Vanitas - Schwarz wie Erde - Ursula Poznanski - E-Book
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Vanitas - Schwarz wie Erde E-Book

Ursula Poznanski

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Beschreibung

Tödliche Blumengrüße: "Vanitas – Schwarz wie Erde" ist der Auftakt zur neuen Thriller-Reihe von Spiegel-Bestseller-Autorin Ursula Poznanski. Eine Wiener Blumenhändlerin mit dunkler Vergangenheit ermittelt gegen ein skrupelloses Verbrecher-Syndikat. Auf dem Wiener Zentralfriedhof ist die Blumenhändlerin Carolin ein so gewohnter Anblick, dass sie beinahe unsichtbar ist. Ebenso wie die Botschaften, die sie mit ihren Auftraggebern austauscht, verschlüsselt in die Sprache der Blumen - denn ihre größte Angst ist es, gefunden zu werden. Noch vor einem Jahr war Carolins Name ein anderer; damals war sie als Polizeispitzel einer der brutalsten Banden des organisierten Verbrechens auf der Spur. Kaum jemand weiß, dass sie ihren letzten Einsatz überlebt hat. Doch dann erhält sie einen Blumengruß, der sie zu einem neuen Fall nach München ruft - und der sie fürchten lässt, dass sie ihren eigenen Tod bald ein zweites Mal erleben könnte … Ein psychologisch dichter Thriller mit ungewöhnlicher Heldin und Gänsehaut-Garantie!

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Seitenzahl: 518

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Ursula Poznanski

Vanitas

Schwarz wie die ErdeThriller

Knaur e-books

Über dieses Buch

Auf dem Wiener Zentralfriedhof ist die Blumenhändlerin Carolin ein so gewohnter Anblick, dass sie beinahe unsichtbar ist. Ebenso wie die Botschaften, die sie mit ihren Auftraggebern austauscht, verschlüsselt in die Sprache der Blumen - denn ihre größte Angst ist es, gefunden zu werden. Noch vor einem Jahr war Carolins Name ein anderer; damals war sie als Polizeispitzel in Frankfurt einer der brutalsten Banden des organisierten Verbrechens auf der Spur. Kaum jemand weiß, dass sie ihren letzten Einsatz überlebt hat.

Doch dann erhält sie einen Blumengruß, der sie für einen neuen Fall nach München ruft - und der sie fürchten lässt, dass sie ihren eigenen Tod bald ein zweites Mal erleben könnte …

Inhaltsübersicht

MottoProlog1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. KapitelInzwischen7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. KapitelSpäter17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. KapitelSchon fast Nacht21. Kapitel22. Kapitel23. KapitelAnderswo24. Kapitel25. Kapitel1956. Kapitel26. Kapitel27. KapitelDanke sagen möchte ich ...Leseprobe »VANITAS«
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Ain’t it a gentle sound, the rolling in the graves

Ain’t it like thunder under earth, the sound it makes

Ain’t it exciting you, the rumble where you lay

Ain’t you my baby, ain’t you my babe?

 

Hozier, NFWMB

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Prolog

Sie blickte nach oben, ins Dunkel. Den linken Arm spürte sie kaum, doch jedes Mal, wenn sie versuchte, ihn unter ihrem Körper hervorzuziehen, war es, als stieße man ihr einen glühenden Spieß in die Schulter. Der rechte Arm war heil geblieben. Der Kopf …

Es war eng hier, selbst wenn sie nicht verletzt gewesen wäre, hätte sie sich kaum rühren können. Im Rücken spürte sie eine harte Wand. Eine Wand befand sich auch direkt vor ihr, rau unter ihrer flachen Hand.

Was war geschehen? Ihre Erinnerungen fransten aus wie Wolken an den Rändern. Hatte der Mann sie gestoßen? Oder hatte er versucht, sie zu halten? Sie hatte seine Hand im Rücken gespürt, und noch bevor sie begriffen hatte, dass sie stürzte, einen Aufprall, der sich wie ein Ende anfühlte, es offenbar aber nicht gewesen war.

Er hatte etwas gerufen, der Mann. Vor dem Sturz oder danach, das wusste sie nicht mehr.

»Da hast du deine Geschichte.« Ja, das war es gewesen. Und sie hatte in diesem Moment gedacht: Stimmt. Ich habe sie, und eben ist sie unbezahlbar geworden.

Konnte sie sich noch an alle Details erinnern? Sie atmete tief ein, fühlte ein Stechen im Brustkorb, verkrampfte sich bei dem Gedanken an gebrochene Rippen, die sich in Lungenflügel bohrten.

Details, rief sie sich selbst zur Ordnung. Da waren ein paar Dinge gewesen, die nicht zusammenpassten, aber mit ein wenig Recherche würde sie das Puzzle zusammenfügen …

Zu-sammen. Fügen.

Worte festzuhalten war plötzlich schwierig. Ihr Kopf fühlte sich schwammig an, innen. Wenn sie nicht aufpasste, würde sie einschlafen, doch das durfte sie nicht. Wenn es hell wurde, musste sie wach sein, sie musste um Hilfe rufen, sobald Leute kamen.

Wie lange konnte das dauern? Das Zeitgefühl war ihr abhandengekommen, aber sie glaubte, ein Zwitschern zu hören. Vielleicht der erste Vogel in der Morgendämmerung. Vielleicht auch nur ein quietschendes Metallscharnier.

Kurz würde sie die Augen schließen. Nur ganz kurz, bis das Stechen in der Brust nachließ.

»Unbefugtes Betreten«, hatte der Mann gesagt. »Tja, dann ist man selbst schuld. Haben Sie denn die Warnschilder nicht gesehen?«

Es war unfair gewesen, so unfair. Eine … wie hieß das Wort? Falle. Genau.

Er hatte sie mit dem Versprechen auf neue Informationen hergelockt, stattdessen hatte er ihre Unterlagen an sich genommen. Aber die würde sie sich noch einmal beschaffen können. Wenn sie erst mal hier raus war, aus diesem engen, entsetzlich engen … Raum.

Wenn sie ein paar Minuten die Augen schloss, würde sie anschließend besser denken können. Sie würde nicht einschlafen. Nur dösen. Kraft sammeln.

Kraft.

Ein ohrenbetäubendes Geräusch ließ sie hochschrecken, der Schmerz bohrte sich weiß glühend in ihre Schulter, sie schrie auf. Bin doch eingeschlafen, dachte sie. Da, wo sie lag, war es nach wie vor dunkel, aber hoch über ihr hatte ein fahlgrauer Tag begonnen.

Sie lag eingeklemmt zwischen zwei Wänden, die gut fünfzehn Meter nach oben ragten. Durch die Öffnung sah sie ein Stück Himmel. Und nun kam etwas Neues ins Blickfeld, eine Art … Röhre.

»Hallo?«, rief sie. »Ich bin hier unten, ich bin gefallen. Ich brauche Hilfe!«

Der Lärm von oben kam näher. Wenn sie ihre eigene Stimme kaum hören konnte, wer würde es dann können?

Die Röhre schwenkte ein wenig weiter und begann dann, etwas auszuspucken, etwas Graues, Flüssiges, Zähes. Es platschte erst weit entfernt von ihr auf, floss näher, dann war die Öffnung über ihr.

Sie begriff, was passieren würde. Schrie nicht mehr, sondern presste Augenlider und Mund fest zu, obwohl sie wusste, dass beides sinnlos war. Sie fühlte, wie die schwere, feuchte Masse auf sie fiel, und ließ sich ins Dunkel sinken, noch bevor der Beton sie völlig unter sich begrub.

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1

Immer, wenn die Angst zurückkehrt, sehe ich mir Fotos meiner eigenen Beerdigung an. Der helle Holzsarg in der Aufbahrungshalle. Die vielen Kerzen und das riesige Bild, auf dem ich den Gästen entgegenlächle. Meine Augen sind grüner als in Wirklichkeit, mein Haar ist in glänzende Locken gedreht und eine Spur dunkler als der Sarg. Die Frisur ist untypisch für mich, aber ich wollte dem Mann hinter der Kamera gefallen, damals.

Rund um den Sarg: Kränze. Die mit Rosen sind klar in der Überzahl. Rot, rosé, gelb, weiß. Die Schleifen tragen die üblichen Sprüche: In tiefer Trauer. In ewiger Liebe. In Dankbarkeit.

Nur einer davon birgt eine tiefere Wahrheit in sich. Er hängt an dem mit Abstand hässlichsten Kranz, der gleichzeitig einer der größten ist und schräg rechts unterhalb des Sargs steht. Die Kombination aus knallpinkfarbenen Lilien und leuchtend orangefarbenen Gerbera würde jeden Betrachter sofort schaudernd den Blick abwenden lassen, wären da nicht ein paar irritierende Details, die stutzig machen. Die einsame Narzisse zum Beispiel, die wie irrtümlich zwischen zwei Lilien herausragt. Eine Distel, wahrscheinlich die einzige, die je ihren Weg auf einen Trauerkranz gefunden hat. Und zu guter Letzt ein kleiner Strauß Vergissmeinnicht, der als blauer Fleck das Gerberaorange durchbricht.

Ich wüsste gerne, wie viele Trauergäste angesichts solcher Scheußlichkeit ratlos den Kopf geschüttelt haben, aber natürlich haben sie die Botschaft hinter dieser optischen Beleidigung nicht begriffen. Auch ich musste erst einige Monate lang mit der Materie arbeiten, um alle Feinheiten zu verstehen.

 

Die Signalwirkung von Pink und Orange sollte meinen Blick auf den Kranz lenken und somit sicherstellen, dass ich die versteckten Hinweise nicht übersehe.

