Vanessa und das Lied der Vergangenheit - Sofie Krüger - E-Book

Vanessa und das Lied der Vergangenheit E-Book

Sofie Krüger

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Beschreibung

Die Reise geht weiter! Vanessa hat viel verloren – und noch mehr zu gewinnen. Als Heilige wider Willen trägt sie eine große Hoffnung in sich: Frieden zwischen den Königreichen der Menschen, Schattenwesen und Lichterwesen. Doch auf dem zweiten Versuch ihrer Reise geraten sie und ihre Gefährten erneut zwischen Machtspiele, uralte Geheimnisse und ihre eigenen Zweifel. Ein verwegener Elf, ein unnachgiebiger König, eine betörende Sirene und eine vergessene Kirche – alle sind Teil eines Schicksals, das sich nicht aufhalten lässt. Während sich dunkle Wolken über den Reichen zusammenziehen, bleibt Vanessa nur eines: weitergehen. Eine Geschichte von Hoffnung und Enttäuschung. Und von der Kraft, dazwischen nicht unterzugehen.

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EPUB
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Seitenzahl: 174

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Wüstenfuchsverlag

Vanessas Abenteuer

Band 1: Vanessa im Königreich der Lichter

Band 2: Vanessa und der Leopardenfluch

Band 3: Vanessa und das Lied der Vergangenheit

Sofie Krüger

Vanessa

und das Lied der Vergangenheit

Mit Illustrationen der Autorin

© 2025 Sofie Krüger

Coverdesign von: Sofie Krüger (@mary_bones_arts)Illustriert von: Sofie Krüger (@mary_bones_arts)

Verlagslabel: Wüstenfuchsverlag

ISBN Softcover: 978-3-384-64449-7ISBN Hardcover: 978-3-384-64450-3ISBN E-Book: 978-3-384-64451-0

Druck und Distribution im Auftrag der Autorin:tredition GmbH, Heinz-Beusen-Steig 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland

Mail: [email protected]

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung Impressumservice Heinz-Beusen-Steig 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland.

Im Zug von London nach Falmouth habe ich die Inspiration gefunden, diese Zeilen zu Papier zu bringen.

Die Küsten Cornwalls sind rau und tückisch, doch entbehren sie nicht einer gewissen Schönheit.

So auch diese Geschichte.

Für diejenigen mit Hoffnung im Herzen.

Und für diejenigen, die sie verloren haben.

Und für meine Eltern, die mir immer zuhören.

Schlüssel

&

Diebe

Vanessa badete in Sonnenlicht.

Schwerelos glitt sie durch den Nebel zwischen Zeit und Raum. Eine Melodie begleitete ihren Weg. Eine Melodie, so hell und klar, so froh und so voll tiefer Traurigkeit, dass sie unmöglich zu begreifen war.

Vanessa wusste, dass sie träumte, noch bevor sie die beiden Wesen hinter dem butterweichen Licht wahrnahm. Zwei Gestalten – hoch und schlank wie Menschen – streckten ihr die feingliedrigen Hände entgegen. Die Melodie schwoll an, als die Wesen ihre Flügel entfalteten.

Es waren keine durchscheinenden Elfenflügel, die in den Farben des Regenbogens schimmerten. Und sie waren auch nicht ledrig und klauenbewehrt wie die der Dämonen. Die Flügel der Wesen waren größer als sie selbst und über und über mit strahlend weißen Federn bestückt.

So etwas Schönes hatte Vanessa noch nie gesehen.

Sie merkte erst, dass sie weinte, als sie Salz schmeckte.

Als Vanessa erwachte, weinte sie noch immer. Die Melodie, die ihr Herz erfüllt hatte, vergaß sie in dem Moment, da sie die Augen aufschlug.

Im Licht der Morgensonne drehte und wendete sie sich vor dem hohen Spiegel neben ihrem Bett im Turmzimmer. Valeriana betrachtete sie lächelnd, doch schlussendlich musste sie die junge Heilige zur Eile drängen, denn sie hatten einiges vor an diesem Tag.

