VARIATIONslinguistik trifft TEXTlinguistik -  - E-Book

VARIATIONslinguistik trifft TEXTlinguistik E-Book

0,0

Beschreibung

Variations- und Textlinguistik erfassen verschiedene Aspekte sprachlicher Vielfalt, für die mit spezischen Schwerpunkten, Methoden und Zielsetzungen Korrelationen und Erklärungen gesucht werden. Der vorliegende Band nimmt insbesondere die Schnittstellen der beiden Disziplinen in den Blick und erkundet dabei den heterogenen Charakter natürlicher Sprachen sowie die damit einhergehende Fülle von Realisierungs- und Umsetzungsmöglichkeiten. Im Einzelnen geht es um dialektale, historische und stilistische Variation in den unterschiedlichsten Kommunikationsbereichen wie Verwaltung, Medizin, Wirtschaft oder Literatur, Presse und Schule. Dafür werden schriftliche, mündliche und digitale Korpora ausgewertet. Die für die Beiträge zentrale Textvariation bzw. Variation im Text betrifft sowohl makrostrukturelle als auch lexikalische und grammatische Phänomene.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 470

Veröffentlichungsjahr: 2018

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



VARIATIONslinguistik trifft TEXTlinguistik

Kirsten Adamzik / Mateusz Maselko

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

 

 

© 2019 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.narr.de • [email protected]

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

ePub-ISBN 978-3-8233-0092-2

Inhalt

Kirsten Adamzik / Mateusz ...VorwortBericht zur Tagung Variationslinguistik trifft Textlinguistik (Ascona 2017)I Theoretische Perspektiven auf Variation(sforschung)Derselbe Text, aber anders1 Einleitung2 Variations- und Textlinguistik vs. Systemlinguistik?3 Die Notwendigkeit von Abstraktionen4 Virtuelle Einheiten auf der Textebene5 FazitLiteraturverzeichnisTextsortenspezifische sprachliche Variation ermitteln1 Einleitung2 Die Musterhaftigkeit von Textsorten korpuslinguistisch ermitteln3 Bezüge zur Textlinguistik4 Bezüge zur Stilistik5 Induktiv korpuslinguistisch ermittelte Muster als Grundlage der Text- und Stilanalyse6 ZusammenfassungLiteraturverzeichnisII Regionale VariationSüdmittelbairische Verbalflexion in alltagssprachlicher Verwendung im Stadt-Land-Vergleich1 Einleitung2 Der urbane Raum als Sprachlandschaft3 Untersuchungsgebiet und Korpus4 Ergebnisse – Konjunktiv II-Bildung5 Fazit6 ZusammenfassungLiteraturverzeichnisUnternehmenssprache: regional – national – global?1 Einleitung2 Unternehmenssprache3 Die Lufthansa Group und ihr (Sprach-)Konzept4 Austrian Airlines5 ConclusioQuellenverzeichnisLiteraturverzeichnisIII Variation in Internet-AuftrittenDi Alemannischi Wikipedia – Di frei Enzyklopedi, wo alli chöi mitschaffe1 Einleitung2 Sprachliche Vielfalt und Variation im Social Web3 Datenstruktur, Textsortenüberlegungen und Korpuserstellung4 Theoretischer Rahmen: Kohärenz in Hypertexten5 Empirische Analyse6 Diskussion und FazitLiteraturverzeichnisBehördensprache im E-Government1 Einleitung2 E-Government3 Das E-Government in der Schweiz4 Die Verwaltungskommunikation in der Schweiz5 Fallstudie: Die Einbürgerung in der Schweiz6 FazitLiteraturverzeichnisIV Historische Variation in institutionellen KontextenZur Beschreibung und Analyse historischer Textsorten am Beispiel des Kommunikationsbereichs Medizin1 Einleitung2 Bisherige Ansätze3 Das Modell4 Schluss5 LiteraturverzeichnisSystemgebundene Rolleninszenierungen der Lehrenden des Höheren Schulwesens anhand der Textsorte ‚Schulprogramm‘1 Ausgangspunkt2 Zum beruflichen Selbstbild bzw. Rollenverständnis der Lehrenden im 19. Jahrhundert3 Theoretisch-methodische Grundlagen und Charakterisierung des vorliegenden Korpus4 Auswertung4.1.4 Inhaltsanalyse der wissenschaftssystemischen Abhandlungen5 SchlussbemerkungenLiteraturverzeichnisV Variation bei einzelnen sprachlichen KategorienZur Indexikalisierung der Rektionsvarianten bei Präpositionen1 Einleitung2 Variierende Kasusrektion bei Präpositionen im Deutschen3 Onlinebefragung zur Indexikalisierung der Rektionsvarianten4 Resümee und AusblickLiteraturverzeichnisLinguistische Grundlagen einer textsortenbasierten Grammatikdidaktik am Beispiel der Adverbialien1 Textsortenbasierte Grammatikdidaktik: Anmerkungen zum linguistischen und didaktischen Hintergrund2 Methodik3 Didaktisches Potenzial einer textsortenbasierten Betrachtung der Adverbialien4 Fazit und AusblickLiteraturverzeichnisAutorInnen der BeiträgeAbstracts und KeywordsDerselbe Text, aber andersBehördensprache im E-GovernmentSüdmittelbairische Verbalflexion in alltagssprachlicher Verwendung im Stadt-Land-VergleichTextsortenspezifische sprachliche Variation ermittelnDi Alemannischi Wikipedia – Di frei Enzyklopedi, wo alli chöi mitschaffeLinguistische Grundlagen einer textsortenbasierten Grammatikdidaktik am Beispiel der AdverbialienZur Beschreibung und Analyse historischer Textsorten am Beispiel des Kommunikationsbereichs MedizinSystemgebundene Rolleninszenierungen der Lehrenden des Höheren Schulwesens anhand der Textsorte ‚Schulprogramm‘Unternehmenssprache: regional – national – global?Zur Indexikalisierung der Rektionsvarianten bei Präpositionen

Vorwort

Kirsten Adamzik / Mateusz Maselko

Die Beiträge dieses Bandes sind im Zusammenhang einer Tagung für den wissenschaftlichen Nachwuchs entstanden (s. dazu den Tagungsbericht von S. M. Moog in diesem Band). Der Schwerpunkt liegt auf dem unweigerlich heterogenen Charakter natürlicher Sprache(n), und zwar aus den Perspektiven der Variations- und Textlinguistik. Es geht also um Textvariation bzw. Variation in und von Texten: Einbezogen werden einerseits das ganze Spektrum sprachlicher Realisierungs- und Umsetzungsmöglichkeiten, andererseits die verschiedensten sozio-kulturellen, pragmatisch-funktionalen und medialen Bedingungen der Textproduktion und -verwendung. Dies entspricht der Entwicklung der beiden Forschungsrichtungen, die sich seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Subdisziplinen der angewandten Linguistik etabliert, ihre Fragestellungen und Ausrichtungen im Laufe der Zeit aber nicht unerheblich weiterentwickelt und verändert haben.

Sowohl die Variations- als auch Textlinguistik sind als interdisziplinär ausgerichtete, weltweit betriebene Wissenschaftszweige zu betrachten, die programmatisch einerseits Anregungen der linguistischen Subdisziplinen (wie etwa Medienlinguistik, Korpuslinguistik, Politolinguistik, Fachsprachforschung) und Nachbardisziplinen (wie etwa Soziologie, Psychologie, Geographie, Kommunikationswissenschaft, Theologie, Literaturwissenschaft) aufgreifen und andererseits selbst befruchtend auf diese einwirken. Daher werden sie oft als sog. Bindestrich-Disziplinen wahrgenommen. Festzuhalten ist jedoch, dass sie zwar eng mit anderen Wissenschaftszweigen zusammenarbeiten bzw. großteils den gleichen Gegenstandsbereich behandeln, sich aber Fragestellungen widmen, die jeweils eine spezielle sprachwissenschaftliche Ausrichtung implizieren.

Neuere Entwicklungen innerhalb der Textlinguistik stellen sich häufig in den Kontext des sog. cultural turn. Diese kulturwissenschaftliche Orientierung impliziert meist einen handlungstheoretischen Ansatz (im Sinne der sog. pragmatischen Wende), hebt aber inzwischen die Bedeutung anderer Medien/Modalitäten als der Sprache hervor, insbes. von Layout und Typografie, sprich Textdesign, Bild, Film (iconic turn) sowie Materialität von Texten (material turn). Dies betrifft auch die konkrete Lokalisierung von Texten (spatial turn), was einen Berührungspunkt zur Variationslinguistik konstituiert. Zugleich drohen dabei die sog. sprachinternen Merkmale ganz in den Hintergrund zu geraten bzw. auf textgrammatische Elementaria (Pronomina und Konnektoren) reduziert zu werden. Ferner besteht die deutliche Tendenz, mündlichen Sprachgebrauch (wieder) auszuklammern. Schließlich wird der Geprägtheit makrostruktureller Muster (Textsorten, Gattungen) durch Kulturen/Sprachen und damit auch der Normorientiertheit ein besonderes Gewicht beigemessen – mit dem Ergebnis, die intrakulturelle/-linguale Heterogenität zu vernachlässigen.

Diese bildet nun gerade den Hauptgenstand der Variationslinguistik, wobei selbstverständlich mikrostrukturelle Phänomene im Vordergrund stehen. Lag der Fokus zunächst auf der lautlichen (phonetisch-phonologischen) Ebene, so richtet sich das Interesse längst auch auf höhere Ebenen, insbes. Morphologie und Syntax. Die Textebene in Gestalt von komplexeren Sprachformen wird allerdings noch immer nur wenig berücksichtigt. Dass man heute von Variationslinguistik als einer Subdisziplin sprechen kann, erklärt sich daraus, dass hier diverse Spezialdisziplinen gewissermaßen zusammengewachsen sind, v. a. die auf areale Variation bezogene Dialektologie mit einer sehr alten Tradition und die seit den 1960er Jahren entstandene Soziolinguistik, die sich zunächst schichtenspezifischem Sprachgebrauch, dann allgemeiner Substandardvarietäten zuwandte. Eine weitere Quelle stellen die ebenfalls seit den 1960er Jahren entwickelten Ansätze zur Untersuchung gesprochener (Standard-)Sprache dar. In der neueren Variationslinguistik geht es um die Variation in allen ihren Dimensionen, d. h. unter Einbeziehung des gesamten Varietätenspektrums, von kleinräumigen Dialekten über (regionale) Substandards bis hin zu ‚(supra-)nationalen‘ Standardvarietäten, wobei selbstverständlich auch Faktoren wie Alter, Geschlecht, Mobilität, politische Orientierung usw. systematisch Berücksichtigung finden.

