VENUS RETTET IHREN RUF - Pierre Apesteguy - E-Book

VENUS RETTET IHREN RUF E-Book

Pierre Apesteguy

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Beschreibung

»Geben Sie mir doch bitte die Schlüssel zum Labor.«

Der Hausmeister brummte.

»Sie sehen doch selbst, dass die Schlüssel nicht im Kasten liegen. Wahrscheinlich ist Monsieur Philippart noch da.«

»Er arbeitet viel zu viel«, stellte Agnes fest.

Doch Jacques würde nicht mehr Gelegenheit haben, zu viel zu arbeiten. Er lag tot vor dem weitgeöffneten Panzerschrank. Mit geschlossenen Augen und eingefallenen Wangen lag er blutüberströmt am Boden. Infolge des großen Blutverlusts war sein Gesicht von durchsichtiger Blässe. Seine zerbrochene Brille saß ihm noch auf der Nase...

 

Der Roman Venus rettet ihren Ruf des französischen Schriftstellers Pierre Apesteguy (* 12. September 1902 in Biarritz; † 17. November 1972 in Cagnes-sur-Mer) erschien erstmals im Jahr 1965; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte im gleichen Jahr.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der französischen Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

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Veröffentlichungsjahr: 2022

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PIERRE APESTEGUY

 

 

Venus rettet ihren Ruf

 

Roman

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

VENUS RETTET IHREN RUF 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Siebzehntes Kapitel 

Achtzehntes Kapitel 

 

 

Das Buch

 

»Geben Sie mir doch bitte die Schlüssel zum Labor.«

Der Hausmeister brummte.

»Sie sehen doch selbst, dass die Schlüssel nicht im Kasten liegen. Wahrscheinlich ist Monsieur Philippart noch da.«

»Er arbeitet viel zu viel«, stellte Agnes fest.

Doch Jacques würde nicht mehr Gelegenheit haben, zu viel zu arbeiten. Er lag tot vor dem weitgeöffneten Panzerschrank. Mit geschlossenen Augen und eingefallenen Wangen lag er blutüberströmt am Boden. Infolge des großen Blutverlusts war sein Gesicht von durchsichtiger Blässe. Seine zerbrochene Brille saß ihm noch auf der Nase...

 

Der Roman Venus rettet ihren Ruf des französischen Schriftstellers Pierre Apesteguy (* 12. September 1902 in Biarritz; † 17. November 1972 in Cagnes-sur-Mer) erschien erstmals im Jahr 1965; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte im gleichen Jahr.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der französischen Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

  VENUS RETTET IHREN RUF

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Von der Rue de la Source bog das Taxi in die Rue Raffet ein. Kurz vor dem Ende der Sackstraße gelangte es zur Kreuzung Rue Jasmin, und der Chauffeur blendete ein paarmal warnend seine Fernlichter auf.

»Halt!«, rief Dean Forester.

Links, unmittelbar unter den Fenstern des großen Salons, hatte er Agnes’ Wagen entdeckt. Selbst in der abendlichen Dunkelheit, die von der spärlichen Straßenbeleuchtung kaum durchdrungen wurde, konnte man die Umrisse der weißen Floride klar erkennen, die zwischen den Wagen stand, die dort geparkt hatten. Die Bewohner der Straße hatten es sich zur Gewohnheit gemacht, abends ihre Autos in der Ausbuchtung am Ende der Rue Raffet abzustellen.

Einige Meter weiter hielt das Taxi vor der hohen, holzgeschnitzten Eingangstür. Dean Forester bat den Chauffeur, auf ihn zu warten. Er wollte nur Agnes abholen und anschließend mit ihr zusammen in dem Taxi zum Theater fahren. Der junge Amerikaner hatte seiner Verlobten geraten, zu solchen Gelegenheiten die Floride nicht mehr zu benützen. Sie hatten sich beide oft genug darüber geärgert, dass sie um diese Zeit, zu der überall in Paris die Theater und Varietés mit ihren Vorstellungen beginnen, in der Innenstadt niemals einen Parkplatz finden konnten.

Erstaunt stellte Dean Forester fest, dass die Eingangstür zum Hause Perret verschlossen war. Er zog an dem Klingelzug mit dem kupfernen Griff. Im Innenhof ertönte schwaches Läuten. Gleich darauf erklang das Summen des automatischen Türöffners. Dean stieß die Tür auf und bemerkte sogleich, dass nirgends im Hause Licht brannte.