»Nun geht Euch rasch ein Kleid für die Abreise aussuchen.« Mit diesen Worten scheuchte die Zofe Vanessa in das angrenzende Ankleidezimmer – sie selbst packte in Vanessas Schlafzimmer die letzten Dinge ein, die sie mitnehmen würden.

Immerhin hatte Vanessa bei ihrer Garderobe ein paar mehr Freiheiten. Zwar dominierte hier noch immer die Farbe Weiß, aber die Schnitte und Stoffe waren nun interessanter. Außerdem hatte sie sich endlich ihr Recht auf freie Schmuckwahl zurückerkämpft und all die Glaspantoffeln aus ihrem Kleiderschrank verbannt.

Ihr Blick fiel auf ein Schränkchen aus dunklem Holz, das mit Schnitzereien und Gold verziert war. Das Vorhängeschloss hing wie immer verschlossen vor der Tür. In diesem Schränkchen war die heilige Krone aufbewahrt worden, und hätte Vanessa es nicht besser gewusst, hätte sie angenommen, sie läge noch immer auf dem Samtpolster im Inneren. Doch die Krone war schon lange nicht mehr an ihrem Platz.

Wie lange genau, das wusste wohl nur der Dieb, der sie gegen ein Replikat ausgetauscht hatte. Niemand hatte etwas bemerkt – nicht einmal sie selbst! Vanessa verstand nicht, wie das möglich gewesen war. Ja, die Tür zu ihren Räumen stand die meiste Zeit offen, und im Turm selbst gab es keine Wachen … So hatte sie es sich gewünscht, um sich ein kleines bisschen weniger eingesperrt zu fühlen. Aber am Fuße des Turms gab es sehr wohl Wachen, die den einzigen Weg hinauf und auch die Fenster im Blick hatten.

Dass jemand gewaltsam eingedrungen war, bezweifelte sie jedoch ohnehin. Das Schloss war nicht aufgebrochen worden, was bedeutete, die Person musste einen Schlüssel gehabt haben – oder zumindest sehr geschickt mit gewissen Drähten umgehen können.

Die Vorstellung, dass jemand unerlaubterweise so nah an ihren persönlichen Dingen gewesen war, war beängstigend. Wie viele Bedienstete Zugang zu ihren Räumen hatten, wusste Vanessa nicht, und sie schämte sich dafür. Sollte sie so etwas wissen? Aber sie hatte über den Tag verteilt so viele Termine und Verabredungen … In dieser Zeit wäre es ein Leichtes gewesen, die heilige Krone in einem Sack Schmutzwäsche hinauszuschmuggeln.

Es bestand aber auch die Möglichkeit, dass sich jemand des Nachts in ihren Turm geschlichen und sich an ihren Sachen vergriffen hatte, während sie tief und fest geschlafen hatte. Bei diesem Gedanken – so unwahrscheinlich es auch war – hätte sie sich am liebsten übergeben.

Sie merkte erst, dass sie sich nicht mehr gerührt und nur noch das Schränkchen angestarrt hatte, als sie Valerianas Stimme aus dem anderen Zimmer hörte: »Seid Ihr so weit?«

»Noch eine Minute«, gab Vanessa zurück, doch sie konnte den Blick nicht von dem Vorhängeschloss lösen.

Wer hatte einen Schlüssel dafür? Sie selbst und natürlich Valeriana. Aber gab es noch andere? Warum wusste sie das nicht? Die Zofe hatte ihr Bericht erstattet, nachdem der gesamte Turm mehrfach nach Spuren untersucht worden war.

Sie hatten nichts gefunden.

Es war nicht auszuschließen, dass jemand Vanessas Schlüssel genommen, die heilige Krone gestohlen und den Schlüssel dann wieder zurückgelegt hatte, denn als die junge Heilige noch einen unterschwelligen Hass auf ihre Krone gehabt hatte, hatte sie wenig auf die Sicherheit dieses Schmuckstücks gegeben. Ihren Schlüssel hatte sie zwischen Süßkram und abgegriffenen Büchern in ihrer Nachttischschublade versteckt. Wobei versteckt hier ein deutlich zu großes Wort war. Der Schlüssel hatte dort gelegen und jeder mit Zugang zu ihren Räumen hätte ihn sich jederzeit nehmen können.

