchens entdeckte ihn, erstarrte für Sekunden, strahlte ihn an und kreischte sirenenhaft los.

»Schau doch mal, Magdalein, dein braves Söhnchen ist gerade gekommen!«

Dann stürzte diese Old Lady, die den kleinen Vanderloh von Kindheit an kannte, auf den erschrockenen, nicht mehr ganz jungen Mann zu. Der schaffte es im letzten Augenblick sich mit einem Hüftschwung an der alten Dame vorbeizuschlängeln, sich ihrer vermeintlich todbringenden Umklammerung und ihrer feuchten Küsse auf die Wangen zu entziehen und sich in das mutmaßlich sichere Wohnzimmer zu retten.

›Wie war das mit dem Regen und der Traufe?‹

Seiner Mutter und ihrer herzlichen Umarmung konnte er unmöglich ausweichen, aber vor den restlichen betagten Fräuleins und ihrem Kukident-Lächeln fand er hinter dem monströsen altdeutschen Esstisch aus Eichenholz sichere Deckung, atmete erleichtert auf.

›Gerettet. Ich bin in Sicherheit.‹

Um sich trotz des allgemeinen Geschnatters Gehör zu verschaffen, klatschte er zweimal sehr laut in die Hände, nutzte die Gunst der Stunde, um seine Warnung zu platzieren.

»Meine Damen«, begann er mit lauter und betont deutlicher Stimme seine spontane Rede. »Es trifft sich gut, sie alle hier anzutreffen. Ich habe eine wichtige, eine geradezu überlebenswichtige Information für sie. Es geht um einen gefährlichen Trickbetrüger, der sich in unserer Gegend rumtreibt und alte Menschen um ihr Erspartes bringt. Vielleicht haben sie bereits in der Zeitung von dem Verbrechen gelesen, das sich in Poppenbüttel zugetragen hat.«

Einige der Grauköpfe nickte betroffen. Die Stimmung kippte augenblicklich.

Vanderloh nahm das als Zustimmung und erzählte ausführlich, wie es der armen alten Rentnerin aus dem benachbarten Stadtteil ergangen ist, schilderte bildhaft und gestikulierend die miese Methode des grausamen Verbrechers und wollte gerade seine Empfehlung aussprechen, wie sie sich in diesem Fall verhalten sollten, da jammerte eine der leicht angetüdderten Damen laut und mit viel Angst in ihrer Stimme los.

»Oh Gott, oh Gott, oh Gottogottogott. Da sagen sie ja was. Dieser Gauner hat wohl heute Vormittag bei mir angerufen, sich als Kriminalbeamter ausgegeben, mich vor einem herumvagabundierenden Gangster gewarnt, der es auf mein Geld und meinen Schmuck abgesehen hat. Der Polizist wollte sofort kommen und bot freundlicherweise an, meine Schätze in Sicherheit bringen. Weil ich ja nun hier her wollte und dann nicht zu Hause wäre, wollte er um zwanzig Uhr vorbeikommen. Oh Gott, oh Gott, oh Gottogottogott. Was soll ich nun bloß machen?«

Vanderloh Junior war sprachlos vor Schreck, überlegt, was zu tun wäre.

›Scheibenhonig, verdammter. Ich wollte nie ein Held sein, aber nu muss ich wohl.‹

Vanderloh schaute nachdenklich auf seine goldene TIMEX-Armbanduhr, die er vor über dreißig Jahren zur Konfirmation geschenkt bekommen hatte. Ihm wurde mit Schrecken bewusst, dass es bereits kurz vor halb acht war. Verdammt. Watt nu? Er handelte nach kurzer Überlegung für seine sonst weniger spontane Art ungewöhnlich mutig und entschlossen.

›Geradezu wagemutig‹, fand Vanderloh Junior jedenfalls.

»Ich schlage Ihnen vor, dass ich Sie begleite, wir anschließend die Polizei informieren, sobald wir im Haus sind und so dem miesen Betrüger eine Falle stellen. Die lassen wir klack-klack einfach zuschnappen und der Kerl landet stante pede hinter schwedischen Gardinen. Ab nach Fuhlsbüttel, wo er hingehört.«

Die geschlossene Damenrunde applaudierte sofort begeistert und stehend. Vorschusslorbeeren in Form von Standing Ovation für den mutigen, kampfbereiten Vorstadt-Helden.

Applaus, Applaus.

›Was habe ich mir da bloß eingebrockt? Verdammte Axt!‹

Die Falle steht

Vanderlohs alter Herr ließ sich von seiner Frau und dem Junior nicht davon abbringen, bestand leider drauf, in Begleitung seiner ölglänzenden doppelläufigen Schrotflinte mitzukommen und den Gauner, falls nötig, damit in Schach zu halten.

