Velumerion - Justin Noss - E-Book

Velumerion E-Book

Justin Noss

0,0
5,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

Tim ist 18 Jahre alt, als er erfährt, dass er der Prinz von Velumerion ist. Sein größtes Abenteuer beginnt mit einer Hinterlassenschaft seines verstorbenen Vaters, der ihm bis dahin die wahre Geschichte seiner Ahnen nie erzählte. Sein Großvater ist der König einer magischen Insel, die vom Rest der Welt verborgen liegt. Jedenfalls bis ein dunkler Zauberer eines Tages die Herrschaft übernahm. Nur Tim selbst ist als wahrer Thronfolger im Stande die Insel seiner Familie zurückzuerobern, den mächtigen Zauberer zu bezwingen und seinen Großvater aus einem steinernen Bann zu befreien. Gemeinsam mit seinem Onkel Merlin begibt er sich auf eine außergewöhnliche Reise in eine Welt voller Abenteuer und Gefahren. Zwischen Drachen, Piraten und Zauberern muss er sich entscheiden wem er vertrauen kann, wen er bekämpfen muss und wer seine erste große Liebe ist.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 455

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Justin Noss

Meine Widmung ist zeitlos.

Sie gilt gleichermaßen

in der Vergangenheit,

der Gegenwart

und der Zukunft.

Meine Widmung gilt all jenen, die mich in der Vergangenheit

bei dieser Geschichte unterstützt haben.

Meine Widmung gilt meinen Charakteren, die für mich gegenwärtig

sind – denn Fantasie ist für mich gegenwärtig.

Meine Widmung gilt all jenen, die meine Geschichte in Zukunft

lesen werden.

Inhalt

Cover

Titelblatt

Widmung

»PROLOG«

~ Das Rätsel um den Großvater ~

~ Auf der richtigen Fährte ~

~ Feinde und Verbündete ~

~ Der hohe Rat ~

~ Liokatessa ~

~ Gasthaus Yadorimor ~

~ Die Nemluthos und ihre Crew ~

~ Tacornaby Bay ~

~ Ein treuer Begleiter ~

~ nördlich der Kontinente ~

~ Die fliegende Mara ~

~ Der Tischzauberer ~

~ Sirius ~

~ Lucys Refugium ~

~ Kumbaya ~

~ Halldorswacht ~

~ Vereint gegen Hektor ~

~ Unsere Festung ~

~ Was Träume uns erzählen ~

Urheberrechte

Velumerion

Cover

Titelblatt

Widmung

»PROLOG«

~ Was Träume uns erzählen ~

Urheberrechte

Velumerion

Cover

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

35

36

37

38

39

40

41

42

43

44

45

46

47

48

49

50

51

52

53

54

55

56

57

58

59

60

61

62

63

64

65

66

67

68

69

70

71

72

73

74

75

76

77

78

79

80

81

82

83

84

85

86

87

88

89

90

91

92

93

94

95

96

97

98

99

100

101

102

103

104

105

106

107

108

109

110

111

112

113

114

115

116

117

118

119

120

121

122

123

124

125

126

127

128

129

130

131

132

133

134

135

136

137

138

139

140

141

142

143

144

145

146

147

148

149

150

151

152

153

154

155

156

157

158

159

160

161

162

163

164

165

166

167

168

169

170

171

172

173

174

175

176

177

178

179

180

181

182

183

184

185

186

187

188

189

190

191

192

193

194

195

196

197

198

199

200

201

202

203

204

205

206

207

208

209

210

211

212

213

214

215

216

217

218

219

220

221

222

223

224

225

226

227

228

229

230

231

232

233

234

235

236

237

238

239

240

241

242

243

244

245

246

247

248

249

250

251

252

253

254

255

256

257

258

259

260

261

262

263

264

265

266

267

268

269

270

271

272

273

274

275

276

277

278

279

280

281

282

283

284

285

286

287

288

289

290

291

292

293

294

295

296

297

298

299

300

301

302

303

304

305

306

307

308

309

310

311

312

313

314

315

316

317

318

319

320

321

322

323

324

325

326

327

328

329

330

331

332

333

334

335

336

337

338

339

340

341

342

343

344

345

346

347

348

349

350

351

352

353

354

355

356

»PROLOG«

Jake versteckte sich in einem hohlen Baumstamm und bewunderte den anmutigen Flügelschlag des mächtigen Drachens, der seinen Hals über die Baumkronen streckte.

Unersättliche Neugierde erfüllte stets den achtjährigen Jungen und schickte ihn auch an diesem Nachmittag auf Expedition über die Insel. Die Luft roch nach Drachen - Einer Mischung aus Reptil, Feuer und Holz. Jake hörte wie sich das Hufgetrappel näherte. Er kletterte aus dem Baumstamm heraus – Mit den Händen über den feuchten Waldboden.

Adelina, seine elfjährige Schwester, ritt dicht an ihn heran. Ihr Pferd war weiß wie Schnee. Ihr kleines Schwert, das sie auf dem Rücken trug, glänzte im Licht der Sonne. Verärgert schimpfte sie mit ihrem Bruder. Ständig lief er davon - doch sie war die große Schwester, die auf ihn Acht geben sollte.

An diesem Tag verlor sie ihn beim Fischen aus den Augen. Adelina stand knietief im Wasser und fing Fische mit ihren bloßen Händen – wie sie es von ihrer Mutter gelernt hatte – während Jake sich rasch entfernte um dem vorbeiziehenden Drachen zu folgen.

Jake war wie sein Vater – er liebte das Abenteuer. Adelina reichte ihm die Hand und zog ihn auf das Pferd. Jake saß hinter seiner Schwester, schaute ihr neugierig über die Schulter und beobachtete jeden ihrer Handgriffe am Zügel – er beobachtete, um zu lernen.

Die beiden Kinder ritten zu Lucy – einer alten Dame, die in einem Baumhaus im Wald der Feen lebte. Ihr Garten roch nach Orangenmarmelade und heißer Schokolade. Wie so oft wollten Jake und Adelina nicht nur wegen ihrer vielen Leckereien zu Lucy reiten.

Sie liebten die Geschichte über ihre Insel, die Lucy ihnen nur zu gerne erzählte, während sie Schals und Decken für den Winter strickte.

~ Das Rätsel um den Großvater ~

Schleichend wie eine Schnecke zog eine kleine Wolke den klaren Himmel entlang. Nachdenklich schaute Tim aus dem Fenster und blickte auf den großen Apfelbaum, der vor der Fensterfront seines Klassenzimmers stand und saftige Äpfel trug. Seine Gedanken kreisten an diesem Tag um sein Zeugnis. Es war der letzte Tag vor den Sommerferien und das Wetter zeigte sich bereits von hochsommerlicher Seite. Mit umherschweifenden Gedanken blätterte Tim verträumt durch sein Geschichtsbuch und wartete auf das Ende der Schulstunde. Die einzigen Geräusche, die er unterbewusst wahrnahm, waren der langweilige Vortrag seiner Geschichtslehrerin und das Geräusch der Kreide an der Tafel. Es war sein letztes Schuljahr vor dem Abitur und der Achtzehnjährige verstand nicht, weshalb seine Lehrerin ihn und seine Klassenkameraden an diesem Tag noch mit einem richtigen Unterrichtsthema behelligen musste. Das war überflüssig.

»Alles klar bei dir?«, erkundigte sich Leon leise.

Tim hatte seinen Klassenkameraden etwas länger nicht gesehen. Leon war fast zwei Wochen krank und nicht in der Schule.

»Ja, alles gut… Wieder gesund?«, antwortete Tim.

»Ja…«, flüsterte Leon nach kurzem Zögern, während er sich zu Tim herüber beugte.

Es erhob sich ein Stimmgewirr, als der Schulgong schließlich das Ende der Stunde ankündigte.

»Ich wünsche euch allen schöne Ferien. Eure Zeugnisse könnt ihr bei mir abholen. Wir sehen uns dann auf dem Abschlussball, nächsten Monat«, richtete die Lehrerin dem Lärm entgegen.

Die Gespräche in dem Klassenzimmer wurden lauter und übertönten selbst das hektische Hochstellen der Stühle. Es entstand ein wildes Gedrängel zum Pult.

