Verborgen - Kristin Kox - E-Book

Verborgen E-Book

Kristin Kox

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Beschreibung

»... vielleicht liegt in diesen Wäldern etwas verborgen, etwas, das nicht gefunden werden will. Etwas, das schon sehr lange hier ist und das diesem Ort ... ein gewisses Potenzial verleiht ...« Doch was will nicht gefunden werden? Welches Geheimnis verbirgt sich in den Wäldern rund um Rothenburg ob der Tauber? Die Schriftstellerin Lisa Stark kämpft noch immer mit dem Verlust ihrer Familie, als ihr Studienfreund Chris wieder in ihr Leben tritt und ihre Gefühle durcheinanderwirbelt. Doch warum taucht plötzlich ihr verstorbener Mann in ihren Träumen auf und warnt sie vor einer großen Gefahr? Wer oder was hat es auf ihr Leben abgesehen? Leider bleibt Lisa nur wenig Zeit, um das Geheimnis des Waldes, von dem ihr Mann sprach, zu lüften und die Puzzleteile zusammenzusetzen. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt.

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Seitenzahl: 390

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Verborgen

Das Vermächtnis

eines Volkes

von Kristin Kox

Alle Rechte vorbehalten.

Das Buchcover darf zur Darstellung des Buches unter Hinweis auf den Verlag jederzeit frei verwendet werden.

Eine anderweitige Vervielfältigung des Coverbilds ist nur mit Zustimmung des Verlags möglich.

Die Namen und Handlungen sind frei erfunden.

Evtl. Namensgleichheiten oder Handlungsähnlichkeiten sind zufällig.

www.verlag-der-schatten.de

Zweite Auflage 2022

© Kristin Kox

Covergestaltung: Verlag der Schatten

Coverbilder: CirceCorp Design, Fotolia nesterovoleg129, konradbak

© Bilder: Kristin Kox (Trampelpfad, Burggarten, Autorenfoto), CirceCorp Design

(Schranke, Lichtstrahl in Dunkelheit), Fotolia Frank Wagner (Panorama, Holzbrücke), Schwerin (Rödertor)

lotharnahler (Kiefernwald), tichr (Doppelbrücke), AnnaPa (Haus), Smileus (Lichtreflexion im Wald), Zacarias da Mata (Wald), [email protected]

(Ornamente Blätter), depositphotos MaurizioG (Steinkreis)

Lektorat: Simona Turini (www.lektorat-turini.de)/ Verlag der Schatten

© Verlag der Schatten, Ruhefeld 16/1,

D-74594 Kressberg-Mariäkappel

ISBN: 978-3-98528-011-7

»... vielleicht liegt in diesen Wäldern etwas verborgen, etwas, das nicht gefunden werden will. Etwas, das schon sehr lange hier ist und das diesem Ort ... ein gewisses Potenzial verleiht ...«

Doch was will nicht gefunden werden?

Welches Geheimnis verbirgt sich in den Wäldern rund um Rothenburg ob der Tauber?

Die Schriftstellerin Lisa Stark kämpft noch immer mit dem Verlustihrer Familie, als ihr Studienfreund Chris wieder in ihr Leben tritt und ihre Gefühle durcheinanderwirbelt. Doch warum taucht plötzlich ihr verstorbener Mann in ihren Träumen auf und warnt sie vor einergroßen Gefahr? Wer oder was hat es auf ihr Leben abgesehen?

Leider bleibt Lisa nur wenig Zeit, um das Geheimnis des Waldes, von dem ihr Mann sprach, zu lüften und die Puzzleteilezusammenzusetzen. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt.

Inhalt

Realität und Fiktion

Verborgen – Das Vermächtnis eines Volkes

Danksagung

Autorenvorstellung

Realität und Fiktion

Verehrte Leser,

dieses Buch enthält eine erfundene Geschichte, die in dem überaus realen Rothenburg ob der Tauber im Jahr 2011 spielt. Die Rothenburg-Liebhaber unter Ihnen werden zweifellos viele Details des Schauplatzes wiedererkennen, und auch der geschichtliche Hintergrund basiert zu einem großen Teil auf belegten Fakten. An einigen Stellen jedoch habe ich mir die Freiheit genommen, alternative Fakten zu verwenden, wo es der Verlauf der Geschichte erforderlich machte. Ich bitte Sie, mir dies zu verzeihen.

Weiterhin handelt es sich bei allen im Text erwähnten Personen um reine Fantasieprodukte. Etwaige Ähnlichkeiten mit realen Personen sind nicht beabsichtigt.

Ich wünsche Ihnen angenehmes Lesen,

Kristin Kox

Verborgen – Das Vermächtnis eines Volkes

1

Hätte Lisa auch nur im Entferntesten geahnt, welche Ereignisse sie an diesem schwülwarmen Sommerabend in Würzburg in Gang setzte, sie wäre auf dem Absatz umgekehrt. Doch sie hatte keine Vorahnung. Diesmal nicht.

Sie verspürte ein leichtes Unbehagen bei dem Gedanken daran, was sie hinter dieser Tür erwartete, doch damit hatte sie gerechnet. Und sie hatte sich vorgenommen, sich diesem Gefühl zu stellen. Der heutige Abend war ein wichtiger Meilenstein in ihrem Kampf, zurück ins Leben zu finden.

Ihr Unbehagen verstärkte sich, als sie die kühle Messingklinke herunterdrückte und das helle Klingeln eines Glöckchens ertönte. Ihr Instinkt befahl ihr, sich umzudrehen und wegzulaufen – schnell, so schnell du kannst, ehe es zu spät ist –, doch Weglaufen kam nicht infrage. Sie würde es durchstehen, das hatte sie sich vorgenommen. Daher ging sie mit weichen Knien und einem flauen Gefühl im Magen, doch erhobenen Hauptes, hinein. Sie achtete nicht auf ihren Instinkt, auf diese leise, aber hartnäckige Stimme in ihrem Inneren, die sie warnte, sie drängte umzudrehen und wegzurennen.

Manchmal muss man eben die Zähne zusammenbeißen und sich überwinden. Sie schloss die Tür hinter sich und ließ damit die Welt, in der sie sich so lange verkrochen hatte, hinter sich zurück. Eine Welt, deren Anonymität ihr Schutz geboten hatte.

Das Erste, was Lisa wahrnahm, war der vertraute, angenehme Geruch nach Papier und Druckerschwärze, der von den Büchern ausging. Sie blieb einen Moment stehen und sog den Duft ein, während sie versuchte, das nervöse Flattern ihres Magens zu ignorieren. Dann blickte sie sich suchend um. Sie stand in einer großen, gepflegten Buchhandlung.Die Mitte des Raumes wurde von einem halbhohen, quadratischen Tisch eingenommen, auf dem dekorativ die Neuerscheinungen der Saison aufgestellt waren. Von diesem Blickfang aus verliefen hohe Regale radial in die Ecken des Ladens und teilten den Verkaufsraum in gemütliche Nischen. Am rückwärtigen Ende befand sich eine breite Kassentheke und gleich dahinter ein schmaler Durchgang. Direkt darüber wies ein dezentes Schild darauf hin, dass dies der Weg zum Lesesaal war.