Im Vordergrund der Variationslinguistik steht mündlicher Sprachgebrauch, während die Textlinguistik sich inzwischen wieder auf Schrifttexte konzentriert. Einen ‚natürlichen Treffpunkt‘ stellt die informelle Schriftlichkeit im Internet dar. Dieses Phänomen zieht derzeit so viel Forschungsenergie auf sich, dass bereits eine neue Subdisziplin, die Internetlinguistik, ausgerufen wurde, ebenso wie das spezielle Interesse an der Visualität sich in einer Bildlinguistik manifestieren soll. Gegenüber dieser Tendenz der Vermehrung von Subdisziplinen und einer damit notwendigerweise einhergehenden Überspezialisierung hatte die Tagung zum Ziel, Gemeinsamkeiten der Ansätze in den Vordergrund zu stellen und den gegenseitigen Austausch zu intensivieren.

Beide Disziplinen erfassen verschiedene Aspekte sprachlicher Vielfalt, für die mit spezifischen Schwerpunkten, Methoden und Zielsetzungen Korrelationen und Erklärungen gesucht werden. In der jüngeren Forschung lassen sich mehrere Schnittstellen zwischen beiden Bereichen finden. Dazu gehören die Fokussierung auf den tatsächlichen je nach Ort, Situation, Intention, Medium usw. variierenden Sprachgebrauch (auch aus sprachgeschichtlicher Sicht), die Erstellung und Auswertung von Korpora, situativ-funktionale und stilistisch-kontextuelle Fragestellungen, die Gegenüberstellung von Soll- und Ist-Normen sowie der Bezug auf die Prototypentheorie. Anwendungsbezüge sind vielfältig und betreffen Übersetzung(swissenschaft) inkl. innersprachlicher Adressatenorientierung (Fachsprachen und Popularisierung) und Textoptimierung, Sprachtechnologie, mutter- und fremdsprachlichen Unterricht, Sprachkultivierung usw.

Das Konzept der Tagung, zwei Forschungsrichtungen zusammenzubringen, die oft wenig Kenntnis voneinander nehmen, hat sich durchgängig bewährt, zumal es der Überwindung von Einseitigkeiten entgegenkommt, die, wie eingangs angedeutet, auch innerhalb der beiden Bereiche mitunter als solche erkannt wurden: Dazu gehört die scharfe Entgegenstellung von erstens quantitativem und qualitativem Ansatz sowie zweitens von Kommunikationsbereichen und -formen. Die verschiedenen Zugänge auf Variation(sforschung), die sich letzten Endes ohnehin nur analytisch klar unterscheiden lassen, sind im vorliegenden Band nach den jeweiligen Schwerpunkten geordnet.

Im ersten Block geht es um Theoretische Perspektiven (K. Adamzik, S. Brommer), wobei auch disziplingeschichtliche Aspekte und die Korpuslinguistik zur Sprache kommen. Die empirischen Beiträge setzen im Prinzip bei der Variationsdimension mit der längsten Forschungstradition an: Regionale Variation (N. Bercko, M. Maselko). Gleichwohl behandeln die Aufsätze Themenfelder, die nicht gerade zum Kerngebiet der (traditionellen) Dialektologie gehören, sondern sich der (modernen) (interdisziplinären) Regionalsprachenforschung zuordnen. Zugleich kommt hier neben der mündlichen Interaktion schon die (betriebliche) Internetkommunikation in den Blick, der der dritte Teil, Variation in Internet-Auftritten, gewidmet ist (E. Gredel, A. Alghisi). Der erste Beitrag dieses Themenbereichs weist auf die substandardliche Dimension zurück, während der zweite überleitet zu institutionellen Kontexten, die im Vordergrund der nächsten Sektion stehen. Hier kommt auch die diachrone Perspektive ins Spiel: Historische Variation in institutionellen Kontexten (B. Lindner, F. Markewitz). Dies führt wiederum auf theoretische Fragestellungen zurück. Der abschließende Block befasst sich mit sprachlichen Phänomenen im grammatischen Bereich: Variation bei einzelnen sprachlichen Kategorien (A. Vieregge, D. M. Helsper). Die beiden Beiträge erweitern das thematische Spektrum nochmals, und zwar um aktuellen Sprachwandel und Normativität sowie didaktische Potenzen der Variationsforschung.

Es hat sich ergeben, dass in diesem Band (anders als auf der Tagung) ausschließlich der deutsche Sprachraum thematisiert wird. Bei der Folgeveranstaltung VARIATIONist Linguistics meets CONTACT Linguistics (20.–23. Mai 2018) trafen Forscherinnen und Forscher sowie Forschungsprojekte zu unterschiedlichsten Sprach(varietät)en zusammen. Hierzu ist ein thematischer Band geplant, der 2019 erscheinen soll (hg. von M. Maselko und A. N. Lenz).

Sowohl Vorschläge für Präsentationen als auch die diese erweiternden Aufsätze unterlagen einem double-blind review und wurden jeweils von zwei einschlägigen Expertinnen und Experten begutachtet. Dem wissenschaftlichen Komitee gehörten außer den Veranstaltenden die folgenden Personen an:

Noah Bubenhofer (Universität Zürich, Schweiz)

Helen Christen (Universität Freiburg, Schweiz)

Christian Efing (Bergische Universität Wuppertal, Deutschland)

Nicole Eller-Wildfeuer (Universität Regensburg, Deutschland)

Daniel Elmiger (Université de Genève, Schweiz)

Stephan Elspaß (Universität Salzburg, Österreich)

Jan Engberg (Aarhus Universitet, Dänemark)

Ingeborg Geyer (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Österreich)

Manfred Glauninger (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Österreich)

Eric Haeberli (Université de Genève, Schweiz)

Stefan Hauser (Pädagogische Hochschule Zug, Schweiz)

Michail L. Kotin (Uniwersytet Zielonogórski, Polen)

Alexandra N. Lenz (Universität Wien, Österreich)

Martin Luginbühl (Universität Basel, Schweiz)

Stefan Michael Newerkla (Universität Wien, Österreich)

Damaris Nübling (Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Deutschland)

Gertjan Postma (Meertens Instituut, Niederlande)

Stefaniya Ptashnyk (Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Deutschland)

Christoph Purschke (Université du Luxembourg, Luxemburg)

Regula Schmidlin (Universität Freiburg, Schweiz)

Elena Smirnova (Université de Neuchâtel, Schweiz)

Alfred Wildfeuer (Universität Augsburg, Deutschland)

Wir danken den Kolleginnen und Kollegen herzlichst für ihre wertvolle Mitarbeit und die hilfreichen Anregungen, die in die Bearbeitungen der publizierten Beiträge eingeflossen sind, und den Begutachteten dafür, die Änderungs­wünsche auch tatsächlich berücksichtigt bzw. generell an diesem Sammelband mitgewirkt zu haben. Selbstverständlich geht unser Dank auch an alle Vortragenden, die nicht in diesem Band vertreten sind, für die wirklich variantenreichen Präsentationen und die regen Diskussionen. Ein herzliches Dankeschön sagen wir zudem unseren Hilfskräften Simona Devito und Virginie Gremaud, die nicht nur selbst Poster präsentiert haben, sondern auch rundum für das gute Gelingen gesorgt haben.

Ferner sind wir zu großem Dank den Sponsoren verpflichtet, die uns die Austragung der Tagung ermöglicht haben:

Eidgenössische Technische Hochschule (ETH) Zürich – Congressi Stefano Franscini (CSF)

Gesellschaft für Angewandte Linguistik (GAL)

Schweizerischer Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (SNF)

Vereinigung für Angewandte Linguistik in der Schweiz (VALS-ASLA)

Conférence universitaire de Suisse occidentale (CUSO)

Die Veröffentlichung wurde von unserem Hauptsponsor ETH-CSF großzügig finanziell unterstützt, wofür wir einen besonders herzlichen Dank aussprechen möchten.

Infine, vorremmo ringraziare Chiara Cometta (CSF) e Liliana Cantoreggi (Fondazione Monte Verità) per la calorosa ospitalità e l’eccellente lavoro amministrativo.

 

Kirsten Adamzik & Mateusz Maselko     Genf, im August 2018

Bericht zur Tagung Variationslinguistik trifft Textlinguistik (Ascona 2017)

Stefanie M. Moog

Vom 19. bis 22. März 2017 fand im Konferenzzentrum Monte Verità (Ascona, Schweiz) die Internationale Nachwuchstagung (CSF Workshop – GAL Research School) VARIATIONslinguistik trifft TEXTlinguistik statt (s. die Veranstaltungswebseite www.unige.ch/ascona2017). Dem Titel der Konferenz Rechnung tragend standen zwei linguistische Subdisziplinen im Fokus der Diskussion, deren Schnittstellen wie auch Gegensätze in der interdisziplinär angelegten Veranstaltung herausgearbeitet werden sollten und dank der Offenheit der TeilnehmerInnen auch offengelegt werden konnten. Organisiert wurde die Tagung von Mateusz Maselko und Kirsten Adamzik, beide von der Universität Genf und beide Experte bzw. Expertin der in Kontakt tretenden Subdisziplinen. Insgesamt nahmen 23 NachwuchwissenschaftlerInnen aus fünf verschiedenen Ländern teil. Die Qualität der Einreichungen wurde über ein mehrstufiges Begutachtungsverfahren gewährleistet, an dessen Durchführung ein zahlreiche ExpertInnen umfassendes internationales Komitee beteiligt war (s. Vorwort).

Vom Tagungshotel aus wurde bereits am Ankunftstag ein Stadtrundgang angeboten. Anschließend trafen sich die TeilnehmerInnen zum Beisammensein und Kennenlernen im Hoteleigenen Restaurant, wo ein gemeinsames, mehrgängiges Menü eingenommen wurde.

