VANGUARD! Nr. 1 - David Vlakic - E-Book

VANGUARD! Nr. 1 E-Book

David Vlakic

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Beschreibung

Was geschah wirklich auf Lenins Reise nach Petrograd? Eine langweilige Zugreise? Von wegen! Die dunklen Schergen des Zaren trachten nach dem Leben des Revolutionärs und dem seiner treuen Begleiter. Sie greifen zu Mitteln, die Mächte auf den Plan rufen, die lieber im Verborgenen verbleiben sollten, doch Lenin und die Bolschewiki denken nicht daran, sich kampflos geschlagen zu geben. An Bord des Zuges nach Petrograd entbrennt ein Kampf auf Leben und Tod und es kann nur einen Sieger geben. In der zweiten Geschichte stossen drei Rotgardisten auf ein Geheimnis des Winterpalastes, von dem sie sich wünschen, dass sie es nie gefunden hätten. Werden die drei Rotgardisten dem übermächtigen Feind Herr werden? Findet es heraus in der allerersten Ausgabe des VANGUARD!

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Seitenzahl: 147

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Ähnliche


VANGUARD! Nr. 1

Im Todeszug nach Petrograd

und

Der Schatten der Zarin

von David Vlakic

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Vorwort

Im Todeszug nach Petrograd

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Epilog

Der Schatten der Zarin

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Nachwort

Impressum

© Texte von David Vlakic 2024

Cover - Marie Leocmach, Instagram: lmh-illustration

Layout - David Vlakic

Korrekturleserin - Alev Güvercin

Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Erstausgabe Juli 2024

Kontakt

David Vlakic

c/o autorenglück.de

Franz-Mehring-Str. 15

01237 Dresden

Email: [email protected]

Vorwort

Rotfront, Genossen!

Wenn es etwas gibt, für das ich anfällig bin, dann ist es diese verdammte Nostalgie, die momentan alles zu durchdringen scheint. Manchmal sind auch Dinge von dieser Nostalgie betroffen, die ich selber gar nie miterlebt habe. Im Mainstream hat man dieses Phänomen wohl am ehesten mit der grossen 80er-Welle gesehen, in deren Zuge Tausende Filme, Serien und Bücher mit Bezug auf die Achtziger erschienen sind. Die Leute tragen sogar wieder Vokuhilas. Obwohl ich diese Begeisterung teile (nicht für die Vokuhilas), gibt es auch eine Sehnsucht in mir, die von eher spezifischer Natur ist.

Ich habe einen grossen Teil meiner Jugend damit verbracht, trashige Heftromane vom Kiosk zu lesen, und habe mich in diesen Welten für Hunderte, wenn nicht Tausende von Stunden verloren. Damals war mir nicht bewusst, dass es Bücher gab, die ein wesentlich höheres Niveau hatten als diese Groschenromane, doch das interessierte den kleinen David nicht wirklich. Ich wollte Helden, die gegen Dämonen kämpften, die ihre grosse Liebe aus den Fängen eines Magiers befreiten oder untergegangene Zivilisationen entdeckten und dabei gehörig viel Gekröse über die Landschaft verteilten. Also so ziemlich die Standardformel für jeden Fantasy- und Sci-Fi-Roman erfüllen.

Jetzt, etwa zwanzig Jahre später, hat vor allem die Erinnerung an diese Groschenromane einen festen Platz in meinem riesigen Schädel. Ich lese sie wesentlich seltener und finde in ihnen auch nicht mehr so viele Themen, die mich interessieren und so begeistern wie früher. Dennoch, wenn ich es schaffe, eine solche Geschichte aufzuschlagen, teleportiert sie mich zurück in eine Zeit, in der sich die Welt für mich wesentlich ruhiger und weniger fürchterlich angefühlt hat.