Lisas Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Einen Moment lang fragte sie sich, ob sie wirklich bereit dafür war. Alles in ihr sträubte sich dagegen. Sie drehte den Kopf und warf einen sehnsüchtigen Blick zur Eingangstür. Die Antwort lag auf der Hand. Nein, sie wollte definitiv nicht. Sie wollte nicht allein in diesen Saal gehen, vor ein Publikum treten und zu all diesen fremden Menschen sprechen. Und sie wollte keine Fragen beantworten müssen – vor allem das nicht. Doch Lisa wusste auch, dass es genau das war, was sie jetzt tun musste: sich ihrer Angst stellen. Sie musste, und ein kleiner, hartnäckiger Teil von ihr wollte tatsächlich, wieder in der Öffentlichkeit sprechen. Sie wollte das hier schaffen, und ihr war klar, dass es umso schwieriger werden würde, je länger sie diesen Moment aufschob. Erneut wandte sie sich dem Durchgang zu. Mach einen Schritt nach dem anderen. Als sie tief Luft holte und sich sammelte, wurde sie von einem hellen Aufschrei aus ihren Gedanken gerissen.

»Da, Mama! Schau. Das da!«

Reflexartig drehte sich Lisa in die Richtung, aus der die Kinderstimme an ihr Ohr gedrungen war. Paul! Für den Bruchteil einer Sekunde huschte ein freudiges Lächeln über ihr Gesicht. Doch es verschwand ebenso schnell, wie es gekommen war. Nein, das kann nicht sein. Verstört sah sie sich um. Dann erblickte sie die Quelle des Ausrufes.

In der Ecke links von ihr, aus deren Regalen ihr »Pu der Bär«, »Der kleine Rabe Socke« und zahlreiche weitere Kinderfiguren entgegenlachten, zupfte ein Junge mit verstrubbeltem blonden Haar und leuchtenden Augen aufgeregt an der Bluse einer großen, ebenfalls blonden Frau.

Lisa erstarrte in ihrer Bewegung. Der Junge war etwa vier Jahre alt. Aufgeregt hüpfte er vor seiner Mutter auf und ab. Das Strahlen in seinem Blick nahm Lisa gefangen. Er war so jung, so wunderschön und so lebendig, dass es Lisa einen schmerzhaften Stich durch die Brust jagte. Es traf sie so unvermittelt, dass sie beinahe laut aufgeschrien hätte.

Doch ihre Lippen blieben geschlossen, und ihr Aufschrei verhallte ungehört in ihrer Kehle. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie wandte sich rasch ab. Nicht jetzt, nicht hier, gebot sie sich streng. Sie flüchtete in den nächsten Gang und drängte mit aller Gewalt das Bild des Jungen zurück. Ihr Atem ging zu schnell, und die Luft, die sie in ihre Lunge sog, fühlte sich giftig an. Seit dem Unfall waren etwas mehr als sieben Monate vergangen. Eine lange Zeit, doch in diesem Moment schien Zeit keine Rolle zu spielen. In diesem Moment schien es Lisa, als sei immer noch Herbst, ein nie enden wollender, eisgrauer Novembertag. Der Tag, an dem Lisas Leben zerbrochen war.

Die aufkeimende Erinnerung drohte sie zu überwältigen, und Lisa griff wahllos nach dem ersten Buch, das ihr ins Auge fiel. Sie lenkte ihre gesamte Aufmerksamkeit auf den Titel: »1001 Kochrezepte aus aller Welt«. Dann schlug sie eine zufällige Seite auf und begann angestrengt, ein Rezept für Gemüsebratlinge zu lesen, die sie niemals zubereiten würde. Es half. Langsam gewann Lisa ihre Fassung zurück, und das war gut so, das war wichtig. Sie konnte sich hier und jetzt keinen Ausbruch ihrer Emotionen leisten, immerhin würde sie in knapp fünf Minuten vor ihr Publikum treten, um ihren neuen Roman vorzustellen. Das konnte sie unmöglich in diesem desolaten Zustand und erst recht nicht völlig verweint. Erneut blickte Lisa zum Eingang. Da war sie, ihre Fluchtmöglichkeit. Sie könnte gehen, jetzt sofort. Sie müsste nicht hierbleiben, müsste sich nicht ihrer Angst stellen, könnte einfach gehen. Tür auf, raus, die Straße entlang, zu ihrem Auto, nach Hause fahren und sich vor der Welt verkriechen, wie sie es die letzten etwas mehr als sieben Monate getan hatte. Niemand könnte sie daran hindern.

Ich dachte, du wolltest heute einen Schritt nach vorn machen, Mädchen,meldete sich eine harte, leicht spöttisch klingende Stimme in ihr zu Wort, und Lisa zuckte zusammen. Es war die Stimme ihrer Sportlehrerin der fünften Klasse, Frau Kersch. Im letzten Herbst, kurze Zeit nach dem Unfall, hatte sie angefangen, sich immer wieder in ihre Gedanken zu stehlen. Eine fremde Stimme in ihrem Kopf sprechen zu hören war beunruhigend, doch Lisa wusste auch, dass sie ihr in den letzten Monaten geholfen hatte. Inzwischen war Lisa zwar erwachsen, doch der straffe Befehlston dieser Frau hatte immer noch dieselbe Wirkung auf sie wie zu ihrer Schulzeit.

Ein Schritt nach vorn, ja, das war der Plan. Sie wollte nach vorn, nicht zurück, nicht so, denn es würde bedeuten, dass sie erneut in diesem dumpfen Nebel der Trauer versinken würde, der sie die letzten Monate in seiner unbarmherzigen Umklammerung gefangen gehalten hatte. Heute war sie auch hier, um aus diesem Nebel herauszukommen. Sie wollte es schaffen.

Lisa wandte ihren Blick zu dem schmalen Durchgang. Die golden eingefassten Lettern des Schriftzugs schienen sie zu verhöhnen. Du wirst es nicht schaffen,geh nach Hause, überlass das Leben anderen.

Widerstand keimte in ihr auf. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich auf das, was vor ihr lag, sah ihr Publikum, ihre Leser, Fans. Sie sah sich selbst, wie sie ihr Buch aufschlug und anfing zu lesen. Der lähmende Schmerz, der beim Klang der Stimme des Jungen in sie gefahren war, ließ langsam nach. Ihr Atem, der stoßweise und viel zu flach aus ihrer Brust gekommen war, verlangsamte sich und wurde wieder gleichmäßiger.

Das war besser. Nicht wirklich gut – von gut war Lisa noch meilenweit entfernt –, aber es würde ausreichen, um diesen Abend zu überstehen. Die Erinnerung, die immer noch knapp unter der Oberfläche lauerte, wich zurück. Lisa drängte sie in den entlegensten Winkel ihrer Seele. Später, wenn ich zu Hause bin, nicht jetzt. Sie atmete tief ein, hob den Kopf und straffte die Schultern. Entschlossen stellte sie das Kochbuch zurück in das Regal und blickte zum Durchgang.

»Und ob ich das schaffe!«, presste sie leise hervor, dann ging sie den Gang entlang in den hinteren Teil des Ladens.

»Frau Stark, wie schön! Es freut mich sehr, dass Sie es einrichten konnten. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Anreise. Mein Name ist Siebentritt, wir hatten telefoniert.«

Eine große, elegant gekleidete Dame kam aus dem Leseraum und ging strahlend auf Lisa zu. Ihre Stimme klang warm und freundlich. Sie trat zu Lisa und streckte ihr die Hand entgegen. An ihrem Handgelenk klirrten mehrere schillernde Armreife aneinander. Das Lächeln, das sie Lisa schenkte, wirkte echt und ungekünstelt. Lisa mochte sie sofort.