Nun fehlte Vanessa das tröstende Gewicht ihrer Krone und sie trug den kleinen Schlüssel immer am Körper, auch wenn es nichts mehr nutzte.

Wie jeden Morgen in den letzten zwei Monaten tat die junge Heilige etwas, das absolut keinen Sinn ergab. Sie löste den Schlüssel von ihrem Fußkettchen und öffnete den Schrank. Fast hoffte sie, die heilige Krone länge dieses Mal wieder an ihrem Platz, doch das war natürlich nur ein Wunschtraum. Sie hatte jedoch nicht mit dem gerechnet, was sie tatsächlich auf dem Samtpolster vorfand.

Geschenke

&

Briefe

Eine Hand vor den Mund gepresst, starrte sie in das Schränkchen in ihrem Ankleidezimmer.

Der Schrank sollte leer sein! Warum ist der Schrank nicht leer?

Auf dem Samtpolster lag ein gefalteter Brief und daneben funkelte zu ihrem Entsetzen eine kleine goldene Anstecknadel in Form einer Sonne. Das Symbol der Rebellen.

Mit zittrigen Knien nahm Vanessa den Brief in die Hand und las. Es stand nur ein einziger Satz auf dem dicken Papier:

Eine von uns.

Sie schlug die Tür des Schränkchens zu und verschloss es wieder mit dem Vorhängeschloss. Die Anstecknadel und den Brief presste sie an ihre Brust.

Die Rebellen … Also haben sie die Krone? Aber warum? Das ist schlimm!

Die Gegenstände in ihrer Hand fühlten sich heiß auf ihrer Haut an, und sie warf sie in eine ihrer Schmuckschatullen.

»Eure Heiligkeit!«, rief Valeriana wieder aus ihrem Schlafzimmer. »Wir haben keine Zeit mehr!« Die rundliche Flussnymphe stapfte mit tadelndem Blick in das Ankleidezimmer, doch als sie Vanessas verstörte Miene sah, wurden ihre Züge weicher. »Was ist passiert?«

Vanessa zögerte. Sollte sie Valeriana wirklich einweihen? Sie wusste ja selbst nicht, was das zu bedeuten hatte. Wussten die Rebellen, dass Sankta Vanessa und das Küchenmädchen Mariana ein und dieselbe Person waren? Nein. Niemand konnte davon wissen – außer Jasper.

Eine von uns …

»Sieh nur, was ich gefunden habe!«, flüsterte Vanessa und deutete auf die Schmuckschatullen.

Die Zofe entdeckte den Brief und auch die Anstecknadel sofort. »Oh, Liebes …«

»Was soll ich jetzt tun?« Vanessas Stimme bebte.

Valeriana überlegte einen Moment. »Ich denke, es ist eine Warnung.«

»Was? Aber was soll das denn bedeuten?«

»Hmm … Diese Rebellen. Hattet Ihr je etwas mit ihnen zu schaffen? Abgesehen von dem Zwischenfall bei der Nebligen Seenplatte natürlich.«

Vanessa schüttelte langsam den Kopf. Sie konnte es der Flussnymphe mit den liebevollen blauen Augen nicht sagen. Valerianas Blick war wissend.

»Dann habt Ihr nichts zu befürchten.« Die Zofe machte eine bedeutungsschwere Pause. »Wenn Ihr jedoch tatsächlich eine Verbindung zu dieser Gruppierung habt oder hattet, solltet Ihr darüber Stillschweigen bewahren. Es wäre Eurer Aufgabe und der Reise nicht dienlich, wenn das herauskäme.«

Vanessa stockte der Atem. Ihr schwirrte der Kopf. »Ich muss mit Anthony sprechen.«

War das eine gute Idee? Er wusste, dass sie einmal –wenn auch nur für kurze Zeit – eine eigene sonnenförmige Anstecknadel besessen hatte. Damit hatte sie sein Vertrauen an einen Abgrund getrieben. Mit einer weiteren Enthüllung würde sie es womöglich über die Klippe stoßen. Es war nicht ihre Nadel und sie wollte keine Rebellin mehr sein. Aber würde er ihr glauben?