»Schönes Zeugnis, Tim!«, gratulierte ihm seine Lehrerin, als er an der Reihe war.

»Danke! Ich habe mein Bestes gegeben«, freute sich Tim.

»Und wie geht es für dich nun weiter? Hast du dich entschieden in die Fußstapfen deines Vaters zu treten?«

»Ja, ich denke schon!«, antwortete Tim mit einem Hauch an Verunsicherung.

Ein kurzes und erfreutes Lächeln widmete die Lehrerin ihrem Schüler.

»Sehr schön! Dann sehen wir uns wohl wieder«

»Ja, schätze schon!«, murmelte Tim leicht verunsichert.

»Das klingt aber nicht sehr überzeugend«, offenbarte die ältere Frau ihre Verwirrung.

»Ja, auf jeden Fall sehen wir uns auf dem Abschlussball«, wich Tim dem Thema aus.

Wirklich überzeugt war er nicht davon Lehrer zu werden. Sein Vater hätte es jedenfalls so gewollt. Es war sowohl für die Schule, aber natürlich ganz besonders für die Familie, ein harter Schlag, als er vor zwei Jahren bei einem Autounfall gestorben war. Eigentlich war es immer Tims Ziel selber Naturwissenschaftslehrer zu werden, wie sein Vater es auch gewesen ist. Ein Teil von ihm ertappte sich jedoch immer wieder, sich in den Fußstapfen seines Onkels zu sehen. Von dem hält die Familie jedoch nicht so viel. Er und Tims Vater waren zwei Brüder, die sich nicht gerade glichen wie ein Ei dem anderen. Immer unterwegs auf geologischen Forschungsreisen und kaum Zeit für die Familie – So konnte man seinen Onkel Merlin kurz und bündig beschreiben. Meistens sah er ihn nur zu feierlichen Anlässen. Aber er sah die Welt, erlebte etwas, war ein Abenteurer. Sein Onkel kam offenbar auch ganz nach seinem Großvater, den Tim jedoch nie kennenlernte. Der blieb ihm immer das größte Rätsel. Nie sprach sein Vater von ihm. Und wenn doch, dann nur negativ. Er hatte nie Zeit für die Familie, war auch nur in der Ferne unterwegs und segelte um die Welt. Noch vor der Geburt von Tims Vater wurde er vermisst und schließlich war allen klar: Er würde nicht wieder kommen.

»Wo wir gerade darüber sprechen, Tim… Du möchtest dich bitte nochmal im Direktorat melden. Es geht um deinen Vater«, sagte die Lehrerin und überreichte ihm sein Zeugnis.

»Ja gut!«, antwortete Tim verwirrt und nahm sein Zeugnis leicht zögerlich entgegen.

Nur einen kurzen Blick schenkte er dem Zeugnis. Seine Noten wusste er ohnehin bereits. Was konnte der Direktor mit ihm über seinen Vater zu besprechen haben? Irgendwie versetze ihn diese Frage wie in Trance. Schließlich brodelte eine große Neugierde in ihm hoch. Schnell steckte er das Zeugnis in seinen Rucksack und wandte sich der Tür zu.

»Total sonnig heute. Treffen wir uns am See«, wollte Leon wissen.

»Vielleicht später, ich rufe dich an. Habe noch etwas zu erledigen«, entgegnete Tim und machte sich auf direktem Weg zum Direktorat.

Normalerweise wartete Tim nach Schulschluss auf Leon um mit ihm gemeinsam zum Bus zu gehen. Meist gehörten die beiden zu den letzten Schülern, die das Klassenzimmer verließen. An diesem Tag war Tim jedoch der erste Schüler, der zügig durch die Tür hinaus in den Südflügel der Schule lief. Er durchquerte gerade den mit Sonnenlicht durchfluteten Flur zum Verwaltungsgebäude, als die Uhr zur vollen Stunde geschlagen hatte. Seine Schritte gaben keine Geräusche von sich, obwohl er sich sehr beeilte. Beinahe streifte er die Fenster rechts neben ihm, die so sauber waren, dass sich die weißen Fliesen des Fußbodens darin spiegelten. Der Flur war Menschenleer. Außer ihm war niemand dort. Normalerweise ist das ganz anders. Meist muss er sich durch die Flure durchkämpfen. An diesem Tag wollten offenbar alle nur schnell heraus und vergnügt in die Sommerferien starten. Als Tim nach rechts in das Sekretariat abgebogen war, blickte er kurz in einen Wandspiegel, der erst vor kurzem aufgehängt wurde. Er selber ging so schnell, dass er seine Kleidung im Spiegelbild nicht erkannte. Alles was er sah, waren seine dunkelblonden Haare. Er war gerade im Büro angekommen, als ihn die unfreundliche Schulsekretärin ansprach.

»Rennen verboten!«, schimpfte sie mit rauer und gehässiger Stimme.

An diesem Tag sah die älter wirkende Frau besonders fies aus. Graue struppige Haare, die in alle Richtungen standen, kannte Tim bereits. Doch dieses Mal saß ihre viel zu große Brille schief auf der Nase. Aber vermutlich würde sie sogar so herumlaufen, wenn sie es bemerken würde.

»Entschuldigung!«, erwiderte Tim.

Die gelangweilte Frau blickte von ihm weg, trank einen Schluck Kaffee und sah weiter in ihre Zeitung. Ein schweifender Blick viel dann in Tims Richtung. Fast so als hätte sie ihn erst jetzt bemerkt.

»Der Direktor möchte mich sprechen«, warf Tim in den Raum.

Die unfreundliche Sekretärin blickte kurz zu Tim hinauf, dann jedoch wieder wortlos in ihre Zeitung.

»Der Direktor kommt gleich wieder. Nimm in seinem Büro Platz!«, wies sie ihn dann an ohne ihm einen Blick zu schenken.

Tim atmete tief durch und betrat das Direktorat. Auf dem Besprechungstisch stand nur eine Dose mit Würfelzucker. Leise zog Tim dort einen Stuhl bei Seite und nahm Platz. Schneller als erwartet, hörte er dann bereits den Direktor eintreten. Tim stellte seinen Rucksack neben den Stuhl und legte seine Hände brav auf den Tisch.

»Hallo, Tim! Schön, dass du da bist«, begrüßte ihn der Direktor fröhlich und schleppte einen Umzugskarton durch die Tür.

»Kann ich Ihnen helfen?«, bat Tim höflich an, als sein Schulleiter den sperrigen Karton durch den etwas engeren Türrahmen zwängte.

»Alles gut! Das geht schon«, antwortete er und stellte den Karton neben den Tisch, bevor er sich gegenüber von Tim an den Tisch setzte.

»Sie wollten mich sprechen?«, fragte Tim neugierig.

»Ja, das ist richtig. Erzähl doch mal wie geht es für dich weiter? Sehen wir uns nach deinem Studium wieder?«

Nochmal hatte Tim keine Lust auf diese Unterhaltung. Aber da sein Wunsch, dem Vorbild seines Onkels zu folgen, ihm ohnehin unrealistisch erschien, antwortete er nur ganz kurz.

»Ja, natürlich!«

»Sehr schön! Genieß` deine letzten Ferien… Fahren du und deine Mutter weg?«, war daraufhin die nächste interessierte Frage, die Tim erwartete.

»Meine Mutter und ich wollten eventuell ans Meer fahren«, sagte Tim zügig und fragte sich wann sein Direktor endlich zum Thema kam.

»Sehr schön! Erhol` dich gut! Ich möchte dich auch gar nicht lange aufhalten, Tim… Wie du weißt, findet der Abschlussball dieses Jahr erst nach den Sommerferien statt weil wir den gesamten Südflügel renovieren. Das Kollegium hat daher begonnen einige Lagerräume zu entrümpeln. Du glaubst ja nicht… was wir dabei alles gefunden haben. Unter anderem ist uns dieser Karton in die Arme gefallen. Der Name deines Vaters steht darauf. Ich habe nicht weiter reingeschaut. Sind wohl nur persönliche Dinge drin. Ich gebe ihn dir mit. Vielleicht sind Dinge drin, die du und deine Mutter behalten wollen«, erklärte ihm der Schulleiter während er sich eine Tasse Kaffee auf den Tisch stellte und eines der Würfelzucker aus der Dose nahm.