Das wissenschaftliche Tagungsprogramm verteilte sich auf drei Tage und wurde durch den Vortrag von Kirsten Adamzik eröffnet, in dessen Fokus ‚Allotexte‘ – Varianten von Texten/Texttypen – als Ausgangspunkt für potentielle Berührungspunkte zwischen Variations- und Textlinguistik diskutiert wurden. Der von ihr eingeleitete und vor allem textlinguistische Aspekte umfassende thematische Block beinhaltete Vorträge zu historischen Textsorten (Thomas Sebastian Bertram, Bettina Lindner). Den zweiten thematischen Block des Tages bildeten drei Vorträge zum Thema grammatische Variation und der Frage nach dem Einfluss kontextuell-medialer Steuerungsfaktoren auf den Sprachgebrauch bzw. die Akzeptabilität grammatischer Varianten. Während der Hauptvortrag von Christian Efing, Bergische Universität Wuppertal, dieser Frage mehr allgemein-theoretisch nachging, analysierten Annika Vieregge und Adam Tomas mit der Kasusvariation bei Sekundärpräpositionen im Deutschen bzw. mit dem am-Progressiv im Pennsylvaniadeutschen konkrete grammatische Phänomenbereiche.

Welche Texte, Daten, Materialien sich für welche variations- bzw. soziolinguistische Fragestellungen eignen, wurde im ersten Themenblock des zweiten Konferenztages diskutiert, zunächst im Hauptvortrag von Alexandra N. Lenz, Universität Wien, mit Bezug auf den von ihr geleiteten, aktuell laufenden Spezialforschungsbereich zur deutschen Sprache in Österreich (Variation, Kontakt, Perzeption). Es folgten – ebenfalls vor dem soziolinguistischen Hintergrund Österreichs – Vorträge zur Verbal- und Nominalflexion (Nina Bercko, Christina Schrödl). Im nächsten Block zu Fachsprachen an der Schnittstelle von variations- und textlinguistischer Forschung wurden jene der Verwaltungssprache (Alessandra Alghisi) und des Wintersports (Rinat Jafarov) behandelt. Im dritten Themenblock des Tages wurden text- und variationslinguistische Analysen der alemannischen Sprachversion der Wikipedia (Eva Gredel) sowie diskursiv verhandelte Varianten als Mittel zur Konstruktion sozial(räumlich)er Identität diskutiert (Alexandra Schiesser). Inwiefern auch dialektale Printtexte als Datenbasis für die Erforschung syntaktischer Variation in ‚Sprachinselvarietäten‘ dienen können, wurde abschließend in einer Art Werkstatteinheit durch die gemeinsame Analyse an einer hunsrückischen Textversion des Kleinen Prinzen erarbeitet (initiiert und moderiert durch Mateusz Maselko).

Der dritte Tag wurde durch den vierten und letzten Hauptvortrag der Konferenz von Noah Bubenhofer, Universität Zürich, eingeleitet, der sich mit korpuslinguistischen Zugängen zur Varietätenlinguistik beschäftigte. Ihm schloss sich ein ebenfalls korpuslinguistisch ausgerichteter Beitrag zu textsortenspezifischer Variation und ihrer Ermittlung auf Basis korpuslinguistischer Zugänge an (Sarah Brommer). Welche Bedeutung textlinguistische Zugänge im Bereich der Grammatikdidaktik haben können und sollten, ist eine Frage, mit der sich den letzten Vormittag abschließend Daniel Mischa Helsper befasste. Die Vielfalt und Komplexität der interdisziplinären Bezüge zwischen Variations- und Textlinguistik wurde auch in den beiden letzten Präsentationen der Konferenz deutlich, die sich mit Themen der Schriftsprachkompetenz bei Kindern (Pascale Schaller) bzw. textsemantischen Analysen mehrsprachiger Literatur (Jana-Katharina Mende) auseinandersetzten.

Ein besonderes Highlight der Konferenz bildete die Postersession am Nachmittag des ersten Tages, in deren Rahmen sechs Dissertations- und Postdoc- wie zwei Master-Projekte zu unterschiedlichen variations- und textlinguistischen Aspekten präsentiert wurden, jeweils eingeleitet durch eine kurze mündliche Präsentation (Beitragende: Gerda Baumgartner, Simona Devito, Fabian Fleißner, Virginie Gremaud, Stefan Hartmann, Nesrin Limani, Friedrich Markewitz, Nicolas Wiedmer). Dank des traumhaften Wetters fand die Postersession im Freien, vor der wunderbaren Kulisse des Lago Maggiore statt.

Wie das beste Poster wurde auch die beste Präsentation mit einem CSF Award gewürdigt:

Preisträger für den besten Nachwuchsvortrag: Daniel Mischa Helsper von der Universität Trier (Thema: Textsortenbasierte Grammatikdidaktik am Beispiel der Adverbialien),

Preisträgerin für das beste Poster: Gerda Baumgartner von der Universität Freiburg im Üechtland (Thema: Variabler Genusgebrauch bei Rufnamen in Dialekten der Deutschschweiz).

Die Tagung wich in vielen Aspekten erfolgreich von üblichen Veranstaltungsformaten der Linguistik ab. Besonders positiv wirkten die durch die Programmstruktur bewusst großzügig eingeräumten Spielräume für Diskussionen. Zusätzlich zu einer sich sofort an jeden individuellen Vortrag anschließenden kurzen Diskussion gab es nach einem Block von zwei Vorträgen noch einmal eine längere Diskussionseinheit, in der insbesondere interdiszi­plinäre Aspekte der gehörten Inhalte zur Sprache kamen. Neben dieser programmbezogenen Besonderheit trugen aber gerade das gemeinsame Wohnen in geschichtsträchtigem Ambiente, wie das gemeinsame Essen und Leben im Tagungszentrum auf dem Monte Verità zu einem persönlichen Kennenlernen und einer Intensivierung des interdisziplinären Austauschs bei, was gerade für eine Nachwuchskonferenz sicher eine einmalige und besonders wertvolle Erfahrung darstellt. So gab es auch Raum und Muße für vielfältige Gespräche zwischen den NachwuchswisenschaftlerInnen, aber auch zwischen ihnen und den eingeladenen und schon etablierten Hauptvortragenden.

Wunderbarerweise wird die in mehrfacher Hinsicht sehr erfolgreiche Veranstaltung fortgeführt: Die Konferenz stellte den Auftakt einer neuen, von Mateusz Maselko initiierten Reihe zu VARIATIONist Linguistics meets … dar (für weitere Informationen s. Homepage des Begründers www.unige.ch/lettres/alman/de/enseignants/linguistique/maselko/konferenzen). Schon in der ersten Hälfte 2018 fand, wiederum auf dem einzigartigen Monte Verità, eine Folgeveranstaltung statt, die diesmal internationale WissenschaftlerInnen auf den Gebieten der Variations- und Kontaktlinguistik versammelte (s. Webseite der Tagung www.unige.ch/ascona2018).

Tagungsplakat (© UNIGE) und ausgewählte Tagungsbilder (© S. M. M. und A. T.): (von links oben) Gruppenfoto (Veranstalterin K. Adamzik in der zweiten Reihe von unten links), Konferenzzentrum und Bauhaushotel Monte Verità, Konferenzraum Eranos, Postersession auf der Terrasse, Preisträgerin für das beste Poster G. Baumgartner und Preisträger für den besten Vortrag D. M. Helsper jeweils mit Ch. Cometta (Congressi Stefano Franscini) und M. Maselko (Veranstalter)

ITheoretische Perspektiven auf Variation(sforschung)

Derselbe Text, aber anders

Was können Variations- und Textlinguistik von- und miteinander lernen?
Kirsten Adamzik

Gliederung:

1

Einleitung

2

Variations- und Textlinguistik vs. Systemlinguistik?

3

Die Notwendigkeit von Abstraktionen

3.1

Abstraktionen auf verschiedenen Sprachebenen

3.2

Wissenschaftshistorisches: Texteme und Allotexte, emische und etische Texte

4

Virtuelle Einheiten auf der Textebene

5

Fazit

1Einleitung

Den folgenden Ausführungen sei ein sehr bekannter Text vorangestellt, allerdings in anderer als der gewohnten Variante. Es handelt sich um Goethes Erlkönig:

[1]

Kurzfassung1

Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?

Is Papa mit Kind.

Kommt böser Mann,

Quatscht Papa an,

Ob er den Bubi nicht haben kann.

Papa verneint,

Bubi weint.

Am nächsten Morgen große Not:

Papa lebendig, Bubi tot.

Solche Abwandlungen sind seit jeher übliche Arten des Umgangs mit vor allem literarischen Texten und unter Bezeichnungen wie Parodie, Travestie, Pastiche usw. bekannt. Diese Untertypen unterscheiden sich u. a. danach, ob der Inhalt des Ausgangstextes mehr oder weniger erhalten oder wenigstens wiedererkennbar ist oder aber wesentliche Merkmale der Form und eventuell sogar einzelne wörtliche Bestandteile mit dem Original übereinstimmen, der Inhalt aber gänzlich abweicht. Hierfür stehe das Beispiel [2], das eine Variation zum selben Originaltext darstellt.

[2]

Der Grünkohlverderber

Wer hat denn so spät noch zur Mitternacht

Den Kessel mit Grünkohl aufs Feuer gebracht?

Es ist der Meister der Küchenkunst,

Er werkelt geschäftig im Grünkohldunst!

 

Er kocht ein gar köstliches Grünkohlgericht

Und sieht wohl den Grünkohlverderber noch nicht.

Der Grünkohlverderber, mit Paprika,

Mit Curry und Minze, ist nämlich schon da!

 

„Oh Meister, oh Meister, komm geh mit mir!

Gar schöne Gewürze, die kauf ich dir.

[…]“ […]

 

„Jetzt würz ich den Grünkohl, ihm fehlt noch Gehalt

Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt!“

Dann geht er zum Kessel und fasst ihn an,

Jetzt hat er dem Grünkohl was angetan!

 

Dem Meister grauset‘s, er betet zu Gott,

Und blickt ganz entsetzt auf den Grünkohlpott,

Er rühret und rühret in seiner Not,

Der Kohl war mal grün und jetzt ist er – rot!2

Sprachspiele wie die genannten stehen in textlinguistischen Arbeiten nicht gerade im Vordergrund und werden dann unter dem außerordentlich breiten Themenfeld der Intertextualität abgehandelt (vgl. als Übersicht Adamzik 2016: Kap. 8). Zugleich sind sie ein besonders prägnantes Beispiel für funktionale Variation auf der Textebene. Von solchen Phänomenen ist aber auch in der Variationslinguistik selten die Rede. Überhaupt sind die Beziehungen zwischen den auf dieser Tagung zusammengebrachten Forschungsrichtungen wenig entwickelt. Im vorliegenden Beitrag geht es darum auszuloten, wo Berührungspunkte und Divergenzen liegen. Dabei ist das Ziel keineswegs, Kooperation zu forcieren, darin liegt m. E. kein Wert an sich. Es scheint mir aber geraten, Teildisziplinen näher miteinander bekannt zu machen, die sich allzu oft gegenseitig als fremd bzw. abgelegen empfinden. Zugleich kann der Blick von einer anderen Warte auch zur Selbstreflexion beitragen, denn sowohl Variationslinguistik (oder Varietätenlinguistik?) als auch Textlinguistik treten selbst in sehr verschiedenen Spielarten auf.