»Es ist niemand zu Hause«, rief ihm der Hausmeister von seiner Loge aus zu.

Dean drehte sich um.

»Ich bin es, Monsieur Boniface«, sagte er liebenswürdig.

Der alte Hausmeister steckte seinen kahlen Kopf durch die Öffnung. Ein zahnloses Grinsen verzog seinen Mund und gab seinem Gesicht einen äußerst gutmütigen Ausdruck.

»Ich habe gar nicht erwartet, dass Sie heute vorbeikommen würden, Monsieur Forester! Das gnädige Fräulein hat schon vor einer guten Viertelstunde mit ihrem Herrn Vater zusammen das Haus verlassen.«

Dean Forester konnte nichts aus der Ruhe bringen, und schon gar nicht eine solche Lappalie. Mit gelassener Stimme teilte er dem Hausmeister mit, dass Vater und Tochter bestimmt schon in kürzester Zeit wieder zurückkommen würden.

»Außerdem steht die Floride vor dem Haus, und Agnes weiß, dass ich sie abholen wollte.«

»Bitte, Sie sind ja hier zu Hause«, stellte der Hausmeister noch immer freundlich lächelnd fest und knipste im Hausflur das Licht an.

»Einen Augenblick noch, Monsieur Boniface! Bitte, lassen Sie die Tür einen Moment offen. Ich möchte nur schnell dem Taxifahrer Bescheid sagen, der draußen auf mich wartet, dass ich ihn nicht mehr brauche.«

Eine bemerkenswerte Kleinigkeit war Dean Forester nicht entgangen: Die Fenster des Laboratoriums waren hell erleuchtet... Er ging hinaus, verhandelte mit dem Chauffeur und erklärte ihm, dass er wahrscheinlich ziemlich lange werde warten müssen. Der Mann machte ein unwilliges Gesicht. Doch Dean Forester wandte seine ganze Überredungskunst auf, um ihn dazu zu bringen, sich bis zu seiner Rückkehr zu gedulden. Schließlich zog er eine ziemlich große Banknote aus der Tasche, zerriss den Schein in zwei gleiche Teile und übergab die eine Hälfte dem Chauffeur. Mit Verschwörermiene steckte er den Kopf durch das Fenster und flüsterte ihm mit gesenkter Stimme zu:

»Die andere Hälfte bekommst du nachher, mein Freund, wenn du jetzt brav auf mich wartest.«

Augenblicklich hellte sich das verdrießliche Gesicht des Fahrers auf, und mit verständnisinnigem Augenzwinkern sagte er zu Dean:

»Man könnte ja fast meinen, Sie kommen aus Texas! Und da...« Er hob die Arme und breitete sie weit aus. »Da gibt’s alles im Überfluss!«

Dean Forester hielt es nicht für nötig, den guten Mann über seine Herkunft aufzuklären. Der biedere Chauffeur kannte die Vereinigten Staaten wahrscheinlich nur aus den Wildwestfilmen. Und Dean mit seiner Größe von einszweiundneunzig, seinen breiten, kräftigen Schultern, seinem scharfgeschnittenen Gesicht, den blonden Haaren und den stahlblauen Augen, stand ja wirklich den Revolverhelden und kühnen Draufgängern der Filme, mit denen Hollywood den ahnungslosen Europäer über das amerikanische Alltagsleben informiert, in nichts nach.

»Bravo, mein Lieber«, lobte er den Taxifahrer. »Es lebe Texas! Bis nachher also!«

Er ging ins Haus zurück und schloss die Tür zur Straße hinter sich. Der Hausmeister hatte seinen Platz am Schiebefenster der Loge nicht verlassen.

»Ich werde jetzt zu Bett gehen«, teilte er Forester mit. »Einen schönen guten Abend wünsch' ich, Monsieur Forester, und wenn ich Ihnen die Tür wieder öffnen soll..

Der Amerikaner unterbrach ihn.

»Rauchen Sie Zigarren, Monsieur Boniface?«

Der Zerberus blickte ihn erwartungsvoll an. Was für eine Frage!