»Davon würde ich Euch dringlichst abraten, Eure Heiligkeit.«

»Und wenn doch mehr dahintersteckt?«, fragte Vanessa und versuchte, die aufsteigende Panik fortzuschieben.

»Das denke ich nicht. Mir scheint, die Rebellen wollen Euch lediglich daran erinnern, dass sich manche Eurer Ziele mit den ihren überschneiden.«

Vanessa setzte zu einem wortreichen Protest an, denn ihre Ziele mochten ähnlich sein, jedoch unterschieden sich ihre Methoden stark. Sie kam allerdings nicht dazu, denn vom Fuße des Turms drang eine vertraute Stimme durch das Treppenhaus zu ihr herauf: »Vanessa?«

»Ja, Eure Majestät?«, gab sie zurück und ihr Herz wurde beim Klang von Anthonys Stimme ein kleines bisschen leichter.

»Darf ich heraufkommen?«

»Nur, wenn du ein Geschenk mitbringst.«

Die junge Heilige lächelte in sich hinein. Es war immer der gleiche Wortwechsel. Angefangen hatte es durch einen Zufall vor drei Wochen, als Vanessa den König des Lichterreiches mit einer frechen Antwort hatte ärgern wollen – und dieser tatsächlich mit einem Geschenk zu ihrem Turm gekommen war. Er hatte ihr einen Bildband über die im Lichterreich heimischen Pflanzen gebracht, weil er gedacht hatte, es könnte sie interessieren und dass sie die bunten Farben mögen würde. Damit hatte er goldrichtig gelegen. Beim nächsten Mal war es eine Teemischung aus dem Süden gewesen, gefolgt von einem kleinen Kaktus in einem Blumentopf, Schokolade und bunten Schals aus weicher Wolle. Und so zahlte er jedes Mal den Preis, wenn er sie in ihrem Turm besuchte.

»Das Geschenk wartet dieses Mal woanders auf dich«, hallte seine kehlige Stimme durch das Treppenhaus.

»Dann komme ich herunter«, rief Vanessa, und dann – weil sie noch immer nur ihre Unterkleider trug: »Gib mir eine Minute!«

Hastig warf sie sich eines der neuen Heiliginnen-Kleider über – ein weißes, knielanges Ding mit bauschigen Röcken und langen Ärmeln – schlüpfte in ihre geliebten weichen Lederstiefel und steckte sich mehr Ringe an, als sie Finger hatte. Einen Augenblick lang überlegte sie, die Anstecknadel und den Brief einfach zwischen den restlichen Schmuckstücken liegen zu lassen, doch sie wollte nicht, dass jemand diese Dinge fand. Also vergrub sie sie in den Falten ihres Rocks. Die Zofe beobachtete ihren Schützling kopfschüttelnd.

Glanz

&

Gloria

Anthony wartete mit dem Lächeln eines Königs am Fuße der fünfhundert Stufen auf das Mädchen, das innerhalb kürzester Zeit zu seiner engsten Freundin geworden war. Ein Umstand, den vor wenigen Monaten niemand hatte vorhersehen können. Aber hier standen sie und grinsten sich schelmisch an.

»Komm, das wird dir gefallen!«, rief der schmächtige Junge mit dem strahlend weißen Haar übermütig und eilte voraus. Unwillkürlich stellte Vanessa sich die Frage, ob auch er eine Zofe hatte, die ihm morgens feine Zöpfe flocht, und ihr Grinsen wurde breiter.