Langsam rührte er mit einem kleinen Löffel in seiner Tasse. Die Luft im Büro war ziemlich stickig und warm. Durch das geöffnete Fenster hörte Tim, dass die Schüler bereits über den Schulhof liefen um ihren Bus zu erwischen. Der Schulleiter erhob sich von seinem Platz und öffnete die Tür.

»Wenn du keine weiteren Fragen hast, entlasse ich dich jetzt mal in deine Ferien«, sagte er mit einem Lächeln im Gesicht.

»Ja, vielen Dank!«, sagte Tim und ergriff den sperrigen Karton mit dem er sich zum Ausgang begab.

Einen kurzen Blick warf er direkt hinein um festzustellen, dass der Karton voll mit allem Möglichen war. Zwischen Tür und Angel nachzusehen war gar nicht möglich. Langsam drängelte sich Tim über den großen Schulbusparkplatz zur Haltestelle. Die grellen Strahlen der Sonne wurden von der Pflasterung des Parkplatzes reflektiert und blendeten stark. Direkt vor dem Schulgebäude sah Tim den Hausmeister, der mit einem Wasserschlauch den Bürgersteig reinigte. Am undichten Wasserhahn sprühten feine Tropfen in die Höhe und bildeten in der Sonne einen kleinen Regenbogen.

Am Haus vorbeigehend blickte Tim auf das knallbunte Cabriolet seiner beinahe schon Siebzigjährigen Nachbarin. Es war in genauso knalligen Farben wie das Kleid, das sie ständig trug. Zügig überquerte Tim noch einmal die Straßenseite um dort am größten Haus der Straße vorbeizugehen. Wie er es öfters tat, lief er durch die zu Boden fallenden Wassertropfen der Teichfontäne im Vorgarten der dort wohnenden Familie. Das war bei der warmen Sommerluft immer recht erfrischend. Tim dachte jetzt wieder an seinen Vater und war voller Neugierde auf den Inhalt des Kartons. Seine Mutter hatte ihn offenbar kommen sehen. Jedenfalls öffnete sie ihm bereits die Tür, als er mit dem sperrigen Karton durch den Vorgarten des Hauses lief.

»Was hast du denn da mitgebracht?«, fragte sie verwundert.

»Das gehörte Papa«, entgegnete Tim.

Betroffen sah ihn nun auch seine Mutter an, die ihm die Tür offenhielt. Schnell stellte Tim den schweren Karton auf den untersten Treppenstufen ab.

»Hast du schon einen Blick reingeworfen?«, fragte Luisa neugierig.

»Nein noch nicht«, sagte ihr Sohn ungeduldig.

Gemeinsam öffneten sie den Karton. Eine ranzig riechende Staubwolke stieg ihnen entgegen, als Luisa den oben aufliegenden Schal aus dem Karton nahm. Sentimental sah sie diesen an und roch an ihm. Vermutlich wollte sie wissen ob er noch nach Magnus roch. Dann legte sie ihn bei Seite. Ein Modellschiff zeigte sich nun, welches Tim vorsichtig aus dem Karton zog. Es war völlig verstaubt und wirkte recht in die Jahre gekommen. Mit einem Lächeln sah Luisa auch dieses an und meinte:

»Das hatte dein Vater früher hier Zuhause. Später hatte er es im Lehrerzimmer stehen«

»Er liebte die See«, fügte sie kurz darauf hinzu.

Darunter befand sich noch ein Fotoalbum. Mit einem Lächeln öffnete Luisa die erste Seite und sah eingeklebte Familienfotos. Von der Hochzeit, von Tims Geburt, vom ersten gemeinsamen Familienurlaub und dergleichen. Sonst befanden sich offenbar nur Schriftrollen in dem Karton. Luisa musterte die erste Rolle genau. Das Papier war mittlerweile vom Dreck grau gefärbt und leicht bleich geworden.

»Das sind alles Baupläne für unser Haus, Tim! Ich kenne nur Geschichten darüber, wie er dieses Haus vom Architekten entwerfen ließ. Das war bevor wir uns kennenlernten«, sagte Luisa leise.

Plötzlich legte sie alles wieder behutsam in den Karton.

»Stell das bitte in das Büro deines Vaters«, wies Tims Mutter ihn an.

Tim nickte ihr zu, sagte jedoch nichts. Zügig begab sich Tim mit dem Karton nach oben in die erste Etage. Am Ende des Flures angekommen stand er vor der dunklen Holztür. Eigentlich betraten Tim und seine Mutter diesen Raum nie. Jedes Möbelstück darin stand noch genauso wie Magnus es gestellt hatte. Aber auch zu den Lebzeiten des Familienvaters haben sie den Raum kaum betreten. Das Büro seines Vaters war Tim immer ein großes Rätsel. Tim wusste nur, dass sein Vater dort Schulklausuren vorbereitete und korrigierte. Auch seine Unterrichtsvorbereitung hatte er dort erledigt. Allerdings verschloss er jedes Mal die Tür, wenn er den Raum verließ. Den Schlüssel trug er ständig an einer unauffälligen Kette um den Hals. Tim verstand nie, was den Raum so geheimnisvoll für seinen Vater machte. Riesige Bücherregale mit sämtlichen Schulbüchern. Ein Fenster auf der Nordseite, das kaum Tageslicht hineinließ. Und ein massiver Schreibtisch aus Eichenholz mit einem schwarzen Ledersessel.

Gerade griff Tim zum Türknauf, hielt jedoch schnell inne. Stattdessen griff er plötzlich den Karton und brachte ihn in sein Zimmer. Interessiert blätterte er dort durch das Fotoalbum. Erst als er sich jedes Foto sicherlich fünf Minuten ansah, widmete er sich den Karten des Hauses zu. Er fand sie sehr interessant, nie sah er Baupläne eines Architekten. Die Karten wirkten recht alt, doch was sie abbildeten kannte Tim alles in Wirklichkeit. Es war blaue Tinte, die Tim schließlich entdeckte. Offenbar hatte sein Vater handschriftliche Notizen vermerkt. Musternd entdeckte Tim, dass diese auf einen bestimmten Raum hindeuteten. Tim zweifelte an seinem Verstand. Der Raum war dort, wo tatsächlich keiner war. Alle anderen Details stimmten jedoch mit der Realität überein.

Mehr als verwundert kam Tim wieder die Treppe herunter und lief verwirrt durch den Flur. Das abgebildete Zimmer lag zwischen der Küche und dem Wohnzimmer. Dort war jedoch nichts, lediglich ein Vorratszimmer. Tim betrachtete die Wände mit akribischen Blicken – Beinahe als würde er das Haus gerade selber entwerfen. Tatsächlich passten die Räumlichkeiten nicht zur Außensilhouette des Hauses. Einen Schritt nach dem anderen näherte sich Tim der Wand im Wohnzimmer, ehe er an dieser entlang fühlte und leicht klopfte. Es klang hohl. Hohl? Tim erschrak förmlich, als er diese Entdeckung machte. Gab es einen verborgenen Raum? Hatte sein Vater diesen zugespachtelt? Und wenn ja, aus welchem Grund? Hatte er etwas zu verbergen? Etwas geheimnisvoll tat er eigentlich immer nur in seinem Büro. Es dämmerte Tim. Er schaute nachdenklich nach oben und stellte fest, dass das Büro unmittelbar über dem offenbar verborgenen Raum lag. Einen weiteren Blick warf Tim auf den Konstruktionsplan des Hauses. Es gab keine Türen, die in den Raum führten. Was hier geschah konnte Tim sich nicht erklären. Aber er war sich ziemlich sicher: Er würde gerade ein Geheimnis lösen, welches sein Vater der Familie verborgen hielt.

»Was tust du denn da, Tim?«

Er schrak zusammen. Urplötzlich stand seine Mutter neben ihm. Er hatte sie nicht kommen sehen.

»Ich… Ich habe mir nur etwas angesehen«, stammelte Tim und rollte den Plan des Hauses zusammen.