In der Sprache der Blumen steht die Distel für Kraft, aber auch für Sünde. Narzissen symbolisieren Wiedergeburt – nichts wünsche ich mir weniger. Die Vergissmeinnicht sind selbsterklärend, aber sollten trotzdem Zweifel bleiben, werden sie von dem Spruch auf der Schleife restlos beseitigt. Sie ist blutrot und gibt dem Kranz farblich den Rest. Auf ewig unvergessen, steht in goldenen Lettern darauf.

Es ist eine Warnung, und ich weiß, von wem sie kommt.

 

Unsere Auftragslage ist gut, Matti läuft pfeifend durchs Geschäft, während ich in der Werkstatt sitze und Tischgestecke für eine Hochzeit fertige. Eine angenehme Abwechslung, auch wenn ich nicht begreife, warum jemand den Blumenschmuck für seine Trauung von einem Friedhofsfloristen richten lässt. Hätte ich die Wahl gehabt, wäre ich lieber in einem Gartencenter oder einer normalen Blumenhandlung gelandet, irgendwo in der Vorstadt, wo man hauptsächlich Geburtstagssträuße und Valentinstagsrosen verkauft. Aber Robert war dagegen. »Wer auf dem Friedhof arbeitet, wird nicht wahrgenommen. Die Menschen sind mit ihrer Trauer beschäftigt, sie wollen so schnell wie möglich wieder verschwinden. Unsichtbarer als dort wirst du nirgendwo sein.«

Kann sein, dass er damit recht hat. Kann aber ebenso gut sein, dass er nur seinem seltsamen Sinn für Humor nachgeben wollte und mich deshalb zu den anderen Toten geschickt hat.

Cremefarbene Rosen, Schleierkraut, weiße Schleifen, eine grüne Hortensie. Das Ganze locker umwickelt mit Silberdraht, auf den Perlen aufgezogen sind. Fünfzehn Tische macht fünfzehn Gestecke. Ich schaffe drei in einer Stunde; wenn ich fertig bin, werde ich noch eine Runde über den Friedhof drehen.

Beethovens Grab ist der Ort, an den es mich üblicherweise zieht, wenn ich mich so verloren fühle wie heute. Gruppe 32 A, Nummer 29. Er wurde in Bonn geboren, starb in Wien und wurde hier auch beerdigt. Allein dadurch fühle ich mich ihm verbunden, obwohl der Schauplatz meiner Geburt Köln und der meines Todes Frankfurt ist. Begraben bin ich trotzdem in Wien, und das ist vermutlich der beste Ort dafür, denn das Klischee stimmt. Nirgendwo sonst ist man mit dem Tod so gerne per Du.

»Caro?«

Ich bin so vertieft in Tischgesteck Nummer sieben, dass ich wieder einmal zu spät begreife, wer gemeint ist. Mit einem Ruck fahre ich herum. Es ist Eileen, und sie schüttelt den Kopf. »Manchmal frage ich mich, ob du schwerhörig bist.«

»Tja.« Ich lächle bemüht. Denke wieder an Beethoven. Besser, sie hält mich für gehörgeschädigt, als sie wittert die Wahrheit: Dass ich mich nach acht Monaten immer noch nicht an meine neue Identität gewöhnt habe. Vor zwei Wochen ist mir beinahe mein echter Name herausgerutscht, als ein Kunde am Telefon nachfragte, mit wem er denn gesprochen habe. Mir war mit einem Schlag übel vor Schreck, fast hätte ich in die Nelken gekotzt.

Eileen ist clever, und sie ist neugierig. Mit ihren siebzehn Jahren fallen ihr Dinge auf, die Matti oder Paula nie bemerken würden. Trotzdem ist sie ein klassischer Fall von schuluntauglich – mit schwerer Dyslexie und Dyskalkulie geschlagen und aus einem Elternhaus, für das Nachhilfestunden finanziell nie drin waren.

»Kann ich dir helfen?« Sie greift nach einer der Hortensien und dreht sie im Sonnenlicht, das durch das trübe Glas der Fenster hereinfällt. »Die Kombination ist voll hübsch. Auch wenn ich keine reinweißen Schleifen gewählt hätte. Stell dir vor, wie schön das mit Lindgrün aussehen würde!«

»Kundenwunsch«, sage ich und lächle ihr zu. »Aber du hast absolut recht.«

Sie sieht mich an und legt den Kopf schief, als würde sie meinen Worten nachlauschen. Eileen ist die Einzige, bei der ich gelegentlich befürchte, dass sie zu viel Hochdeutsch in meiner Sprachfärbung wittert. Aber sie fragt nicht nach, sie blickt nur zur Seite. »Also. Kann ich dir helfen?«

»Gern.« Ich schiebe ihr eine der Schalen zu, die die Basis der Gestecke bilden. Sie neigt den Kopf mit dem kurzen, lackschwarz gefärbten Haar, wirft einen Blick auf eines der fertigen Mittelstücke und nickt. »Okay. Wetten, ich bin schneller als du?«

Das ist sie – und nicht nur das. Ihre Gestecke sehen am Ende besser aus als meine, obwohl wir exakt die gleichen Bestandteile nach exakt dem gleichen Muster verarbeiten. Trotzdem wirkt ihre Arbeit natürlicher, müheloser und gleichzeitig origineller. Sie hat einfach Talent, im Gegensatz zu mir.

»Gut geworden«, lobe ich, und sie gibt das Kompliment zurück, weil sie ein netter Mensch ist.

»Es sind vorhin noch vier Kranzbestellungen reingekommen. Ich habe alles ins Buch eingetragen, könntest du …« Sie beendet den Satz nicht, doch ich weiß, worum sie mich bittet. Matti ist ein gutmütiger Kerl, aber nicht allzu einfühlsam. Er kann sich stundenlang über Eileens Rechtschreibfehler amüsieren.

»Ich seh es mir an. Irgendwas Dringendes dabei?«

Sie schüttelt den Kopf. »Nein. Bloß ziemlich viel Kitsch und Geschmackloses, aber alles Sachen, die mindestens eine Woche Zeit haben.«

»Okay.« Gemeinsam verpacken wir die Gestecke für den Transport, Goran wird sie später ausliefern. Der Weg nach draußen führt durch den Laden, wo Matti eben einen Blumenstrauß für eine ungeduldige ältere Dame zusammenstellt.

»Ich drehe eine kurze Runde«, sage ich. »Frische Luft schnappen.«

»In Ordnung.«

Während die Frau eine der Tulpen beanstandet, weil angeblich ein Blütenblatt beschädigt ist, schlüpfe ich nach draußen. Der schnelle Blick rundum, jedes Mal wenn ich in einen Raum oder ins Freie trete, ist eine Gewohnheit, die ich allmählich ablegen könnte.

Nichts Bedrohliches. Mir ist zwar klar, dass ich die Gefahr nicht kommen sehen werde, bis sie direkt vor mir steht, trotzdem habe ich meine Augen überall, zumindest, bis ich allein zwischen den Gräbern verschwinden kann.

Der Haupteingang an Tor zwei ist nicht weit von unserer Gärtnerei entfernt, allerdings sammeln sich dort gerade die Trauergäste für eine der nächsten Beerdigungen. Umarmungen werden ausgetauscht, Schultern geklopft. Niemand beachtet mich in meinem grünen Kittel, trotzdem bin ich versucht, wieder kehrtzumachen.

Unsinn, sage ich mir und haste mit gesenktem Kopf an den Trauergästen vorbei. Es ist nicht deine Stadt hier, nicht einmal dein Land. Du bist unauffälliger als die Steine auf dem Weg. Keiner wird dich erkennen.

Weiter. Durch die alten Arkaden, dort biege ich schräg links ab, laufe vorbei an den Gruppen 31A und 31B, um schließlich zu 32A zu gelangen.

Beethoven, Mozart und Schubert. Man ist hier selten allein, die Stelle lockt Touristen an, die Blumen auf die Grabplatten legen. Oder, in Mozarts Fall, zu Füßen des Grabdenkmals.

Heute sind es Japaner, die sich erst gegenseitig vor den Gräbern fotografieren, dann packt eines der Mädchen einen Selfiestick aus. Aufgerissene Münder, verzücktes Hindeuten auf die Grabsteine, zu Victory-Zeichen gespreizte Finger.

Ich bleibe in ein paar Schritten Entfernung stehen. Die Fotosession wird nicht lange dauern, japanische Touristen haben normalerweise einen sehr engen Zeitplan. Anders schafft man zehn europäische Städte in einer Woche nicht.

Ein paar Minuten später sind sie weitergezogen, und ich lehne mich gegen eine der hüfthohen Säulen, die das Grab rechts und links flankieren.

Auf dem hohen, nach oben spitz zulaufenden Stein sind weder Geburts- noch Sterbedatum vermerkt. Nur »Beethoven«. Über dem Namen zwei vergoldete Symbole: eine Leier und eine Schlange, die sich selbst in den Schwanz beißt. Sie bildet einen perfekten Kreis, in dessen Mitte ein Schmetterling mit ausgebreiteten Flügeln schwebt. Beides Zeichen der Auferstehung, habe ich mir sagen lassen.

Ich sehe das anders. Für mich sind es zwei Wesen, die einander belauern. Die Schlange würde sich eher selbst fressen, als den Schmetterling aus seinem Gefängnis zu lassen. Der wiederum ist erstarrt. Stellt sich tot. Könnte möglicherweise fliehen, fliegen. Aber er wagt es nicht.