Gemeinsam spurteten sie durch die Gänge des Palasts und Vanessa versuchte, nicht allzu sehr auf die Spuren der Verwüstung zu achten, die der Schattenleopard und sein Fluch hinterlassen hatten. Das Mauerwerk und die schönen Marmorböden waren an manchen Stellen erneuert worden, an anderen waren sie noch immer durch tiefe Furchen und Risse verunstaltet. Die meisten Blumenkübel waren ersetzt worden, doch es würde noch eine ganze Weile dauern, bis die Flure wieder mit Blumenranken bedeckt waren.

Vor einer unscheinbaren Tür, in einem Gang, den Vanessa noch nicht kannte, standen unverhältnismäßig viele Fae-Wachen in tannengrüner Uniform und gaben den Weg frei, als sie ihren König sahen.

»Bist du bereit für deine Überraschung?«, fragte Anthony und wirkte nun doch ein bisschen nervös.

»Nun zeig schon her.« Vanessa kicherte. Sie war überdreht, übermüdet und aufgeregt, weil sie in einer Stunde erneut ein Luftschiff betreten würde, um die Botschaft des Friedens zu verbreiten – so betitelte der Rat es. Ein Rat, dem sie beigetreten war, als Anthony sie darum gebeten hatte. Ein Rat, der etwas verändern konnte, wenn sie es zuließen. Ein Rat, der das Lichterreich regieren würde, solange der König auf Reisen war. Wie lange sie fort sein würden, das wussten sie nicht. Sicherlich nicht nur ein oder zwei Tage.

Aber am Ende würden sie glorreich zurückkehren. Das mussten sie einfach.

Der König des Lichterreiches schob die Tür auf. Alle bösen Gedanken an Anstecknadeln und Flüche waren vergessen, als er den Blick in einen Raum freigab, der an den Hort eines Drachen erinnerte. Kurz fürchtete Vanessa, gleich einer leibhaftigen, feuerspeienden Riesenechse gegenüberzustehen, doch diese weitläufige Schatzkammer schien unbewohnt.

Verzückt von all dem glänzenden Metall und den glitzernden Edelsteinen drehte die junge Heilige sich im Kreis, bis ihr schwindelig wurde.

»Wow! Das ist alles für mich? Das wäre doch nicht nötig gewesen«, rief sie.

Anthony lachte auf. »Halt, stopp!«

Vanessa machte einen Schmollmund, doch auch sie brach in Gelächter aus. Dann sah sie Anthony erwartungsvoll an. »Nun?«

»Also, ich dachte … da wir heute aufbrechen und du keine Krone mehr hast …« Bei dem Wort Krone zog sich etwas in Vanessas Brust zusammen, doch sie versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. »Ich habe mir überlegt, dass du dir hier eine neue Krone aussuchen kannst. Ich glaube, dass es sinnvoll wäre, weil wir sehr viel Zeit mit den Würdenträgern der anderen Königreiche verbringen werden. Aber natürlich nur, wenn du das auch möchtest!«

Vanessa sah ihren Freund verblüfft an und wusste einen Moment lang nicht, was sie sagen sollte. Sie hatte nicht darüber nachgedacht, sich statt der heiligen Krone eine andere auf den Kopf zu setzen. Aber hier stand sie nun. In der Schatzkammer des Lichterpalasts, umgeben von uralten Schätzen. Und völlig überfordert.

»Ich …«, stammelte sie. »Ich … ähm … ja! Das ist eine sehr gute Idee. Aber … Anthony, das ist zu viel. Das kann ich nicht annehmen.«

»Eben wolltest du dir noch den ganzen verdammten Hort unter den Nagel reißen!«, erinnerte er sie scherzhaft.

»Das war ein Scherz und das weißt du auch! Ich würde nie …«

»Bitte such dir eine Krone aus, die dir gefällt, und lass uns aufbrechen.«

Die Auswahl an Kronen war erdrückend. Von winzigen Tiaren bis hin zu übermäßig pompösen Kopfbedeckungen wurde hier anscheinend alles eingelagert.

»Was stellst du mit so viel Reichtum an?«, neckte sie ihn, um sich ein bisschen mehr Zeit zu verschaffen.