Seine Mutter wich dem Gespräch über Magnus meist aus. Richtig verkraftet hatte sie seinen unerwarteten Tod bis zu diesem Tag nicht.

»Leg jetzt die Sachen weg und komm mit! Das Essen ist gleich fertig«, sagte Luisa und verließ den Raum.

Zügig brachte Tim die Karte wieder in sein Zimmer, verstaute sie wieder im Karton und versteckte diesen unter seinem Bett. Erstaunlicherweise gelang es Tim nun seine sich kreisenden Gedanken nach hinten zu stellen. Es war als hätte er seine Gedanken genau wie die Karte in einen Karton gesteckt und unter sein Bett geschoben. Nach dem Mittagessen verbrachte er den Rest des Tages mit Leon am See, wo er auf andere Gedanken kam.

Es war ein gewöhnlich warmer Frühsommerabend unter klarem Himmel. Das Licht der untergehenden Sonne erhellte das Zimmer in glühend roter Farbe. Verträumt sah Tim dem Schatten an der Wand zu, der durch den Sonnenuntergang immer größer wurde und das rote Licht verschwinden ließ. Neben dem Klirren aus der Küche, in welcher Luisa noch das Geschirr vom Abendessen spülte, drang nun auch ein dumpfes Gepolter von der Treppe im Korridor in das Esszimmer hindurch. Zügig übersprang Tim jede zweite Treppenstufe nach unten. Tim sah herüber zu seiner Mutter, die nun zielstrebig zu einem Schrank lief und die abgetrockneten Teller einräumte.

»Gute Nacht, Mama!«, sagte Tim während er noch ein Glas Wasser trank.

»Gute Nacht, Tim!«, erwiderte Luisa gähnend. »Ich verschwinde auch gleich ins Bett«, fügte sie hinzu, während sie den letzten Teller in den Schrank stellte.

Natürlich wollte Tim nicht direkt schlafen. Er fand nun wieder Zeit sich auf den seltsamen Raum zu konzentrieren. Lange lag er noch wach in seinem Bett und betrachtete die Pläne des Hauses. Ins Detail musterte er erneut jeden Strich, jede Wand, jede Tür, jedes Fenster und glich diese mit dem tatsächlichen Bild des Hauses ab. Es war ruhig geworden. Mittlerweile standen die Sterne am Himmel. Luisa war bereits schlafen gegangen. Nur eine Kerze erhellte Tims Zimmer. Es erhob sich ein leises Geklimper. Beinahe als sei eine Münze auf den Boden gefallen. Verwirrt schaute Tim in den Raum und suchte den Boden ab. Irgendetwas musste ihm schließlich heruntergefallen sein. Neugierig schob er seine Bettdecke bei Seite und setzte sich auf die Bettkante. Direkt spürte er einen kalten, metallenen Gegenstand unter seinem Fuß. Es war ein kleiner Schlüssel, der ihm zwischen die Füße gefallen war. Offenbar musste dieser zwischen einer der Karten gelegen haben. Wie versteinert saß er auf seiner Bettkante und fragte sich zu welchem Schloss der Schlüssel gehören konnte. Jedenfalls gehörte er nicht zu einem geheimen Raum. Dafür war er viel zu klein. Er wirkte ziemlich antik und abgegriffen, während seine Gravur den Buchstaben V zeigte. Und wozu ein Schlüssel, wenn es keine Tür gab?

Lange genug hatte Tim überlegt. Leise schlich er sich durch den Korridor zur Bürotür seines verstorbenen Vaters. Erst öffnete er die Tür ziemlich langsam. Dann hielt er jedoch inne, als diese zu knarzen begann. Er wollte auf keinen Fall, dass seine Mutter von Tims nächtlicher Wanderung durch die Räume seines Vaters Wind bekam. Tim drängte sich durch den Türspalt und verschloss die Tür – so leise wie er konnte. Alles sah aus wie immer. Es war so leise, dass Tim beinahe seine Gedanken hören konnte. Nur die Kuckucksuhr an der Wand gab ihr monotones Ticken preis. Wie ein Detektiv sah Tim sich in dem geheimnisvollen Zimmer um. Er wusste überhaupt nicht wo er anfangen sollte zu suchen. Der Schlüssel war klein und zart.

»Vielleicht steht hier irgendwo ein verschlossenes Buch. Deshalb hat Papa den Raum immer abgeschlossen«, flüsterte Tim seine Gedanken.

Zielstrebig lief er auf das riesige Bücherregal zu. Keines der unteren Bücher hatte ein Schloss. Es waren zumeist nur Fachbücher der Naturwissenschaften. Nichts, das in irgendeiner Weise zu verheimlichen wäre. Prüfend musterte Tim dennoch jedes einzelne Buch. Tim schrak heftig zusammen. Sein Herz raste wie wild. Es war jedoch nur die Kuckucksuhr, die zur Mitternachtsstunde geschlagen hatte. Kurz befürchtete Tim seine Mutter sei davon wach geworden, doch das war natürlich unsinnig. Die Uhr schlug schließlich jede Nacht. Flink schnellte der Kuckuck mit jedem Ruf nach vorne und verschwand wieder in das antike Gehäuse der Uhr. Erst als sich der Minutenzeiger schleichend von der Zwölf wegbewegt hatte, verstummte auch der Kuckuck. Lediglich ein leises Klopfen aus dem Uhrwerk ertönte einige Sekunden lang bei jedem Schwung des goldenen Pendels. Gefunden hatte Tim bisher noch nichts.

Schließlich wollte er dann den wohl doch vermeintlich harmlosen Inhalt des Kartons in das Regal stellen. Das Modellschiff entpackte er zuerst. Mit dem Finger beseitigte er den Staub so gut er konnte, dann schob er eine im Regal stehende Uhr beiseite und schuf Platz für weitere Dinge. Schließlich hob er das Modellschiff über seinen Kopf und schob es langsam nach hinten ins Regal. Schnell bemerkte er jedoch, dass dort etwas blockierte. Vorsichtig stieg Tim auf eines der unteren Bretter des Regals und sah weitere Porzellanfiguren, die dort auf dem Regal lagen – ganz nach hinten an die Wand geschoben. Bei jeder dieser Figuren waren einige Teile abgebrochen. Vermutlich wollte sein Vater diese längst geklebt haben. So tat er es immer, wenn etwas beschädigt war und er es nicht mehr stellen konnte. Er warf nichts weg. Er legte es bei Seite und reparierte es. Zwischen dem Korrigieren von Naturwissenschaftsklausuren und den Vorbereitungen seines Unterrichts fand er immer irgendwie die Zeit dazu.

Vorsichtig schob Tim die Figuren bei Seite, damit das Schiff noch daneben passte. Er schrak zurück, als es klirrte und schepperte. Eine große Vase im Regal darunter fiel zu Boden. Die Scherben schossen quer in alle Richtungen. Vor lauter Schreck rutschte Tim nach hinten und hielt sich noch am Regal fest. Laut schepperte der Krach durch das ganze Haus, als das Regal hinterher kippte. Eine dichte Staubwolke breitete sich aus. Erst als sich der Staub gelegt hatte und die zerrissenen Seiten der Bücher zu Boden geflattert waren, konnte Tim aufhören zu husten. Jetzt war seine geheime Wanderung durch das Haus selbstredend vorbei. Das nun eingeschaltete Licht im Korridor erhellte das Haus als sei es Mitten am Tag.

»Tim was ist geschehen?«, fragte Luisa, die schon in der Tür stand.

»Ich… ich wollte nur den Karton wegstellen. Wie du es mir gesagt hast«, improvisierte Tim und klang dabei so, als sei das sogar die einzige Wahrheit.

»Das wolltest du doch schon heute Mittag machen?«, entgegnete seine Mutter fassungslos.

»Es tut mir leid. Ich wollte mir Papas Sachen noch ein wenig anschauen«, entschuldigte sich Tim.