»Jeden Sonntag, den der Herrgott werden lässt, leiste ich mir meinen Stumpen!«

»Na, dann werden Sie eine richtige Havanna sicherlich zu schätzen wissen!«

Der alte Mann stieß einen anerkennenden Pfiff aus, als er das Glasröhrchen sah, das sein Besucher ihm entgegenstreckte und dem er eine dicke Zigarre mit roter Bauchbinde entnahm. »Haben Sie vielleicht Feuer, Monsieur Boniface?« Dean biss das eine Ende der Zigarre mit den Zähnen ab und entzündete sie mit den Streichhölzern, die ihm der Hausmeister gegeben hatte. Boniface hingegen bat den großzügigen Spender um die Erlaubnis, sich diesen seltenen Genuss für den Weihnachtsabend vorbehalten zu dürfen.

»Bah«, machte Dean geringschätzig. »Bis dahin werden Sie schon noch mehr von mir bekommen.« Genießerisch zog er den Rauch seiner Zigarre ein. »Sagen Sie mir, Monsieur Boniface...« Er sprach den Satz nicht gleich zu Ende, sondern stieß erst eine dicke Rauchwolke aus. »Das ist wohl Jacques, der um diese Zeit hier noch arbeitet?«

»Natürlich! Monsieur Philippart hätte bestimmt nicht vergessen, das Licht zu löschen und mir die Schlüssel in den Kasten zu werfen, wenn er schon gegangen wäre.«

»Also, dann können Sie den Laden hier dichtmachen. Ich habe nicht die geringste Lust, mich in der leeren Wohnung meines zukünftigen Schwiegervaters zu langweilen. Lieber gehe ich eine Weile zu unserem Freund Philippart hinauf und leiste ihm Gesellschaft.«

»Wie Sie wünschen, Monsieur Forester«, gab der Hausmeister zurück und löschte das Licht. »Ich lege mich jetzt aufs Ohr. Ach, ja, was ich noch sagen wollte«, er gähnte ungeniert, »schreien Sie ruhig laut, wenn ich Ihnen die Tür öffnen soll. Ich werde nämlich von Tag zu Tag schwerhöriger. Das Alter macht sich eben bemerkbar.«

Dean ging durch den gepflasterten Innenhof. Das Wohnhaus und das Gebäude, in dem das Laboratorium untergebracht war, lagen sich gegenüber. Auf der linken Seite konnte man im Schatten des Vordachs kaum die drei Stufen erkennen, die zu einer Glastür hinaufführten. Rechts lag das Laboratorium, dessen erleuchtete Fenster helle Lichtflecken auf den regennassen Asphalt zeichneten.

Jacques Philippart arbeitete im Forschungsbüro im ersten Stock. Er stand über einen großen Zeichentisch gebeugt und überprüfte die komplizierten Entwürfe. Hin und wieder verglich er seine Berechnungen mit den mathematischen Formeln und Zahlenkolonnen, die am Rande der durchsichtigen Blätter verzeichnet waren. Das Zeichenpapier war mit Tesafilm an den Ecken auf den Tisch geklebt, und in einer Schreibschale lagen, peinlich geordnet, die Geräte, die Jacques Philippart für seine Arbeit benötigte: Bleistifte, Lineale, Rechenschieber, Kompass. Er widmete sich seiner verantwortungsvollen Aufgabe mit äußerster Sorgfalt. Da er nicht sehr groß war, musste er seine Arbeit auf einem Holzschemel stehend verrichten. Unter seinem weißen Mantel, der ihm fast bis zu den Knöcheln reichte, konnte man die schmalen Schultern und die Konturen des schmächtigen Körpers erkennen, Philippart hatte ein ausgesprochen intelligentes Gesicht, und seine Augen blickten mit jener Offenheit und Unbestechlichkeit in die Welt, die für einen Wissenschaftler, der seine Aufgabe ernst nimmt, unerlässlich sind. Im strahlend hellen Licht der Deckenlampe bemühte sich der junge Forscher, die Entwürfe und Berechnungen seines Meisters zu begreifen, die ihn immer von neuem verwirrten. In der nächtlichen Stille, ganz allein in dem kahlen Raum, glich er mehr einem Mönch in seiner Zelle als einem Raketenforscher des zwanzigsten Jahrhunderts. Seine kleinen dunklen Augen hinter der strengen Stahlbrille wirkten freundlich und gütig, und sein ganzes Benehmen und Aussehen schien auf den ersten Blick das Vertrauen, das Professor Perret nach Jahren gemeinsamer Forschungsarbeit in ihn setzte, zu rechtfertigen.