Der Blick des jungen Königs hellte sich auf, als er sagte: »Es gibt da tatsächlich ein paar Dinge, die ich gerne in Gang setzen würde. Irgendwann. Nachdem wir für Weltfrieden gesorgt haben, versteht sich.«

»Natürlich.«

Er führte seine Pläne nicht weiter aus, und sie fragte nicht nach, denn im Moment hatten sie tatsächlich eine Aufgabe, die wichtiger war als alles andere. Ein dünner Faden der Hoffnung zupfte an ihr. Drängte sie zu dem Luftschiff, von dem sie wusste, dass es schon auf dem Platz vor dem Palast auf sie wartete.

Sie wollte keinen Moment länger zögern, also griff sie nach einer Bernsteinkrone und setzte sie auf.

»Wie wäre diese hier?«, fragte sie, und da sie keinen Spiegel entdeckte, musste sie sich auf Anthonys Urteil verlassen.

»Perfekt«, antwortete er, und Vanessa hoffte inständig, dass er nicht völlig danebenlag.

»Gut, dann lass uns aufbrechen.«

Lächeln

&

Winken

Mit ihrer neuen Bernsteinkrone – oh, sie hoffte wirklich, dass sie damit nicht komplett furchtbar aussah – schritt Sankta Vanessa neben dem jungen König über den Platz auf das riesige schwarze Luftschiff zu. Alle Bewohner des Palasts und der Stadt verabschiedeten sie lautstark und mit einer Hoffnung in den Augen, die Vanessa den Atem verschlug.

Sie konnte nichts anderes tun als zu winken und zu lächeln. Dann wurden sie von der Dunkelheit des Schiffsrumpfes verschlungen. Kaum war die Rampe hinter ihnen hochgezogen worden, erbebte der Boden unter ihren Füßen. Vanessa geriet ins Schwanken und musste sich an der Wand abstützen.

»Starten wir schon?«, keuchte sie, denn sie hatte gedacht, wenigstens ein paar Minuten Zeit zu haben, um sich an dieses Scheusal von Luftschiff zu gewöhnen.

»Wir haben wohl den Zeitplan ein bisschen durcheinandergebracht«, lachte Anthony. »Ich gehe den Kapitän begrüßen. Kommst du mit auf die Brücke?«

»Ich …« Ein weiterer Ruck gab Vanessa das Gefühl, ihr Magen würde einhundert Meter in die Tiefe sacken. »Ich würde mir lieber meine Kajüte ansehen. Danke. Grüße an den Kapitän.« Wer auch immer das sein mochte.

Es war dieselbe kleine Kajüte mit denselben schmalen Kojen in der Wand. Vorsichtig trat sie an das runde Fenster und bereute es sofort. Wie konnten sie so schnell so hoch aufgestiegen sein? Ihr Magen rumorte. Vielleicht sollte sie sich einen Tee besorgen. Oder sie legte sich einfach in ihre Koje und versuchte zu schlafen, bis sie im Königreich der Schatten angekommen waren.

Drei Tage.

Die Reise würde drei Tage dauern. Ob sie es schaffen konnte, drei Tage im Bett zu bleiben?

Die Tür ihrer Kajüte flog auf und Vanessa wurde in die stürmischste Umarmung aller Zeiten gezogen. Sie fand sich in einem Knäuel aus Armen, Flügeln und wilden Locken wieder.

»Leute«, japste sie. »Ich ersticke!« Als Antwort bekam sie mehrstimmiges Gelächter zu hören.

»Wir haben dich in letzter Zeit kaum zu Gesicht bekommen, so beschäftigt, wie du warst!«, jammerte Ariana.

»Wir haben dich vermisst!« Das war Kathleen, die traurig ihre zarten Elfenflügel hängen ließ.

»Oh, seht nur!«, rief Jasper feixend. »Mylady hat eine neue Krone!« Und damit schnappte er sich die Bernsteinkrone und begutachtete sie im Sonnenlicht. »Wirklich schön!«

»Lass das, Jasper!«, schimpfte Kathleen. »Man fasst nicht anderer Leute Krone an.«

»Verzeiht mir, Mylady.« Er verbeugte sich tief, und sein Grinsen reichte von einem Ohr zum anderen. Mit ehrfürchtiger Miene drückte der Dämon der Heiligen ihre Krone auf den Kopf, doch sie rutschte schräg zur Seite.