2 Variations- und Textlinguistik vs. Systemlinguistik?

Auf den ersten Blick könnte man meinen, Variations- und Textlinguistik seien sozusagen natürliche Verbündete, die sich gleichermaßen die Untersuchung des Sprachgebrauchs zum Ziel setzen und sich damit gegen die sog. Systemlinguistik wenden; beide finden sich dieser auch regelmäßig entgegengestellt. Schon in den 1960er Jahren erschien die Textlinguistik allerdings den einen als Weiterentwicklung des Strukturalismus, den anderen dagegen als Gegenbewegung dazu (vgl. Adamzik 2016: 7). Und auch heute noch sind die Vorstellungen darüber, was aus der Sicht einer ‚Sprachwirklichkeitslinguistik‘ (vgl. Löffler 2016: 79) die Systemlinguistik eigentlich ausmacht, ziemlich vielfältig:

Eine erste besteht darin, dass die Systemlinguistik sich überhaupt nicht mit tatsächlichen Äußerungen, der Saussure‘schen Parole, beschäftige, sondern nur mit Regeln für den Gebrauch sprachlicher Einheiten. Bei gewissen Publikationen drängt sich dieser Eindruck auch tatsächlich auf. Allerdings ist so etwas natürlich grundsätzlich nur möglich, wenn wir es mit bereits beschriebenen Sprachen zu tun haben, der Forscher sich mit dem entsprechenden Datenmaterial begnügt und/oder sich selbst als kompetenten Sprecher betrachtet. Ansonsten kommt man um das ‚sprachliche Rohmaterial‘ natürlich nicht herum:

„[…] die aktuelle Ebene der Äußerung, des Diskurses/Texts, auf der die sinnlich wahrnehmbaren sprachlichen Materialien erscheinen, [ist] natürlich notwendig Ausgangspunkt für alle sprachwissenschaftlichen Fragen nach den sprachlichen Techniken von Einzelsprachen oder auch Dialekten, den Diskurstraditionen und der Sprechtätigkeit“ (Oesterreicher 2010: 29; Hervorhebungen im Orig.).

Zugleich wendet sich Oesterreicher aber sehr vehement gegen die „radikalen Korpuslinguisten und datenverliebten Variationslinguisten“, die „einem gravierenden wissenschaftstheoretischen Missverständnis“ (ebd.: 37) aufsäßen, wenn sie meinen, mit dem bloßen empirischen Material hätten sie schon irgendwelche linguistischen Fakten vor sich. Mit einem Motto unterstreicht Oesterreicher dieses ‚systemlinguistische‘ Credo, dass nämlich Einzeläußerungen nicht als solche interessieren, sondern nur als Grundlage für die Rekonstruktion sprachlicher Techniken: De singularibus non est scientia.

Im geraden Gegensatz zu dieser Auffassung, nach der Abstraktionen über Einzelfällen notwendige Aufgabe sprachwissenschaftlicher Forschung sind, steht die Annahme, dass nur das jeweils Realisierte in seiner Materialität wirklich sei, das Sprachsystem also einer Schimäre gleichkomme.1 Recht prominent ist eine solche Auffassung derzeit in diversen Ansätzen einer breit gefassten Textlinguistik, die neuen Formen der Multimedialität (oder Multimodalität) besonderes Interesse entgegenbringen und dabei die Bedeutung von Sprachlichem stark herabstufen oder gar die ,Existenz‘ abstrakter sprachlicher Einheiten bestreiten, die sich analytisch von ihrer Materialität trennen lassen:

„Sprache ist […] auf konkrete Realisierungsformen angewiesen […]: Sprachliche Kommunikation existiert nur in mündlicher oder schriftlicher Form, als Vokalisierung oder Visualisierung. Sprache muss materialisiert sein, um als Medium fungieren zu können.“ (Hagemann 2013: 41; vgl. dazu Adamzik 2016: 67 und insgesamt ebd.: Kap. 2.5.1.–2.5.3. und 4.4.1.).

Einer anderen Stoßrichtung entspricht das Argument, die Systemlinguistik beschränke sich auf Innersprachliches und lasse insbesondere die kommunikative Funktionalität von Äußerungen außer Betracht. Diese eng mit der sog. pragmatischen Wende verbundene Auffassung ist in textlinguistischen Ansätzen sehr verbreitet, da man sich hier (besonders im deutschsprachigen Raum) speziell an die Sprechakttheorie anlehnt (vgl. Adamzik 2016: Kap. 5.3. und 365ff.). Daraus ergibt sich eine Fragestellung, die selbst vor allem an Regeln und stark konventionalisiertem Sprachgebrauch interessiert ist. Es geht wesentlich um die Klassifikation von Textsorten als ‚konventionell geltenden Mustern für komplexe sprachliche Handlungen‘ (vgl. Brinker u. a. 2014: 139; zuerst Brinker 1985: 124), und zwar meist auf der Grundlage von Searles Sprechakttypologie. Textsorten ließen sich „als jeweils typische Verbindungen von kontextuellen (situativen), kommunikativ-funktionalen und strukturellen (grammatischen und thematischen) Merkmalen beschreiben“ (ebd.). Wenn man sich darauf konzentriert, geläufige Muster zu beschreiben, blendet man aber die Variation gerade aus:

„Die Texte und Gespräche, die aufgrund signifikanter Ähnlichkeiten als zusammengehörend wahrgenommen werden, zeichnen sich auf pragmatischer Ebene durch konsistente Routinen [!] der Aufgabenbewältigung in bestimmten Lebenssituationen aus, also durch die prototypische Abfolge von Sprachhandlungen (z. B. beim Wetterbericht darstellende Sprachhandlungen über Ist-Zustand und Prognose). Ausdrucksseitig sind diese Routinen durch wiederkehrende Muster auf der Sprachoberfläche und ihre moderate [!] Variation gekennzeichnet.“ (Felder 2016: 34)

Man darf sich fragen, welchen Stellenwert diese Behauptung von der moderaten Variation von Texten hat. Soll damit unterstellt werden, dass dies für Textsorten schlechthin gilt? Dafür spricht, dass neben Fahrplanauskunft und Strafzettel u. a. auch die Vernehmung von Zeugen vor Gericht und Fachaufsätze als Beispiele angeführt werden. Es gehört allerdings schon zum Alltagswissen, dass die Bewältigung dieser doch recht ungleichen Aufgaben unterschiedlich anspruchsvoll ist und dementsprechend die Variationsbreite – oder anders herum gesehen: der Standardisierungsgrad – ganz verschieden ausfallen.

Selbst für Wetterberichte bedarf es keiner groß angelegten empirischen Untersuchung, um Folgendes feststellen zu können: Wetterberichte sind Serientexte, die von bestimmten Institutionen periodisch produziert werden. Ihre Gestalt hängt zunächst wesentlich davon ab, welche medialen Ressourcen zur Verfügung stehen, ob sie nämlich in Zeitungen, im Radio, Fernsehen oder im Rahmen von Internetauftritten erscheinen. Auch bei gleichen Ressourcen konkurrieren jedoch verschiedene Anbieter miteinander und versuchen, eine Rezipientenbindung herzustellen. Deswegen ist ihnen daran gelegen, sich (nicht nur beim Wetterbericht, aber z. B. auch durch dessen Gestaltung und Platzierung) jeweils ein eigenes, wiedererkennbares Gesicht zu geben. Es gilt daher nur für die Wetterberichte eines Anbieters, dass sie lediglich moderate Variation aufweisen – eventuell sogar mit Subtypen, z. B. je nach der Person, die den Wetterbericht präsentiert. Außerdem weisen sie diese relative Stabilität auch nur über eine bestimmte Zeit hin auf; für Medientexte ist es charakteristisch, dass gewisse Neuerungen abrupt erfolgen, man nämlich in mehr oder weniger großen Abständen das ganze ‚Design‘ umstellt.

Verbindet man die textlinguistische mit einer variationslinguistischen Fragestellung, so ist anstelle des Musterhaften gerade relevant, worin sich die Wetterbericht-Schemata verschiedener Anbieter und/oder eines Anbieters zu verschiedenen Zeiten unterscheiden und welche Funktionen den Varianten zugeschrieben werden können. Eine besteht gerade in der ‚Individualisierung‘ von Mustern; die periodische Neugestaltung soll u. a. das Bemühen um Modernität signalisieren. Beide Funktionen sind im Set der sprechakttheoretischen ‚Grundfunktionen‘ nicht vorgesehen und lassen sich am besten der Bühler‘schen Ausdrucks-/Symptomfunktion zuordnen, die ja grundsätzlich für gezielte Variantenwahl eine große Rolle spielt. Für Strafzettel kommt eine solche Zusatzfunktion natürlich nicht in Frage. Sie werden zwar auch periodisch modernisiert, es existieren hier aber (innerhalb eines Hoheitsgebiets) keine Varianten, die verschiedene Institutionen als miteinander konkurrierende Produzenten anbieten.

Auch in anderer Hinsicht bleiben viele Textlinguisten Denkweisen verpflichtet, die sich mit systemlinguistischen Konzepten zumindest problemlos vereinbaren lassen. Das geschieht vor allem, wenn man annimmt, die Analyse der kommunikativen Funktion müsse zur Beschreibung der sprachlichen Gestalt von Texten zwar notwendig hinzutreten, ändere aber im Kern nichts an den Errungenschaften der transphrastischen Ausrichtung der Textlinguistik. Dieser Ansatz müsse weiterverfolgt bzw. in ein Gesamtkonzept ‚integriert‘ werden. Aus Sicht der Transphrastik, die besonders die 1960er und frühen 70er Jahre geprägt hat, wurde an der strukturalistischen Linguistik kritisiert, dass sie bei der Satzebene stehengeblieben sei. Übernimmt man diesen Topos, dann kann man – in konsequenter Fortführung der Tradition – Texte als (nach bestimmten Regeln verkettete) Folgen von Sätzen präsentieren. Damit geht allerdings eine fast vollkommene Beschränkung auf die sog. (grammatischen) Kohäsionsmittel einher: Im Wesentlichen handelt es sich um Wiederaufnahme-Relationen, die durch Artikelwörter und Pronomina angezeigt werden, und Konnektoren. Tatsächlich steht die Beschreibung der Kohäsionsmittel – als Merkmale, die für alle Texte gelten – oft ziemlich unvermittelt neben den Ausführungen zu Textsorten, die Untergruppen des gesamten Textuniversums betreffen. Texte schlechthin gehören nach dieser Argumentation einer besonderen Beschreibungsebene an, und zwar einer, die oberhalb des Satzes liegt und die zugleich als höchste deklariert wurde (mit Diskursen als Mengen von Texten sollte die neue Grenze dann später noch einmal überschritten werden). Auf der Grundlage dieser Ebenen-spezifischen Betrachtungsweise kann man so weit gehen anzunehmen, dass tiefere Ebenen, „Syntax (und erst recht: […] Morphologie und Phonologie)“, in der Textlinguistik „nicht in anderem Gewand noch einmal beschrieben werden [müssen]“ (Hausendorf / Kesselheim 2008: 15f.).