Seit er infolge dieser engen Zusammenarbeit zum Mitwisser eines der größten und bedeutungsvollsten Geheimnisse unserer Zeit geworden war, hatte es sich der junge Wissenschaftler ganz ungewollt angewöhnt, bei jeder erdenklichen Gelegenheit den Kopf zu schütteln; es war direkt zum Tick geworden. Die schwierigen Probleme, vor die ihn die phantastischen Theorien seines hochgeschätzten Lehrers immer wieder stellten, forderten einfach dazu heraus. Der Abschuss einer Rakete zum Mond barg keinerlei Schwierigkeiten mehr in sich, das versteht sich von selbst. Und auch die Landung auf dem Mars war heutzutage nur noch eine Sache der Vorbereitung. Aber nach Ansicht des Professors stellten diese ersten Schritte zur Eroberung des Weltraums durchaus nichts Besonderes dar. Seiner Meinung nach waren sie etwa der Überquerung des Ärmelkanals durch Bleriot zu vergleichen. Von den Erkenntnissen und Leistungen von Brauns und Abramows sprach er stets mit größter Geringschätzung und verglich die Geschosse, die sie entwickelt hatten, im Scherz oft mit harmlosen Vorortszügen.

Jacques Philippart hingegen ging von der Vorstellung aus, dass der Mars, genau wie Jupiter oder Saturn, von der Sonne durch eine größere Entfernung getrennt ist als unsere Erde. Ein Nachbarplanet also, der relativ leicht zugänglich ist. Wollte man jedoch die anderen Planeten, diejenigen nämlich, die der Sonne näher liegen als die Erde, erobern, so musste man seiner bescheidenen Meinung nach im Zusammenhang mit der Entfernung und der Fernsteuerung des Geschosses auf beträchtliche Schwierigkeiten stoßen, vor allem im Hinblick auf die Probleme der Schwerkraft und der variablen Anziehungskräfte, die sich möglicherweise sogar als völlig unüberwindlich erweisen konnten... Tatsächlich fehlte es Jacques Philippart vollkommen an dem unbekümmerten Optimismus, der manchen Menschen von der Natur mitgegeben ist und sie dazu veranlasst, jede neue, noch so schwierig scheinende Aufgabe mit größter Energie anzupacken, ohne ein mögliches Fehlsehlagen überhaupt in Betracht zu ziehen. Dieser Mangel kam ihm jedes Mal wieder zu Bewusstsein, wenn der Professor seine Einwendungen ganz einfach mit neuen verwirrenden Berechnungen und Formeln abtat. Dann stürzte sich der junge Raketenforscher, natürlich immer noch kopfschüttelnd, von neuem in seine Arbeit und widmete sich jeden Tag zwölf Stunden lang oder gar noch länger den Formeln und Entwürfen, deren Kühnheit ihm den Atem benahm. Kurz, er überwand niemals die Kluft, die den Lehrer vom Schüler, die den schöpferischen Geist vom abführenden Organ trennt.

Unerwartet wurde er in seiner Arbeit gestört. Die Tür zum Hof war eben geöffnet worden. Er hob den Kopf und lauschte nach draußen.

»Hallo! Jack!«

»Kommen Sie doch herauf, Dean!«

Mit ein paar großen Sätzen sprang Forester die Treppe hinauf. Als er in das Forschungsbüro eintrat, lag ein breites, freundliches Lächeln auf seinen Zügen. Schon im Hof hatte er die Zigarre weggeworfen, die er sich eben erst angezündet hatte. Bei einem Mann, der seiner selbst so sicher war, konnte man das nur als ein Zeichen von Nervosität auslegen.

»Ich habe Sie erwartet«, sagte Jacques zu ihm.

»Wieso?«, fragte der Besucher überrascht und streckte ihm die Hand entgegen.