»Guten Tag«, erwiderte sie und brachte zu ihrer Verblüffung ebenfalls ein Lächeln zustande. Frau Siebentritt drückte ihre Hand kurz und kräftig. Ein gutes Zeichen,also, worauf wartest du noch?

Lisa folgte Frau Siebentritt in den Raum. Er war größer, als sie erwartet hatte, eher wie ein kleiner Saal. Alle Stühle waren besetzt. Schätzungsweise hundert Personen hatten darin Platz gefunden, hauptsächlich Mädchen im Teenageralter, doch auch etliche Erwachsene waren gekommen. Und obwohl der Gedanke, zu all diesen fremden Menschen zu sprechen, Lisa immer noch Angst machte – wie seit Beginn ihrer Schriftstellerlaufbahn –, so drängte diese Angst zumindest den Schmerz der Trauer, der sich in ihrer Seele festgesetzt und sie ausgehöhlt hatte, für diesen Moment in den Hintergrund.

In einer der hinteren Reihen erblickte sie etwas abseits der Menge einen Mann, der etwas auf einen Notizblock kritzelte. Um seinen Hals hing eine teure Kamera. Presse, dachte Lisa nervös, doch gleichzeitig freute es sie auch. Es bedeutete, sie war noch im Geschäft. Es bedeutete, das, was sie schrieb, war immer noch interessant. Und auch wenn sie viel verloren hatte, das hier war ihr geblieben. Sie hatte immer noch Fans. Besser gesagt: Nina, die Hauptfigur ihrer Romane, hatte immer noch Fans.

Es hatte lange gedauert bis hierhin. Bereits während der Schulzeit hatte Lisa Ideen und Geschichten aufgeschrieben. Schon vor dem Studium hatte sie ihre ersten Kurzgeschichten und einen Roman veröffentlicht, der sich jedoch nur schleppend verkaufte. Der Durchbruch war erst nach ihrem Abschluss gekommen, etwa ein Jahr, nachdem sie in das kleine Haus in einem Waldgebiet nahe Rothenburg ob der Tauber eingezogen war. Dort, in dieser mittelalterlichen Kleinstadt, deren romantisches Flair Lisa von Anfang an verzaubert hatte, war ihr die Idee der zwölfjährigen Nina gekommen, die in einem verzauberten Burginternat gemeinsam mit Elfen, Einhörnern und anderen magischen Wesen ein Abenteuer nach dem anderen erlebt. In nur sechs Monaten hatte sie das Manuskript geschrieben, und es war ihr gut, richtig gut gelungen. Besser als alles, was sie je zuvor geschrieben hatte. Auch ihr Agent war ganz aus dem Häuschen gewesen, als sie es ihm geschickt hatte. Ihr Verlag hatte es ihm schier aus den Händen gerissen. Es schien, als sei endlich der Knoten geplatzt. Und tatsächlich, das Publikum liebte Nina. Es verlangte nach einer Fortsetzung – und noch einer und noch einer. Und seit nunmehr sechs Jahren lieferte Lisa ihnen regelmäßig neue Bücher. Seit ihrem Einzug in das Haus sprudelten die Ideen nur so aus ihr heraus, als hätte sich in ihrem Geist eine Quelle der Kreativität geöffnet, aus der sie nach Belieben schöpfen konnte.

Einige Köpfe drehten sich zu Lisa um, und das aufgeregte Flüstern, das sie bei ihrem Eintreten vernommen hatte, verstummte. Sie ging an den Stuhlreihen vorbei nach vorn, gefolgt von den neugierigen Blicken der Anwesenden.

Am Kopfende des Saals befand sich ihre Bühne. Ein schlichter, schwarzer Barhocker und ein ebenfalls schwarzes Lesepult, vor dem ein dünner, dunkler Mikrofonständer platziert war, waren dort aufgestellt. Frau Siebentritt hatte alles nach Lisas Wünschen arrangiert.

Alles war so, wie es sein sollte. Doch anstatt sich erleichtert zu fühlen, breitete sich erneut ein mulmiges Gefühl in ihrem Magen aus. Irgendetwas stimmte dennoch nicht.

Lisa presste die Lippen fest zusammen. Das ist nur die Aufregung. Es wird vorbeigehen, ich hatte nur zu lange keinen Auftritt mehr. Ihren Magen beeindruckte das nicht. Das mulmige Gefühl verstärkte sich noch, je näher sie der Bühne kam.

Jetzt trat Frau Siebentritt ans Mikrofon und richtete ein paar einleitende Worte an das Publikum. Lisa hörte nicht richtig hin. Ihr Blick wanderte über die Menge. Sie sah in freundliche Gesichter, die Wohlwollen und Neugier ausdrückten. Doch das Gefühl, dass etwas in dem Raum nicht richtig war, verstärkte sich. Etwas passte nicht.

Lisa atmete tief ein. Verdammt, jetzt dreh nur nicht durch. Es ist alles okay, alles in Ordnung. Deine Nerven spielen dir einen Streich, das ist alles.

Frau Siebentritt, die ihre Ansprache beendet hatte, verließ das Podium. Unter Applaus betrat Lisa die kleine Erhöhung und nahm auf dem Barhocker Platz. Mit zittrigen Fingern griff sie in ihre Handtasche und nestelte ein Exemplar des neuesten Nina-Romans heraus. Ihre Handflächen waren feucht. Bei jeder anderen Lesung war dies der Moment, in dem die Anspannung nachließ. Der Moment, wenn sie ihr Buch in den Händen hielt, ihr Werk, das Ergebnis harter Arbeit. Jedes Mal war es ein magischer Moment, der ihr Kraft und Sicherheit gab, zumindest war das bisher so gewesen. Doch heute blieb dieses Gefühl aus.

Erneut ließ Lisa ihren Blick über die Menge gleiten. Er blieb an einem jungen Mann hängen, der in der ersten Reihe saß. Er war sportlich gekleidet – Turnschuhe, ein Nike T-Shirt – und sah sie an. Mit einem Mal hatte sie das Gefühl, als würden Spinnen über ihren Nacken krabbeln. Lisa fröstelte. Schlagartig veränderte sich die Atmosphäre im Saal. Etwas Dunkles, Bedrohliches senkte sich herab wie ein Schleier, und einen entsetzlichen Moment lang tauchte die Vision einer absoluten Schwärze vor ihr auf, in der ein Paar rote Augen aufgeschlagen wurden, die wie glühende Kohlen leuchteten und nach ihr Ausschau hielten. Einen Moment lang sah sie es ganz deutlich und erstarrte wie ein Reh, das in dem grellen Lichtkegel eines heranbrausenden Autos gefangen ist. Ihre Finger umklammerten krampfhaft das Buch. Dann war der Moment vorbei, und Lisa sog entsetzt Luft in ihre Lunge.

Die Menge schaute sie erwartungsvoll an. Einige Mädchen steckten die Köpfe zusammen und tuschelten miteinander.

Lisa merkte, dass ihr die Situation zu entgleiten drohte. Ihr Herz pochte laut und viel zu schnell in ihrer Brust. Es kam ihr vor, als würde ihr Stuhl anfangen zu schwanken. Der junge Mann in der ersten Reihe blickte sie fragend an. Hilfe suchend sah Lisa sich um. Der Drang, wegzulaufen, wurde erneut stärker. Nur ihr Wille hielt sie an Ort und Stelle. Sie klammerte sich daran fest. Ich schaffe das, ich will es schaffen, dachte sie, unbedingt. Sie musste nur etwas finden, woran sie sich festhalten konnte, etwas, das ihr half sich zu fangen, etwas wie ein Anker.