Eine wohlverstandene Pragmatik sollte jedoch Texte nicht als regelgemäße Folgen von Sätzen betrachten, sondern als Vorkommen des Sprachgebrauchs. Diese stellen in erster Linie in sich strukturierte Ganzheiten dar, und wenn sie als solche beschrieben werden sollen, sind auch alle getroffenen Wahlen relevant, auf allen Ebenen. Gegen Regeln kann man im Übrigen auch mehr oder weniger massiv verstoßen. Bei literarischen Texten gilt dies als selbstverständlich, und diese sind wohl auch der dankbarste Gegenstand für die Untersuchung der gezielten Auswahl sprachlicher Varianten. Dabei kommt es bekanntlich gerade nicht auf die möglichst konventionelle, effiziente oder gar klare Signalisierung der kommunikativen Funktion des Textes an. Der Umstand, dass weder die Charakterisierung des kommunikativen Handlungszwecks noch die Untersuchung der Kohäsionsmittel ausreichen, um anspruchsvollen Texten gerecht zu werden, hat allerdings selten zur Infragestellung oder Revision der Grundannahmen geführt, sondern zum (weitgehenden) Ausschluss literarischer Texte aus dem selbst gewählten Gegenstandsbereich. Privilegiert sind in der kommunikativ orientierten Textlinguistik jedenfalls eindeutig die Gebrauchstexte.

Festzuhalten ist, dass Spielarten der Textlinguistik, die nur an konventionalisierten oder gar routinisierten Formen des Sprachgebrauchs interessiert sind, selbst einer systemlinguistischen Ausrichtung zugeordnet werden müssen. Insofern trifft auch sie, um die Übersicht über Einwände gegen die Systemlinguistik abzuschließen, der zentrale Vorwurf, den Variationslinguisten vorbringen. Die Systemlinguistik werde nämlich der Heterogenität der Sprache nicht gerecht. Diese Ausblendung tritt wiederum in verschiedenen Arten auf, von denen die folgenden hervorgehoben seien:

Im Extremfall wird Heterogenität tatsächlich abgestritten. Das scheint mir das Charakteristische an dem generativistischen Topos zu sein, es sei erklärungsbedürftig, wieso alle Kinder einer Sprachgemeinschaft in relativ kurzer Zeit ‚dieselbe‘ Grammatik erwürben, obwohl sie ganz unterschiedlicher Spracherfahrung ausgesetzt seien. Dass alle Kinder zur selben Grammatik kommen, wird im Allgemeinen präsupponiert, und nicht etwa behauptet – denn in diesem Fall bestünde ja die Gefahr, dass jemand nachfragt, wie sich das überhaupt empirisch belegen lassen sollte.

Völlig legitim ist es gegenüber einer solchen sprachtheoretisch (bzw. ideologisch) fundierten Annahme, die Heterogenität als für die eigene Fragestellung irrelevant auszuklammern. Das dürfte die häufigste Strategie sein. Ihr ist de Saussure mit seiner Als-Ob-Idee gefolgt, wir hätten alle dasselbe Wörterbuch im Kopf, und auch das Konstrukt des idealen Sprechers/Hörers lässt sich auf diese Weise rechtfertigen. Aber auch wer z. B. Textmuster zu Unterrichtszwecken beschreiben will, tut wahrscheinlich (zumindest auf elementaren Stufen) gut daran, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und die reale Heterogenität zunächst zu vernachlässigen. Mit der Ausblendung der Heterogenität realen Sprachgebrauchs ist also nicht notwendig eine bestimmte sprachtheoretische Position verbunden, eine solche kann auch aus rein pragmatischen Gründen erfolgen.

Interessanter sind freilich Kontroversen, die mit grundlegend unterschiedlichen Vorstellungen vom Funktionieren der Sprachen verbunden sind. Wie es nun in der Textlinguistik auch systemlinguistische Ausrichtungen gibt, so finden sich in der Variationslinguistik Strömungen, die dem Homogenitätspostulat verpflichtet bleiben. Dazu gehört insbesondere die Auffassung, die Gesamtsprache sei heterogen, weil sie eine Menge von Varietäten (auch Subsprachen genannt) umfasse. Diese könne man allerdings als in sich (weitgehend) homogen konzipieren; in einer anderen Fassung: die Heterogenität sei (sehr) geordnet. Es kehren bei diesem Ansatz dann dieselben Strategien wieder wie bei der elementaren Homogenitätsunterstellung: Äußerungen, die dem rekonstruierten (Sub-)System widersprechen, können als Performanzfehler eingeordnet oder Individuen zugeschrieben werden, die die Varietät (noch) nicht voll beherrschen. Dies geht dann leicht mit einer mehr oder weniger ausgeprägt normativen Haltung einher, speziell in Bezug auf die Standardvarietät, die sich ja dadurch definiert, das Variantenspektrum präskriptiv zu beschneiden.

Sehr eindeutig zu einer am Homogenitätspostulat ausgerichteten Sicht bekennt sich Ekkehard Felder:

„Das Erkenntnisinteresse der Varietätenlinguistik […] richtet sich auf die Abgrenzung der Subsprachen als Ganzes oder ‚Sprachgebrauchssysteme‘ (Dittmar 1997: 175) aus sprachstruktureller Sicht unter Berücksichtigung außersprachlicher Faktoren. Die Varietätenlinguistik ist also erkenntnistheoretisch vorrangig auf die langue-Ebene fixiert und betrachtet die parole-Ebene [sic] vor allem zum Zwecke der exemplarischen ‚Fütterung‘ der kontextabstrahierten Subsprachen (mit dem Erkenntnisinteresse der nachvollziehbaren Systemgenerierung).“ (Felder 2016: 44f.; Hervorhebung im Orig.)

Sehr entschieden spricht sich demgegenüber Jürgen Erich Schmidt gegen die auf Varietäten übertragene Homogenitätsannahme aus:

„[…] das Konzept einer homogenen Varietät [erweist sich] als empirisch leer und theoretisch als falsch. […] Den Gegenstand heterogene Gesamtsprache als Komplex homogener Varietäten zu fassen, stellt theoretisch eine Vervielfältigung des Gegenstandsinadäquaten dar“ (Schmidt 2005: 62).

Felder rekonstruiert diese gegensätzlichen Positionen als

„unvermeidbare Diskrepanz zwischen theoretischem Erkenntnisinteresse und empirischen Befunden der sogenannten [!] Sprachwirklichkeit (Löffler 52016: 79). Auf der einen Seite befindet sich das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse, nämlich eine plausible und Homogenität (Einheitlichkeit) implizierende Erklärungsfolie für Variantenvielfalt darzulegen. Auf der anderen Seite steht die empirische Feststellung, dass jegliche Klassifizierung und Zusammenfassung diverser Sprachvarianten doch nicht zur vollständigen und restlosen Einteilung aller empirisch feststellbaren Phänomene geeignet ist. Dieser Widerspruch ist insofern kein Problem (sondern im Gegenteil erkenntnisstiftend), als man sich die eigentliche Erklärungskraft von Kategorien vor Augen führt: Diese besteht nicht nur in dem wünschenswerten Ergebnis, möglichst viele Phänomene nach transparenten Kriterien in klar definierte ,Schubladen‘ (also Kategorien) einzuordnen, sondern auch darin, nicht kategorisierbare Phänomene möglichst genau zu beschreiben und ihre mangelnde Passfähigkeit in Bezug auf das bestehende Kategoriensystem präzise zu erfassen. Insofern lernen wir über die ‚widerspenstigen‘ (weil nicht 1:1 kategorisierbaren) Phänomene sehr viel – und zwar dank und trotz des unvollständigen Kategorienapparats, der unter Umständen eben nicht zur Einordnung eines bestimmten Phänomens in der Lage ist.“ (Felder 2016: 78f.)

Dieser Argumentation kann sich natürlich nicht anschließen, wer die Homogenität – sei es für Sprachen, Varietäten oder auch nur Idiolekte – als theoretisch falsch, als gegenstandsinadäquat, betrachtet. Das tun besonders diejenigen, die die Auswahl einer bestimmten Varietät oder auch einzelner Varianten nicht grundsätzlich als durch außersprachliche Faktoren bedingtes Sprachverhalten betrachten, sondern als teilweise gezielt eingesetzte Elemente. In dieser Sichtweise wird vor allem stilistische Variation (vgl. Fix 2009a), die oft aus der Varietätenproblematik ausgeschlossen wird, (wieder) zu einer zentralen Dimension (vgl. dazu u. a. die Beiträge von Dovalil und Androutsopoulos / Spreckels in Gilles u. a. 2010). Sie steht vor allem dialektalen Varietäten gegenüber, denen, wie Linke (2010: 256) es mit Peter Wunderli ausdrückt, Sprecher(gruppen) unterliegen; sie haben nämlich in der Regel nicht die Wahl, diesen oder jenen Dialekt zu benutzen. Ganz anders dagegen, wenn es der Sprecher ist, der mehrere (normalerweise nach der primären Sozialisation erworbene) Varietäten oder wenigstens Varianten beherrscht, diese also funktional heranziehen kann. Eine einfache Dichotomie wird sich daraus jedoch gewiss nicht ableiten lassen, da die Kompetenzen in Sprachen wie in Varietäten unterschiedlich ausgebaut sind und im Laufe des Lebens erweitert (oder auch abgebaut) werden können.