Die Sonne bricht durch die Wolkendecke und lässt die goldenen Symbole glänzen. Ich senke den Blick. Ordne die Blumensträuße auf der Grabplatte und sortiere die verwelkten aus. Nicht mein Job, nur ein Bedürfnis. Dann mache ich mich auf den Rückweg in die Unsichtbarkeit.

 

Immer noch Kunden im Laden. Matti bindet Lilien, Germini, Santini und Aralien zu einem Kunstwerk in Blassrosa, Orange und Grün. Die Blumen sind kein Trauerschmuck, sondern vermutlich als Eisbrecher für ein Date gedacht; ihr Käufer ist ein junger Mann, der sich immer wieder die Hände an seinen Jeans abwischt.

Eileen steht an der Kasse und wirft einen bedeutungsvollen Blick auf das Bestellbuch, das neben ihr liegt. Ich klemme es mir unter den Arm und verschwinde nach hinten.

Nach wie vor schreibt sie Krantz statt Kranz, drei von vier Malen. Ich korrigiere die Schwerdlillien, die Hortenßien, die Pfinkstrosen; mache Krem zu Creme und Gestek zu Gesteck. Alles möglichst unauffällig.

Beim letzten Kranz hat Eileen Lielien notiert. Ich grinse unwillkürlich; es ist, als wolle sie alle denkbaren Schreibweisen ausprobieren, in der Hoffnung, dass wenigstens eine davon korrekt ist. Doch beim Weiterlesen vergeht mir das Lachen.

Die falsch geschriebenen Lilien wurden in Pink bestellt und sollen mit orangefarbenen Gerbera kombiniert werden. Der Kunde wünscht sich außerdem Vergissmeinnicht – die Eileen wundersamerweise fehlerfrei hinbekommen hat –, an einer passenden Stelle in den Kranz integriert.

Meine Beerdigungsfotos stehen mir wieder vor Augen. Ich fühle, wie der Puls in meinen Schläfen hämmert, im Hals, im Bauch.

Die nächste Zeile. Eine rote Schleife soll auf den Kranz, mit goldener Schrift: In Gedanken immer bei dir.

Kein Name. Nicht nötig. Der Auftrag lautet auf einen Martin Meier, der vorab bezahlt hat. Eine Adresse ist nicht angegeben.

Ich klappe das Buch zu, unterdrücke alle meine Fluchtreflexe und denke an die zerlegte Barrett M82 in meinem Kleiderschrank. Nicht, dass ich wirklich etwas damit vorhätte, aber mich beruhigt das Wissen um ihre Existenz.

Robert wird in der nächsten Zeit von sich hören lassen, daran habe ich keinen Zweifel. Die Frage ist nur, warum. Für einen Prozess fehlt immer noch der Angeklagte.

Vielleicht geht es ihm ja nur darum, mich nicht übermütig werden zu lassen. Vielleicht will er erreichen, dass ich vorsichtig bleibe.

Der Gedanke fühlt sich gut an, aber nur wenige Sekunden lang. Das ist nicht Roberts Art. Ich interessiere ihn nur so weit, wie ich ihm nütze.

»Siehst du dir auch noch die Internetbestellungen an?«, ruft Matti von der Verkaufstheke her. Ich krächze ein Ja und setze mich vor den Rechner, der alt und langsam ist, aber nicht ausgetauscht wird, weil Matti keine Lust hat, sich mit »neuem Zeug« auseinanderzusetzen, wie er sagt. Unkonzentriert klicke ich mich durch die Bestellungen und drucke zwei aus, die schon übermorgen fertig sein sollen. Jedes Mal, wenn die Tür zum Verkaufsraum sich öffnet, zucke ich zusammen. Wie zu Beginn, als wären nicht zehn Monate vergangen, sondern höchstens zehn Tage.

Doch nie ist es Robert oder gar einer von ihnen. Das würde ich sofort erkennen – an der Art, wie sie blitzschnell einen Raum erfassen, wenn sie ihn betreten. Sie sind fast geräuschlos, und sie lächeln immer. Bis zum Schluss.

Weil mir die blütenduftgeschwängerte Luft mit jeder Minute das Atmen schwerer macht und heute nichts Wichtiges mehr zu erledigen ist, bitte ich Matti, mich eine Stunde früher gehen zu lassen. Er ist nicht begeistert, aber er nickt. Er kann mittlerweile an meinem Gesicht ablesen, wann nichts mehr mit mir anzufangen ist.

Meine Wohnung liegt in der Geringergasse, ungefähr drei Kilometer vom Friedhof entfernt. Es sind zwei kleine Zimmer im dritten Stock, mit zerkratzten Parkettböden, einer einigermaßen hübschen Küche und einem Badezimmer mit angrenzendem WC.

Geringergasse, die Betonung liegt auf dem ersten E, trotzdem werde ich bis heute den Verdacht nicht los, dass Robert sich königlich amüsiert hat, als er den Namen erstmals sah. Die richtige Straße für mich; auf fast alles in meinem Leben passt das Attribut »gering«. Auf meine Hoffnungen. Meinen Spielraum. Meinen Lebensmut an Tagen wie heute.

Vielleicht ist ihm an der Adresse aber gar nichts weiter aufgefallen, als dass sie in praktischer Nähe zur Blumenhandlung liegt. Drei Stationen mit dem Bus, zwei mit der Straßenbahn – ich brauche selten länger als zwanzig Minuten von Tür zu Tür.

Als ich heute vor meiner Wohnung ankomme, liegen auf der Fußmatte eine Narzisse und eine Distel, zusammengebunden mit grober Paketschnur.

Ein paar Sekunden lang muss ich mich an der Wand festhalten, bis die schwarzen Punkte aus meinem Blickfeld verschwinden. Das hier war keine telefonische Bestellung an den Blumenladen. Jemand war hier, direkt vor meiner Wohnung. Zum ersten Mal seit zehn Monaten hat die Vergangenheit buchstäblich an meine Tür geklopft.

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2

Unter normalen Umständen würde ich heute Abend noch einmal nach draußen gehen. Es ist Mittwoch; da findet in einem nahe gelegenen Fitnessstudio die Krav-Maga-Stunde statt. Ich habe mich vor einem halben Jahr dort eingeschrieben, als der Drang, die Barrett mit mir herumzuschleppen, übermächtig wurde.

Krav Maga ist eine Form der Selbstverteidigung, die auch vom israelischen Militär angewendet wird, und sie macht keine halben Sachen. Geschlagen und getreten wird dorthin, wo es maximal schmerzhaft ist und der Schlag den Gegner möglichst lange außer Gefecht setzt. Oder sogar für immer, aber diese Techniken lernen wir natürlich nicht.

Es ist eine Illusion zu glauben, dass das bisschen Selbstverteidigung mein Leben auch nur um zwei Minuten verlängern wird, wenn sie mich finden. Trotzdem fühle ich mich während der Trainingsstunde weniger hilflos als sonst, alleine dafür lohnt sich die Investition.

Heute allerdings wage ich mich keinen Schritt mehr hinaus. Ich drehe Narzisse und Distel in meinen bebenden Fingern, suche nach einer versteckten Nachricht, finde keine und werfe das ungebetene Geschenk in den Mülleimer.

In den letzten Monaten habe ich meinem Leben beinahe gestattet, normal zu sein. Ich war in Cafés, wenn auch immer in Nischen versteckt. Ich habe Spaziergänge gemacht, einfach nur, weil ich wollte. Doch als es heute dunkel wird, wage ich es nicht einmal, das Licht anzudrehen. Falls draußen jemand lauert und meine Fenster im Auge behält, soll er vermuten, dass ich nicht zu Hause bin. Obwohl außer den Leuten vom Laden niemand meine neue Telefonnummer kennt, habe ich mein Handy in den Flugmodus geschaltet. Ich fühle mich unsichtbarer so. Liege im Bett und spiele Angry Birds bei zugezogenen Vorhängen.

Kurz vor zehn Uhr klopft es an der Tür. Mein Herz setzt einen Schlag aus, hämmert danach in doppeltem Tempo weiter. Eine halbe Minute später noch ein Klopfen, als Nächstes werde ich das metallische Schnappen hören, mit dem das Schloss geknackt wird.

Doch das passiert nicht. Es bleibt ruhig. Ich müsste bis in die Diele schleichen, um hören zu können, ob Schritte sich entfernen, aber ich kann mich kaum bewegen. Erst zwanzig Minuten später tappe ich zum Fenster, ziehe den Vorhang einige Zentimeter zur Seite und spähe hinaus.

Soweit ich es erkennen kann, ist niemand auf der Straße. Die Autos auf dem Parkplatz sind zum größten Teil die, die immer da stehen, und ja, auf solche Dinge achte ich.

Bevor ich zurück ins Bett gehe, klemme ich einen der Küchenstühle unter die Klinke der Eingangstür. Natürlich weiß ich, wie lächerlich das ist, trotzdem fühle ich mich anschließend sicherer. Und schaffe es tatsächlich, einzuschlafen.

Der Traum, der mich um halb fünf Uhr morgens hochschrecken lässt, ist der gleiche, der mich seit über einem Jahr verfolgt. Nicht mein Tod, sondern ein anderer, ungleich schrecklicherer. Ich träume in Farbe, in Geräuschen und Gerüchen, und genau wie in dieser grauenvollen Nacht möchte ich nur weglaufen. Damals durfte ich nicht, wenn mein Leben mir lieb war. Heute kann ich es nicht, der Traum lässt meinen Körper bleischwer werden, presst sich gegen meine Brust, bis ich keine Luft mehr bekomme und nach Atem ringend hochschrecke.