Er schüttelte die schmale Hand des Ingenieurs kräftig. Der Gegensatz zwischen den beiden Männern, dem urwüchsigen, unbekümmerten Amerikaner und dem kleinen, etwas empfindsamen Franzosen, war beinahe, komisch. Sie wirkten so ungleich wie David und Goliath.

»Ich wusste gar nicht, dass Sie mich erwartet haben«, gab Dean zurück. »Natürlich freue ich mich immer, einen so netten und sympathischen Menschen wie Sie zu sehen. Aber eigentlich bin ich gar nicht hierhergekommen, um Ihnen einen Besuch abzustatten.«

»Ich weiß«, erwiderte Jacques. »Agnes hat mich gebeten, Ihnen etwas auszurichten. Sie musste ihren Vater zu dem Empfang der russischen Raketenforscher begleiten. Er findet in der Societé Savante statt. Es tat ihr schrecklich leid...«

»Ach, wie schade. Das ist wirklich dumm. Was hat denn die arme Agnes bei den alten Knaben zu suchen?«

»Na, Sie können sich ja denken, dass sie selbst nicht gerade begeistert war. Aber anscheinend will der Professor die russischen Koryphäen zu sich einladen. Die Herren aus Moskau sind alle in Begleitung ihrer T rauen gekommen, und Sie wissen ja selbst, dass Agnes seit dem Tod von Madame Perret die Dame des Hauses ist. Sie können sich sicher vorstellen, wie das ist: Man muss repräsentieren, Süßholz raspeln... Agnes kann da sehr von Nutzen sein.«

»Deswegen braucht sie doch nicht gleich Überstunden machen«, murrte der sitzengelassene Verlobte. »Es genügt doch, wenn sie die Sputniks und Luniks samt Gefolge morgen empfängt. So ein Unsinn, deshalb gleich heute zu dem Empfang zu rennen!«

»Der Professor ist es nicht gewohnt, Erklärungen abzugeben«, warf der Ingenieur ein wenig scharf ein. »Agnes hat sich nach ihm gerichtet, und ich habe Ihnen Bescheid gesagt.«

»Da habe ich ja noch Glück gehabt, dass ich zu Ihnen heraufgekommen bin!«

»Sonst wäre ich sowieso zu Ihnen gekommen, Agnes wollte die Nachricht für Sie nicht bei dem alten schwerhörigen Boniface hinterlassen. Sie hat sich gleich gedacht, dass Sie warten würden, und sobald ich gegenüber Licht bemerkt hätte, hätte ich Ihnen natürlich Bescheid gegeben,«

Dean runzelte die Brauen. Er versuchte krampfhaft, ärgerlich und bekümmert auszusehen. Er musste unter allen Umständen vermeiden, dass Jacques auch nur den geringsten Verdacht schöpfte, dass ihn Agnes’ Abwesenheit gar nicht berührte, sondern ganz im Gegenteil hochwillkommen war. Andererseits musste er sich jedoch sehr in acht nehmen, seine Enttäuschung nicht zu übertreiben.

»Warum hat Agnes ihren Vater denn nicht im Wagen zu dem Empfang gefahren?«, erkundigte er sich. »Die weiße Floride steht nämlich immer noch unten auf der Straße.«

»Der Professor fährt doch schon aus Prinzip nur mit der Metro!«

»Ach ja, richtig«, erinnerte sich Forester. »Da erholt er sich von seinen utopischen Träumereien.«

Die beiden Männer lachten. Es tat Dean direkt wohl, endlich unbesorgt eine heitere Miene zeigen zu können. Trotzdem ließ er sich nicht zu Leichtsinn und Nachlässigkeit hinreißen. Ein Mann der Tat muss zwar einen glücklichen Zufall zu nützen wissen, er darf sich jedoch nicht darauf verlassen, denn ein Fehler wäre nicht wieder gutzumachen.