Da erblickte sie ein bekanntes Gesicht in einer der hinteren Reihen. Chris,dachte sie, er ist tatsächlich gekommen. Eine warme Welle der Erleichterung durchfuhr sie. In dem Moment, als sie ihn ansah, hob er eine Hand und grinste sie jungenhaft an. Der dunkle Schleier, der sich über Lisa gesenkt hatte, fiel von ihr ab, und mit einem Mal schien der Saal viel heller und freundlicher als noch vor einer Sekunde. Lisa lächelte zurück. Sie nahm einen tiefen Atemzug. Ja,jetzt geht es. Sie rückte etwas näher an das Mikrofon und begann zu sprechen.

2

Es war verblüffend, wie gut die Lesung verlief. Bereits nach den ersten Worten stellte Lisa mit Erstaunen fest, dass sie so entspannt war, als säße sie in ihrem Wohnzimmer auf dem Sofa anstatt hier vor einer Gruppe wildfremder Leute. Sie las aus dem sechsten Band der Nina-Reihe, der in diesem Monat erschienen war. Ihr Publikum war gefesselt von der Story, und als nach einer Stunde die Fragerunde stattfand, vor der sie sich so sehr gefürchtet hatte, drehten sich die Fragen zumeist nur um die Heldin ihres Buches und darum, was im nächsten Roman passieren würde. Nur eine junge Frau in der zweiten Reihe konnte ihre Neugier nicht zügeln.

»Ich möchte Ihnen mein tief empfundenes Beileid zu Ihrem tragischen Verlust aussprechen«, sagte sie betont höflich.

Lisa horchte auf. »Danke«, erwiderte sie leise und wartete angespannt, was nun kommen würde.

»Ich kann mir vorstellen, dass es sehr schwer für Sie ist.«

Die junge Frau, in der Lisa eine Literaturstudentin vermutete, sah sie mitfühlend an, doch Lisa wünschte sich nur, sie würde nicht weitersprechen.

»Vielleicht gestatten Sie mir die Frage: Wie verarbeiten Sie den Verlust Ihrer Familie? Werden Sie darüber schreiben?«

Lisa erstarrte zu Eis. Plötzlich empfand sie einen Widerwillen vor dieser Frau, der an Ekel grenzte. Einige der Mädchen im Publikum sogen schockiert die Luft ein. Manche sahen verlegen zu Boden. Doch viele blickten auch erwartungsvoll zu ihr auf. In diesem Moment hasste sie ihren Job. Hier saß sie nun im Rampenlicht, der Menge vor ihr schutzlos ausgeliefert. Sie fühlte sich klein und hilflos, und mit Entsetzen stellte sie fest, dass die Tränen, die in diesen Tagen nie sehr weit entfernt zu sein schienen, erneut in ihren Augen brannten.

Sie umklammerte das Buch in ihrer Hand fester, während sie versuchte sich die Sätze in Erinnerung zu rufen, die sie sich zu Hause für eine derartige Frage zurechtgelegt hatte. Mit einem hörbaren Zittern in der Stimme sagte sie: »Das Schreiben ist ein sehr wichtiger Bestandteil meines Lebens, und es hat mir schon oft geholfen, schwierige Situationen zu überstehen. Es hat etwas Magisches.« Sie sah, wie einige ihrer Zuhörerinnen verträumt nickten. Ihre Stimme wurde fester, als sie weitersprach. »Und dieser … Unfall ist das Schlimmste …« Lisa machte eine Pause. Ihr Mund war mit einem Schlag so trocken, dass sie unmöglich weitersprechen konnte. Sie ergriff das Glas, das auf dem Lesepult stand, und trank einen Schluck Wasser. Im Publikum war kein Laut zu hören. Alle Anwesenden schienen gleichzeitig die Luft anzuhalten. Sie sahen Lisa mit einer Mischung aus Betroffenheit und Mitgefühl an. In den Augen mancher Mädchen erblickte sie ein verräterisches Glitzern. Rasch sah Lisa zu Boden, als sich auch in ihren Augen wieder Tränen bildeten. Oh, wie sie es leid war, zu weinen! Wut flackerte hinter ihren Schläfen auf. Es war so entwürdigend, wenn man ständig und überall zu tropfen anfing, ohne etwas dagegen tun zu können. Zornig blinzelte sie die Tränen weg und richtete ihren Blick wieder auf das Publikum. Sie schaute die Fragerin fest an, als sie fortfuhr: »Geliebte Menschen zu verlieren ist das Schlimmste, was einem widerfahren kann. Und so schwer es mir momentan auch fällt, das Erlebte aufzuschreiben, so habe ich doch das dringende Gefühl, dass ich es tun muss. Doch wann und ob das in einem Nina-Roman auftaucht, kann ich momentan nicht sagen, dafür ist es noch zu früh. Ich …« Lisa schluckte, suchte nach den passenden Worten, bevor sie sagte: »… bin noch nicht so weit. Es fällt mir noch sehr schwer, darüber zu reden, daher wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie von weiteren Fragen dazu absehen könnten.«

»Sicher.« Die Fragerin lächelte, um Freundlichkeit bemüht, doch ihre Augen funkelten sie verkniffen an.

In den Gesichtern der anderen Anwesenden sah Lisa jedoch etwas anderes. Es war weit mehr als nur das Mitleid, mit dem sie gerechnet hatte. Was in den Gesichtern der Menschen vor ihr stand, war aufrichtige, echte Anteilnahme. Einige der Mädchen wischten sich vorsichtig über die Augen.

Zum ersten Mal hatte Lisa bei einer Lesung das Gefühl, dass sich ein Band zwischen ihr und diesen Menschen gebildet hatte, die ihr noch bis vor einer Stunde vollkommen unbekannt gewesen waren, eine Art unsichtbare Verbindung. Etwas Außergewöhnliches war heute hier geschehen, das spürten alle im Saal.

Lisa beendete die Lesung mit einem Auszug aus ihrem nächsten Roman, der im kommenden Frühjahr erscheinen sollte. Als sie sich erhob, erntete sie langen Applaus. Lisa fühlte, wie eine große Last von ihrem Herzen genommen wurde. Sie hatte es geschafft! Tatsächlich geschafft! Es war grandios.

Wie vereinbart nahm sie sich noch die Zeit, allen, die es wünschten, ihr Exemplar des neuesten Nina-Romans zu signieren. Doch nach weiteren dreißig Minuten war auch dieser Punkt abgehakt, und sie erblickte Chris, der geduldig auf einem Stuhl in der Nähe gewartet hatte.

Ein Lächeln erhellte Lisas Gesicht. Sie und Chris kannten sich seit ihrer Studienzeit. Damals hatte er mit ihrem Mann Anton und ihr zusammen in einer WG gewohnt, doch nach dem Studium hatten sie sich aus den Augen verloren. Erst bei der Beerdigung im vergangenen Herbst hatten sie sich wiedergesehen. Seither hatten sie ein paar E-Mails ausgetauscht, und Chris hatte sie darin bestärkt, den Termin heute anzunehmen.

»Hallo, Lisa«, sagte Chris und umarmte sie kurz, aber herzlich.

Lisa war überrascht, wie vertraut sich der sanfte Druck seiner Arme auf ihrem Rücken anfühlte, und für einen Augenblick überkam sie eine große Sehnsucht. Dann löste er sich von ihr, und der Moment war vorbei.