Keine Chance, wieder einzuschlafen. Draußen ist es noch dunkel, also taste ich mich ins Badezimmer, das keine Fenster hat, dort kann ich Licht anmachen. Ich könnte mich heute krankmelden, zu Hause bleiben und auf die Panikattacke warten, die spätestens um elf Uhr einsetzen würde. Doch da fürchte ich mich lieber zwischen Kränzen und Gestecken im Hinterzimmer des Blumenladens.

Der erste Bus geht ungefähr in einer Dreiviertelstunde, dann fährt auch die Straßenbahn. Ich könnte kurz nach halb sechs am Friedhof sein. Der öffnet erst um sieben, aber ich weiß, wo Matti den Ersatzschlüssel für den Laden versteckt hat.

Also dusche ich, flechte mein Haar zu einem straffen Zopf, ziehe Jeans und eines meiner übergroßen Sweatshirts an, dann stelle ich mich zur Tür und blicke durch den Spion.

Der Gang ist dunkel. Schaffe ich das gleich, hinaus in die Finsternis zu treten? Was, wenn wieder Blumen auf der Türmatte liegen?

Zehn Minuten lang ringe ich mit mir, dann gehe ich in die Küche und hole das große Fleischmesser aus der Schublade. Nicht ganz so effizient wie die Barrett, aber besser als nichts. Ich stecke es in die Handtasche und öffne die Wohnungstür.

Keine Blumen. Niemand, der sich auf mich stürzt. Ich entscheide mich gegen den Lift, schleiche langsam die Treppen hinunter und gehe dann einfach durch den Haupteingang. Vereinzelt sind schon Autos unterwegs, aber noch ist die Stadt mit Erwachen beschäftigt. Am Himmel zeigen sich die ersten hellen Streifen.

Ich gehe mit gesenktem Kopf, den Reißverschluss der Tasche offen, die Hand fest um den Messergriff gelegt. Möglichst nah an den Hausmauern, möglichst weit von den geparkten Autos entfernt. Falls aus einem davon jemand herausspringen sollte, zählt jeder Zentimeter Entfernung.

An der Bushaltestelle stehen schon Leute; ein junger Mann mit Rucksack und eine Frau mit weißen Löckchen, die leise vor sich hin murmelt.

Ich stelle mich dazu. Als der Bus kommt, setze ich mich direkt hinter den Fahrer. Zwei Stationen, dann umsteigen in die Straßenbahn. Am Friedhof steige ich nicht aus, stattdessen fahre ich so lange zwischen Kaiserebersdorf und der Burggasse hin und her, bis es sieben Uhr ist.

 

Robert taucht gegen halb elf auf. Er hat die Hände in den Jackentaschen und steuert zielstrebig auf den Laden zu, in dem ich mich gerade nicht befinde. Ich stehe am Lieferwagen, hinter den ich mich auch sofort ducke, in der Hoffnung, dass Robert mich noch nicht gesehen hat.

Hat er offenbar nicht. Er betritt die Blumenhandlung, und ich sprinte los, die Mauer entlang zum Friedhofseingang. Diesmal zieht es mich nicht zu Beethoven, sondern in die Ecken, wo nur alte Frauen und Gärtner sich hinverirren. Zu den normalen Gräbern, zu den toten Meiers und Grubers und Fischers.

Robert wird längst nach mir gefragt haben. »Sie räumt gerade den Wagen ein«, hat Matti vermutlich geantwortet, sich die Hände an der Schürze abgewischt und Robert zum Parkplatz begleitet. Wo niemand mehr anzutreffen war. Wahrscheinlich hat er mich dann angerufen. Mein Handy ist stumm geschaltet, aber mit ein bisschen Pech hat er in meiner Handtasche nachgesehen. Und dort das Küchenmesser entdeckt.

Ich höre erst auf zu rennen, als Seitenstechen mich dazu zwingt. Keuchend setze ich mich auf eine Grabeinfassung und stütze das Gesicht in die Hände. Weglaufen war ein Reflex, aber ein sinnloser, wenn ich darüber nachdenke. Robert ist eigens von Wiesbaden nach Wien gekommen, um mich zu treffen. Er wird nicht abreisen, ohne mich gesprochen zu haben; die Kranzbestellung und die Blumen vor meiner Tür waren eine Ankündigung. Er wollte mich bloß auf sein Kommen vorbereiten, schätze ich. Stattdessen hat er mich in Panik versetzt.

Im Grunde kann sein Auftauchen nur eines bedeuten: Es ist so weit. Sie haben jemanden festgenommen, und ich muss von den Toten wiederauferstehen. Vor Gericht erscheinen. Erzählen, was ich gesehen, gehört und erlebt habe.

Ein Teil von mir hat gehofft, dass es nie dazu kommt. Ein anderer Teil will die Art von Gerechtigkeit, die es ohnehin nie geben wird: das gleiche Ausmaß von Blut, Tränen, Schmerz und Verzweiflung auf der gegnerischen Seite. Auch dort erdrückende Schuldgefühle, Angstzustände, Panikattacken.

Als ob das möglich wäre.

Ich sollte zurückgehen und mit Robert reden. Früher oder später wird er mich ohnehin dazu zwingen.

 

»Es war jemand da für dich, dein Cousin«, erklärt Matti mir, als ich die Blumenhandlung wieder betrete. »Ich dachte, du würdest den Lieferwagen einräumen. Der hat zwar offen gestanden, aber von dir war da keine Spur.«

»Ich weiß. Tut mir leid. Mir war … schlecht.«

Matti sieht mich aus zusammengekniffenen Augen an. »Aha. Warum bist du dann nicht zurück in den Laden gegangen?«

»Ich musste weg von all den intensiven Gerüchen«, sage ich schnell. »Hat auch funktioniert, mir geht’s besser.«

Er mustert mich ungläubig. »Gerüche waren doch noch nie ein Problem für dich.«

»Nein. Hab mich selbst gewundert. Vielleicht habe ich gestern zu viel Wein erwischt.«

Das ist etwas, das Matti versteht. Wein ist ein wichtiger Teil seiner Welt; davon zu viel zu erwischen gehört zum täglichen Leben dazu.

»Okay. Wenn du Aspirin brauchst, ich habe eine Packung in der Schreibtischschublade.«

»Danke.« Ich hole tief Luft. »Hat Robert etwas gesagt? Kommt er noch einmal her?«

Matti nestelt einen Zettel aus seiner Schürzentasche. »Das ist das Hotel, in dem er abgestiegen ist. Seine Handynummer steht auch da.«

Dass ich Robert nicht von meinem eigenen Telefon anrufen werde, liegt auf der Hand. Das Handy, das er mir organisiert hat – mit der angeblich sicheren Kommunikations-App –, ist längst deaktiviert; ich habe mir ein gebrauchtes Smartphone und eine Prepaid-Karte zugelegt. Im Supermarkt, wo niemand so genau weiß, wie ein gefälschter Ausweis aussieht.

Für Menschen wie mich, die unsichtbar bleiben wollen, ist das sukzessive Verschwinden der Telefonzellen ein schwerer Schlag – aber ich weiß mittlerweile, dass es rund um den Zentralfriedhof eine ganze Menge davon gibt. Nicht direkt am Haupteingang, aber bei Tor eins, Tor vier, Tor neun und Tor elf.

Die Zelle meiner Wahl ist die bei Tor elf, sie ist am schwierigsten einzusehen – wer heute noch öffentliche Telefone benutzt, fällt auf. Ich warte, bis Matti mich in die Mittagspause schickt, dann mache ich mich auf den Weg.

Mittlerweile habe ich mich einigermaßen beruhigt. Es ist Robert, der Kontakt aufgenommen hat, das heißt, die anderen haben mich noch nicht gefunden. Oder eben doch, und er ist hier, um mich möglichst schnell anderswohin zu schaffen.

Am wahrscheinlichsten ist jedoch, dass ich jetzt dem Zweck zugeführt werden soll, den er in mir sieht: Ich soll meine Aussage machen. Er wird mich wie ein Kaninchen aus dem Hut zaubern, im letzten juristisch akzeptablen Moment.

Ich hole ein paar Münzen aus meiner Hosentasche, werfe sie ein und wähle seine Nummer. Er meldet sich nach dem ersten Klingeln.

»Da bist du ja«, sagt er.

»Ja.«

»Ziemlich albern, dich vor mir zu verstecken.«

»Ich weiß.«

Er seufzt. »Na gut. Wir haben etwas zu besprechen, am besten, du kommst heute Abend zu mir ins Hotel. Sieben Uhr?«

Ich werfe einen Blick auf den Zettel. Das Hotel liegt im dritten Bezirk, ist von hier aus schnell zu erreichen. Nur möchte ich nicht mit Robert innerhalb derselben vier Wände sein.

»Sieben Uhr ist gut, aber lieber draußen«, schlage ich deshalb vor. »Schlosspark Belvedere, okay? Am singenden Brunnen.«

»Was ist der si…«, höre ich ihn noch sagen, dann lege ich auf. Er wird den Brunnen finden, und er wird zehn Minuten vor unserem Termin vor Ort sein.

Den Rest des Tages binde ich Kränze und Blumensträuße, lächle Kunden aufmunternd zu und plaudere mit Eileen, ohne dass der Inhalt unserer Gespräche mein Bewusstsein erreicht. Es ist vier Uhr nachmittags, als Goran mir einen Schokoladenkeks in die Hand drückt und ich begreife, dass ich heute noch keinen Bissen gegessen habe. Ich stecke den Keks Eileen zu, denn mein Magen ist ein kleiner, verhärteter Klumpen; überhaupt nicht fähig, Nahrung aufzunehmen.