Das hätte der Initiator der Aktion, sein Sohn, gerne verhindert.

›Der Alte hält sich wohl für John Wayne in seinen besten Jahren. Wenn das man bloß gutgeht.‹

»Aber pass bitte auf, dass du nicht einem von uns eine Ladung in empfindliche Körperteile verpasst.«

»Keine Angst, ich habe Erfahrungen mit der Schwarzwildjagd«, dann grinste er. »Diese miese Wildsau holen wir uns.«

Vanderloh, der siegesgewisse Held der Stunde, stimmte dem Unvermeidbaren zu und Vater und Sohn gingen als Bodyguards der über achtzigjährigen Frau Brinkmann, so hieß das potenzielle neue Opfer, in ihr zwei Straßen weiter liegendes Haus. Von hier aus informierte Vanderloh die Polizei, bat um Unterstützung von Beamten in Zivil und wartete gemeinsam mit seinem alten Herren gut versteckt in einer Abstellkammer auf die Dinge, die da kommen sollten, also den mörderischen Betrüger.

›Auf dessen dusseliges Gesicht freue ich mich jetzt schon.‹

»So, jetzt kann der Spacken kommen«, sagte der Jüngere der beiden Fallensteller, bereit zum knallharten Handeln. Es war keine Minute zu früh.

Der Trickbetrüger war erstaunlich pünktlich, klingelte exakt um acht Uhr an der Haustür. Frau Brinkmann zuckte zusammen, wurde kreidebleich, war mächtig aufgeregt, ging zitternd zur Tür, öffnete diese vorsichtig und bat den imponierend großgewachsenen jungen Mann mit zarter Stimme in ihre gute Stube zu kommen. Der Ganove zögerte einen kurzen Moment, stutze etwas, blickte sich vorsichtig um.

»Ob der miese Kerl den Braten riecht«, flüsterte Vanderloh Senior leise.

Sein Sohn schüttelte lediglich verneinend seinen Kopf.

Der unberechenbare Gauner war nervös, hatte es plötzlich sehr eilig, bat die verängstigte alte Dame ohne Umschweife darum, schnellstens alle Wertgegenstände, Geld und Schmuck in einen Jute-Sack einzupacken, den er ihr in die Hand drückte. Frau Brinkmann nahm den Beutel mit zitternden Händen entgegen, ging damit, wie vorher mit ihren Beschützern abgesprochen, nach nebenan in ihr Schlafzimmer, kramte lange laut vor sich hin brabbelnd in einer Nachttischschublade herum, bemerkte noch rechtzeitig im Augenwinkel, wie der Gangster, der im Flur stehen geblieben war, immer hibbeliger wurde, nervös von einem Fuß auf den anderen tänzelte und scheinbar dazu ansetzten wollte, ihr in das Zimmer zu folgen und ihr zu helfen, wie auch immer.

Die Art seiner geplanten Hilfe sollte allerdings eine ziemlich mörderische, radikale und endgültige sein. Seine Hand wanderte unauffällig langsam unter sein Jackett. Er griff sich das darin verborgene dolchartige Jagdmesser und machte zwei Schritte auf sein Opfer zu. Die Waffe hatte ihm bereits einige Tage zuvor als starkes Argument gedient, um seine Opfer zu motivieren, seine Beute schneller einzusacken. Er umklammerte mit seiner kräftigen und stark behaarten Hand den Griff aus Hirschhorn, scheinbar dazu bereit, sein bevorzugtes Mordwerkzeug einzusetzen und zog den Dolch ruckartig hervor und drohte damit, der armen Frau die Klinge mit gestrecktem Arm in den Körper zu rammen.

Die alte Frau Brinkmann bemerkte seine perfide Absicht, schrie laut auf, zitterte am ganzen Körper, drohte ohnmächtig zu werden und der Länge nach umzukippen, brachte gerade noch mit zarter Stimme ein leise gehauchtes »Hilfeee« heraus.

Ihr Peiniger hatte mit einer derartigen Reaktion gerechnet, richtete sich zu voller Größe auf, wirkte so noch bedrohlicher, noch aggressiver, schrie nun sogar die arme alte Frau an, die einer Ohnmacht noch näher war.

»Her mit der Kohle, aber zackig. Und mit dem Schmuck auch. Wo sind deine Sparbücher? Alles rein in den Sack, aber schnell, wenn ich bitten darf, sonst helfe ich dir gerne auf meine Art nach, gute Frau. Das willst du bestimmt nicht!«

In ihrem Versteck erstarrten die beiden Vanderlohs für einen kurzen Augenblick. Der Senior reagierte als Erster und machte sich bereit, seine Deckung zu verlassen.