Total zerstreut betrat Luisa den nun völlig verwüsten Raum. Sie und Tim schauten sich das Ausmaß der Katastrophe an. Das Regal war total zerbrochen, die Bücher zerrissen. Der Ledersessel war umgefallen. Einzig der Schreibtisch schien nur etwas verrutscht zu sein. Der antike Kronleuchter wurde offenbar auch gestreift und pendelte langsam umher. Dann bemerkte Tim etwas Unglaubliches. Dort wo einst der Schreibtisch stand, zeigte sich eine kleine Falltür. Ohne dass Luisa es bemerkte schob er mit dem Fuß eines der umherfliegenden Bücher darüber um die Falltür zu verbergen. Tim war sich sicher: Dort ging es in den geheimen Raum.

»Sieh` nur was du angerichtet hast. Morgen räumst du hier auf, Tim! Und jetzt geh` schlafen!«, schimpfte Luisa wütend und ging zurück in ihr Bett.

Das Zimmer seines Vaters… Alles wurde gelassen wie es war… Jetzt war es zerstört. Tim plagte das schlechte Gewissen. Das hätte echt nicht passieren dürfen. Dennoch triumphierte in dem Moment die Neugierde. Endlich hatte er gefunden wonach er den ganzen Tag gesucht hatte. Den Zugang zu dem offenbar verborgenen Raum.

Nachdem er sich vergewissert hatte, dass seine Mutter wieder schlief, legte Tim die Bücher bei Seite und hob den schweren Tisch bei Seite. Immer nur wenige Zentimeter bekam er das massive Möbelstück weiter gestellt. Es dauerte einige Minuten bis er die Falltür freigelegt hatte, die er dann endlich öffnen konnte. Langsam näherte er sich und erkannte eine schmale Leiter aus Holz, die nach unten führte. Vorsichtig kletterte Tim die morsche Leiter herunter. Erschrocken klammerte Tim sich fest an eine der Leitersprossen, als eine der hölzernen Stufen wegbrach. Zügig brachte er auch die letzten Stufen hinter sich und stand in einem steinernen Raum ohne Türen und Fenster. Ein kleines Loch nach draußen belüftete den Raum. Es wirkte wie ein fahler Kellerraum. Das ernüchternde dabei war die Tatsache, dass der Raum leer war. In ihm befand sich gar nichts. Tim konnte es einfach nicht glauben… alles umsonst! Wütend setzte er sich mit dem Rücken gegen die Wand auf den Boden.

»Das kann doch nicht sein«, murmelte er fassungslos vor sich hin.

Es war ein flatterndes Geräusch, welches sich dicht unter der Decke erhob. Ein Schatten huschte wild durch den Raum. Tim erhob sich wieder. Er entdeckte einen umherfliegenden Vogel, welcher wohl durch das kleine Loch herein geraten sein musste, durch welches er wieder herausflog. Er wollte gerade wieder heraufklettern und hatte bereits den ersten Fuß auf der untersten Sprosse der Leiter, als er ein kleines Loch in der Wand entdeckte. Es fehlte ein Stein, nicht mehr und nicht weniger. Dennoch sah Tim sich die Öffnung genauer an. Eine kleine Spinne lief dort die Wand entlang in das Netz, das in einer der oberen Ecken gesponnen war. Neugierig erblickte er dann, was sich hinter der Wand befand. Es war ein ganzer Raum. Tim staunte mit weit geöffnetem Mund durch die Öffnung hindurch. Ohne überhaupt darüber nachzudenken, zwängte er sich komplett hindurch. Fast blieb er dabei stecken, doch die Wand war an dieser Stelle nicht massiv. Sie brach weiter auseinander, als Tim prustend durch sie hindurch kletterte und schließlich zu Boden fiel.

Etwas orientierungslos erhob er sich, schüttelte sich kurz und musste sich offenbar erst einmal wieder darüber klar werden wo oben und wo unten war. Neben Porzellanfiguren, dessen Umrisse in der Finsternis nur schwach zu erkennen waren, konnte Tim alte Kerzenständer entdecken, die von Spinnweben bedeckt waren. Erfreut griff Tim zu einer kleinen Kommode, auf welcher eine Schachtel mit Streichhölzern lag. Kaum angezündet, blickte Tim auf einen roten Teppichläufer, der ihn direkt zu einem antiken Schrank führte. Schon aus etwas größerer Entfernung stach ihm ein recht abgeschwächt glänzender Gegenstand ins Auge, welcher durch abgesetzten Staub recht vergraut war. Langsam ging Tim voran bis er direkt vor dem Schrank stand. Mit einem Finger strich er über die goldene Oberfläche des bizarren Gegenstandes, der unter der Staubschicht schimmerte. Es war eine massive Schatulle. Direkt dahinter hing eine riesige Weltkarte, die mit Notizen und Zeichnungen versehen war. Erst als er das schwere Objekt in den Händen hielt, entdeckte er ein altes Schloss am vorderen Rand.

»Autsch!«, zischte Tim, als sein Streichholz soweit herunter brannte, dass er sich die Finger verbrannte.

An das Feuer hatte er gar nicht mehr gedacht, so vertieft wie er sich umsah. Hektisch ließ er das Streichholz fallen und das Feuer war erloschen. Es war stockfinster und Tim konnte seine eigenen Hände vor den Augen nicht sehen.

Schnell entzündete er ein neues Streichholz. Neugierig trat Tim wieder ein paar Schritte vor und betrachtete weiter den Raum. Nun entdeckte er auch ein großes Ölgemälde seines Großvaters. Die oberen Fächer eines Regals standen voll mit Gläsern und flaschenähnlichen Behältnissen. Auf den unteren Fächern lagen so viele Landkarten herum, dass selbst die dünne Staubschicht auf dem Regal nicht zu sehen war. Auf dem Schreibtisch lag altes Navigationsbesteck auf einer verstaubten Seekarte. Neben dem Schreibtisch stand ein riesiger Globus. Es war eine unglaubliche Entdeckung, die Tim machte. Gründlich schaute er sich alles an. Es wirkte, als sei sein Vater ein wahrhafter Seefahrer gewesen. Doch das passte überhaupt nicht zu ihm. Das Zimmer hätte eher seinem Großvater oder Onkel gehören können. Aber was hatte sein Vater zu verheimlichen? Warum hat er diesen Raum versteckt und nie etwas erwähnt? Nie gingen Tim mehrere Fragen gleichzeitig durch den Kopf als in dieser Nacht. Leise hörte er erneut die Kuckucksuhr. Eine Stunde war bereits vergangen. Die Zeit verging wie im Flug. Der Uhrenschlag war vorüber und es herrschte wieder totenstille.

Erst jetzt lag Tim in seinem Bett. Den Schreibtisch im Büro seines Vaters hatte er wieder auf die Falltür geschoben. Müde war er überhaupt nicht. Versteckt unter seiner Bettdecke und mit einer Taschenlampe in der Hand, musterte er die gefundene Schatulle. Gespannt steckte er den kleinen Schlüssel in das Schloss. Erst harkte es, dann kündigte ein Klicken an, dass sich das Schloss öffnete. Tim schloss kurz die Augen, als hätte er auch ein wenig Bange davor zu erfahren, was sich im Inneren versteckte. Es war keine wirkliche Angst – aber Respekt vor der Antwort. Tim traute seinen Augen nicht. Es war ein Brief von seinem Großvater, der an seinen Vater gerichtet war. Warum hatte Tims Vater ihm dann immer erzählt er habe seinen Vater nie kennengelernt? Die Schrift war mit blauer Tinte geschrieben. Er blickte kurz reglos auf das Pergament, bis er sich den Eintrag flüsternd vorlas:

Lieber Magnus,

es tut mir leid, dass es so gekommen ist. Ich verlange nicht von dir, dass du in dein altes Leben zurückkehrst. Doch ich bitte dich inständig deine Entscheidung zu überdenken. Hektor ist mächtiger denn je. Sollte es mir nicht gelingen Velumerion zu schützen, so ist die Welt in Gefahr. Mein Sohn, es ist nicht unsere Verpflichtung, sondern unsere Bestimmung über diesen wundersamen Ort zu wachen und stets Sorge zu tragen, dass die Magie unserer Insel nicht in falsche Hände gerät. Es war meine Bestimmung, es ist deine Bestimmung und es wird einmal die Bestimmung Tims sein. Er ist der Prinz von Velumerion, er ist die Zukunft von Velumerion und damit auch der Welt.