Vor einigen Monaten habe ich selber damit angefangen zu schreiben. Ein Traum, der mich bereits seit Jahrzehnten verfolgt und für den ich jetzt endlich bereit bin, die nötige Energie aufzubringen. Es lag also gleich sehr nahe: Ich schreibe einfach meine eigenen Groschenromane und befülle sie mit Themen, die mich persönlich interessieren und begeistern, und mir helfen, mal einen kurzen Moment zur Ruhe zu kommen.

Das VANGUARD! ist der erste Ausdruck davon. In meinen Geschichten kämpfen historische Figuren gegen finstere Mächte und entdecken Dinge, die eigentlich für kein menschliches Wesen bestimmt sind. In der ersten Ausgabe sind es Lenin und Krupskaja, die auf ihrer berühmten Zugreise nach Petrograd Fürchterliches erleben, und in der zweiten Geschichte entdecken drei Rotgardisten ein Geheimnis im Winterpalast, das eigentlich hätte verborgen bleiben sollen.

Wir Kommunisten sind ja sowieso schon überall. Wieso sollten wir also nicht auch unsere eigenen Groschenromane mit unterhaltsamen Kurzgeschichten haben? Nun, ob sie unterhaltsam sind – darüber müsst ihr wohl selber urteilen, aber was noch nicht ist, kann ja noch werden. Seid euch sicher, dass ich mein Bestes gegeben habe, um euch Geschichten zu bieten, die mit den gängigen Klischees angereichert sind, und natürlich sind alle davon sehr genau den tatsächlichen Ereignissen nachempfunden. Ich habe mich tagelang in meinem Büro eingeschlossen und bei Kerzenschein und unter den aufmerksamen Augen einer Marx-Büste Nachforschungen angestellt und alle meine Erkenntnisse in diesen beiden Kurzgeschichten zusammengetragen.

Ihr glaubt doch nicht, dass Lenin so ganz locker von der Schweiz nach Petrograd getuckert ist, ohne dass irgendwer versucht hätte, das zu verhindern? Glaubt der Propaganda der Kapitalisten nicht! Es hat sich alles ganz genau so zugetragen, wie es in diesen Geschichten geschrieben steht. Ganz sicher.

Ich erwarte euch nochmals am Ende dieses kleinen Heftchens, um euch einen kleinen Ausblick auf die nächsten Geschichten zu geben.Viel Spass, Genossen!

Der Grosse Vorsitzende des VANGUARD!

David Vlakic

Im Todeszug nach Petrograd

von David Vlakic

Prolog

1917, April, Terijoki, Grossfürstentum Finnland

Der weisse Dampf der Lokomotive hüllte das gesamte Gleis des Bahnhofs in einen künstlichen Nebel. Eine geheimnisvolle Gestalt, welche gegen einen stählernen Pfeiler des Bahnhofdachs lehnte, verschaffte sich durch ihn etwas Deckung.

Der grosse, glatzköpfige Mann zündete eine Zigarette an, und blickte dann hinter dem Pfeiler hervor. Im Schein des Feuerzeuges war seine Narbe, die quer über sein Gesicht verlief, einen kurzen Moment lang sichtbar. Er nahm einen tiefen Atemzug von seinem Glimmstängel und spähte über den Bahnsteig, auf dem sich unzählige Menschen tummelten.

Obwohl Terijoki nur ein kleiner, unscheinbarer finnischer Ort war, herrschte an diesem Abend reges Treiben.

Direkt neben ihm schleppten Arbeiter unzählige Holzkisten in den hintersten Frachtwagen des Zuges. Mit Schweissperlen auf der Stirn hievten sie jede Kiste eine kleine Rampe hoch und stapelten sie sorgfältig aufeinander. Ein dickbäuchiger Schnauzträger zurrte sie mit einem Gurt fest und klopfte sich dann zufrieden auf den Bauch.

Jede der Kisten war mit einer Nummer bedacht. Der Mann mit der Zigarette wusste genau, woher diese Kisten stammten und es schauderte ihn bei dem Gedanken daran. Die Ostfront forderte viele Tote und in Anbetracht dessen, was er über den Krieg in den dreckigen Gräben Europas gehört hatte, schienen ihm diese Nummern auf den behelfsmässigen Särgen um einiges zu niedrig.