Erst als ich mich gegen halb sieben zum Aufbruch bereit mache, dämmert mir allmählich, dass ich den Treffpunkt doch nicht so gut gewählt habe. Mir ging es vor allem darum, jederzeit abhauen zu können, Raum nach allen Seiten zu haben. Im Freien würde er mich in keine Ecke drängen können, die Länge des Gesprächs wäre meine Entscheidung.

Aber leider habe ich mir nicht vor Augen geführt, wie öffentlich die Stelle ist, an der wir uns treffen. Das Wetter ist schön heute, der Schlosspark des Belvedere ein Magnet für Spaziergänger und Touristen. Touristen bedeuten Handyfotos, Selfies und intensives Teilen derselben auf Instagram, Facebook und Twitter.

Wenn ich zufällig auf einem dieser Fotos drauf bin, wenn es online gestellt wird, wenn die falschen Leute es sehen …

Natürlich ist die Wahrscheinlichkeit dafür winzig, aber sie ist nicht gleich null. Im Fall des Falles wissen sie dann nicht nur, dass ich noch lebe, sondern praktischerweise auch, wo.

Auf dem Weg zur Straßenbahn bin ich drauf und dran, noch einmal zur Telefonzelle zu laufen und den Treffpunkt zu ändern. Doch dann fällt mein Blick auf mein eigenes Spiegelbild in der Scheibe eines Gasthofs, an dem ich vorbeigehe.

Ich sehe mir nicht mehr sehr ähnlich. Mein Haar ist kürzer und mausbraun gefärbt – genau die nichtssagende Farbe, die andere mit Rot, Blond oder Brünett übertünchen. Ich bin dünn geworden und hülle mich in labbrige Sweater und ebensolche Jeans – als Frau bin ich praktisch unsichtbar. So anders, so ganz anders als früher.

Trotzdem bin ich auf der Hut, während ich den Weg zum singenden Brunnen einschlage. Ich achte auf knipsende Touristen, und ich halte den Kopf gesenkt.

Ganz wie ich erwartet hatte, ist Robert bereits da. Er steht ein paar Meter vom Brunnen entfernt, hält eine halb gerauchte Zigarette zwischen den Fingern und tut so, als würde er die Atmosphäre des Parks in sich aufsaugen.

Sein Haaransatz ist noch ein Stück zurückgewichen, aber vielleicht wirkt das nur so, weil die dünnen, blonden Strähnen ihm nun bis über den Kragen hängen. Wie immer steht er mit hängenden Schultern da, als wolle er sich kleiner machen, als er ist.

Der Drang wegzulaufen wird übermächtig, aber da hat Robert mich schon entdeckt. Er bewegt sich nicht auf mich zu, klopft nur die Asche von seiner Zigarette und legt leicht den Kopf schief. Abschätzend. Als würde er sich fragen, wie viel ich kosten könnte.

Ich überwinde mich zu einem Lächeln und dem Zurücklegen der letzten Meter. »Hallo.«

»Ca-ro-lin.« Er streicht mir übers Kinn. »Schon daran gewöhnt?«

Er meint den Namen, nicht die Berührung. An die will und werde ich mich nicht gewöhnen. »Geht so.«

»Ist doch hübscher als dein echter Name.« Er zieht an seiner Zigarette und bläst den Rauch dankenswerterweise an mir vorbei.

»Warum bist du hier?«

Er sieht mich an, als fände er es unhöflich, dass ich sofort zur Sache kommen will, ohne vorher sein Bedürfnis nach Small Talk zu stillen. Oder mich für seinen Blumengruß zu bedanken. Kurz setzt er dazu an, etwas zu sagen, zieht dann aber lieber noch einmal an seiner Zigarette. »Ich brauche dich«, murmelt er schließlich. »Und offensichtlich ist das Handy, das ich dir gegeben habe, nicht mehr in Betrieb.«

Richtig. Es liegt im Grab eines gewissen Ludwig Niederstetter, drei Meter unter der Erde. Die SIM-Card schwimmt in der Donau.

Ich habe mir die Nägel in die Handflächen gebohrt, fast ohne es zu merken. »Du brauchst mich – weil ihr jemanden festgenommen habt?«

»Festgenommen? Nein.«

Einen kurzen, verrückten Augenblick lang denke ich, er ist aus privaten Gründen hier. Der Eindruck verstärkt sich, als er nach meiner Hand greift. Seine ist feucht, meine eiskalt. »Lass uns ein Stück gehen.«

Ich widerstehe dem Impuls, mich aus seinem Griff zu befreien, und lasse mich von Robert mitziehen. Zehn, zwanzig Schritte, dann bleibe ich stehen. »Sag mir, was du von mir willst.«

Er lässt meine Hand los. »Ich möchte, dass du dich mit jemandem anfreundest.«

Es ist, als würde er mich grob in die Vergangenheit zurückstoßen. Mich mit jemandem anfreunden. Nett zu ihm sein. Sein Vertrauen gewinnen.

»Bist du verrückt?« Ich bin zwei Schritte zurückgewichen, möchte einfach kehrtmachen und wegrennen. »Nie wieder. Hier bin ich endlich sicher, ich spiele deine Spielchen nicht mehr mit. Sobald es so weit ist, mache ich meine Aussage. Das war unser Deal. Mehr nicht.«

Robert hat seine Unterlippe zwischen die Zähne gezogen. Er nimmt eine neue Zigarette aus der Packung. »Findest du es klug, dich so auffällig zu benehmen?«, fragt er leise.

Er hat recht, ein oder zwei Spaziergänger haben sich eben nach mir umgedreht. Ich zwinge ein schuldbewusstes Lächeln auf mein Gesicht. »Entschuldige bitte, Schatz«, sage ich und greife nun meinerseits nach seiner Hand. Die Passanten wenden sich wieder ab, und wir gehen weiter. Etwas in meiner Brust krampft sich zusammen.

»Siehst du, das Hotel wäre ein besserer Treffpunkt gewesen«, stellt Robert trocken fest. »Aber es gibt überhaupt keinen Anlass, dich aufzuregen. Ich treibe dich keinem schmierigen Typen in die Arme, ich möchte, dass du dich mit einer jungen Frau anfreundest. Gut erzogen, wohlhabend, sympathisch.«

Das genaue Gegenteil von mir, aber das ist nicht der Punkt. »Du holst mich ernsthaft aus meiner Deckung? Lass mich raten: Ihr habt die Sache aufgegeben. Ihr werdet ihn nicht erwischen, weil er irgendwo in China oder Mexiko sitzt, also kannst du mich genauso gut wieder in die Schlacht schicken.«

Er sieht mich kurz von der Seite an. »Es ist München, nicht Frankfurt. Und keine Rede von Schlacht. Kaffeetrinken mit einem netten Mädchen. Ein bisschen plaudern. Die Ohren offen halten. Vielleicht einen Blick darauf haben, wer bei ihr ein und aus geht.«

So wie er es sagt, klingt es harmlos, aber das hat es auch beim letzten Mal. Anfangs.

»Nein. Sorry. Du hast sicher noch jemand anderen in petto, der ein bisschen Kaffeeklatsch hinbekommt.«

Erst denke ich, er will meine Hand loslassen, aber er lockert seine Finger nur kurz, um danach umso fester zuzupacken. »Wenn das so wäre, hätte ich nicht gesagt, dass ich dich brauche.«

»Aber wieso?« Ich kann hören, wie sich Verzweiflung in meine Stimme mischt. »Das ist doch auch für dich ein unnötiges Risiko. Wenn sie herausfinden, dass ich noch lebe …«

Er blickt zu Boden, dann blinzelt er in Richtung Wolken. »Das werden sie nicht. Keiner sucht mehr nach dir, sie haben dich längst vergessen.«

Sein kurzes Zögern verrät mir zweierlei. Erstens, dass er mich für nicht mehr so schützenswert hält wie noch vor zehn Monaten. Was zweitens bedeutet, dass seine Hoffnung auf den Prozess, bei dem ich nützlich sein könnte, tatsächlich nicht mehr groß ist. Damit der ganze Aufwand, den er rund um mich betrieben hat, sich trotzdem gelohnt hat, führt er mich nun eben einem anderen Zweck zu.

Aber da spiele ich nicht mit. »Ich bin dir nichts mehr schuldig, Robert. Ganz im Gegenteil.«

Er seufzt. »Das sehe ich ja genauso. Nur bin ich damit leider alleine, ich bekomme von oben keine Unterstützung mehr, was dich betrifft. Unsere Abmachung war von Anfang an eine schräge Idee, und ich bewege mich damit jenseits aller meiner Vorschriften.« Sein Griff um meine Hand festigt sich. »Im Moment bedeutest du vor allem Arbeit und dass ich neunzig Prozent meiner Kollegen anlügen muss. Zum Beispiel über meine Reise nach Wien. Die drei Leute, die wissen, dass du lebst, sagen, du bist außer Gefahr, und du kostest zu viel Geld.«

Robert sieht mich nicht an, während er spricht. Lügt er? Möglich, aber im Grunde egal. Ob er es ist, der mich fallen lässt, oder seine Vorgesetzten, das Resultat ist dasselbe. Ich wäre auf mich allein gestellt, ohne Sicherheitsnetz für den Notfall. Niemand würde mehr groß darauf achten, ob einer der Karpins sich auf den Weg nach Wien macht.

Ich würde nie wieder schlafen. In ihren Augen bin ich eine Verräterin, und ich weiß, was sie mit Verrätern anstellen.