Mehrmals las Tim den Brief ohne auch nur einen Teil der Botschaft zu verstehen. Kopfschüttelnd legte er das Pergament nieder, als ihm ein altes Foto von seinem Großvater in die Hände fiel, das ebenfalls in der Schatulle steckte. Er konnte seinen Augen nicht trauen. Nicht nur sein Onkel Merlin, sondern auch sein Vater – Sie beide haben ihm immer erzählt, dass sie ihren Vater nie kennengelernt hätten. Wie konnte es dann sein, dass sie gemeinsam auf einem Foto zu sehen waren? Wie konnte es sein, dass sein Großvater von Tim und seinem Namen wusste? Tim wusste nicht was er glauben sollte. Ganz unten fand er noch ein verstecktes kleines Logbuch von seinem Vater. Neugierig öffnete Tim auch dieses und betrachtete eine Vielzahl nautischer Begriffe, Zahlen und Daten. Auch ohne etwas zu verstehen, bemerkte Tim das abrupte Ende der Einträge. Verwundert blätterte er in den leeren Seiten umher. Er konnte es nicht fassen, dass es so endete und er nicht mehr wusste als zuvor. Antworten hatte er keine, doch Fragen sämtliche. Immerhin hatte er jetzt eine Spur. Sein Onkel Merlin hatte ihn offenbar auch sein ganzes Leben lang belogen. Auch er kannte Tims Großvater. Tim sah nur eine Möglichkeit: Er musste unbedingt mit seinem Onkel sprechen. Doch wie würde er reagieren? Das wusste Tim nicht, denn so wie sein Großvater schrieb, handelte es sich schließlich um eine gefährliche Angelegenheit. Erschrocken sah Tim zur Uhr, die bereits kurz vor Zwei zeigte. Noch immer nachdenklich legte Tim das Foto, das Buch und den Brief zurück in die Schatulle und versteckte diese hinter den dicken Wälzern ganz oben in seinem Bücherregal. Er erinnerte sich noch gut an früher, als er noch eine Leiter brauchte um an das oberste Fach zu gelangen. Schließlich rang er sich dazu durch seinen Onkel am nächsten Tag zu besuchen. Tim wurde nun hundemüde und war binnen weniger Minuten eingeschlafen. Draußen war es sehr ruhig, sodass die Äste des Baumes vor dem Haus im nun aufziehenden Wind raschelten. Ein Windstoß blies durch das Kippfenster, wehte durch das Zimmer und die Kerze war erloschen.

~ Auf der richtigen Fährte ~

Die Sonne stand hoch am Himmel, als Tim am nächsten Mittag die Straße entlanglief. Der Wind, der in der vergangenen Nacht aufzog, war vorüber und es war noch wärmer als am Tage zuvor. Noch nie hatte er es so eilig seinen Onkel zu sehen und noch nie hatte er ihn besucht. Sonst kam Merlin immer auf einen Besuch zu ihm. Aus irgendeinem Grund wollte er nie Besuch empfangen, doch das war Tim in diesem Fall egal.

In den Vorgärten der Familien spielten Kinder, die kleinsten plantschten in Gartenpools, während die Jugendlichen vor dem Haus Federball spielten. Zwei Jungen, die ein Paar Jahre jünger waren als Tim, fuhren mit ihren Skateboards den Bürgersteig entlang. Im Haus daneben sprang ein Mädchen freudestrahlend auf einem Trampolin umher. Obwohl auf der Straße viel zu sehen war und viele Leute unterwegs waren, schien es trotzdem ruhig zu sein. Der Geruch von frisch gemähtem Gras zog über die Straße.

Den ganzen Morgen hatte Tim bereits darauf gewartet, seinem Onkel von seiner Entdeckung zu erzählen. Unmittelbar nachdem er das Büro seines Vaters aufgeräumt hatte, machte er sich daher auf den Weg zu ihm. Seiner Mutter wollte er die Entdeckung nicht zeigen, denn die hätte dem Brief an Magnus vermutlich überhaupt keinen Wert geschenkt. Letztendlich konnte Tim es ihr natürlich auch nicht verübeln. Schließlich hatte Magnus ständig mit ziemlicher Überzeugung schlecht von seinem Vater gesprochen. Doch Tim glaubte nicht mehr daran. Das Foto bewies ihm das Gegenteil. Womöglich hatte William die Familie in Gefahr gebracht. Darauf würde zumindest sein hinterlassener Brief schließen lassen. Aber war das der Grund warum sein Vater nie von ihm erzählte und alle Gespräche stets abblockte? Tim war sich sicher, dass er in wenigen Augenblicken von Merlin erfahren würde, was mit seinem Großvater tatsächlich geschah und warum er so urplötzlich verschwand. Vielleicht war er noch am Leben… All das schien Tim zwar weit hergeholt – aber dennoch nicht im Rahmen des Unmöglichen. Jedenfalls stand eines für ihn fest: Dem würde er nachgehen. Und sein Onkel? Der Brief war an Tims Vater adressiert, nicht an seinen Onkel. Würde er ihn dennoch verstehen? Tim ertappte sich dabei wie seine Gedanken sich ständig im Kreis drehten.

Tief atmete er nochmal durch, dann bog er links ab und blickte in den prachtvollen, blumenübersäten Vorgarten seines Onkels. Er blieb einen Moment stehen, bevor er durch die Torbögen lief, an denen sich Blumen in allen Farben hinaufrankten. Der Weg war recht schmal und der angelegte Bordstein, der den Rasen vom Weg trennte, war aus verschiedenen Steinen, die in einer einfachen Reihenfolge angelegt waren. Einer war dunkelrot bis braun und der nächste wieder weiß. Im Schatten der Torbögen war es angenehm kühl. Nachdem Tim auf der Hinterseite des Vorgartens die Torbögen verlassen hatte, sah er links einen prächtigen Bananenstrauch in einem Gewächshaus und rechts einen professionell angelegten Gartenteich. Frösche hüpften in diesem munter umher. Direkt neben der Haustür befand sich noch ein Blumenbeet, das so bunt war, dass Tim keine weitere Farbe eingefallen war, die zwischen den Blumen fehlte. Tim trat einen Schritt zurück, als er die Bienen sah, die über den Blumen kreisten und es auf den Nektar abgesehen hatten. Einen Moment verweilte sein Blick noch bei den Bienen und dann wandte er sich letztendlich der Haustür zu. Erwartend klopfte er zweimal. Es dauerte einen Augenblick bis sein ziemlich überraschter Onkel vor ihm stand.

»Tim! Was führt dich denn hier her?«, fragte er verwundert.

»Ich muss unbedingt mit dir sprechen, Onkel Merlin! Hast du einen Moment Zeit?«

»Was ist denn passiert?«, wollte Merlin wissen.

»Es geht um Großvater«, stürzte Tim mit der Tür ins Haus.

Merlin seufzte tief. Offenbar überfordert mit der Situation strich er eine Strähne seines allmählich grau werdenden Haares von seiner Stirn. Er wirkte sichtlich nervös und wusste nicht wohin er blicken sollte. Dann schaute er zu Tim. Es war als sammelte er gerade seine Worte, ehe er seinem Neffen zu antworten versuchte.

»Aber Tim… Du weißt doch genau, dass dein Vater und ich ihn nie kennenlernten«, war dann schließlich alles was er zu sagen hatte.

Wortlos zog Tim das Foto seines Großvaters aus der Tasche, auf dem auch Merlin und Magnus zu sehen waren.

»Onkel… ich weiß, dass das nicht stimmt. Wir müssen reden«, sprach Tim vorsichtig.

Merlins Gesichtsausdruck wurde teilnahmslos. Darauf war er nicht gefasst. Tim stand ruhig da und sah Merlin an, der sich gegen den Türrahmen lehnte und die Hände vor seinem Gesicht verzweifelt zusammenschlug. Dann atmete er tief durch und sah seinen Neffen aufrichtig an.

»Komm nur herein!«, sagte er schließlich und hielt seinem Neffen die Haustür offen.