»Du warst großartig.«

»Danke«, erwiderte Lisa. »Schön, dass du gekommen bist. Ich war froh, wenigstens ein vertrautes Gesicht zu sehen.«

Er sah Lisa prüfend an. »Wie geht es dir?«

»Besser jetzt«, antwortete Lisa. »Zu Beginn war es furchtbar«, gestand sie, »aber dann lief es ganz gut. Dennoch bin ich froh, dass ich es hinter mir habe.«

»Weißt du, was? Das solltest du feiern.«

Lisa sah ihn verblüfft an. Feiern! Das Wort klang so fremdartig in ihren Ohren, dass sie nachdenklich wurde. Wann hatte sie zuletzt etwas gefeiert? Sie konnte sich nicht erinnern. »Eigentlich hast du recht«, murmelte sie. »Sag, gibt es noch diese kleine Bar unten am Fluss?«

»Keine Ahnung, ich war seit Jahren nicht mehr dort. Ach komm, wir gehen mal hin, vielleicht haben wir Glück.«

Feiern, dachte Lisa und schüttelte lächelnd den Kopf. War dies vielleicht der Startschuss für ein neues Leben? Sie wusste es nicht, doch etwas in ihr hatte sich bewegt.

Sie verließen den Buchladen und machten sich zu Fuß auf den Weg durch Würzburg in Richtung Mainufer.

Kurz nach ihnen ging auch der junge Mann mit den Turnschuhen und dem Nike T-Shirt aus dem Laden und folgte ihnen in einiger Entfernung.

3

Wenige Minuten später erreichten Lisa und Chris die kleine Bar, die direkt am Ufer des Mains lag. Von ihrem Tisch aus konnten sie den Fluss sehen, der ruhig den Kanal hinunterfloss. Die funkelnden Strahlen der untergehenden Sonne glitten so elegant über die Wasseroberfläche wie Tänzer in einem Ballsaal.

Die Bedienung kam, um ihre Bestellung aufzunehmen.

»Rotwein? Oder lieber Champagner?« Chris blickte Lisa fragend an.

»Rotwein«, sagte Lisa spontan, bevor sie wie automatisch ergänzte: »Aber den billigsten, den Sie haben.«

Die Bedienung nickte und eilte davon.

Chris schmunzelte. »Wie früher«, sagte er nur.

Lisa sah in Chris’ Augen, und an dem wehmütigen Glanz darin erkannte sie, dass die Erinnerung an die gemeinsamen Abende zu dritt auch in seinen Gedanken kreiste.

Chris und Anton waren schon beste Freunde gewesen, als Lisa Anton auf einer Studentenparty der Germanisten kennengelernt hatte. Er war auch Antons Trauzeuge gewesen. Dann hatte Chris eine Stelle im Ausland angenommen, und die Arbeit an seiner Promotion hatte ihn so sehr eingespannt, dass sich ihr Kontakt auf Karten zu Weihnachten und Glückwünsche zur Geburt ihres Sohnes begrenzt hatte.

»Erzähl mir von Zürich«, forderte Lisa diesem Gedanken folgend, nachdem der Wein serviert war.

»Es war toll«, sagte Chris. »Teuer, aber fantastische Berge. Und wandern kostet auch dort nix. Ansonsten hab ich nicht viel von der Stadt gesehen, meine Doktorarbeit hat mich ganz in Beschlag genommen.«

»Woran hast du gearbeitet?«, wollte Lisa wissen.

»Analyse und Nachweis pflanzlicher Toxine«, antwortete Chris, und als er ihren verständnislosen Blick sah, fügte er lächelnd hinzu: »Im Prinzip geht es darum, auf wie viele verschiedene Arten uns die Natur umbringen kann.«

»Das klingt spannend«, sagte Lisa.

»Ist es, aber man verbringt viel Zeit im Labor.«

»Wir haben so wenig von dir gehört, dass Anton meinte, du hättest dort eine Frau kennengelernt, die dich in Beschlag nimmt.« Lisa schmunzelte. Sie war froh, dass ihr Gespräch diese Richtung eingeschlagen hatte. Keine Tränenfalle in Sicht, dachte sie erleichtert.

»Ach ja?« Chris’ haselnussbraune Augen blitzten belustigt. »Ich kann mir gut vorstellen, dass er das gesagt hat.« Er blickte nachdenklich in Richtung der untergehenden Sonne, und der Glanz der Erinnerung spiegelte sich in seinem Gesicht. »In Antons Welt war eine Frau stets die Erklärung für alles, was man tut und lässt.« Mit sanfter Stimme sagte er: »Die Liebe zu dir war für ihn alles, was zählt.« Er richtete seinen Blick auf sie, als er weitersprach. »Aber, nein, ich habe in Zürich keine Frau kennengelernt, zumindest nicht so, wie Anton sich das vorgestellt hat.« Chris stockte.

Lisa wurde neugierig. Das war doch nicht die ganze Wahrheit, da war noch mehr, oder? Gespannt wartete sie, ob er es ihr erzählen würde, aber Chris wirkte mit einem Mal nervös. Er sah sie direkt an, und da war es wieder: Ein kurzes Aufflackern der Sehnsucht, wie sie es zuvor im Buchladen verspürt hatte. Und noch ein weiteres neues Gefühl schwang darin mit. Lisa fühlte eine Wärme, die sich in ihrem Bauch ausbreitete. Ihr wurde schwindelig. Dann löste Chris den Blick von ihr, entschuldigte sich, um auf die Toilette zu gehen, und ließ Lisa nachdenklich zurück.

Verwirrt blickte sie ihm hinterher und versuchte zu verstehen, was gerade passiert war, doch es fiel ihr schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Immer noch sah sie Chris’ sanfte braune Augen vor sich, und das warme Gefühl kehrte zurück, gefolgt von einem einzigen klaren Gedanken: Ich glaube, ich bin nicht die Einzige, die das spürt.

Plötzlich wurde sie von einer freundlichen Männerstimme aus ihren Gedanken gerissen.

»Ich hoffe, das gerade war nicht ihr Freund?«

Lisa drehte sich verwundert um. Neben ihr stand ein blonder, junger Mann und grinste sie unsicher an, während er sich mit gespielter Lässigkeit an einem Stuhl festhielt. Er kam Lisa vage bekannt vor, als hätte sie ihn schon einmal gesehen, aber ihr Gehirn, das zu sehr mit dem Versuch beschäftigt war, Chris’ Verhalten zu verstehen, konnte keine Verbindung herstellen. Sie konnte sich auch keinen Reim darauf machen, was dieser Fremde mit seiner merkwürdigen Frage von ihr wollte.

Sie betrachtete ihn genauer. Er war um die eins achtzig groß und hatte eine sportliche Statur, doch er wirkte angespannt und machte einen ziemlich unbeholfenen Eindruck. Etwas an ihm weckte Lisas Beschützerinstinkt. Er trat nervös von einem Bein auf das andere. In der Abenddämmerung war es schwer zu erkennen, aber Lisa schätzte ihn auf etwa Mitte zwanzig, ein paar Jahre jünger als sie.

Als sie ihn gerade fragen wollte, ob er Hilfe bräuchte, da traf sie die Erkenntnis. Das war eine Anmache und eine ziemlich schlechte noch dazu. Beinahe hätte sie über ihre eigene Begriffsstutzigkeit gelacht, doch sie verkniff es sich. Es hätte diesen nervösen Kerl vielleicht verletzt. Schnell setzte sie ein höfliches Lächeln auf und sagte: »Nein, das war er nicht.« Und einer plötzlichen Eingabe folgend fügte sie hinzu: »Ich bin verheiratet.« Damit hob sie die linke Hand, an der sie immer noch ihren Ehering trug, in der Hoffnung, diese merkwürdige Begegnung so schnellstmöglich zu beenden. Doch der junge Mann ließ sich nicht so leicht abwimmeln.