»Ich verstehe das alles trotzdem nicht«, sagte er zweifelnd. »Agnes hätte mir doch vorher Bescheid sagen können!«

»Ich habe ganz vergessen, Ihnen auszurichten, dass sie versucht hat, Sie zwischen sechs und acht telefonisch zu erreichen.«

»Ich war auf einer Cocktail-Party. Herrgott, ich könnte mich grün und blau ärgern, dass ich für das Stück heute Abend zwei Plätze gekauft habe.« Er blickte auf die Armbanduhr. »Die Vorstellung beginnt in wenigen Minuten... Aber, wenn der Professor seine Tochter den Russen vorgestellt hat, dann wird Agnes bestimmt ins Theater kommen, um mich dort zu treffen.«

»Hm! Ich fürchte, die allgemeine Unterhaltung und Vorstellung wird erst nach den Vorträgen beginnen...«

»Das kann man nie wissen. Wo ist das Telefonbuch! Ich brauche die Nummer von der Societé Savante...«

»Danton 11-33.«

»Danke.«

Das Telefon stand auf dem Schreibtisch in einer Ecke des Zimmers. Forester nahm den Hörer von der Gabel, wählte die Nummer und presste den Hörer ans Ohr. Jacques Philippart war wieder auf seinen Holzschemel gestiegen. Bevor er sich an die Arbeit machte, putzte er mit pedantischer Genauigkeit seine Brillengläser. Dean wartete geduldig. Die Societé Savante antwortete nicht. Er drehte dem Ingenieur den Rücken zu und konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf die Dinge, die auf dem Schreibtisch herumlagen. Ganz besonders interessierte ihn ein Briefbeschwerer von recht ungewöhnlicher Form: Es war das verkleinerte Modell einer aufrechtstehenden Rakete, etwa dreißig bis vierzig Zentimeter hoch, aus Bronze gegossen... Überall auf dem Tisch lagen wahllos Papiere verstreut, die mit rätselhaften Zahlen und Buchstaben bedeckt waren. An der Wand stand ein alter Chippendale-Sessel, und darüber hingen lange Regale mit Büchern von Einstein, Broglie, Joliot-Curie... Auf der einen Seite des Bücherregals stand ein Panzerschrank.

Endlich vernahm Dean ein leichtes Klicken in der Leitung und gleich darauf ein unfreundliches »Hallo! Hier ist die Societé Savante!«

Es war der Sekretär. Mit kühler Stimme beantwortete er die Fragen dieses dreisten unbekannten Anrufers mit dem ausländischen Akzent, der angeblich die Tochter Professors Perret sprechen wollte. Agnes sei ihm leider nicht bekannt, sagte er. Die Ankunft des Professors sei von zahlreichen hohen Gästen ungeduldig erwartet worden, die ihn dann in den Festsaal begleitet hätten. Seine Tochter müsse wahrscheinlich neben ihm sitzen, denn er habe in der Tat zwei Plätze reservieren lassen. Im Augenblick jedoch halte der berühmte Karamazine seinen Vortrag; und die Grundregel der Höflichkeit und des Anstands verböten es, jetzt jemanden aus dem Saal holen zu lassen und damit den reibungslosen Verlauf der Tagung zu stören.

Nach diesem Wortschwall legte der Sekretär ohne ein Wort des Grußes den Hörer auf. Dean tat das gleiche, jedoch so leise, dass man kaum das leichte Klicken vernahm. Er war ganz ruhig. Herrlich ruhig. Allmählich wagte er tatsächlich, das Unglaubliche zu glauben.

»Gar nichts zu machen«, verkündete er mit gespielter Enttäuschung.

»Etwas anderes hätte mich auch sehr überrascht«, stellte Jacques fest, ohne den Kopf von seiner Arbeit zu heben. »Ich kenne doch die Mathematiker. Regeln und Methode bestimmen da alles.«

»Bei uns zu Hause in Kansas«, begann Dean Forester, während er sich dem jungen Wissenschaftler näherte, »sagt man, dass zwei Schwarze nicht so viel wert sind wie ein Weißer, und dass eine Frau niemals zwei Freunde ersetzen kann.« Er klopfte Jacques freundschaftlich auf die Schulter. »Lassen Sie doch einfach für heute die Arbeit Arbeit sein, Jack. Ich habe zwei Theaterkarten in der Tasche und ein Taxi vor der Tür. Los, kommen Sie mit, dann machen wir beide uns mal einen netten Abend unter Männern.«

Ein freudiges Lächeln huschte über Jacques’ Züge. Er sah plötzlich viel jünger aus.