Nachdem er einige Minuten lang die Arbeiter beobachtet hatte, warf er die Zigarette auf den Boden, trat sie aus und zog sich seinen Mantelkragen so hoch er konnte über das Gesicht. Nicht nur, um die Kälte der nahenden Nacht zu vertreiben, sondern auch, um die Tätowierungen an seinem Hals vor neugierigen Blicken zu verbergen. Er würde sie noch früh genug preisgeben. Dann schenkte er einer Gruppe von schwarz gekleideten Gestalten seine Aufmerksamkeit.

Laut seinen Notizen waren es zweiunddreissig Personen. Männer und Frauen verschiedenen Alters. Die Gruppe stand neben dem Bahnhofsgebäude und diskutierte aufgeregt. Hände gestikulierten wild und Zeigefinger schwirrten herum, um ihren Argumenten Ausdruck zu verleihen. Die meisten waren in schwarze Mäntel gehüllt. Die Männer hatten wärmende Schiebermützen auf, während die Frauen der Gruppe ihre Ohren vor allem mit Uschankas warm hielten.

Sie waren herrlich unauffällig dafür, dass sie wohl bald versuchen würden, die Welt aus den Angeln zu heben.

Ein eher kleiner Mann mit grauem Spitzbart stand im Zentrum der Gruppe und lauschte den Ausführungen seiner Begleiter mit konzentriertem Blick. Wenn er mit etwas nicht einverstanden zu sein schien, runzelte er die Stirn und strich sich über seinen Bart, bis sein Gegenüber fertig geredet hatte und begann dann mit kraftvoller Stimme, seine eigene Ansicht der Dinge zu präsentieren.

»Lenin! Da sind Sie ja!«, hörte der Mann mit der Narbe einen etwas fülligeren Herren quer über den Bahnsteig schreien, während er zielstrebig auf Lenin zuging.

Der Bürgermeister, dachte das Narbengesicht.

Sie schüttelten eifrig ihre Hände und wechselten Worte, die der Narbenmann am anderen Ende des Bahnhofs nicht vernehmen konnte. Verächtlich spuckte er auf den Boden. In der Brusttasche seines Mantels glitt er mit seinen Fingerspitzen über den Griff seines Dolches. Er konnte es kaum erwarten, ihn zu benutzen.

»Bruder Nokturn?«, fragte eine tiefe Stimme hinter seinem Rücken, worauf er sich mit kritischem Blick umdrehte und zwei Personen erblickte.

Die Gesichtszüge der beiden Figuren waren im schummrigen Licht der Bahnhofsbeleuchtung nur schwer zu erkennen, aber Nokturn wusste sofort, dass es die beiden Personen waren, auf die er wartete. Das Einzige, was er von dem Mann deutlich sah, waren seine leuchtend blauen Augen, die ihn aus den Schatten heraus anstarrten und förmlich zu durchbohren schienen. Sie waren Nokturn äusserst unsympathisch.

Nokturn nickte und grunzte dabei mürrisch.

»Sind die Vorkehrungen abgeschlossen?«, fragte der Mann mit den blauen Augen, während er die Frau am Arm festhielt. Sie stöhnte vor Schmerzen leise auf, als er seinen Griff verstärkte.

»Die letzten werden gerade in den Zug getragen«, sagte Nokturn und deutete auf die Arbeiter, welche die Särge in den Waggon luden. »Die meisten Leichen sind ziemlich frisch. Es war mühsam, aber das Artefakt und der Dolch sind hier. Wir haben alles, um den Plan in die Tat umzusetzen.«

Der Blauäugige nickte zufrieden.