»Oh, äh, schade, na ja, äh …« Röte stieg ihm ins Gesicht, während er sprach. »Ich, also, ich hätte Sie gern auf einen Drink eingeladen«, brachte er schließlich hervor. »Äh, aber, also, andererseits hätte es mich auch gewundert, wenn so eine hübsche Frau noch nicht vergeben ist.«

Nachdem er seinen Spruch schließlich losgeworden war, erschien ein strahlendes Lächeln auf seinem Gesicht, das Lisa an einem anderen Abend vielleicht charmant gefunden hätte. Doch heute war definitiv der falsche Tag für neue Bekanntschaften. Und außer der Tatsache, dass er ein paar Jahre jünger war als sie, war er auch nicht wirklich ihr Typ.

»Tut mir leid«, sagte sie freundlich, aber bestimmt. Es wurde höchste Zeit, dieses Gespräch zu beenden.

»Oh, okay.« Der Unbekannte wandte sich enttäuscht ab, doch dann zögerte er und drehte sich noch einmal um. »Wissen Sie, also, ich habe da so ein Gefühl. Ich glaube, Sie sind eine außergewöhnlich tolle Frau. Und nur für den Fall, äh, nun, ich meine …« Jetzt liefen seine Wangen knallrot an, und er fing leicht an zu schwitzen. »Also, falls Sie doch einmal Lust auf einen Drink haben, äh, ich gebe Ihnen einfach meine Telefonnummer, okay?« Seine Stirn glänzte. »Mein Name ist übrigens Thomas. … Tom, wenn du willst.« Er legte einen kleinen Zettel mit säuberlich aneinandergereihten Ziffern auf den Tisch.

Aha, jetzt duzen wir uns also schon, dachte Lisa verärgert. Das wurde ihr jetzt zu aufdringlich. Hoffentlich kommt Chris bald zurück. Zu dem Fremden sagte sie: »Einen schönen Abend noch.«

»Dir auch.« Er trat unsicher auf der Stelle und strahlte sie an, während seine blassblauen Augen unruhig flackerten. Dann wandte er sich um und verschwand im Strom der vorbeilaufenden Menschen.

Lisa betrachtete den Zettel. Keinesfalls würde sie ihn anrufen. Sie wollte das Stück Papier zerknüllen und wegwerfen, doch irgendwie schien ihr das nicht endgültig genug. Wenn sie an den Ausdruck in seinen Augen dachte, bildete sich eine Gänsehaut auf ihren Armen. Lisa fröstelte trotz der schwülwarmen Luft. Er hatte eindeutig etwas Merkwürdiges an sich. Sie konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, was es war, doch sie verspürte ein starkes Unbehagen beim Anblick des Zettels. Ihr wurde eiskalt. Etwas strich jäh über ihren Nacken, und sie versuchte es mit der Hand wegzuwischen, doch dort war nichts. Es war das zweite Mal an diesem Abend, dass sie dieses Gefühl hatte. Genau wie in der Buchhandlung, kurz bevor sie die Lesung begonnen hatte.

Ein Bild tauchte in ihren Gedanken auf: Zwei Augen wie rot glühende Kohlen, die sie aus einer undurchdringlichen Schwärze heraus anstarrten.

Lisa verharrte in der Bewegung. Sie erinnerte sich. Es war der Typ aus der ersten Reihe. Ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Der Fremde war bei ihrer Lesung gewesen. Mister Nike T-Shirt. Sie war ganz sicher. Er musste ihnen gefolgt sein.

Mit einem Mal fühlte sie sich klein und verwundbar. Voller Abscheu starrte sie den Zettel an. Dann kramte sie ihr Feuerzeug aus der Handtasche und führte die Flamme an den Zettel. Gierig griff das Feuer auf das Papier über. Zuerst wurden die Ränder schwarz, dann fingen sie an sich zu kräuseln. Blauer Rauch stieg empor, und der stechende Geruch verkohlten Papiers stieg Lisa in die Nase. Wie in Trance beobachtete sie, wie sich die Flammen über das Papier ausbreiteten und die kleinen, ordentlich aufgereihten Ziffern schwarz färbten.

Ein stechender Schmerz riss Lisa aus ihrer Erstarrung, und sie ließ die Überreste des Zettels in den Aschenbecher fallen. Ärgerlich betrachtete sie den Daumen ihrer rechten Hand, wo sich bereits eine kleine Blase bildete. So etwas Dummes!, dachte sie verärgert über ihr kindisches Benehmen.

Währenddessen stand Chris in der Männertoilette vor dem Spiegel und versuchte einen klaren Kopf zu bekommen. Wie waren sie nur auf dieses Thema gekommen? Er hatte Lisa die Wahrheit gesagt, ja, aber nicht die ganze Wahrheit. Wie sollte er auch? Wie konnte er ihr sagen, dass sie es war, die ihm nicht mehr aus dem Kopf ging, die Gefühle in ihm ausgelöst hatte, die er für keine andere Frau je empfunden hatte? Dass sie der Grund war, weshalb er den Kontakt zu seinem besten Freund abgebrochen hatte? Eine Flut verwirrender Emotionen durchströmte ihn. Ein sehnsüchtiges Verlangen zog ihn zu ihr, gleichzeitig fühlte er sich so schuldig wie damals, als er schließlich eingesehen hatte, dass passiert war, was nicht sein durfte. Er hatte sich in die Frau seines besten Freundes verliebt, und er war machtlos dagegen. Es kam ihm wie Verrat vor, sich den Fantasien hinzugeben, die sie in ihm auslöste. Und er fühlte sich schuldig, weil Antons Tod für ihn eine Chance bedeutete, ihr nahezukommen.

Nein, das konnte er nicht. Für ihn war Lisa immer noch die Frau seines besten Freundes. Aber er würde versuchen als Freund für sie da zu sein. Wenigstens das war er Anton schuldig, und genau das war es, weshalb er gekommen war. Doch ihr weiter gegenüberzusitzen, wo er gnadenlos der Anziehungskraft ihrer smaragdfarbenen Augen ausgesetzt war, war keine gute Idee. Nicht wenn er seinem Vorsatz, nur ein Freund für Lisa sein zu wollen, treu bleiben wollte.

Nur ein Freund, dachte Chris. Er atmete tief durch und machte sich auf den Rückweg zu ihrem Tisch.

Chris kam zurück, während Lisa sich noch über ihre Unvorsichtigkeit ärgerte.

»Was hast du?«, fragte er besorgt.

Lisa setzte ein gequältes Lächeln auf und senkte den Blick. Chris konnte sie nichts vormachen, das wusste sie noch von früher. Er hatte immer als Erster gewusst, wenn etwas mit ihr nicht stimme. Egal ob es eine verhauene Prüfung oder ein Streit mit ihrer Mutter gewesen war, Chris hatte in ihrem Gesicht immer lesen können wie in einem Buch. So auch jetzt.