»Nun geit dat los«, gab er wie aus seinen aktiven Tagen gewohnt das Kommando.

Vanderloh Junior war diesmal schneller, sprang mit zwei langen Schritten aus seiner Deckung heraus, begleitet von einem in langen Jahren als Aikido Kämpfer antrainierten brachialen Kampfschrei, der Oda Nobunaga, den bekanntesten japanischen Samurai, mit Stolz erfüllt hätte. Mit einem kräftigen Ruck zog er die meuchelnde Hand des irritierten Killers zusammen mit dem Messer mit Kraft nach hinten, es gab ein widerlich knackendes Geräusch, der Gangster jaulte wie eine verletzte Wildsau, ließ sein Mordwerkzeug notgedrungen fallen, reagierte, nun unbewaffnet, blitzartig, holte reaktionsschnell zum Gegenschlag aus und versuchte dem Junior seine zur Faust geballte behaarte Pranke ins Gesicht donnern. Im ersten Versuch traf er lediglich die Schulter seines Gegners, der zweite streifte Vanderlohs Wange und verpuffte hinter seiner Ohrmuschel. Der so malträtierte reagierte nun seinerseits mit einer eleganten Seitwärtsbewegung und schaute dem verblüfften jungen Mann mit einem diabolischen Grinsen in dessen vor Wut verzerrtes Gesicht.

»So sieht also das miese Schwein aus, das alte Damen beklaut und umbringt. Dein Zimmer im Knast ist für die nächsten zwanzig Jahre gebucht. Das wars, du stinkende Ratte.«

Der Übertölpelte schaute ihn verdutzt an, schnallte allmählich, dass er in einer ziemlichen Klemme saß, wollte trotzdem nicht aufgeben, versuchte sich schnell mit einem Sprung in den Flur zu retten, was misslang. Oma Brinkmanns Fünfzigerjahre Flurgarderobe machte seinem Fluchtversuch ein jähes Ende. Der Verbrecher verhakte sich an einem der messingfarbenen Kleiderhaken, riss das guterhaltene Stück Möbel aus seiner Wandbefestigung heraus, und war Sekunden später überdeckt von mehreren Mänteln und Jacken, sowie diverser altmodischer Kopfbedeckungen der älteren Dame.

Hustend und fluchend sprang der Kerl erneut hoch, wollte einen zweiten Versuch starten, die Haustür zu erreichen, der wiederum misslang.

Diesmal hörte der Ganove das laute Klicken einer entsicherten doppelläufige Jagdflinte, die ihm unsanft in die Rippen gestoßen wurde, sodass er es vorzog, doch noch etwas zu bleiben.

»Auf die Knie, Halunke«, zitierte Vanderloh Senior aus irgendeinen Sechzigerjahre-Western mit lauter theatralischer Stimme.

›Also doch John Wayne. Der Alte ist doch fitter, als ich dachte.‹

Der schockierte Gauner nahm die Hände hoch, signalisierte zumindest, dass er sich ergeben würde, faselte dabei etwas von einem entsetzlichen Missverständnis.

Doch das war lediglich der Versuch eines Ablenkungsmanövers. Er wollte sich noch nicht geschlagen geben, schlug dem Senior die Flinte mit der linken Hand nach oben und versuchte ihn mit der rechten Faust niederzuschlagen.

Vanderloh Junior griff erneut ein.

»Ganz ruhig, du dreckiger Halunke, das solltest du erst gar nicht aus-probieren. Das klappt nicht!«

Der böse Bube konnte nicht mit der durch jahrelanges Aikido Training eingeübten Reaktionsfähigkeit des Juniors und der lebensbedrohlichen Entschlossenheit des jagderfahrenen Seniors rechnen, der kurzerhand seine Jagdwaffe abfeuerte. Die Flinte ging mit einem infernalen Knall los, ballerte dabei unvermeidbar die erste von zwei Schrotladungen in die wertvolle getäfelte Holzdecke. Den noch qualmenden Gewehrlauf rammte er seinem Gegner gegen die Nase, was zum zweiten Mal ein widerlich knackendes Geräusch erzeugt wurde.

»Da, wo du hingehst, haben alle ein eingedelltes Nasenbein. Das fällt nicht weiter auf«, kommentierte der ältere der beiden Verbrecherjäger grinsend seine etwas zu brutale Attacke.

Der so deformierte junge Mann sah die Sinnlosigkeit seiner Gegenwehr ein, schrie laut vor Wut und Schmerzen, beschimpfte seinerseits seine beiden Gegner.