Bei ihrer Musterung verschiedener Disziplinen, die für die Variationslinguistik wichtig waren oder sind, nennen Lüdtke / Mattheier (2005: 20) die Stilistik den „Bereich der Sprachwissenschaft, in dem Sprachvariation am intensivsten und wohl auch am differenziertesten thematisiert worden ist.“ Von der Textlinguistik ist bezeichnenderweise nicht die Rede. Dazu passt, dass Ulla Fix (2009b: 13) in ihrer Bestandsaufnahme zur Textlinguistik Gestaltqualität bzw. Textstil als lange vernachlässigte Dimension ausgemacht hat. So ergibt sich als Fazit, dass Variations- und Textlinguistik allenfalls potenziell gemeinsamen Fragestellungen nachgehen. Zu vielfältig sind in beiden Disziplinen die theoretischen und methodischen Prämissen, als dass sich ein klarer Überschneidungsbereich hätte herauskristallisieren können. Das derzeit real existierende Gemeinsame liegt damit nur darin, dass in jedem Fall Texte das Objekt der Bemühungen darstellen: „Variation spielt sich auf der Diskursebene ab“ (Lüdtke / Mattheier 2005: 15).2 Und selbst das gilt nur dann, wenn die empirische Grundlage auch tatsächlich aus natürlichen Äußerungen als Ganzheiten besteht. Schon in Großkorpora erscheinen in der Regel nur Textfragmente. Greift man auf Befragungen oder elizitierte Äußerungen zurück, haben wir es nicht einmal mehr vordergründig mit demselben Gegenstand zu tun.

3Die Notwendigkeit von Abstraktionen

Bislang wurde der Gegensatz zwischen sprachwissenschaftlichen Ansätzen betont, die sich auf die Untersuchung der Langue oder aber der Parole konzentrieren. Dabei kann leicht der Eindruck entstehen, beide stünden in geradezu unversöhnlichem Gegensatz zueinander. Davon kann insofern keine Rede sein, als es sicherlich zu den Aufgaben der Sprachwissenschaft gehört nachvollziehbar zu machen, welche Leistungen Interaktanten bei der Entschlüsselung sprachlicher Botschaften erbringen (müssen). Wenn wir uns auf die Rezeptionsseite beziehen, so sind konkret gegeben zunächst nur Sinneswahrnehmungen; das betrifft die Ebene der Parole. Die Verarbeitung besteht darin, sie diversen Kategorien zuzuweisen – diese entsprechen im Prinzip der Langue-Ebene. Die Frage ist allerdings, mit welchen Ebenen und Kategorien wir genau rechnen.

Zunächst geht es darum zu erkennen, ob es sich überhaupt um Sprache handelt. Das kommt sehr gut im Original der Eingangsbeispiele zum Ausdruck, wo die Protagonisten visuelle Wahrnehmungen unterschiedlich deuten und (in der mittleren Strophe) nur das Kind das Hörbare als sprachliche Äußerung auffasst:

[3]

Erlkönig

[…]

Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht? –

Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?

Den Erlenkönig mit Kron und Schweif? –

Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif. –

[…]

Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht,

Was Erlenkönig mir leise verspricht? –

Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind;

In dürren Blättern säuselt der Wind. –

[…]

Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort

Erlkönigs Töchter am düstern Ort? –

Mein Sohn, mein Sohn ich seh es genau:

Es scheinen die alten Weiden so grau. –

[…]

Wenn etwas als sprachliche Botschaft kategorisiert ist, muss weiter ‚entschieden‘ werden, zu welcher Sprache oder Varietät die Einheiten gehören, zumal es ja vorkommt, dass in einer Äußerung verschiedene davon gemischt sind. Eine möglichst differenzierte Erfassung der menschlichen Lautprodukte (also der materiellen Seite), wie sie das Internationale Phonetische Alphabet (IPA) erlaubt, ist dabei bekanntlich nicht einmal besonders nützlich – so genau will und muss man im Allgemeinen gar nicht wissen, wie sich eine Äußerung angehört hat, man muss nur erkennen, welches Element gemeint war. Deswegen sind gebräuchliche Schriftsysteme sehr viel undifferenzierter als das IPA. Die Einführung der abstrakten Kategorie Phonem, die Varianten, die Allophone, umfasst, stellte für die Systemlinguistik den entscheidenden Durchbruch dar. Ebenso effizient ist dieses Verfahren auf der morphologischen Ebene, wo auch Einheiten, die materiell nicht das Mindeste miteinander zu tun haben (wie die Suppletivformen sein, bin, war), als Repräsentanten derselben abstrakten Kategorie fungieren.

Obwohl nun, wie Abschnitt 2 gezeigt hat, systemlinguistisches Denken in der Textlinguistik durchaus verbreitet ist, spielt die konsequente Übertragung strukturalistischer Analyseverfahren auf Texte dort fast keine Rolle, genauer gesagt wurde damit nur in der Anfangsphase experimentiert. Das schlägt sich in Ausdrücken wie Textem und Allotext nieder, die sich aber nicht etabliert haben und nur sehr selten vorkommen. Stattdessen traten auf der Textebene bald sehr viel abstraktere Einheiten in den Vordergrund, vor allem Textsorten (oder auch ‑klassen, ‑typen etc.). Den frühen Versuchen soll in Kapitel 3.2 etwas genauer nachgegangen werden. Zunächst geht es jedoch darum, den unterschiedlichen Blickwinkel auf Texte gegenüber tieferen Rängen zu verdeutlichen.

3.1Abstraktionen auf verschiedenen Sprachebenen

Als Ausgangspunkt drängt sich eine Formulierung von Brinker auf, die zu den meistzitierten in textlinguistischer Literatur gehört:

„Nun ist ein konkreter Text aber nicht nur eine Realisierung der allgemeinen Größe ‚Text‘; er repräsentiert vielmehr zugleich auch eine bestimmte Textsorte, d. h., er ist ein Fernsehkommentar, eine Zeitungsnachricht, ein Kochrezept oder eine Werbeanzeige – um nur einige alltagssprachliche Namen für Textsorten zu nennen. [...] Der konkrete Text erscheint immer als Exemplar einer bestimmten Textsorte“ (Brinker u. a. 2014: 133; zuerst Brinker 1985: 118; Hervorhebungen K. A.).

Bezogen auf unser Beispiel hieße das:

Nun ist [3] aber nicht nur eine Realisierung der allgemeinen Größe ‚Text‘; es repräsentiert vielmehr zugleich auch eine bestimmte Textsorte, d. h., es ist ein Gedicht, genauer gesagt eine Ballade.

Übertragen auf die Lautebene entspräche dem etwa die Aussage:

Nun ist ein konkretes Phon aber nicht nur eine Realisierung der allgemeinen Größe ‚Sprachlaut‘; es repräsentiert vielmehr zugleich auch eine bestimmte Lautsorte, d. h., es ist ein Vokal oder Konsonant, ein Nasal oder Plosiv – um nur einige der üblicherweise unterschiedenen Arten von Lauten zu nennen.

Die Übertragung auf die Wortebene erlaubt diverse Varianten, weil man hier mit abstrakten Einheiten unterschiedlicher Kategorien rechnet, u. a.:

Nun ist ein konkretes Wort aber nicht nur eine Realisierung der allgemeinen Größe ‚Sprachzeichen‘; es repräsentiert vielmehr zugleich auch eine bestimmte Wortart, d. h., es ist ein Substantiv, Verb, Adjektiv, ...

Nun ist ein (komplexes) Wort aber nicht nur eine Realisierung der allgemeinen Größe ‚Wort‘; es repräsentiert vielmehr zugleich auch ein bestimmtes Wortbildungsmuster, d. h. es ist z. B. eine Ableitung aus einem Nomen, die Konversion eines Verbs, ...

Nun ist ein konkretes Textwort aber nicht nur eine Realisierung der allgemeinen Größe ‚Wort‘; es repräsentiert vielmehr zugleich auch eine bestimmte Wortform, d. h. beispielsweise für Verben, es ist ein Infinitiv, Partizip, eine Vergangenheitsform, ...

All diese abstrakten Kategorien sind für das Verständnis einer Äußerung allerdings weniger wichtig, zentral ist die folgende Voraussetzung:

Nun ist ein konkretes Wort oder Syntagma aber nicht nur eine Realisierung der allgemeinen Größe ‚Sprachzeichen‘; es repräsentiert vielmehr zugleich auch ein bestimmtes Lexem.

Ebenso möchte man auf der Textebene nicht in erster Linie wissen, welche Textsorte vorliegt, sondern welcher Text, jedenfalls wenn es um solche wie die hier zitierten geht, denn bei diesen handelt es sich um individuelle Größen, die als solche bekannt sind und überliefert werden.

Auch bei den Textwörtern muss man allerdings differenzieren: Wenn wir nämlich Lexem als ‚Wörterbuch-Wort‘ auffassen, ist die genannte Voraussetzung nicht für alle gegeben, z. B. nicht für Grünkohlverderber. Es gibt Textwörter, die nicht im Wörterbuch stehen, oder anders formuliert: die nicht ins kollektive Gedächtnis der Sprachgemeinschaft eingehen. Für Syntagmen und Sätze gilt das natürlich noch viel mehr. Sofern diese komplexen Gebilde den phonologischen, morphologischen, Wortbildungs- und syntaktischen Regeln der Sprache folgen, lassen sie sich selbstverständlich trotzdem problemlos interpretieren. Dazu greift man eben auf das Regelwissen und nicht auf bereits fertig gespeicherte komplexe Einheiten zurück. Interpretierbar sind allerdings auch Ausdrücke, die den vertrauten Regeln nicht (ganz) folgen, z. B. [4] oder [5]:

[4]

lichtung

manche meinen

lechts und rinks

kann man nicht velwechsern

werch ein illtum

(Ernst Jandl)

 

[5]

Fallweise Liebe

Ick liebe dir, ick liebe dich,

Wie‘t richtig is, det weess ick nich

Und is mich ooch Pomade.

Ick lieb‘ dir nich im dritten Fall,

Ick lieb‘ dir nich im vierten Fall,

Ick liebe dir uff jeden Fall!

(Autor unbekannt)

[4] und besonders [5] reichen in ihrer Bekanntheit sicher nicht an den Erlkönig heran; auch sie werden aber immer wieder als Ganzheiten reproduziert. Das gilt auch für die übrigen Beispiele, [2] verbreitet sich unter Grünkohlfreunden, [1] und [5] erscheinen mit leichten Variationen, z. B. den/das Bubi oder ohne Artikel bzw. uff jeden Fall oder uff alle Fälle usw. Sie gehören damit ebenso wie Lexeme zum kollektiven Sprachgedächtnis.