Nokturn trat vor die zitternde Frau, packte ihr Kinn und schaute ihr tief in die Augen. Er spürte ihren warmen Atem auf seiner Haut. »Und was ist mit dir? Bist du bereit, deinen Eid zu leisten? Vergiss nicht, wem du die Treue geschworen hast.«

Die Frau wurde noch bleicher als sie sowieso schon war und versuchte Worte durch die zusammengedrückten Lippen zu pressen, doch Nokturn lockerte seinen Griff nicht. Sie starrte auf seine wulstige Narbe und in ihren Augenwinkeln bildeten sich zwei Tränen. Es war ihm egal, was sie zu sagen hatte, sie würden das Ritual mit oder ohne ihre Zustimmung durchführen.

»Sie wird ihren Teil schon erfüllen. Lass das meine Sorge sein. Kümmere dich darum, dass das Ritual korrekt ausgeführt wird. Wir haben keine zweite Chance, um den Zaren zufriedenzustellen«, sagte der Blauäugige.

Erneut nickte Nokturn und deutete auf den hintersten Personenwagen, der vor die Frachtwagen gekoppelt war. Ohrenbetäubendes Pfeifen erklang, als die Lokomotive einen Dampfschwall ausstiess.

»Steigen Sie ein, der Zug fährt bald los. Ich kümmere mich darum, dass die Vorbereitungen noch abgeschlossen werden.«

Ohne sich zu verabschieden, ging der Mann mit den blauen Augen an Nokturn vorüber und zerrte die Frau mit sich. In einiger Entfernung zeigten sie einem Schaffner ihre Tickets und betraten über eine schmale Treppe ihren Wagen.

Auch die Gruppe um Lenin herum setzte sich in Bewegung. Gleich hinter der Lokomotive und ihrem Kohlewagen hatten die Revolutionäre ihren eigenen Wagen gemietet. Einer nach dem anderen stiegen sie in den Zug, bis nur noch der Bürgermeister von Terijoki zurückblieb und ihnen vom Bahnsteig zuwinkte.

Die Reisegruppe war vor einigen Tagen in Zürich aufgebrochen und näherte sich ihrem Reiseziel: Petrograd in Russland. Bruder Nokturn murmelte ein leises Stossgebet vor sich hin und bat die dunklen Götter um Hilfe. Wenn er erfolgreich war, würden diese elenden Kommunisten ihr Ziel niemals erreichen.

Er ging hinüber zu den Arbeitern, die gerade den letzten Sarg absetzten und hielt ihnen zwei grosse Scheine entgegen.

»Wie viele?«, fragte er.

»Fünfzig. Wie Sie verlangt haben. War nicht einfach, die Leichen hierher zu verfrachten, wissen Sie«, antwortete ein schnauzbärtiger Mann, dessen Gesicht unter einer dicken Russschicht verborgen war.

Der Arbeiter stand gebeugt vor Nokturn und blickte immer wieder auf den Boden. Er traute sich nicht, dem Hünen in das Gesicht zu schauen, und auch sein Kollege blickte verlegen zur Seite und fummelte nervös an seiner Mütze herum.

»Gut, gut. Das hier ist für euch. Und kein Wort zu niemandem.«

Die Arbeiter pflückten die Scheine aus Nokturns Hand und bedankten sich, als sie das Geld hastig in ihre Taschen steckten.

»Begleiten Sie den Genossen Lenin nach Petrograd?«, fragte der Schnauzbärtige. Die plötzliche Begeisterung in seiner Stimme war kaum zu überhören. »Was dort vor sich geht, wird in die Geschichte eingehen, sag ich Ihnen.«

Bruder Nokturn stiess ein heiseres Lachen aus, ging einige Schritte in Richtung des nächsten Personenwagens und drehte sich dann um. Seine Lippen formten sein Gesicht zu einer wahnsinnigen Fratze, die den beiden Arbeitern einen kalten Schauer über den Rücken jagte.

»Ja, ich begleite den Genossen Lenin nach Russland«, sagte er mit funkelnden Augen und schwang sich dann die Tritte hinauf in den Zug.