»Ich schlag euch alle tot. Irgendwann. Ihr Schweine. Ihr Missgeburten. Ihr räudigen Hunde.«

Vanderloh nutzte die Wehrlosigkeit des zur Salzsäule erstarrten Betrügers, um ihm beide Arme auf den Rücken zu drehen, ihn so zu fixieren, dass jeder seiner weiteren Befreiungsversuche ihn zu unmelodischen Schmerzensschreien und tränenden Augen veranlasste.

Der Gangster ergab sich knurrend und mit vor Hass glühenden Augen in sein Schicksal. Das war auch besser so.

»Ruhig, Brauner, brrr …« spottete Vanderloh Senior und bohrte dem Gefangenen mitleidslos den Gewehrlauf mehrmals versehentlich mit voller Kraft in die Magengrube, was weitere dumpfe Schmerzensschreie auslöste.

»Das musste jetzt mal sein«, begründete er seine individuelle Art und Weise einer verdienten Bestrafung.

Mit leichter Verspätung und doch gerade im richtigen Moment klingelten zwei Polizisten in Zivil an der Tür der alten Dame, die sich ein Beruhigungslikörchen genehmigt hatte. Sie war nun vorsichtig geworden und ließ sich die Ausweise der Beamten zeigen, bevor sie ihnen die Tür mit Schwung weit öffnete.

»Kommen sie rein, meine Herren, in die gute Stube. Sie kommen zwar spät, aber nicht zu spät. Die Arbeit ist bereits erledigt und sie brauchen nur noch den Dreck wegbringen und fachgerecht entsorgen. Das ist Sondermüll, wenn ich mich nicht irre.«

Der Missetäter wurde mittels einer stählernen Acht dingfest gemacht, am nächsten Tag einem Richter vorgeführt, wohl mindestens die nächsten zwanzig Jahre bei freier Kost und Logie in Fuhlsbüttel residieren und fürs Erste keine alten Menschen mehr um ihr Erspartes bringen.

Bereits in ihrer Nachtausgabe berichtete die Hamburger Morgenpost in mitreißenden Worten von dem heroischen Einsatz von Vater und Sohn V. aus Volksdorf, die den Mörder von Poppenbüttel unschädlich gemacht hatten. Der Redakteur Dieter B. hatte einen zeitnahen Tipp bekommen und den Artikel rechtzeitig auf der Leitseite platzieren können.

DIE HELDEN VON VOLKSDORF war dort zu lesen.

Vanderloh war stolz und glücklich über seinen Erfolg.

»Das war ein guter Job, Digga«, rühmte er sich selbst, genoss die allgemeine Anerkennung und war das erste Mal seit langer Zeit mit sich und seiner Welt zufrieden.

Mutter Vanderloh lobte ihn aus vollem Herzen, war natürlich auf ihre beiden Männer stolz, sehr stolz sogar, kochte als Anerkennung ihrer tollen Leistung für Vater und Sohn ihren Lieblingspudding, außer der Reihe. Schokolade mit Mandeln.

Legger!

Für Vanderloh, den eher introvertierten menschenscheuen Buchhalter, war es ein völlig neues Gefühl, Menschen durch seinen persönlichen Einsatz geholfen zu haben. Geholfen nicht beim Steuersparen oder beim Finanzamtsbescheißen, wie sonst, sondern davor zu bewahren, einem heimtückischen Verbrecher zum Opfer zu fallen. Mehr Bestätigung konnte es für ihn nicht geben.

In ihm wuchs zum ersten Mal die Überlegung, so etwas in dieser Art beruflich zu machen.

›Menschen helfen. Menschen vor Unheil bewahren. Das wäre mein Ding, klasse wäre das!‹

Aber, was könnte er als mittelalter, leicht übergewichtiger Mann mit der Persönlichkeit eines anerkannten Autisten schon machen? Für eine Tätigkeit bei der Polizei oder der Feuerwehr war er zu alt, zu fett und überhaupt. Es war zu spät für eine Umschulung.

Er kam mächtig ins Grübeln.

›Irgendwas geiht immer‹, machte sich Vanderloh selbst Mut.

Restart, aber bidde schnell

›Wer anfängt, über Veränderungen nachzudenken, hat bereits den ersten Schritt dazu getan‹, las Vanderloh in seinem Tageshoroskop in der Hamburger Morgenpost.

»Das stimmt bestimmt«, kommentierte er selbst dieses Zitat, das hochwahrscheinlich von Konfuzius oder einem anderen weisen Menschen der Vergangenheit geklaut war.

›Veränderung tut Not‹, war Vanderlohs aktuelles Motto und er begann mit der Neugestaltung seines Lebens. In allen Dingen war er immer schon gründlich und systematisch und fing damit an, seine persönliche Bilanz über sein Berufsleben zu ziehen.

---ENDE DER LESEPROBE---