Bei der Größe ‚kollektives Gedächtnis‘ handelt es sich natürlich um ein Konstrukt, das sich nur schwer präzise fassen lässt, als Kategorie ist es aber unverzichtbar. Was die Lexemebene angeht, so liegen mit Wörterbüchern Versuche der Rekonstruktion der ‚Schätze‘ vor, die Sprachen und Varietäten ausmachen. Sie umfassen auch komplexe Ausdrücke bis hin zu Kurztexten (Sprichwörter, Redensarten), und es liegen seit langem auch spezialisierte Sammlungen wie etwa Büchmanns Geflügelte Worte (11864) vor.

Wörterbücher oder sonstige Nachschlagewerke können prinzipiell nicht vollständig sein, zumal sie versuchen, ein genuin dynamisches Etwas zu fixieren. In der heutigen Zeit mit den immensen Möglichkeiten der Aufbereitung von Datenmengen führt das dazu, dass in relativ kurzen Abständen, nämlich oft in weniger als zehn Jahren, immer wieder aktualisierte Versionen erscheinen. Sicher ist, dass die Auswahl, die sie jeweils treffen, nicht das Sprachwissen irgendwelcher Sprechergruppen oder gar das des Durchschnittsmenschen spiegelt. Individuelle Wissensbestände umfassen vielmehr grundsätzlich nur einen sehr kleinen Teil des aufbereiteten Materials. Andererseits gehen sie aber auch darüber hinaus, denn gesellschaftliche Gruppen organisieren sich ja gerade über Wissen, das (nur) die Mitglieder teilen und das sie gegenüber anderen Gruppen bzw. gegenüber der Mehrheit oder einem Durchschnittsmenschen auszeichnet. Dazu gehören auch Wissensbestände, die sprachliche Varietäten betreffen.

Von diesen gehen bestimmte Ausschnitte aber doch in umfassende Nachschlagewerke ein, sie werden also auch zu (potenziellen) Wissensbeständen von Nicht-Mitgliedern gerechnet. So einfach ist es tatsächlich nicht, Teile des Sprachwissens bestimmten Trägergruppen zuzuordnen. Selbst die Versuche, wenigstens so etwas wie einen allgemein bekannten Grundwortschatz zu bestimmen, führen zu recht unterschiedlichen Ergebnissen und letztlich zur Einsicht, dass auch ein solcher nicht klar bestimmbar ist. Ebenso gelingt es der Fachsprachenforschung höchstens theoretisch, Fachwortschätze und Gemeinsprache als klar abgrenzbare Konstrukte zu etablieren (vgl. Adamzik 2018b: Kap. 5.4.2.).

Sicher ist zunächst, dass (sprachliche) Wissensbestände nicht bei auch nur zwei Individuen genau übereinstimmen können (vgl. dazu aus wissenssoziologischer Perspektive Schütz / Luckmann 2017: Kap. IV C. und aus varietätenlinguistischer Sicht sehr nachdrücklich Schmidt / Herrgen 2011: Kap. 2). Das gilt besonders für eine hochdifferenzierte Gesellschaft wie die unsere. In ihr verfügen alle über Wissen in mehreren Sprachen und Varietäten. Oft beschränkt sich dieses allerdings auf wenige Elemente. So dürfte etwa für einen durchschnittlichen Sprecher des Deutschen [5] klar als berlinerisch identifizierbar sein; vielleicht gibt der Text auch Anlass, neu zu lernen, dass es ist mir/mich Pomade/pomade bedeutet ‚es ist mir gleichgültig‘. Auch Personen, die Berlinerisch als Erstsprache gelernt haben, wissen aber nicht unbedingt, dass dieser Ausdruck zurückgeht auf die Entlehnung des polnischen pomału (‚allmählich, gemächlich, nach und nach‘; erweitert im Sinne von ‚jemand hat es nicht eilig, es kommt ihm nicht darauf an‘). Daher bauen sie vielleicht Assoziationskomplexe zu dem aus romanischen Sprachen entlehnten Wort für Haarcreme auf, mit dem er tatsächlich vermischt wurde. Auch solche Assoziationskomplexe gehören zum individuellen Sprachwissen. Ideen dazu, warum etwas so heißt, wie es heißt, kann man aber auch weitergeben, was dann zu den sog. volksetymologischen Ableitungen oder Geschichten führt. Manche kennen diese, andere nicht.

Das geteilte Gruppenwissen überschreitet sowohl Varietäten- als auch Sprachgrenzen. An sprachspielerischen Aktivitäten sind gerade solche besonders beliebt, in denen ein bekannter Text (z. B. die Weihnachtsgeschichte oder vertraute Märchen) in Varietäten anderer (!) Sprechergruppen übertragen werden, und zwar nicht zuletzt, um sich über diese zu belustigen oder gar zu empören. Außerordentlich beliebt ist dies als Auseinandersetzung mit Jugendsprache. Für Fachsprachen zieht man gern Sprichwörter heran, weil bei längeren Texten der Lustgewinn in keinem adäquaten Verhältnis mehr zum Verarbeitungsaufwand stünde:

[6]

Die Struktur einer ambivalenten Beziehung beeinträchtigt das visuelle und kognitive Wahrnehmungsvermögen extrem – oder wie man früher sagte: Liebe macht blind.1

Schon hier, erst recht aber bei gewöhnlichen Übersetzungen, d. h. solchen in andere Sprachen, bleibt nur der Inhalt eines Textes – mindestens grosso modo – erhalten, nichts dagegen von seiner sprachlichen Gestalt, wenn man einmal von Namen absieht. Dennoch reden wir so, als hätten wir die Odyssee, Konfuzius, Dante, Don Quijote, Hamlet, Anna Karenina usw. gelesen, auch wenn es nur Übersetzungen waren. In einem ziemlich abstrakten Sinn handelt es sich eben immer noch um denselben Text. Um die Behauptung zu rechtfertigen, dass man ihn ‚kenne‘, reicht es sogar aus, von seiner Existenz zu wissen und elementare Kenngrößen (Autor, Entstehungszeit, Plot) sowie Fragmente des Wortlauts kognitiv gespeichert zu haben (und bist du nicht willig, …; Sein oder nicht sein, … usw.).

Zu diesen Wissensbeständen zu Texten kann man grob gesehen auf zweierlei Weisen kommen: Entweder man hat den Text tatsächlich ganz gelesen. Je länger dies zurückliegt, desto mehr hat man allerdings vergessen oder wie man heute lieber sagt: Es werden nur wenige Elemente im Langzeitgedächtnis gespeichert, und zwar sowohl zentrale Inhaltselemente als auch charakteristische Formulierungen. Bei intensiver Lektüre werden diese vielleicht exzerpiert oder durch Anstreichungen usw. markiert, so dass man sie bei erneuter Konsultation schnell wiederfinden kann. Die zweite Möglichkeit besteht darin, gleich auf entsprechende Bearbeitungen anderer Rezipienten zurückzugreifen: Man schlägt in einem Werklexikon oder einer Enzyklopädie nach. In Wikipedia ist tatsächlich eine große Menge von Einzeltexten diverser Textsorten entsprechend aufbereitet, allerdings gerade nicht solcher, die Brinker bei der Erläuterung dieser Kategorie erwähnt, denn reine Gebrauchstexte haben keinen Überlieferungswert. Das macht den Unterschied zwischen Wetterberichten und Bauernregeln aus. Auch die häufig behandelten Kochrezepte gibt es in überlieferungswürdigen Traditionen, und zwar einerseits solchen, die das Brauchtum bestimmter Regionen betreffen (vgl. dazu Gredel in diesem Band), andererseits solchen, die Familientraditionen entsprechen (bzw. dies vorgeben): Aus Großmutters Küche.

Für Texte mit hohem Überlieferungswert muss man nun feststellen, dass sie ‚sich‘ im Laufe der Zeit auch selbst verändern. Liest man einen Text (in der Originalsprache), etwa die Klassiker der deutschen Literatur- und Geistesgeschichte, sogar jene aus der neuhochdeutschen Periode, hat man es nämlich nicht unbedingt mit der Fassung zu tun, die dem ersten Druck oder gar dem Manuskript entspricht: Anpassungen an orthografische und teilweise auch morphologische Entwicklungen werden in modernen Ausgaben stillschweigend vorgenommen. Außerdem existiert mitunter schon ‚das‘ Original in verschiedenen Fassungen. Das gilt nicht nur prinzipiell etwa für die mittelalterlichen Handschriften, sondern z. B. auch für Die Leiden des jungen Werthers/Werther von Goethe oder Der grüne Heinrich von Gottfried Keller. Die Fassungen sind einander hinreichend ähnlich, um nicht als ganz verschiedene Texte, sondern als Versionen desselben Textes, aber auch hinreichend verschieden, um nicht als genau derselbe Text wahrgenommen zu werden.

Den entsprechenden Fragestellungen geht man in diversen Textwissenschaften in Unterzweigen wie der (Editions-)Philologie, Entstehungs-, Überlieferungs- und Wirkungsgeschichte etc. ausführlich nach. Auch für die Variationslinguistik, insbesondere die historisch ausgerichtete, sind sie zentral. In der Textlinguistik hat sich dieser Fragenkomplex dagegen (noch) nicht als relevantes Gebiet etabliert, obwohl es in der Anfangszeit durchaus Bemühungen in diese Richtung gab.

3.2Wissenschaftshistorisches: Texteme und Allotexte, emische und etische Texte

An der Wende von den 1960er zu den 70er Jahren verortet man (in der Bundesrepublik Deutschland) einen sog. Linguistik-Boom. Seine wichtigste Wirkung bestand in der Reorganisation philologischer (zunächst vor allem germanistischer) Universitätsinstitute. Waren diese traditionell in eine Alte/Ältere und Neue(re) Abteilung untergliedert, so kam jetzt als drittes Untergebiet die Linguistik hinzu.

Im Rahmen solcher Prozesse sind nicht nur administrative, sondern auch bestimmte Fachtexte besonders wichtig. Dazu gehörten in der Bundesrepublik zwei 1973 erschienene Werke, nämlich einerseits das Funk-Kolleg Sprache, andererseits das Lexikon der germanistischen Linguistik (LGL) (Althaus u. a. 1973). Beide beanspruchten, den Stand der modernen Linguistik im Überblick darzustellen. Dabei war wichtig, dass sie nicht nur die strukturalistische, sondern auch die (frühe) generativistische Schule einbezogen sowie Kommunikationsmodelle, Pragma-, Sozio- und Textlinguistik.