»Du erpresst mich also?«

»Um Gottes willen, nein.« Robert unternimmt den missglückten Versuch eines treuherzigen Blicks. »Ich biete dir eine Möglichkeit, das ist alles. Ein paar Wochen lang wohnst du in München und freundest dich mit deiner Nachbarin an. Es ist ein Spaziergang gegen das, was du früher gemacht hast. Danach kommst du zurück nach Wien und bastelst weiter hübsche Blumenkränze. Meine Vorgesetzten sind zufrieden, und das Leben ist wieder sicher und schön.«

Daran, wie sicher sich anfühlt, kann ich mich nicht erinnern, und wirklich schön wird es nie mehr. Aber gut.

»Mein Job«, sage ich müde. »Matti wird mich rauswerfen, wenn ich wochenlang ausfalle.«

»Mach dir darüber keine Sorgen«, sagt Robert. »Dein Cousin hat dir die Stelle doch besorgt, der regelt das für dich.«

Wir verabreden uns für den nächsten Abend in seinem Hotel, damit er mich mit den Details vertraut machen kann. Wieder zu Hause, stelle ich mich vor den Spiegel im Badezimmer und ziehe mein Shirt hoch.

Die Narben sind dunkelrosa, zwei davon wulstig und glatt. Ich fahre mit dem Finger darüber; irgendwann wird man sie eher spüren als sehen. Vorausgesetzt, ich lebe lange genug, um ihnen die Chance zu geben, verblassen zu können.

Fertignudeln aus dem Supermarkt und ein Glas Rotwein, das mich müde machen soll. Klappt leider nicht. Ich liege im Dunkel, und alles ist wieder da. Die Erinnerung an den harten Boden, auf dem ich aufschlage. Die Verwunderung darüber, dass da kein Schmerz ist. Mein Blut, das mir über die Finger läuft und sich mit dem mischt, das nicht meines ist.

Und dann die Erleichterung. Das trügerische Gefühl, dass es ja ganz einfach ist, zu sterben.

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3

Pünktlich um sieben bin ich am nächsten Abend in Roberts Hotel. Mittelklasse, gepflegt, für Touristen mit begrenztem Budget. Unter dem vielsagenden Blick der Frau an der Rezeption gehen wir in den zweiten Stock hinauf. Vor der Zimmertür zögere ich.

»Also bitte«, sagt Robert und lacht. »Du denkst nicht ernsthaft, dass ich mich an dir vergreife, oder?«

Nein, tue ich nicht, obwohl der Gedanke meinen Kopf durchzuckt hat.

»Ich will dich ja nicht beleidigen, Mäuschen«, sagt er, während er die Zimmerkarte vor den Kontakt am Schloss hält. »Aber reizvoll ist anders. Musst dich also nicht vor mir fürchten.«

Früher hätte eine solche Bemerkung meinen Stolz verletzt, heute macht sie mich einfach nur froh. Die Vorstellung, mich gegen Roberts feuchte Hände wehren zu müssen, dreht mir den Magen um.

Er holt eine Mappe aus dem Koffer, und wir setzen uns an den kleinen Tisch, der unter dem Zimmerfenster steht. Dort zieht er ein DIN-A4-Foto heraus und legt es vor mir ab.

Ich schätze die Frau auf Anfang dreißig. Sie ist blond, trägt einen kurzen, hellbeigen Rock, eine weiße Bluse und naturfarbene Riemchenpumps. Hübscher Anblick.

»Tamara Lambert«, sagt Robert, ohne den Blick vom Foto zu wenden. »Sagt dir der Name Lambert etwas?«

Ich zucke mit den Schultern. »Sollte er das?«

»Eigentlich ja. Lambert-Bau, eines der größten Bauunternehmen Deutschlands. Sie ist die Enkelin des Gründers, ihr Vater leitet das Unternehmen, ihr Bruder wird ihm irgendwann nachfolgen.«

Jetzt, wo Robert es sagt, ist der Name mir tatsächlich ein Begriff. Vielleicht hat er ja doch nicht gelogen, und die Sache, auf die er mich ansetzt, ist diesmal wirklich nicht so dramatisch. Rund um Bauunternehmen gibt es immer wieder Korruption, Betrug, illegale Preisabsprachen. Die blonde Erbin ein wenig auszuhorchen traue ich mir zu.

»Arbeitet Tamara in der Firma mit?«

»Nein. Nicht mehr. Sie hat sich vor knapp zwei Jahren von der Familie distanziert und eine Ausbildung als Tanztherapeutin gemacht. Zwischen ihr und ihren Eltern läuft es nicht so gut, sie hat nicht allzu viele Sozialkontakte, deshalb hoffen wir, dass sie dir ihr Herz ausschütten könnte.«

Allmählich weicht die Anspannung aus meinem Körper. Was Robert von mir verlangt, ist kein allzu hoher Preis für den Schutz, den er mir bietet. »Geht es um Geldwäsche? Bestechung?«

Ich kann sehen, wie er zögert. »Nein«, sagt er schließlich. »So einfach ist es nicht.«

Ich hätte mir das denken müssen. Roberts Einsatzgebiet ist nicht Wirtschaftskriminalität. Die kommt nur manchmal am Rande vor.

Er zieht einen Umschlag aus der Tasche. »Ich sollte dir das hier wahrscheinlich nicht zeigen«, murmelt er. »Verfolgst du die Nachrichten?«

»Nicht regelmäßig.« Ich strecke die Hand nach dem Umschlag aus, aber Robert gibt ihn mir nicht. »Im Groben geht es um Folgendes: Es gab in den letzten Monaten ungewöhnlich viele Unfälle in der Baubranche. Eine alte Frau, die in einen ungesicherten Schacht gestürzt ist; zwei Arbeiter, die unter einem herabfallenden Bauteil begraben wurden, und ein umgestürzter Kran – der Fahrer war sofort tot.«

Die Sache mit dem Kran habe ich gehört, meine ich mich zu erinnern. »Aha. Und das alles ist auf Baustellen von Lambert passiert?«

Robert dreht den Umschlag zwischen den Händen. »Nein. Auf Baustellen der Konkurrenz. Im Moment sind noch drei Baukonzerne im Rennen um die Vergabe eines Großauftrags. Ein neues Krankenhaus, Budget rund achthundert Millionen. Es wird sich zwischen der Vossen AG, Korbach-Bau und eben Lambert entscheiden. Die Unfälle passieren bei den Mitbewerbern, nur bei Lambert nicht.«

Ich verstehe, worauf Robert hinauswill, ich weiß bloß nicht, wie er sich vorstellt, dass ich helfen soll. Indem ich Tamara Lambert entlocke, wer die Konkurrenz sabotiert? So, wie er die Situation schildert, kann sie das überhaupt nicht wissen.

»Und vor zwei Wochen hat sich die Lage verschärft.« Er mustert mich prüfend, als wisse er nicht, ob er weiterreden soll. Sieht den Umschlag an, dann wieder mich. Schließlich zieht er ein Foto aus dem Kuvert.

Ich vermute, die Spurensicherung hat es geschossen, was mir aber erst nach ein paar Sekunden klar wird. Zuerst begreife ich nicht, was ich da vor mir habe. Ein großes Loch in einer Wand, aus dem etwas … herausragt. Erst bei genauerem Hinsehen wird mir klar, dass es ein Arm ist.

Die körperliche Reaktion setzt unmittelbar ein. Mein Puls beschleunigt sich, Schweiß tritt auf meine Stirn, das Bild in meiner Hand zittert. Ich lasse es fallen, reiße Robert den Umschlag aus der Hand und zerre den Rest des Inhalts heraus.

Die Freilegung der Leiche in mehreren Phasen. Es wird eine Schulter sichtbar, dann ein Kopf. Sieht nach Frau aus. Auf dem letzten Foto hat man die Tote auf den Boden gebettet. Beton umschließt noch das untere Ende der Beine. Ihr Mund steht weit offen.

Ich lasse die Fotos fallen und stehe auf, steuere auf die Tür zu, ohne ein Wort. Robert sagt etwas, das ich nicht verstehe, so laut ist das Rauschen in meinen Ohren. Dann bin ich aus der Tür, wanke den Gang entlang, die Treppen hinunter, durch die Lobby. Raus. Nur raus.

Draußen die Straße entlang, ohne mich umzuwenden. Die Vorstellung, mit der Straßenbahn zu fahren, ist unerträglich. Zu eng, zu stickig, zu viele Menschen, Fluchtmöglichkeit nur an den Stationen. Also laufe ich.

Wie dumm von Robert, mir diese Bilder zu zeigen. Wie dumm.

Im Vorbeihasten remple ich Passanten an, entschuldige mich, setze meinen Weg wie blind fort. Erst an der dritten Straßenbahnstation bleibe ich stehen und drehe mich um. Robert ist nirgendwo zu entdecken. Ist mir nicht gefolgt, aber mir ist vollkommen klar, dass er nicht aufgegeben hat.

Von wegen, bloß Kaffee trinken und plaudern. Und hier geht es auch nicht um einfache Sabotage an den Projekten konkurrierender Unternehmen. Jemand hat diese Frau eingemauert, hat sie in die Verschalung gelegt und flüssigen Beton über sie gegossen. Hoffentlich war sie schon tot, aber ihr geöffneter Mund lässt mich etwas anderes denken.

Ich lasse die nächste Straßenbahn passieren, weil ich Angst habe, mich übergeben zu müssen. Erst in die übernächste steige ich ein.

Wie kann Robert mir so etwas antun wollen? Ich lache auf, als mir die Absurdität dieses Gedankens bewusst wird. Als ob er in solchen Kategorien denken würde. Ich bin nur entweder nützlich oder nutzlos, der Rest spielt keine Rolle.