»Wie sehe ich aus?«, lachte Vanessa und reckte affektiert das Kinn.

»Bezaubernd!« »Bescheuert!« »Wie eine Göttin!« Ihre Stimmen überschlugen sich, und sie brachen erneut in Gelächter aus.

Vanessa wandte sich an Jasper: »Hattest du Xenoi beim Start im Auge? Geht es ihm gut?«

»Eurem edlen Reittier geht es hervorragend, Mylady.«

Vanessas Wyvern begleitete die Unternehmung. Er flog neben dem Luftschiff her, und wenn er eine Pause brauchte, konnte er es sich in einem überdimensionalen Hängekorb an der Unterseite des Schiffs gemütlich machen.

»Gut. Sehr gut. Er hat gestern nervös auf mich gewirkt. Denkst du, er ist nervös? Hätten wir ihn nicht mitnehmen sollen?«

»Weißt du, wer nervös auf mich wirkt?«, fragte Ariana mit schiefem Lächeln. »Du.«

»Ich?« Vanessa schnappte nach Luft. »Ich bin doch nicht nervös. Ich freue mich und bin voller Tatendrang.« Mit leicht zittrigen Fingern richtete sie ihre schief sitzende Bernsteinkrone und warf endlich einen Blick in den Spiegel an der Wand. Nicht furchtbar.

Kathleen rückte näher und legte ihren blonden Lockenkopf auf Vanessas Schulter. »Du wirst das ganz wundervoll machen, das weiß ich.«

Ein Lächeln stahl sich auf Vanessas Gesicht.

Kurz darauf streiften die vier durch die schmalen Gänge des Luftschiffs, bis der Gong zum Abendessen erklang. Nur die Brücke hatten sie ausgelassen. Den ersten Tag in der Luft hatte sie also schon überstanden und es war gar nicht so schlimm gewesen.

In der Kantine versammelte sich die ganze Mannschaft und genoss Schulter an Schulter an langen Tischen die gemeinsame Mahlzeit. Nun, es waren vermutlich nicht alle anwesend. Vanessa nahm an, dass immer irgendwer irgendwo am Arbeiten war. Schon wieder fühlte sie sich unwissend. Sollte sie das nicht wissen? Sollte sie die Mannschaft nicht besser kennen? Die Abläufe? Sie hatte zwar ein verstaubtes Handbuch über Luftfahrt gelesen, aber so ganz durchblickte sie die Strukturen trotzdem nicht.

Sie erwischte sich schon wieder dabei, wie sie unglücklich in ihrem Essen herumstocherte, ohne einen Bissen zu nehmen. Eine sehr schlechte Angewohnheit, die sie nur an den Tag legte, wenn es ihr nicht gut ging.

Als sie sich gerade zwang, den letzten Rest des Nachtischs – cremiger Schokoladenpudding – aus der metallenen Schale zu löffeln, betrat Anthony die Kantine. Neben ihm ging ein hochgewachsener Elf mit grünlich schimmernden, spitz zulaufenden Flügeln und einem verspielten Zug um die Lippen. Der jungen Heiligen fiel auf, dass er als Einziger vier Sterne auf den Schulterklappen seiner magentafarbenen Uniform trug.

»Der Kapitän«, murmelte sie, weil sie sich an den betreffenden Abschnitt im Handbuch erinnerte.

Jasper sah aus, als wollte er etwas sagen, doch da kamen der König und der Kapitän schon in Hörweite.

»Ich möchte euch Kapitän Liam vorstellen«, verkündete Anthony, und das Lächeln des Elfen wurde zu einem spitzbübischen Schmunzeln. Er hatte strohblonde, leicht verwuschelte Locken und ein amüsiertes Funkeln in den grünblauen Augen.