»Ach, ich …«, setzte sie an, doch sie wusste nicht recht, wie sie den Satz beenden sollte. Das Gefühl einer dunklen Bedrohung, das eben noch so real, beinahe greifbar, gewesen war, war wieder verschwunden. Und bei all dem, was heute Abend geschehen war, bei all den Eindrücken und Emotionen, die auf sie eingeströmt waren, war sie sich auf einmal nicht mehr sicher, ob ihr nicht einfach die Nerven einen Streich gespielt hatten. »Weißt du, da war nur so ein merkwürdiger Typ. Er hat mich angesprochen, als du weg warst. Ich dachte, ich hätte ihn bei der Lesung gesehen, aber ich bin mir nicht sicher.«

»Und was wollte er von dir?«

»Mit mir ausgehen.«

»Hat er dich bedrängt?«, fragte Chris besorgt.

Lisa schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie nachdrücklich. »Ich fand ihn nur seltsam, das ist alles.«

Chris kramte in seinem Portemonnaie und legte einen Geldschein auf den Tisch. »Komm, wir gehen!«

Sie verließen ihren Tisch und gingen ein Stück an der Uferpromenade entlang. Inzwischen waren auch die letzten Sonnenstrahlen verschwunden, und es war dunkel geworden. Der Himmel aber war sternenklar. Kleine Wellen plätscherten sanft ans Ufer, und das Licht der Sterne funkelte auf dem Wasser wie kleine Diamanten. Ein warmer Lufthauch strich über die Promenade und wehte Lisa sanft vereinzelte blonde Haarsträhnen, die sich aus ihrem schlichten Zopf gelöst hatten, aus dem Gesicht.

Eine Weile gingen sie still nebeneinanderher. Ein Stück voraus überspannte die alte Mainbrücke den Fluss. Von ihrer Brüstung blickten die Statuen ehrwürdiger Könige und Heiliger auf sie herab. Lisa blieb stehen, schloss kurz die Augen und atmete tief ein. Sie hörte das sanfte Murmeln des Flusses, und der vertraute, leicht mineralische Geruch stieg ihr in die Nase. Er rief angenehme Erinnerungen an früher wach, an ihre Studienzeit, als sie alle drei mit einem Gefühl der Freiheit und Unbeschwertheit in den Tag hinein gelebt hatten. Sie ließ sich von ihren Gedanken forttragen und genoss die Stille, die sich zwischen ihnen ausbreitete, während sie auf den Fluss blickte, der sich in ein glitzerndes Sternenmeer verwandelt hatte.

Als hätte er ihre Gedanken geteilt, sagte Chris neben ihr leise: »Es ist wunderschön, nicht wahr?«

Erneut kam eine Sehnsucht in Lisa auf, die sie in Chris’ Gegenwart vor dem heutigen Tag nie verspürt hatte. In diesem Moment wünschte sie sich, er würde einen Arm um sie legen. Sie stellte sich vor, wie es sich wohl anfühlen würde, seine Hand auf ihrer Hüfte zu spüren, wenn er sie etwas näher zu sich zöge. Ein warmer Schauder lief durch ihren Körper.

»Ja«, antwortete Lisa leise. »Ich hatte ganz vergessen, wie es ist, hier zu sein.«

Chris drehte sich zu ihr um. »Ich bin neulich an unserer alten Wohnung vorbeigelaufen, ich weiß eigentlich gar nicht, warum«, sagte er mit einem verlegenen Grinsen. »Vielleicht wollte ich nur sehen, ob sie noch da ist.«

»Das waren schöne Zeiten damals.«

»Ja«, stimmte Chris zu. »Irgendwie war alles so …« Er suchte kurz nach den passenden Worten. »… so unbeschwert, findest du nicht auch?«

»Ja, ganz genau so war es.«

»Es war so ein Gefühl, als ob …« Wieder legte Chris eine Pause ein, dann fand er schließlich die Worte, die es ausdrückten. »Ich hatte das Gefühl, wir würden ewig leben.«

Sie sahen sich einen Moment lang an, und Lisa ergänzte seinen Gedanken mit den Worten: »Wir dachten, wir wären unverwundbar.«

Chris nickte langsam, und der ernste Ausdruck in seinen Augen lastete schwer auf Lisa. Sie wusste, was er als Nächstes sagen würde.

»Es tut mir leid, Lisa, es hätte nie passieren dürfen.« Mehr sagte er nicht, aber das musste er auch nicht. Er sprach von dem Unfall, der ihrem Sohn und ihrem Mann das Leben gekostet hatte.

Tränen stiegen ihr in die Augen. »Ja«, sagte sie mit erstickter Stimme. Mehr brachte sie nicht heraus.

»Wie kommst du zurecht?«, fragte Chris vorsichtig.

»Ich arbeite wieder, das hilft«, antwortete Lisa. »Und ich gehe oft an sein Grab. … An ihre Gräber«, verbesserte sie sich. »Es schmerzt, aber es hilft auch. Ich blättere alte Alben durch, erinnere mich an unsere gemeinsame Zeit. Und ich habe das Gefühl, dass Anton immer noch bei mir ist, wenn auch nicht körperlich.« Lisa lächelte, doch ein gequälter Ausdruck erschien in ihrem Gesicht.

»Und was ist mit Paul?«

Tränen brannten in ihren Augen, doch sie blinzelte sie weg. »Ich kann nicht in sein Zimmer gehen«, brachte sie schließlich hervor. »Ich weiß nicht, ich kann einfach nicht. Ich habe es versucht, aber jedes Mal, wenn ich vor der Tür stehe, dreht sich alles, und ich bekomme Herzrasen. Ich kann weder seine Sachen ansehen noch die Fotos von ihm. Es ist …« Sie senkte den Kopf. »Ich kann nicht einmal an ihn denken«, flüsterte sie. »Immer wenn ich es versuche, ist da nichts als Dunkelheit. … Wie ein schwarzes Loch.«

»Oh Lisa, es tut mir so leid.« Chris sah sie mitfühlend an. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie es ist, sein Kind zu verlieren. Ich weiß ja noch nicht einmal, wie es ist, ein Kind zu haben.« Chris schwieg nachdenklich. Dann nahm er behutsam ihre Hand. »Aber ich bin mir sicher, dass du es schaffen wirst«, sagte er.

»Wie kannst du dir da sicher sein?«

»Ich habe dich heute erlebt, deshalb.«

Lisa sah ihn skeptisch an.

»Und früher«, fügte er hinzu. »Du warst immer diejenige, die alles irgendwie hinbekommen hat, weißt du noch?«

»Nicht alles«, sagte sie leise.

»Ach ja? Vielleicht. Aber eines weiß ich genau: Du warst immer fest davon überzeugt, dass man jedes Problem letztendlich lösen kann. Und die meisten allein mit Stift und Papier. Dafür habe ich dich immer bewundert.«

Lisa sah ihn nachdenklich an. »Damals habe ich vieles nicht gewusst, was ich heute weiß«, sagte sie schließlich.

»Würde es dir helfen, darüber zu schreiben?«, fragte Chris.

»Vielleicht«, sagte Lisa.

Sie gingen schweigend wieder weiter, bis sie Lisas Auto erreichten, das sie in einer kleinen Seitenstraße geparkt hatte.

»Ich bin froh, dass du heute gekommen bist, Chris«, sagte Lisa und sah ihn ernst an. »Ich weiß nicht, ob ich es sonst geschafft hätte.« Sie bedauerte, dass der Abend schon zu Ende war, aber sie musste zurück. Ihr Golden Retriever Charly wartete bestimmt schon ungeduldig.