»Ich kann mich nicht einmal mehr erinnern, wann ich zum letzten Mal im Theater war.«

»Okay«, rief Dean vergnügt und klatschte aufmunternd in die Hände. »Ziehen Sie sich um, und dann hinein ins Vergnügen!«

»Einverstanden. Aber die Staatsgeheimnisse kann ich nicht einfach hier herumliegen lassen.«

Mit größter Sorgfalt löste Jacques die Tesafilm-Streifen vom Tisch und rollte die Blätter säuberlich zusammen. Dean war inzwischen zum Schreibtisch hinübergegangen und hielt die kleine Bronze-Rakete in der Hand, die schon vorher seine Aufmerksamkeit gefesselt hatte.

»Ist das das letzte Kind des Professors, Jack?«, fragte er, als der Ingenieur an ihm Vorbeigehen wollte.

»Nein, das nächste... Eclair 2000. Die Rakete zur Venus. Stellen Sie sich bloß vor: Die Basis hat fünfundzwanzig Quadratmeter. Das Ding ist achtundvierzig Meter hoch, ohne die Kapsel zu rechnen.«

»Phantastisch«, murmelte Dean Forester von Bewunderung überwältigt.

Jacques stand etwas unbeholfen vor ihm. Irgendetwas schien ihm peinlich zu sein.

»Dean, entschuldigen Sie vielmals... Ich muss Sie bitten, sich umzudrehen, während ich den Panzerschrank aufmache. Niemand soll die Kombination erfahren. Glauben Sie mir, ich misstraue Ihnen nicht, aber ich muss mich an die Anweisungen halten.«

Zu seiner Erleichterung zeigte der Amerikaner volles Verständnis für seine Bitte.

»Aber hören Sie! Das würde ich Ihnen doch niemals übelnehmen. Das wäre ja lächerlich!«

Bereitwillig drehte er sich um und vertiefte sich wieder in die Betrachtung der kleinen Rakete. Er wog sie in der Hand und musterte sie mit befriedigtem Gesicht von allen Seiten, fast wie ein Kunstliebhaber, der auf dem Flohmarkt ganz unerwartet ein wertvolles Stück aufgetan hat... Das hinderte ihn jedoch nicht, aufmerksam die Ohren zu spitzen, als Jacques die Zahlenkombination zusammenstellte. Eins, zwei, drei, vier, fünf... Beim Öffnen der Panzertür vernahm er ein leichtes Dröhnen.

Blitzschnell drehte Dean sich um.

Mit gebeugtem Kopf stand Jacques Philippart vor dem Safe, um seine Papiere hineinzulegen. Sein Hinterkopf bot ein ausgezeichnetes Ziel. Er fiel vor dem Panzerschrank zu Boden. Ganz plötzlich hatte ein dumpfer Schlag ihn niedergestreckt.

»Armer Jack«, bedauerte ihn sein Angreifer, während er den ungewöhnlichen Briefbeschwerer wieder auf den Schreibtisch zurückstellte.

Es tat ihm wirklich schrecklich leid. Dean war kein Mörder. Selbst jetzt, da er doch ein ziemlich großes Risiko auf sich genommen hatte, zeigte er sich von seiner besten Seite: Sein erster Gedanke galt seinem hilflosen Opfer... Da er sich seiner eigenen körperlichen Stärke bewusst war, hatte er absichtlich den Schlag nicht mit aller Gewalt geführt, sondern auf die Schmächtigkeit des Ingenieurs Rücksicht genommen. Das genügte völlig, um den Vertrauten des Professors Perret für einige Zeit außer Gefecht zu setzen... Die Kopfwunde des Verletzten blutete zwar stark, aber ein Schädelbruch war ihm erspart geblieben. Dean war Jacques dankbar dafür, dass er ihm die Aufgabe, an den Inhalt des Panzerschranks zu gelangen, so erleichtert hatte. Poor boy! Niemals zuvor hatte er für den schüchternen, bescheidenen Mann so viel Teilnahme und Sympathie empfunden. Er hatte nicht damit gerechnet, auf diese Weise das erstrebte Ziel zu erreichen.

Die wichtigste Geheimakte der Welt lag einsam und verlassen im mittleren Fach des offenen Panzerschranks. Dean zog sie heraus. Er nahm sich nicht einmal die Mühe, den Schrank zu schließen und das Licht zu löschen, sondern machte sich unverzüglich aus dem Staub, ohne zu vergessen, im Hinausgehen auch noch die letzten Skizzen Philipparts mitzunehmen.