Das Funk-Kolleg Sprache nimmt eine Sonderstellung ein. Es gehört zu einer Serie, in der Radiosender in Verbindung mit dem Deutschen Institut für Fernstudien an der Universität Tübingen (für Studien-Begleitbriefe) und Volkshochschulen (für Studien-Begleitzirkel) zusammengearbeitet haben, und zwar vor allem, um Menschen ohne Abitur den Zugang zum Studium zu ermöglichen. Entwickelt seit 1970, wurden die Sendungen ab September 1971 ausgestrahlt. Verbindlich eingeschrieben hatten sich dazu fast 17.000 Hörer, die Prüfungen ablegen konnten (organisiert durch die Kultusministerien von fünf Bundesländern). Diese Zahl ist noch relativ bescheiden, gemessen am Erfolg, den dann die (im Gegensatz zum LGL sehr preiswerte) Taschenbuchausgabe von 1973 erzielen konnte. Deren Vorwort orientiert ausführlich über die damaligen Bedingungen, zu denen insbesondere gehört, dass man noch auf kein vorliegendes Curriculum hatte zurückgreifen können, sondern dieses erst zu entwickeln war. Im Hintergrund standen folgende Voraussetzungen:

„In den nächsten Jahren ist eine grundlegende Neuordnung des Deutsch- und Fremdsprachenunterrichts zu erwarten. Damit Hand in Hand geht eine Neuorientierung des herkömmlichen Philologiestudiums. Grund ist die moderne Linguistik, die nicht mehr nach den historischen Wandlungen der Einzelsprachen fragt, sondern nach den allgemeinen Merkmalen und Strukturen des Zeichensystems Sprache.“ (Aus dem Paratext Über dieses Buch)

Das Funk-Kolleg Sprache vertritt in besonders ausgeprägter Weise die oben angesprochene Variante, nach der systemlinguistische Ansätze zwar die Grundlage der ‚modernen Linguistik‘ bilden (müssen), diese jedoch einzubetten sind in einen kommunikationswissenschaftlich orientierten Rahmen. Das erste Hauptkapitel (von insgesamt fünf) ist betitelt: Kommunikation und Sprache. Der Textlinguistik kommt in diesem Buch (besonders im Verhältnis zur Soziolinguistik) keine besonders große Bedeutung zu. Mit dem Ausdruck Textem erfolgt jedoch eine quasi konsequente Parallelisierung zur Phonem- und Morphemanalyse. Im LGL erscheint dieser Begriff dagegen nicht (auch nicht in der stark bearbeiteten 2. Auflage von 1980). Dieses Handbuch wendet sich auch viel eher an die etablierten Kreise in den Universitäten und bespricht sehr ausführlich verschiedene Ansätze und einzelne Arbeiten aus der frühen Textlinguistik. Auch hier werden jedoch von Anfang an eine auf die Langue gegenüber einer auf die Parole bezogene Sichtweise unterschieden. Während bei der zweiten übereinstimmend mit dem Funk-Kolleg die Kommunikativität thematisiert wird, soll es jedoch bei der ersten um (die Gesamtheit von) Textbildungsregeln gehen, so dass hier nicht Phonologie und Morphologie als Vorbild fungieren, sondern die Syntax.

Nun ist es relativ einfach, den Ausdruck Textem parallel zu Phonem und Morphem zu bilden, weniger klar ist allerdings, was man sich darunter vorzustellen hat. Im Glossar des Funk-Kollegs erscheinen die folgenden Erläuterungen:

Text: Sprachliche Äußerung; Ergebnis der → Realisierung eines → Textems.

Textem: Noch nicht realisierte sprachliche Struktur als Ergebnis der sprachlichen → Kodierung.

Textstruktur (= Textem): strukturierte Ketten von Sprachzeichen als Ergebnis der sprachlichen Kodierung.

Kodierung: vom Sprecher vorgenommene Umsetzung einer Vorstellung in eine sprachliche Äußerung.

Sie zeigen klar, dass Text wie Phon und Morph als konkrete/materielle Realisierung einer abstrakten (vorher nur kognitiv verfügbaren) Einheit konzipiert wird. Gewöhnlich bezeichnet man nicht materialisierte Ketten von Sprachzeichen als Wortlaut, und zwar – ebenso wie bei Morphemen und Lexemen – unabhängig von der medialen Verfasstheit: Die Frage, ob ein Morphem einer gesprochenen oder geschriebenen Einheit entspricht, stellt sich schlicht nicht; wir befinden uns auf einem Abstraktionsniveau, auf dem die Materialisierungsart keine Rolle spielt. Ein Schema (Abb. 1) zur Visualisierung wird als Versuchsanordnung bezeichnet, da alle Faktoren, die sich außerhalb des zentralen Kastens befinden, (und zusätzlich u. a. Intention, Wissens- und Sprachspeicher)

„vorübergehend außer acht gelassen werden. Wohlgemerkt vorübergehend: Wenn die kausalen Beziehungen zwischen einem ideal homogenen denotativen Kode, der von einem idealen Sprecher aktiviert wird, zum produzierten Text analysiert und beschrieben sind, werden nach und nach weitere Faktoren in die Analyse einbezogen; so wird Schritt für Schritt die Beschreibung der Komplexität des Sachverhalts angenähert. Genau wie die ideale Kompetenz kann man auch die soziale Rolle eines Sprechers isolieren und dadurch idealisieren und fragen: Welche Merkmale X, Y und Z hat ein Text, der auf der Grundlage eines bereits beschriebenen Kodes in einer bestimmten sozialen Rolle produziert wird?

Wir haben zu zeigen versucht, daß nur einschichtige homogene und also idealisierte Objekte einer präzisen Analyse zugänglich sind. Daraus folgt, daß die Komplexität realer Sachverhalte in einer wissenschaftlichen Beschreibung nur dann annähernd zu erreichen ist, wenn man schrittweise analysiert und eine Menge elementarer Ergebnisse zu einer Gesamtbeschreibung zusammenfügt. Da wir die Aktivierung des Kodes durch einen Sprecher oder Hörer für das grundlegende Ereignis sprachlicher Kommunikation halten, beginnen wir die Gesamtuntersuchung mit der Analyse der idealen Kompetenz des idealen Sprechers/Hörers.“ (Funk-Kolleg Sprache 1973: Bd. 1, 82f.):

Abb. 1:

Reduziertes Faktorenmodell für die Textbildung (nach Funk-Kolleg Sprache 1973: Bd. 1, 82)

Die Ausdrücke Lexem oder gar Lex kommen im Funk-Kolleg nicht vor, stattdessen spricht man dort von Formativen. Auch für Sätze fehlt eine entsprechende Parallele; sie werden als aus Konstituenten aufgebaut verstanden. Somit sind die Analogien auf den oberen Rängen doch nicht besonders konsequent durchgeführt. Auch kommt Textem außerhalb der zitierten Stelle nur noch einmal vor, und zwar in einem Sprachverhaltensmodell. Dieses sehr komplexe Schema setzt (im Rahmen der Studien zur gesprochenen Sprache in der Schule Hugo Stegers) Redekonstellationen und Textexemplare (statt wie früher Texte) in Beziehung (vgl. ebd.: Bd. 2, 196); weitere Erläuterungen zum Verhältnis von Text(exemplar) und Textem finden sich aber nicht.

So ist es eigentlich nicht erstaunlich, dass Textem nicht als gut etablierter Begriff gelten kann. Er erscheint zwar in manchen Fachwörterbüchern (vgl. dazu genauer Kolde 1999), u. a. bei Bußmann. Sogar Felder (2016: 34) benutzt ihn einmal; insgesamt bleibt er aber ebenso selten wie unklar.

Was die meisten davon abhält, ihn überhaupt einzusetzen, erklärt sich natürlich relativ einfach: Schon bei Sätzen rechnet man eigentlich nicht mit konkreten, d. h. im Wortlaut festgelegten Strukturen, die kognitiv gespeichert sind und in der Parole nur materialisiert werden, sondern mit viel abstrakteren Strukturen, nämlich allenfalls Satzschemata, die in Äußerungen gewissermaßen erst lexikalisch und grammatisch ‚gefüllt‘ werden. Erst recht ist es bei Texten die Ausnahme, dass sie bei der materiellen Realisierung direkt aus dem Gedächtnis abgerufen werden, dort also schon gespeichert sind. Für Morpheme gilt dagegen genau das. Diese sind mit ihrer Signifiant-Seite gewiss nicht angeboren (wie man es für syntaktische Kategorien ja teilweise unterstellt), sondern müssen einzeln gelernt werden. Sie können dann allerdings auch nach abstrakten Regeln in neue Konstruktionen eingehen, d. h. in solche, die nicht schon im Lexikon überliefert sind. So ergibt sich die ‚traditionelle Arbeitsteilung‘ zwischen Lexikon – mit Einheiten, die auch über ein Lautbild im Sinne de Saussures verfügen – und Syntax, für die das nicht gilt. Die Parallelisierung von Morphem und Textem, so könnte man den Einwand zusammenfassend formulieren, unterstellt eine Vergleichbarkeit, die schlichtweg nicht gegeben ist. Daher kann es auf der Text- genau wie auf der Satzebene nur darauf ankommen, nach abstrakteren Größen, nämlich nach Satz- bzw. Text-Bildungsregeln, zu suchen, statt zu unterstellen, dass bereits ‚kodierte‘ komplexe Einheiten im Gedächtnis gespeichert sind. Anders gesagt: Morpheme gelten als virtuelle Einheiten, die immer wieder neu realisiert werden, Sätze und Texte dagegen als erst im Äußerungsakt jeweils neu erzeugte.

Diese Vorstellung ist sehr verbreitet, entspricht aber m. E. einer Art denkstilbedingten Blindheit (vgl. Fleck 1980 und dazu Adamzik 2018b: Kap. 5.2.) gegenüber der sehr wohl möglichen Parallelisierung. Bevor dies in Kapitel 4 genauer ausgeführt wird, sollen noch einige frühe textlinguistische Ansätze vorgestellt werden, die der Vorstellung von Texten als virtuellen Einheiten am nächsten kommen (vgl. dazu ausführlicher Adamzik 2015: Kap. 2 und Adamzik 2016: Kap. 2.5.3.).

Besonders darum bemüht, die Parallelen wirklich konsequent durchzuführen, ist Walter A. Koch (1969, 1973), der zu diesem Zweck einen eigenen Begriffsapparat vorschlägt: Der Größe Wort entspricht darin ungefähr Logem, dem Satz ungefähr Syntaktem. Syntakteme sollen aus Subjekt und Prädikat bestehen, Texteme aus Topik, Thema und Komment – es handelt sich also nicht wie bei der ‚Kodierung‘ im Funk-Kolleg