»Klar hättest du das«, erwiderte er lächelnd. »Aber ich wollte dich unbedingt sehen. Du hast dich in den letzten Monaten verkrochen, das hat mir Sorgen gemacht. Nun bin ich froh zu sehen, dass es dir besser geht.«

Lisa dachte an die letzten Monate, die sie in diesem eisgrauen Nebel verbracht hatte, und erschauderte. »Ja, es wird langsam besser«, stimmte sie zu. »Ich habe mich schon lange nicht mehr so wohlgefühlt.«

Chris lächelte, und als er sie ansah und sich erneut dieses starke, wärmende Gefühl in Lisas Bauch ausbreitete, war sie sich auf einmal sicher, dass er mehr in ihr sah als eine Freundin. In seinen haselnussbraunen Augen lag ein Ausdruck, der ihre Knie weich werden ließ. Lisa hatte das Gefühl, in seinen Augen zu versinken.

»Ich will dich wiedersehen, Lisa«, sagte Chris leise und nahm zum zweiten Mal ihre Hand.

Eine Woge unterschiedlichster Gefühle überschwemmte sie. Eine Mischung aus Aufregung, Glück, Angst und Verlangen ergriff sie und machte sie schwindelig. »Dann solltest du mich anrufen«, erwiderte sie lächelnd.

»Also gut, dann …« Seine Augen blickten fest in ihre, und die Wärme in ihr breitete sich weiter aus. Dann beugte er sich zu ihr und küsste sie leicht auf die Wange. »Gute Nacht, Lisa«, flüsterte er.

»Gute Nacht.«

Er sah ihr erneut in die Augen, und das glückliche Lächeln in seinem Gesicht war wie ein Spiegel ihrer Seele. Dann drehte er sich um und ging. Einen Moment lang sah Lisa ihm verträumt nach. Er wandte sich noch einmal kurz um, dann verschwand er um die nächste Hausecke.

Aufgewühlt stieg Lisa in ihr Auto und ließ den Motor an.

Keiner bemerkte das zornig flackernde Augenpaar, das aus dem Schatten einer dichten Brombeerhecke heraus stumme, hasserfüllte Blicke wie Blitze in ihre Richtung abfeuerte.

4

Als Lisa fünfzig Minuten später ihren SUV auf der kiesbedeckten Einfahrt vor ihrem Haus abstellte, bemerkte sie, wie sehr sie die Ereignisse des Tages erschöpft hatten. Sie ließ Charly aus dem Haus, der laut bellend so übermütig an ihr hochsprang, dass er sie beinahe umgeworfen hätte. Dann brachen sie zu ihrer üblichen Abendrunde durch den Wald auf, doch bereits nach wenigen Minuten beschloss Lisa, die Runde auf den nächsten Tag zu verschieben. Sie kehrte um und betrat ihr Haus, füllte Charlys Schüsseln und stieg die Treppe hinauf in den ersten Stock, wobei sie sorgsam darauf achtete, die Tür, die dem Treppenabsatz direkt gegenüberlag, nicht anzusehen. Sie war verschlossen und versperrte den Blick in das dahinter liegende Kinderzimmer, doch sicher war sicher. Es hatte in den letzten Monaten zu viele Tage gegeben, an denen allein der Anblick dieser verschlossenen Tür ausgereicht hatte, um den eisgrauen Nebel heraufzubeschwören, der sie eingehüllt und in seinem unbarmherzigen Griff stunden- und tagelang gefangen gehalten hatte. Sie wandte sich nach rechts und ging mit gesenktem Kopf an der Tür vorbei ins Badezimmer.

Als sie einige Minuten später erschöpft auf das weiche Kopfkissen ihres Bettes sank, nahm sie einmal mehr wahr, wie leer es ohne Anton war. In unzähligen schlaflosen Nächten der vergangenen etwas mehr als sieben Monate war die unbenutzte Bettseite neben ihr immer größer und bedrückender geworden.

Lisa schloss gequält die Augen und kehrte in Gedanken zu jenem See zurück, an dem sie und Anton ihre Flitterwochen verbracht hatten. Sie dachte daran, wie es sich angefühlt hatte, als sie frisch verliebt und glücklich gewesen waren und von einer Zukunft geträumt hatten, ohne zu wissen, was vor ihnen lag. Die Erinnerung daran war so stark, dass Lisa das Gefühl hatte, als könne sie die wärmenden Sonnenstrahlen wirklich auf der Haut fühlen und das leise Plätschern der Wellen am Ufer hören.

Keine zwei Minuten später war sie eingeschlafen, und ihre Augen begannen sich unter den geschlossenen Lidern schnell hin und her zubewegen. Lisa träumte.

Als sie die Augen aufschlug, stand sie am Ufer des kleinen Sees. Es war heiß, und ein Schwarm Mücken surrte um Lisas Kopf. Sie bemerkte, dass sie ein leichtes Sommerkleid trug, das Kleid, das sie in ihren Flitterwochen getragen hatte.

Das ist ein Traum, dachte sie, aber das ist viel zu real für einen Traum. Die Geräusche um sie herum, das unablässige Summen der Mücken, das Zirpen der Grillen im hohen Gras, aber auch der Boden unter ihren Füßen … Alles schien tatsächlich zu existieren. Sie konnte sogar den warmen Wind auf der Haut spüren, der vom See her aufzog. Die Luft war erfüllt vom Duft wilder Heckenrosen, die zu Tausenden am Ufer wuchsen. Der Gesang eines einsamen Haubentauchers hallte über den See und mischte sich mit dem Geschnatter einer Schar Tafelenten, die sich träge im Wasser treiben ließen.

Lisa streckte eine Hand aus, um eine der zartrosa Blüten der Heckenrosen zu pflücken, die zu ihrer Linken wuchsen, doch mit einem überraschten Schmerzensschrei zog sie die Hand wieder zurück und starrte ungläubig auf ihren Zeigefinger. Aus der Fingerkuppe quoll ein dicker Tropfen scharlachroten Blutes. Sie hatte sich an einem der Dornen gestochen, die die Zweige des Strauches bedeckten. Lisa führte die Hand zum Mund und nahm den unverwechselbaren Geschmack von Blut wahr. Das war mit Abstand der realistischste Traum, den sie je gehabt hatte. Dann sah sie sich weiter um. Dem Stand der Sonne nach zu urteilen, die tief über dem See hing, war es bereits Abend, und in wenigen Minuten würde sie hinter den Hügeln am Westufer untergehen. Sie wollte bleiben und sich dieses Schauspiel ansehen, als sie plötzlich eine Stimme hörte. Sie schien sie nicht mit den Ohren, sondern direkt mit den Nerven in ihrem Gehirn wahrzunehmen.

Hallo Lisa.

Lisa zuckte unwillkürlich zusammen. Sie erkannte die Stimme.

»Anton?«, rief sie und drehte sich um. Doch sie sah niemanden.

Ich bin hier oben.

Lisa drehte den Kopf und blickte zu dem Hügel, der sich weiter östlich erhob. Dort, am Fuße des Hügels, stand die kleine, rustikale Hütte, die sie damals gemietet hatten. Sie hob den Kopf. Auf der Erhebung stand tatsächlich jemand.

Sie kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Die Abendsonne verbreitete nur mehr schwaches Licht, doch Lisa war sich sicher: Dort oben, gut vierhundert Meter vom Ufer des Sees entfernt, stand Anton und winkte ihr zu.

Wie kann ich ihn so deutlich hören, wo er doch so weit weg ist?, fragte sie sich verwirrt. So laut, wie sie konnte, rief sie: »Anton? Bist du es wirklich?«

Ich kann dich gut verstehen, du musst nicht so schreien