Jetzt galt es nur noch, unbemerkt den Hof zu überqueren und das Haus zu verlassen... Dean machte sich auf das Schlimmste gefasst. Langjährige Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass die Launen des Schicksals den Plänen des Menschen immer im ungeeignetsten Augenblick einen Strich durch die Rechnung machen.

Der alte Boniface fuhr erschrocken aus dem Schlaf. Er war nicht so schwerhörig, dass er nicht die laute tiefe Stimme gehört hätte... »Verrückter«, murmelte er vor sich hin, während er den elektrischen Türöffner betätigte.

Die Straße war öde und leer. Dean atmete auf. Es regnete in Strömen. Er sprang in das wartende Taxi und gab dem Chauffeur eine Adresse an... Während sie die Rue Raffet entlangbrausten, dachte Dean noch ein letztes Mal an die liebliche Agnes. Er würde sie nie wiedersehen. Das war kein Unglück! Um das Vertrauen des Vaters zu gewinnen, hatte er sich der Tochter bedienen müssen. - Er hatte noch Glück gehabt, dass es ohne Heirat abgegangen war!

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Schlag Mitternacht begann an diesem Abend in der Eingangshalle der Societé Savante das große Gedränge. Die Reporter mischten sich mit ihren Mikrophonen unter die Menge illustrer Vertreter der Wissenschaft und baten die berühmtesten Persönlichkeiten, die im Kreise ihrer Bewunderer Hof hielten, um Interviews. Ganz besonders schienen es ihnen solche Männer angetan zu haben, die ihrer Meinung nach deutlich als Jünger der Wissenschaft erkennbar waren, d. h., sie mussten entweder einen Bart haben, eine Brille tragen oder kahlköpfig sein. Es kam vor, dass Französisch gestellte Fragen in russischer Sprache beantwortet wurden, aber was spielte das schon für eine Rolle? Das trug höchstens dazu bei, den Zuhörern die Stimmung und Atmosphäre dieses Zusammentreffens französischer und russischer Wissenschaftler eindrucksvoller zu übermitteln. Von heute an stand auf dem Programm des Tages, werden zwei große Nationen sich gemeinsam der ehrenvollen Aufgabe widmen, den Weltraum zu erobern... Wie schwungvoll und begeisternd klangen diese edlen Worte, die umso ehrlicher gemeint waren, als ja das Programm des Tages nicht das Programm von morgen ist.

An der Ecke Rue Danton und Rue Serpante stockte der gesamte Verkehr, da die Straßen durch die Funkwagen des Rundfunks und die Fernsehkameras sowie durch ein ganzes Heer von Pressefotografen versperrt waren, jeder konnte den Professor Karamazine, der auf der Treppe zur Empfangshalle stand, deutlich erkennen. Der französische Wissenschaftler, der ihn begleitete, war ein kleiner, beleibter Herr. Höflich hielt er seinen Hut in der Hand. Er war fast vollkommen kahl, nur an den Schläfen sprießten ein paar dünne graue Härchen. Sein rundes, rosiges Gesicht war völlig faltenlos, und auf seiner kurzen Nase saß eine goldgeränderte Brille mit eckigen Gläsern, die so dick waren, dass man dahinter kaum seine Augen erkennen konnte. Wer hätte an diesen charakteristischen Zeichen nicht Professor Perret erkannt!

Da er nicht sehr gesellig war und ihm zudem seine starke Kurzsichtigkeit sehr zu schaffen machte, ging er den Fotografen gewöhnlich am liebsten aus dem Weg. Doch bis zu einem gewissen Grade musste er schließlich seinem Ruf Rechnung tragen. Es wäre äußerst unhöflich gewesen, wenn er sich geweigert hätte, sich mit seinem großen Kollegen Karamazine zusammen den Fotografen zu stellen... Agnes Perret folgte ihrem Vater. Er drehte sich nach ihr um, ergriff ihren Arm und zog sie zu sich nach vorn. Blitzlichter flammten auf. Der russische Gelehrte lächelte jovial. Professor Perret ließ die Prozedur gutwillig über sich ergehen. Seine Tochter schien ganz gerührt.