Nur wenige Minuten später, die Sonne war mittlerweile gänzlich verschwunden, setzte sich das stählerne Ungetüm in Bewegung. Ratternd jagten die Räder über die Gleise und eine massive Dampfsäule begleitete den Zug auf seiner Reise in die Dunkelheit. Die schwachen Öllampen aus dem Inneren des Zuges waren die einzigen Lichtquellen, die in der absoluten Finsternis der finnischen Wildnis zu sehen waren. Die Fahrgäste ahnten noch nicht, welche Gefahren das letzte Stück ihrer Reise für sie bereithielt.

Kapitel 1

Vladimir Iljitsch Uljanov, den die ganze Welt unter dem Namen Lenin kannte, knüpfte sich sein Hemd zu und zog sich seine Schiebermütze über die Halbglatze. In den Wägen war es so kalt, dass sich auf den Fensterscheiben eine dünne Frostschicht bildete, obwohl in manchen von ihnen sogar eine kleine Heizung brannte.

Seit sieben Tagen reisten Lenin und seine Genossen quer durch Europa, von Bahnhof zu Bahnhof und von Zug zu Zug. Heute, ungefähr um Mitternacht, würden sie in Petrograd am Bahnhof eintreffen und sich wiederfinden in einer Welt, die gerade eine Revolution durchlebte.

Vor etwa dreissig Minuten waren er und seine Begleiter in Terijoki in den Zug gestiegen. Kaum hatte Lenin einen Fuss an Bord gesetzt, hatte er sich in seine Kabine zurückgezogen, um an seiner Rede zu arbeiten. Die Umstände verlangten, dass er so schnell wie möglich zu den Arbeitern sprach. Er würde nicht wie die Reformisten einfach danebenstehen und das Proletariat im Stich lassen.

In Russland herrschte pure Euphorie über die Revolution, die im Februar des Jahres 1917 stattgefunden hatte, doch auch Chaos und Unsicherheit machten sich unter den Arbeitern breit. Die Provisorische Regierung versuchte mit aller Kraft an der Macht zu bleiben, verkaufte den geschundenen Arbeitern und Bauern jede noch so kleine Reform als gigantischen Erfolg. Der Zar war sich scheinbar sicher, dass diese Brotkrumen genug waren, um die Massen zu besänftigen, doch Lenin wusste, dass die Macht dieser Regierung am seidenen Faden hing. Noch bevor dieses Jahr zu Ende ging, würden Lenin und die Bolschewiki eben jenen Faden durchtrennt haben.

Lenins Faust ballte sich in seiner Manteltasche, als er aus seinem Sitzabteil ging, den schmalen Gang hinunterlief und nach draussen trat, um in den nächsten Wagen zu wechseln.

In der Kälte hielt er kurz inne und sein entschlossener Blick streifte über die schemenhaften Umrisse der Landschaft. Im eiskalten Wasser des Finnischen Meerbusens spiegelten sich die Milliarden Sterne des Nachthimmels und liessen die Gischt glitzern. Das Meer war vom Zug aus gut zu sehen und ein heftiger Wind trieb kräftige Wellen darüber.

Es gab keinen Grund, sich mit den leeren Versprechungen dieses Bastardes Lwow, dem amtierenden Ministerpräsidenten der Regierung, zufrieden zu geben.

Lenins Rede war dazu bestimmt, das Feuer in den Arbeitern zu entfachen und ihr Verständnis für die eigene Kraft zu stärken. Während die Provisorische Regierung mit dem Zar gemeinsame Sache machte und die Macht in ihren Händen konzentrierte, würde Lenin dafür sorgen, dass die Macht in die Hände des Volkes überging. Er hatte nicht den geringsten Zweifel daran, dass die Zeit der kommunistischen Revolution gekommen war und sie würde die Welt aus den Angeln heben.

Lenin wandte seinen Blick von den Wellen ab, die an ihm vorbeizogen. Mit einem grossen Schritt stieg er über die eisernen Gitter zwischen den Waggons und betrat den nächsten Personenwagen. Sofort verebbte der kalte Wind auf seinen Wangen und er wich einer stickigen Luft.