Meine überstürzte Flucht lässt mich nun aber mit den Fragen zurück, die ich ihm nicht mehr gestellt habe. Wer war die Frau? Wurde sie auf einer Baustelle der Lamberts gefunden oder auf einer der Konkurrenz? Wird wegen Mordes ermittelt, gibt es Verdächtige? Oder wird das Ganze ebenfalls als Unfall behandelt? Unbefugte betritt Baustellengelände, fällt in Mauerverschalung und wird versehentlich einbetoniert?

Hinter meiner Stirn pochen beginnende Kopfschmerzen. Die Erinnerung an die Halle ist lebendiger als seit Langem. Die Stimmen. Die Schreie. Der Geruch …

Mein Magen hebt sich unmittelbar, ich beiße die Zähne zusammen und denke an etwas anderes – weiße Lilien. Malven. Ziergräser, die sich im leichten Wind biegen.

An meiner Station steige ich aus und mache mich auf den Weg in die Geringergasse, zu Fuß. Keine Busfahrt mehr heute, dann lieber dumme Bemerkungen von der Gruppe betrunkener Jugendlicher, die mir kurz vor der Wohnanlage entgegenkommen. Sie prosten mir mit ihren Bierdosen zu, einer versucht, mir etwas daraus über den Kopf zu schütten, erwischt aber nur meine Schulter.

Ich gehe einfach weiter. Die Zeiten, in denen ich mich von pöbelnden Kindern hätte einschüchtern lassen, sind unendlich lange vorbei.

Der Geruch von Bier auf meiner Jacke ist allerdings lästig, und ich ziehe sie schon aus, während ich in den Hauseingang trete. Der Schlüsselbund ist noch in der Tasche, ich ertaste ihn, hole ihn heraus – und im gleichen Moment tritt eine Gestalt aus dem Schatten neben der Tür.

Meine Reaktion kommt instinktiv und ohne Zögern. Eine schnelle Wendung, ein Tritt mit der Ferse in die Kniekehle des Mannes, der mit einem Ächzen einknickt. Ausholen zum nächsten Tritt, den Schlüsselbund zum Schlag heben …

Und dann sehe ich, dass es Norbert ist, aus dem vierten Stock. Der mir seine Zeitung bringt, wenn er sie gelesen hat, der mir grundsätzlich die Tür aufhält und mir mehrmals angeboten hat, sich meine verhaltensauffällige Geschirrspülmaschine anzusehen.

»Oh Gott, das tut mir so leid!« Ich reiche ihm die Hand und helfe ihm auf. Norbert ist siebenundsechzig Jahre alt und hat ein Blutdruckproblem; wenn ihn jetzt meinetwegen der Schlag trifft, setze ich das mit auf Roberts Rechnung.

»Was …«, stammelt er. »Warum? Ich wollte nur …«

»Meine Schuld.« Ich stütze ihn mit der linken, während ich mit der rechten Hand den Schlüssel ins Schloss stecke. »Ich bin so erschrocken, ich habe dich nicht erkannt.«

»Ach so.« Er schnappt nach Luft. »Ich wollte dir keine Angst einjagen. Tut mir leid.«

»Du bist der Letzte, der sich entschuldigen muss.« Ich ziehe ihn mit mir ins Haus und bis zum Aufzug. »Komm noch auf einen Sprung zu mir, hm? Auf ein Glas Rotwein? Ich habe auch Apfelsaft.«

Er sagt weder Ja noch Nein, steigt aber mit mir im dritten Stock aus. Ich bugsiere ihn auf die Wohnzimmercouch und verteile das, was sich noch in der angebrochenen Flasche Chianti befindet, auf zwei zweifelhaft saubere Gläser. Die Geschirrspülmaschine braucht wirklich eine Reparatur.

»Danke.« Er nimmt den Wein entgegen, seine Hand zittert kaum merklich.

»Habe ich dir wehgetan?«

»Nein.« Jetzt lächelt er immerhin. »Alle Knochen sind noch heil. Ich wusste nicht, dass du Karate kannst.«

Nicht Karate, nur das kleine bisschen Krav Maga und ein paar der miesen, aber wirksamen Tricks, die man sich von Spezialeinheiten zeigen lassen kann. Norbert davon zu erzählen wäre sicher auch nicht gut für seinen Blutdruck. »Ich habe mal einen Selbstverteidigungskurs gemacht«, sage ich also. »Es tut mir wirklich leid, aber ich bin heute … irgendwie nervös.«

Er betastet den Ellbogen, mit dem er seinen Sturz aufgefangen hat. »Ärger im Job?«

»Ja. Ein paar unangenehme Kunden.«

»Die gibt es in jeder Branche.« Norberts Lächeln hat etwas Väterliches. »Aber in deiner natürlich besonders. Die meisten, die zu dir kommen, haben jemanden verloren. Vielleicht hilft es dir, daran zu denken, dass sie verwundbarer sind als du.«

Bevor er in den Ruhestand gegangen ist, war Norbert abwechselnd Taxifahrer und »Entertainer«, wie er es nennt. Ein Mann mit einer billigen Elektroorgel und einem Mikrofon, der auf drittklassigen Veranstaltungen Tanzmusik gemacht hat. Er kennt die Menschen, denke ich, und was er sagt, ergibt Sinn. Bloß, dass mir zickige Kunden zutiefst egal sind. Und dass niemand verwundbarer ist als ich.

Norbert geht, nachdem er ausgetrunken und mir mehrfach versichert hat, dass ihm nichts fehlt. Ich verkrieche mich ins Bett. In meinem Kopf lassen Bilder und Gedanken keinen Platz für Schlaf. Die Frau in der Mauer, Roberts kaum versteckte Drohung, der Anblick von rotem Blut auf dunklem Teer. Mein Blut, das sich mit anderem mischt. Deinem.

Aber ich werde jetzt nicht an dich denken. Ich darf es nicht, sonst muss ich die nächsten Wochen wieder gegen den vertrauten schwarzen Sog aus Schuld und Hoffnungslosigkeit ankämpfen.

Schlechter Zeitpunkt dafür. Ich werde in den nächsten Tagen meinen ganzen Verstand brauchen, um Robert zu überreden, mich aus der München-Sache rauszulassen und mir trotzdem weiterhin den Rücken freizuhalten.

Vielleicht steckt ja mehr Fairness in ihm, als ich dachte. Vielleicht hat er mir deshalb die Fotos gezeigt.

 

Am darauffolgenden Tag verkrieche ich mich nach hinten in die Werkstatt und überlasse Eileen die Laufkundschaft. Sie hat gute Laune, eines ihrer Dates war vielversprechend und wird am kommenden Samstag wiederholt, wie sie mir flüsternd erzählt. Matti runzelt die Stirn; er hat Eileen gegenüber einen schon fast eifersüchtigen Beschützerinstinkt entwickelt und würde am liebsten jede ihrer männlichen Bekanntschaften persönlich überprüfen.

Die Kranz- und Gesteckbestellungen liegen ausgedruckt vor mir, in der Reihenfolge ihrer Dringlichkeit. Dafür, dass ich nicht gelernte Floristin bin, sondern mir das Handwerk in einem zweiwöchigen Crashkurs angeeignet habe, halte ich mich nicht schlecht. Ich bin zwar viel langsamer als alle anderen hier, aber meine Ergebnisse sind besser als bloß akzeptabel.

Es ist kurz nach zehn, als ich Roberts Stimme aus dem Verkaufsraum höre, wo Eileen seit einer halben Stunde allein arbeitet. »Ich möchte gern mit Carolin sprechen, ist sie hier?«

Damals, an meinem ersten oder zweiten Tag in der Blumenhandlung, habe ich Eileen eine schaurige Story von einem Stalker erzählt, der sich die verrücktesten Dinge einfallen lässt, um an mich heranzukommen. Ich habe sie gebeten, niemandem Auskunft über mich zu geben, den sie nicht kennt. Sie hat das sofort akzeptiert und hält sich eisern daran – auch jetzt.

»Tut mir leid, ich weiß nicht genau, wo Caro steckt. Kann sein, dass sie Goran bei den Lieferungen hilft. Oder sie hat etwas auf dem Friedhof zu erledigen. Soll ich ihr etwas ausrichten?«

Roberts Antwort kommt mit Verzögerung. »Nein, ich müsste persönlich mit ihr sprechen. Kann ich hier warten?«

»Gerne draußen«, höre ich Eileen mit deutlich kühlerer Stimme sagen. Sie checkt Robert auf Stalkerpotenzial, schätze ich. »Hier ist ziemlich wenig Platz. Sehen Sie ja.«

»Okay.« Das Geräusch der sich öffnenden und wieder schließenden Tür.

Ein paar Sekunden später steht Eileen neben mir.

»Da war jemand, der nach dir gefragt hat. Schmieriger Typ. Er steht jetzt vor dem Laden und raucht. Stirnglatze, hellblaue Augen, ziemlich wulstige Unterlippe.« Sie sieht kampflustig aus. »Ist das dein Stalker?«

Wenn ich jetzt Ja sage, fliegt die Lüge spätestens auf, sobald Eileen, Robert und Matti erstmals gemeinsam aufeinandertreffen. »Nein«, erkläre ich. »Das ist mein Cousin. Ich will ihn trotzdem nicht sehen. Er ist ein ziemlicher Schnorrer, weißt du? Meldet sich immer nur, wenn er etwas braucht.«

»Oh, ach so.« Eileen wirkt ein wenig enttäuscht. »Was soll ich ihm sagen, wenn er wiederkommt?«

»Dass ich wahrscheinlich den ganzen Tag unterwegs bin. Blumengroßmarkt, Kundentermine – erzähl ihm irgendwas.«

Sie zuckt mit den Schultern. »Wie du willst.«

Ich höre sie nach draußen gehen. Zwei Minuten später ist sie wieder da. »Ich soll dir ausrichten, es wäre ganz in deinem Interesse, ihn zu treffen. Genauer wollte er es mir nicht erklären.«

Ich widme mich dem aktuellen Kranz. Von Lisa und Tina in Dankbarkeit. Das Einzige, was in meinem Interesse liegt, ist, vergessen zu werden.