Tim betrat wortlos einen Raum mit beigen Tapeten und altmodischen Leuchtern an den Wänden. Merlin ging voran und führte Tim durch den herunterhängenden Fliegenschutz in einen kleinen Flur. Zeichnungen von Drachen, Feen und erstaunlichen Pflanzen hingen an den Wänden. Beim Anblick der Bilder wurde die Verwirrung, die in Tim vorging noch größer. Jedoch war seit gestern für ihn ohnehin nichts mehr so wie er es gewohnt war. Am Ende des Flures wurde Tim von seinem Onkel nach links in das Wohnzimmer geführt, in dem eine große Vogelvoliere mit einem kunterbunten Vogel stand, der seine beruhigenden Lieder zwitscherte und fast genau so groß war wie ein Papagei. Sein leicht gebogener Schnabel bewegte sich beim Zwitschern nur leicht. Nie hatte Tim ein so farbenprächtiges Tier gesehen. Blaue und türkisfarbene Töne überwogen in der Farbenpracht des Vogels. Doch auch grüne, rote und gelbe Federn zierten sein Gefieder.

»Bitte, bitte!«, sagte Merlin und deutete auf das Sofa, das vor einem kleinen Tisch stand.

Als Tim sich setzte, erzählte er sofort was er zu erzählen hatte ohne Merlin überhaupt zu Wort kommen zu lassen.

»Ich habe gestern eine unglaubliche Entdeckung gemacht, Onkel Merlin«

Merlin setzte sich seinen Neffen gegenüber in einen Sessel und sah ihn erwartungsvoll an. Langsam zog Tim den Brief seines Großvaters aus seiner Tasche.

»In unserem Keller gibt es ein geheimes Zimmer. Dort habe ich das hier gefunden«, erzählte Tim, während er das Pergament entfaltete und seinem Onkel reichte.

Mit ernster Miene schaute Merlin ihm in die Augen und nahm den Brief entgegen. Merlins Lippen bewegten sich, als er den Brief leise las. Tim sah direkt, dass sein Onkel in dem Moment sehr emotional war.

»Tim, ich muss dich etwas fragen«

Es ergab sich ein Moment der Stille, der jedoch schneller vorüberging als er tatsächlich dauerte.

»Bist du bereit zu erfahren wer wir wirklich sind?«, fuhr Merlin fort und erhob sich erwartungsvoll aus seinem Sessel.

Tim nickte leicht verunsichert und sah Merlin an, der sich zurück in den Sessel fallen ließ. Es wirkte, als ob Merlin plötzlich nichts mehr dazu sagen wollte. Der Vogel, der gerade noch munter durch die Voliere sprang, saß nun ruhig auf einer Stange, die am höchsten Punkt der Voliere angebracht war. Tim unterbrach das Schweigen.

»Ich habe noch etwas gefunden«, sagte Tim und brachte das skurrile Buch seines Vaters zum Vorschein.

Der Vogel blickte Tim mit neugierigen Augen an, während Merlin sich wortlos erhob, das Buch ergriff und den Raum verließ. Nun war es sehr ruhig. Alles was Tim hörte, war das Ticken der Uhr, die an der Wand neben ihm hing. Als Tim sich der Uhr näherte, bemerkte er die vielen Gravuren im Minutenzeiger. Sie zeigten Zauberwesen aller Art. Tim blickte verblüfft auf die Uhr. Wahrscheinlich blickte Tim die Uhr verträumter an, als sie jemals angeschaut wurde.

»Nun denn…«, sagte Merlin mit einem ernsten Blick – beinahe so, als hätte er Tim an einem verbotenen Ort ertappt.

Tim drehte sich zur Tür rechts neben ihm und blickte seinem Onkel in die Augen, die ihm etwas zu sagen hatten.

»Bitte setz dich, Tim!«, bat Merlin ihn schließlich nervös.

Die beiden hatten gerade ihre alten Plätze eingenommen, als Merlin ein kleines Fotoalbum öffnete.

»Das ist Velumerion«, sprach Merlin geheimnisvoll und offenbarte seinem Neffen eine Fotografie, bevor er sich einen Whisky einschenkte.

Zu sehen war eine Insel. Teilweise schaute sie mystisch aus, aber dennoch friedlich und grün.

»Velumerion?«, fragte Tim verwirrt.

Merlin nickte mit einem Hauch an Schmerz in seinem Gesichtsausdruck.

»Eine Insel voller Wunder und Schönheit. Der schönste Ort der Welt, wenn du mich fragst«

Tim konnte die Leidenschaft, die sich in Merlins Augen erhob, am ganzen Körper spüren.

»Ich wäre gerne wieder dort«, fügte Merlin schnell hinzu und erhob sein Glas.

»Auf Velumerion«, sagte er glücklich und exte sein Glas bevor er dieses auf dem Tisch abstellte.

»Wo liegt die Insel?«, wollte Tim wissen.

»Ich weiß es nicht«, sagte Merlin kopfschüttelnd.

»Ich dachte du warst schon dort«, harkte Tim ungeduldig nach.

»Das war ich auch, genau wie dein Vater und dein Großvater vor ihm, ebenso waren es dessen Vorfahren und dessen Vorfahren ebenfalls«

Merlin erhob sich aus seinem Sessel und lief auf eine kleine Kommode zu. Schnell zog er sein edelstes Briefpapier aus einer Schublade und tunkte eine alte Feder in ein Gläschen Tinte.

»Seit Generationen liegt es in der Verantwortung unserer Familie Velumerion zu schützen, Tim. Und viele Generationen lang ist uns das auch gelungen«, sagte Merlin ohne Tim dabei anzusehen.

»Großvater?«, fragte Tim entsetzt.

Einen Moment lang überlegte Merlin offenbar was er sagte, dann lies er von seiner Feder ab und trat einige Schritte näher an Tim heran.

»Lass mich eines klarstellen Tim! Dein Großvater war ein großartiger König dieser Insel. Meiner Meinung nach sogar der Beste. Aber eines Tages hat ein schrecklicher Zauberer die Macht übernommen. Deinen Großvater trifft keinerlei Schuld. Ebenso wenig Schuld trifft ihn, dass er nie für uns da war«, sagte Merlin mit einem erkennbar tiefen Schmerz in seiner Seele.

»Was denn für ein Zauberer? Und was für ein König? Ich verstehe nicht recht«, stellte Tim hektisch fest.

»Ich weiß wie das für dich klingen muss, Tim. Aber es ist die Wahrheit. Vor langer Zeit erschufen die zwei Zauberer Halldór und Hektor diese unglaubliche Insel. Aber die beiden Brüder wussten, dass die Macht, die sie entfesselten viel zu groß war um sie zu nutzten und so belegten sie die Insel mit einem Zauber. Niemand kann sie seither finden. Um sie zu beschützen, bestellten sie einen König und lehrten ihm magische Fähigkeiten, Banne zu erschaffen, Drachen zu zähmen und die Magie der Insel in nutzbare Ressourcen zu verwandeln. Seit Generationen ist es unsere Bestimmung die Insel vor der Gier der Welt zu schützen. Stattdessen nutzen wir die Magie der Insel um Gutes in der Welt zu tun. Seit Generationen beliefern wir die Gemeinschaft von Liokatessa mit unseren magischen Ressourcen«

»Also du sagst… Großvater ist ein… König«, sprach Tim geheimnisvoll und voller Unglaube, dass diese Geschichte wahr sein könnte.

»Ich weiß wie das für dich klingen muss«, sagte Merlin und warf einen Blick in sein leeres Glas, als hätte er vergessen, dass er den Whisky schon getrunken hatte. »Du bist der wahre Thronfolger, Tim«, sagte Merlin schließlich mit einem ernsten Blick.

»Ich?«, sprach Tim mit großen Augen.

»Dein Vater war der erstgeborene Sohn und du seiner. Ist doch logisch«, sagte Merlin mit einem Lächeln.

»Und von welcher Gemeinschaft hast du gerade gesprochen?«, fragte Tim neugierig.

»Die Gemeinschaft von Liokatessa. Das Königshaus, also wir, beliefern sie mit magischen Ressourcen. Die Gemeinschaft trägt Sorge dafür, dass die Magie, die wir unter Kontrolle haben, auf der Welt nur für gute Taten eingesetzt wird«

»Und was geschah mit Großvater?«, wollte Tim nun brennend wissen.