Es war ein schön dekorierter Salonwagen, der unerwartet gehoben daherkam. Ihm sollte es recht sein, denn die bisherige Reise war nicht gerade von angenehmen Reisemöglichkeiten geprägt gewesen. Bis anhin waren sie immer in der 3. Klasse gereist, doch der Bürgermeister von Terijoki hatte darauf bestanden, dass sie den kurzen Weg nach Petrograd in diesem gemütlichen Abteil zubrachten.

Dunkelroter Teppich spannte sich über den Boden, die Wände waren verkleidet mit wunderschönem gemasertem Holz. Überall wo Platz war, hingen Gemälde und die sonderbarsten Gegenstände an den Wänden. Unzählige verblichene Landkarten oder der ausgestopfte Kopf eines gewaltigen Ebers. Ja, sogar ein funkelnder, fernöstlicher Säbel hing über der Wagentüre.

Entschlossenen Schrittes ging Lenin durch die Mitte des Salons. Zu beiden Seiten sassen Männer und Frauen, die aufgeregt miteinander diskutierten und sich mit einer Tasse Tee warm hielten. Die Revolution war wie ein belebendes Lauffeuer, das auf der ganzen Welt um sich griff und dafür sorgte, dass die Menschen es sich wieder erlaubten, an eine bessere Zukunft glauben zu dürfen. Sich nicht über dieses weltbewegende Ereignis zu unterhalten, war schier unmöglich.

Manche dieser Leute kannte er nur zu gut.

Sinowjew sass mit zerzausten Haaren in einem Sessel und war in ein Buch vertieft. Lenin schmunzelte. Nicht oft sah er den Genossen etwas anderes tun als zu lesen. Selbst bei dem starken Wellengang auf der Fähre von Sassnitz nach Trelleborg, hatte er seine Nase kaum aus den Büchern heraus gezogen.

Sokolnikow, Safarow und Jelena Ussijewitsch standen neben einem der Fenster und waren in Pläne vertieft, welche die Organisierung der Arbeiter in den Sowjets beinhaltete.

Als Lenin schliesslich an Hans Strauss vorbeiging, nickte dieser ihm widerwillig zu. Strauss stand alleine neben einem kleinen Ofen, auf dem ein Topf Wasser vor sich hin köchelte. Er zog an einer übelriechenden Zigarette und stiess den Rauch demonstrativ durch seine Nasenlöcher aus. Sein dünner Schnauzer zuckte, als er seine schmalen Lippen zu einem Lächeln zwang.

Lenin hob seine Mütze zum Gruss. »Herr Strauss, diese Glimmstängel tun Ihnen nichts Gutes.«

»Ganz im Gegenteil, Lenin. Man sagt sich, dass sie äusserst gesund sein sollen. Belebt den Geist«, erwiderte Strauss und drehte Lenin seinen Rücken zu.

Es war eine tiefe Abneigung, die Lenin gegenüber dem Menschewiki, einem opportunistischen Sozialdemokraten, empfand. In seiner Laufbahn als Revolutionär hatte er schon mit vielen angeblichen Revolutionären zu tun gehabt, welche sich in Worten radikal gaben, aber in ihren Taten wankelmütig oder gar reaktionär waren.

Schliesslich erreichte Lenin den hinteren Teil des Wagens. In einem gemütlichen Sessel sass eine ältere Frau mit streng zurückgebundenen Haaren und nippte an einer Tasse Tee, während sie ein Buch in der anderen Hand hielt. Ihr Blick war konzentriert, die Augen verschlangen begierig jede Zeile des Buches und hinter den vom Leben gezeichneten Augen schien es mächtig zu arbeiten. Sie versprühte, im Gegensatz zu Lenin, eine Aura, welche die meisten ihrer Genossen als mütterlich und fürsorglich beschrieben und stand jungen Revolutionären gerne Rede und Antwort.

Als sie Lenin bemerkte, klappte sie das Buch zu und legte es auf ein kleines Tischlein neben ihrem Sessel.