Robert lässt sich den Rest des Vormittags nicht blicken, und ich nähre in mir die Hoffnung, dass er es aufgegeben haben könnte. An meiner Reaktion gestern muss er gesehen haben, dass mit mir nichts mehr anzufangen ist. Keine Nerven mehr, keine Risikofreude, keine Neugier. In gewisser Weise bin ich wirklich tot. Carolin ist nur ein blasser Schatten meines früheren Selbst.

Mein Mittagsspaziergang führt mich auf den Waldfriedhof. Bäume, Urnengräber und ein paar hohe Steine beim Eingang. Außer mir kein Mensch.

Es ist einer dieser Tage, an denen ich mir beinahe wünsche, alles hinter mir zu haben. Die Angst los zu sein. Kein Körper mehr, dem man Schmerzen zufügen kann. Keine Verluste mehr, keine Erinnerungen.

Tot sein ist nichts, was ich fürchte. Sterben schon. Die Minuten und Stunden, die ich beim Sterben anderer dabei war, sind mir gegenwärtiger als die meisten anderen Momente meines Lebens. Menschen in Panik, wenn sie die Ausweglosigkeit ihrer Situation begreifen. Ihr Flehen, das Aufgeben jeder Würde. Manche übergeben sich vor Angst, verlieren die Kontrolle über ihren Darm, weinen, rufen nach ihrer Mutter. Und das schon, bevor es losgeht.

Allein dafür, dass er mich dem ausgesetzt hat, hasse ich Robert fast so sehr wie die Täter. Dass er es nun wieder versucht, ist unverzeihlich.

Ich setze mich auf eine Bank unterhalb eines Ahorns und blinzle hinauf in die Blätter. Derselbe Windhauch streift sie und mich.

Ob mich jemand finden würde, wenn ich einfach abhaue? Ins Ausland, auf eine kleine griechische Insel vielleicht. An einen Ort, den man ohne Flug erreichen kann. Erst ein altes Auto kaufen, das Handy zertrümmern und wegwerfen, dann bei Nacht und Nebel losfahren. Wenn man sich krankmeldet, dauert es drei Tage oder mehr, bis man vermisst wird. Da ist man dann schon auf Kalymnos oder Ikaria oder Angistri. Auf einer der kleinen Inseln, deren Namen noch nicht jedem ein Begriff sind.

Könnte das klappen? Ich betrachte den Ahorn, als hätte er eine Antwort. Ja, wahrscheinlich. Mit sehr viel Bargeld und ebenso viel Glück. Denn Abhebungen vom Konto wären tabu – die würden Robert sofort auf meine Spur bringen.

Aber in Griechenland findet man vielleicht noch Jobs, bei denen man bar bezahlt wird. Oder mit Essen und Unterkunft. Beides wäre mir recht.

Ich strecke mich und stehe auf. So utopisch mein Plan in Wahrheit ist, so gut fühlt er sich an. Ich werde mich an ihm festklammern können, wenn ich nicht schlafen kann. Ich werde im Internet nach billigen Gebrauchtwagen suchen und dabei das Gefühl haben, mich Stück für Stück in Richtung Freiheit zu bewegen.

Die Illusion hält nicht einmal zwei Stunden lang, in denen ich beinahe unbeschwert meine Kränze fertige. Dann höre ich von draußen eine tiefe Stimme mit vertrautem Akzent. »Carolin Bauer. Ist sie hier?«

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4

Dass es so schnell passieren würde, habe ich nicht für möglich gehalten. Ich springe auf, die Drahtschere behalte ich als mögliche Waffe in der Hand. Wenn ich eines der Fenster öffne, hinausklettere und renne, renne, bis mir die Luft weg- oder das Herz stehen bleibt – habe ich dann eine Chance? Unwahrscheinlich. Sie sind immer zu zweit unterwegs, wenn nicht gar zu dritt. Die anderen behalten von draußen das Gebäude im Auge.

»Im Moment nicht«, erklärt Eileen ungerührt. Sie hält sich an unsere Vereinbarung; vielleicht ist der Stalker ja Russe.

»Wann kommt sie wieder?«

»Das ist schwer zu sagen.« Sie klingt gleichzeitig heiter und unerbittlich, und plötzlich habe ich furchtbare Angst um sie. Sie deckt mich, ohne zu wissen, vor wem sie mich da schützt. Was anderen passiert ist, die das ebenfalls versucht haben.

»Ich schreibe aber gerne eine Nachricht für sie auf.«

»Gut. Sagen Sie ihr: Liebe Grüße aus, äh, Frankfurt. Sie weiß dann schon.«

»Gerne.«

»Spasiba.«

Türgeräusche. Wider besseres Wissen laufe ich geduckt zum Fenster und luge für wenige Sekunden nach draußen. Der Mann sieht sich nach rechts und links um, bevor er über die Straße geht. Er ist mittelgroß, untersetzt und trägt eine braune Jacke zu seinen Jeans. Er kommt mir nicht bekannt vor, aber das hat nichts zu bedeuten. Sie haben so viele Handlanger, ich kenne bei Weitem nicht alle. Auffällig ist, dass er tatsächlich alleine zu sein scheint.

Sobald der Mann außer Sichtweite ist, stürze ich in den Verkaufsraum. »Danke, Eileen, das hast du toll gemacht. Ich bin in einer halben Stunde wieder da.« Pass auf dich auf, würde ich im Hinausgehen gerne anfügen, aber der ungebetene Besucher wird nicht sofort noch mal auftauchen. Sie agieren nie hektisch, sie haben Zeit.

Telefonzelle Tor 11. Ich wähle Roberts Nummer drei Mal, aber er hebt nicht ab. Vielleicht, pocht es in meinem Kopf, sind sie ihm hierher gefolgt, und er hat sie prompt zu mir geführt. Nun haben sie ihn beseitigt, in die Donau geworfen zum Beispiel, und wenden sich mir zu.

Ich denke fieberhaft nach. Wieder in den Blumenladen gehen? Dorthin kommen sie früher oder später zurück. In Roberts Hotel nach ihm fragen? Nicht unwahrscheinlich, dass sie mich da schon erwarten. Nach Hause?

Natürlich gibt es auch dagegen massenhaft Argumente, aber die Option fühlt sich am besten an. Ich benutze noch einmal das Münztelefon. »Eileen? Tut mir leid, aber es gibt einen Notfall. Ich komme heute nicht mehr rein.«

»Ach.« Sie ist verwundert, das höre ich, fragt aber nicht nach. »Ist okay. Matti ist seit fünf Minuten wieder da. Soll er sich um die Kunden kümmern, und ich mache mit den Kränzen weiter.«

Ich stammle ein Dankeschön, ohne die Umgebung aus den Augen zu verlieren. Dort vorne ist ein Mann stehen geblieben und hat sein Handy gezückt. Ein paar Schritte weiter steht eine Frau, die aussieht, als würde sie warten. Sie schaut immer wieder in meine Richtung.

 

Die Fahrt nach Hause ist eine Tortur. Zweimal glaube ich, in Passanten und Fahrgästen der Straßenbahn den Russen von vorhin wiederzuerkennen, doch beide Male ist es ein Irrtum. In meiner Wohnung verbarrikadiere ich mich. Ich ziehe alle Vorhänge zu, verschließe die Tür doppelt und bin kurz versucht, den Schrank davorzuschieben.

Stattdessen schalte ich den Fernseher ein und warte auf die nächste Nachrichtensendung. Wenn berichtet wird, dass ein unbekannter Mann – oder vielleicht sogar ein Frankfurter Polizist – tot in Wien aufgefunden wurde, weiß ich wenigstens, woran ich bin.

Auf einem Sender laufen amerikanische Sitcoms mit Lachen vom Band, auf dem nächsten Naturdokumentationen. Ich zappe herum, finde eine Nachrichtensendung des Schweizer Fernsehens, von der keine Information zu erhoffen ist. Schließlich hole ich mein Handy heraus. Ich habe kein WLAN in der Wohnung – ganz bewusst, weil ich weiß, dass ich ständig die falschen Dinge googeln und mich damit selbst in den Wahnsinn treiben würde. Aber für Notfälle verfügt meine Prepaid-Karte über ein geringes Datenvolumen.

Toter Polizist Wien, gebe ich ein und erhalte Meldungen zu einem zwei Jahre zurückliegenden Fall, bei dem ein Beamter beim Stürmen einer Wohnung erschossen wurde. In der Rubrik »News« auch nichts Aktuelles.

Handy wieder weg. Ablenkung suchen vor dem Fernseher, sich aber nicht konzentrieren können, abschalten, ans Fenster schleichen. Sich etwas zu trinken holen. Die Narben auf Brust und Bauch betasten. An dich denken.

Erst jetzt, nachdem es sich anfühlt, als würde mein Leben an einem haardünnen Faden hängen, wird mir bewusst, wie sicher ich mich zuvor gefühlt habe. Immerhin so sicher, dass ich den Eindruck hatte, ein wenig Aufmerksamkeit und Vorsicht würden genügen, um mich den nächsten Tag erleben zu lassen.