»Nun… Einer der beiden Brüder… Hektor… Er folgte nicht der Weisheit seines Bruders. Er übernahm die Insel und brachte Leiden über diese. Er machte die Bewohner von Velumerion zu seinen Sklaven. Dein Großvater verteidigte die Insel gegen ihn. Aber Hektor hat ihn überlistet. Es gelang dem Zauberer die Insel zu erobern. Doch dein Großvater schuf einen mächtigen Bann, der Hektor bis zum heutigen Tage daran hindert die Insel zu verlassen und die Magie zu nutzen. Sonst stünde die Welt schon längst unter Hektors Herrschaft. Doch dieser Bann hatte seinen Preis. Dein Großvater schuf ihn, indem er seine ganze Lebenskraft nutzte… und so wurde er zu Stein«, schluchzte Merlin die Geschichte, ehe er eine ihm herunterlaufende Träne aus dem Gesicht wischte und wieder zur Kommode lief.

Schnell und entschlossen begann er wieder zu schreiben. Tim war erschüttert. Schließlich dachte er, dass sein Großvater bei einer gewöhnlichen Forschungsreise ums Leben gekommen war. Der Schock traf ihn wie ein Schlag. Nie hätte er erahnen können, dass sein Großvater in einer solchen Lage verwickelt war. Er war zwar immer viel auf Reisen, aber das klang schon fast wie eine Legende – Eine wirklich existierende Legende. Nicht wissend was er nun denken sollte, hauchte er in den Raum, ehe er Merlin vor Wut anknurrte.

»Heißt das mein Vater hat ihn im Stich gelassen?«

Merlin ignorierte Tim einige wenige Sekunden – bis er seinen Brief fertig geschrieben hatte.

»Er tat dies um seinen Sohn zu schützen. Dein Großvater hätte es so gewollt, Tim«, sagte Merlin entschlossen.

»Und nun denkst du ich kann mit dieser neuen Wahrheit einfach so abschließen?«, beschwerte sich Tim.

»Natürlich nicht! Gemeinsam werden wir deinen Großvater aus seinem Bann erlösen«, erklärte Merlin euphorisch.

»Gerade hast du aber noch so gesprochen, als sei dies unmöglich«, sprach Tim dagegen.

»Ich weiß«, antwortete Merlin und sah Tim erwartungsvoll an.

»Also, was hat sich jetzt in fünf Minuten geändert?«, wollte Tim endlich wissen.

»Jetzt ist alles anders, Tim!«, sagte Merlin schnell während er durch seine eigenen Wörter hetzte.

»Was ist anders?«, fragte ihn Tim mit zitternder Stimme, während seine Geduld beinahe am Ende war.

»Jetzt haben wir dich«, nickte Merlin ihm zu und lies damit eine unerwartete Stille ausbrechen.

Wortlos schlug Merlin das Fotoalbum zu. Der Vogel verhielt sich nervös, während Merlin es offenbar bereut hatte, dies gesagt zu haben. Es war, als ob die Worte sich durch seinen Mund herausgedrängt hätten. Einfach so – unkontrolliert. Tim unterbrach das Schweigen nicht sofort und blickte Merlin einfach nur still an. Merlin, Tim und der Vogel blickten zur Uhr, die zur vollen Stunde schlug. Kurz sah Tim zu dem Vogel, der immer noch zur Uhr blickte und dann wie ein Papagei zu plappern begann.

»Tim«, krächzte der Vogel lautstark, worauf Merlin ihn ernst ansah.

»Morrothalf, sei bitte still«, ermahnte Merlin seinen Vogel.

»Was ist hier los, Onkel«, unterbrach Tim das Schweigen.

»Hör mir zu, Tim! Dass dein Vater dich und deine Mutter schützte war eine edle Tat. Aber seinen Vater aufzugeben fiel ihm nicht leicht. Aufgegeben hatte er ihn eigentlich nie. Aber er wusste, wenn Hektor erfuhr, dass Nachfahren deines Großvaters leben, wären wir alle in großer Gefahr. Du musst wissen: Hektor hat auch außerhalb von Velumerion Gefolgschaft. Ich wollte den Kampf schon lange fortführen, den dein Großvater begann. Aber das wäre ein Himmelfahrtskommando gewesen. Hektor hat einen Drachen. Nur du bist im Stande einen eigenen Drachen zu zähmen und ihn im Kampf gegen Hektor zu zähmen. Und viel wichtiger: Nur du kannst den Bann deines Großvaters brechen«

»Warum ich?«, wollte Tim nun unbedingt wissen,

Merlin stand auf und näherte sich dem Vogel, der nun krächzend in seiner Voliere umher flatterte.

»Ruhig, Morrothalf!«, sprach Merlin mit beruhigender Stimme.

Tims Blick wanderte erneut zur Uhr, während Merlin behutsam Morrothalf über den Kopf streichelte, der nun aufgeplustert auf dem Boden der Vogelvoliere saß. Tim fand den Vogel ziemlich faszinierend. Daher erhob er sich vom Sofa, ging auf Morrothalf zu und sah ihn neugierig an.

»Holzkopf!«, krächzte Morrothalf ihn an und schnappte nach seinem Finger, den Tim unbewusst in die Foliere steckte.

»Ich muss mich entschuldigen. Das sagt er am liebsten«, meinte Merlin, der nun weniger ernst blickte als zuvor und leicht zu lachen begann.

»Also was hat es denn nun mit mir auf sich?«, drängte Tim erneut zu einer Antwort.

»Du bist der Prinz von Velumerion, Tim. Gemeinsam können wir deinen Großvater befreien und Velumerion retten. Und wie ich den Eindruck habe bist du doch entschlossen dabei, Tim«, erläuterte Merlin mit sanfter und beruhigender Stimme die Situation, während er seinem Neffen an die Schultern fasste.

Morrothalf sprang wieder auf die oberste Stange in der Voliere, auf der er wohl am liebsten saß. Tim sah ihn einen Moment starr an, beinahe als musste er sich die Worte, die ihm eigentlich schon klar waren, erst zurechtlegen. Als würde er gar nicht mehr auf eine Antwort warten, öffnete Merlin die Voliere und nahm Morrothalf heraus, der nun auf seine Schulter kletterte.

»Ja, natürlich! Ich bin dabei«, antwortete Tim schließlich motiviert.

»Das dachte ich mir«, sagte Merlin augenzwinkernd, bevor er zum Tisch zurücklief und sich in den Sessel fallen ließ.

»Aber wie finden wir die Insel?«, war Tims erste Frage.

»Wir? Gar nicht! Es gibt wenige Menschen, die ihre genaue Position in den Sternen lesen können. Dein Großvater lehrte diese Fähigkeit an wenige Menschen. Leider bin ich keiner von ihnen. Aber ich kenne da jemanden, der uns helfen wird. Du wirst schon sehen… Packe deinen Koffer! In drei Tagen brechen wir auf«, erklärte Merlin, während er seinem Neffen erneut auf die Schulter klopfte.

Langsam wandte er sich nun wieder dem Brief zu, den er zusammenrollte und dann seinem Vogel vor den Schnabel hielt. Einen Blick nach links, einen Blick nach rechts, dann ergriff Morrothalf die Post. Langsam erhob sich Merlin aus seinem Sessel und öffnete die Tür zur Veranda, bevor er gemeinsam mit seinem Vogel in den Garten lief. An seiner Bewegung sah Tim, dass sein Onkel genau wusste, was er tat. Ganz langsam hob er seinen Arm immer weiter während Morrothalf nach oben auf seine Hand kletterte, die Flüge ausbreitete und davonflog. Lächelnd betrat Merlin wieder das Wohnzimmer und sah seinen Neffen plötzlich streng an.

»Wenn wir unterwegs sind tust du genau das, was ich dir sage. Und du redest mit niemandem darüber, klar?«, erwartete Merlin sein Versprechen.

Tim nickte seinem Onkel aufrichtig zu, der ihn daraufhin vertrauensvoll ansah.